Schattensterne

Kyra lag im Dunkeln und horchte auf das Summen der Mücke.

Sie konnte nicht schlafen. Nicht nur, weil sie fürchtete, das Insekt könne sich jeden Augenblick auf ihr Bein, ihre Hand oder – Gott bewahre – auf ihr Gesicht setzen und seinen Saugrüssel in ihre Haut bohren. Normalerweise verkroch sie sich in solchen Fällen in den Bezug ihres Bettzeugs, tauchte sogar mit dem Kopf darin unter. Sie hasste es, wenn Mücken nachts um ihre Ohren sausten. Vor allem weil die Mistviecher die üble Angewohnheit hatten, sich in ihrem Ohr niederzulassen.

Aber heute Nacht gab es einen anderen Grund, der sie wach hielt. Genau genommen, sogar zwei. Der eine war der Schmerz in ihrem Fußknöchel. Dumm gelaufen, wirklich. Doch damit konnte sie zur Not leben.

Viel schlimmer war die Tatsache, dass Chris und Lisa allein zur Schattenshow gegangen waren. Sie war nicht etwa eifersüchtig, wie Lisa vielleicht vermutet hätte. Natürlich hatte sie Chris sehr gerne. Aber wirklich wichtig war ihr im Moment nur eins: das Vermächtnis ihrer Mutter Dea. Es umfasste für sie mehr als nur das Erbe der Sieben Siegel, es bedeutete auch, sich tiefer gehend mit den Mysterien des Übernatürlichen befassen zu müssen. Seit Kyra an Deas Seite die Anderswelt betreten und dort gemeinsam mit ihrer Mutter die Hexenkönigin Morgana besiegt hatte, war sie entschlossener denn je, in Deas Fußstapfen zu treten. Sie würde dem Arkanum die Stirn bieten, koste es, was es wolle.

Das aber brachte sie zurück zu ihrer eigentlichen Sorge: Was, wenn Lisa und Chris dort draußen in Bedrängnis gerieten? In dämonische Bedrängnis? Waren die beiden überhaupt in der Lage, allein damit fertig zu werden?

Die Tatsache, dass vor einer Viertelstunde die Siegel auf Kyras Arm erschienen waren, machte die Sache nicht gerade einfacher. Sie wusste jetzt, dass ihren Freunden Gefahr drohte. Vermutlich auch ihr selbst, aber das wurde von Mal zu Mal unwichtiger für sie. Mit ihrem Wissen wuchs auch ihre Überzeugung, selbst ganz gut auf sich Acht geben zu können.

Vielleicht hatten die drei anderen ja Recht, auch wenn sie es selten offen aussprachen: Kyra wurde mehr und mehr wie ihre Mutter – eine Wandlung, die sich in letzter Zeit noch beschleunigt hatte. Kyra verstand es selbst nicht genau, denn nach wie vor stand sie der Begegnung mit Dea zwiespältig gegenüber, fühlte sich von ihrer Mutter ausgenutzt. Kyra war überzeugt davon, dass Dea sich ihr nur zu erkennen gegeben hatte, weil sie die Hilfe ihrer Tochter im Kampf gegen Morgana benötigt hatte. Und danach war sie erneut verschwunden, unerreichbar fern in der Anderswelt, diesem fantastischen Ort neben unserer Wirklichkeit.

Aber Kyra wollte jetzt nicht an Dea denken und auch nicht an die grandiose Weite der Anderswelt und das Panoptikum ihrer Bewohner.

Es war schon schrecklich genug, tatenlos im Bett zu liegen, während ihre Freunde ihr Leben aufs Spiel setzten. Von allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatte, war das vielleicht das Schlimmste. Sie fühlte sich verantwortlich für Lisa und Chris, auch wenn die beiden das gewiss weit von sich gewiesen hätten.

Ein feuchtes Schmatzen riss Kyra aus ihren Gedanken.

Erstaunt schaute sie auf und ließ ihren Blick durch die Unordnung in ihrem Zimmer geistern. Der Raum lag direkt unter dem Dach des schmalen Fachwerkhauses, das sie mit ihrer Tante Kassandra bewohnte. Über ihrem Bett trafen sich die beiden Dachschrägen. Auf dem Boden lagen zahllose aufgeschlagene Bücher, nicht mehr die bunten Zeitschriften und Comichefte, die früher den Teppich bedeckt hatten. Die meisten stammten aus Tante Kassandras Bibliothek und aus dem Stadtarchiv, Bücher über Geister und Zaubersprüche, über Dämonologie und die Kraft des Geistes, ein paar Werke über die Geschichte Giebelsteins und einige Bände aus der Chronologia Magica, einem vielbändigen Zauberlexikon, das ihrem Vater gehörte.

Das schmatzende Geräusch wiederholte sich.

Kyra richtete sich im Bett auf und schaute zum Dachfenster. Draußen war es stockdunkel, und nur die Leuchtziffern auf ihrem Radiowecker erhellten schwach die Umgebung. Oft fiel um diese Uhrzeit Mondschein durch die Scheibe, doch heute verbarg der Nebel jeden noch so geringen Schimmer. Kyra konnte das Rechteck des Fensters kaum erkennen, und dennoch war sie sicher, dass die Laute von dort gekommen waren. Es klang, als sei etwas Feuchtes von außen gegen das Glas gefallen.

Ein Vogel, dachte sie im ersten Moment. Tauben landeten öfters auf dem Dach, auch auf dem Fenster. Deren Geräusche klangen jedoch anders. Flattriger.

Kyra schwang die Beine über die Bettkante, bis ein beißender Schmerz ihr schlagartig den verstauchten Knöchel in Erinnerung brachte. Mit einem Keuchen sank sie zurück in die Kissen.

Irgendetwas war da draußen.

Ihre Hand suchte den Lichtschalter ihrer Nachttischlampe. Das Plastik fühlte sich kühl unter ihren Fingerspitzen an. Die Lampe flammte auf und übergoss ihr Bett mit gelblichem Schein. Das Fenster lag am Rande des Lichts, und so konnte Kyra erst beim zweiten Hinsehen erkennen, dass etwas von außen das Glas bedeckte.

Es war nicht der Nebel, wie sie im ersten Moment vermutet hatte.

Es war etwas Glänzendes, Fleischiges.

img6.jpg