Mit der Kamera bis in die Seele dringen
Dimbola Lodge auf der Isle of Wight
Wir waren angemeldet, und wir waren pünktlich. Wir durften dennoch nicht ins Haus. Statt in den Räumen von Dimbola Lodge im hellen Licht des Morgens zu fotografieren, sollten wir uns erst einmal gedulden. Dort oben, hieß es, werde fotografiert, you see? Das Mädchen sei erst siebzehn Jahre alt, sie mache das zum ersten Mal, da sollten wir doch bitte warten, bis sie wieder angezogen sei!
Natürlich waren wir dann gerne so galant. Zumal es keine bessere Begründung für eine solche Bitte gab und geben kann als eben Fotos. Vermutlich ist kein zweites Haus so sehr mit der Geschichte des Fotografierens verbunden wie Dimbola Lodge, das Haus der Fotografin Julia Margaret Cameron in der Freshwater Bay an der westlichen Küste der Isle of Wight. Hier, wo die steilen, weißen Kreideklippen sich malerisch niederschwingen und den sanften Strand berühren, versammelte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die selbstbewusste Cameron die geistige Elite des viktorianischen Englands um sich und brachte sie ins Bild: Ihre Fotografien gelten heute als ein erster Höhepunkt der Lichtbildkunst, nur zu vergleichen mit denen der Franzosen Nadar und Carjat, doch von einem Franzosen über alle anderen gesetzt: »Die Strahlen der Sonne hat niemand eingefangen und so zur Wirkung kommen lassen wie Sie«, schrieb ihr Victor Hugo. Und: »Ich werfe mich Ihnen zu Füßen!«
Das Wortspiel zwischen »Cameron« und »Camera« lässt mehr vermuten; doch ein schöner Zufall, weiter gar nichts, hat Mrs. Cameron im Jahre 1863 die erste Kamera beschert. Es war ein Geschenk ihrer Tochter, der Mutter zugedacht zum Zeitvertreib. Julia Cameron war damals achtundvierzig Jahre alt, älter als die Kunst, die sie zu ihrer frühen Blüte brachte.
Geboren wurde sie 1815 in Kalkutta als Julia Margaret Pattle; ihr Vater tat dort Dienst bei der East India Company. Sie wurde in Europa aufgezogen und lernte dann, am Kap der Guten Hoffnung, den zwanzig Jahre älteren Charles Hay Cameron kennen, den sie 1838 heiratete. Zehn Jahre lang, bis 1848, lebte sie mit ihrem Ehemann in Indien, bis er im Supreme Council den Abschied nahm und zurück nach London ging. Sie wohnten jetzt in Kensington, nahe am inneren Zirkel der dortigen Künstlerkolonie, als deren Treffpunkt der Salon von Little Holland House betrachtet wurde, die Heimstatt von Julias Schwester und ihrem Ehemann Thoby Prinsep. Der Dichter Henry Taylor, der Maler George Frederick Watts, Lord Alfred Tennyson, der berühmte Dichter, seit 1850 offiziell Poeta laureatus seiner Königin Victoria, trafen hier mit vielen anderen zusammen.
Die Tennysons lebten seit 1853 in Farringford, einem großen georgianischen Haus auf den grünen Hügeln nah den Klippen der Isle of Wight, heute ein Hotel, doch immer noch verborgen hinter Efeu. Der Dichter des »Morte d’Arthure« hatte sich vor dem eigenen Ruhm bei den Viktorianern auf die Insel gestohlen, ganz in die Nähe von Frair’s Pit, wo schon einmal ein Eremit gelebt hatte. Bald freilich reisten ihm die Fans und Künstler hinterher, und was in Kensington begonnen hatte, verlagerte sich bald in die Freshwater Bay. Tennysons liebster Spazierweg führt ihn hinab ans Wasser mit den Möwen oder auf den langen Hügelkamm, auf dem der Wind die Weißdornhecken an die Erde bürstet. Tennyson Down heißt die Höhe, und am Rand der weißen Highdown Cliffs steht jetzt sein Denkmal. Als ihn Julia Cameron 1860 auf seinem Herrensitz besuchte, fand sie in der Bucht, am Rand des Wassers, zwei cottages, die einem Fischer aus dem Ort gehörten, Jacob Long. Sie kaufte sie und fügte sie mit einem Turm nach dem romantischen Geschmack jener Jahre zusammen. Bis dahin hatte eins der Häuschen Sunnyside geheißen. Fortan hieß das ganze schlichte, aber große Anwesen mit seinen vielen Erkern und Giebeln und dem Rechteckturm Dimbola Lodge: So hießen auf Ceylon die Plantagen ihrer Familie. Sie pflanzte weiße Kletterrosen, Geißblatt und Efeu um das Haus und eine blühende Hecke davor, und als ihr jemand vorwarf, dort könne mancher leicht die Blüten pflücken, sagte sie: »Aber das sollen sie ja: Sie pflücken und sich daran erfreuen!«
Die Blumen und der ganze Garten sind verschwunden, und beinahe wäre auch noch eins der beiden Häuser abgerissen worden. 1875 zogen sich die Camerons zurück nach Ceylon, Dimbola Lodge ging an verschiedene Besitzer und wurde aufgeteilt in Cameron House und Dimbola; der eine Teil des Hauses wurde zum Hotel, der andere in kleine Wohnungen zerstückelt. Auch in England hält keine Denkmalschutzbehörde ihre Hand über baulich belanglose Häuser. Doch inzwischen gab es einen Cameron Trust, und dem gelang es 1993, mit einer Zuwendung der Foundation for Sport and the Arts, das halbe Haus zu kaufen. Nur wenig später kam das Gegenstück dazu, und seit dem Mai des Jahres 1994 wurde Dimbola Lodge, wie es jetzt wieder heißt, von Grund auf renoviert. Der japanische Kamerahersteller Olympus sah die Unterstützung als eine ehrende Verpflichtung an. Alle neuen Zwischenwände und Erweiterungen wurden abgetragen, das Haus sieht von der Raumaufteilung wieder ganz so aus wie im vergangenen Jahrhundert.
Jetzt freilich ist es ein Museum und eine Tagungsstätte mit Seminaren zur Fotografie. Als man uns schließlich einließ, ging es durch den Turm ins Innere, am Tearoom und am Büchertisch vorbei, dann durften wir nach oben. Das Mädchen saß in Jeans und Bluse, in einen weiten Häkelumhang eingehüllt, auf einem Stuhl mit scheuem Lächeln und wusste nichts mit seiner Pause anzufangen. Mit ihrer zarten Puderblässe war kein Herrenmagazin und kein Pin-up-Kalender zu bereichern. Was hier entstehen sollte, im professionellen Mittelformat, war ganz einfach Kunst: Fotos zwischen Fotos, verschieden hinsichtlich Ästhetik, Aufwand, Technik und Epoche, verbunden nur durch diesen selben Raum.
Zwei Räume im Obergeschoss dienen jetzt als Galerie. Sie sind leer bis auf ein paar schlichte Stühle und die kleinen Messingleuchter an der Decke. Die Wände sind weiß, die Bodendielen roh und farblos. Es war noch früh an diesem Tag, so kam die Sonne fast noch von der grünen Kuppe mit dem Golfplatz herüber und legte uns die Öffnungen der großen Schiebefenster als helle Abbilder aus Licht in lauter Schatten vor die Füße. Die Kammer schien wie eine Camera obscura. An den Außenwänden war das intensive Blau des Himmels weiß gerahmt und wirkte wie ein Ölgemälde von Magritte. Ansonsten dominierten Schwarz und Weiß und einige der wichtigsten Porträts des 19. Jahrhunderts.
Das Geschenk der Tochter hatte ihre Mutter nicht mehr losgelassen. Die erste Aufnahme, die ihr gelang, war das Porträt eines Farmers namens Rice. Doch sie verdarb es, ehe sie Kopien davon machen konnte. Sie hätte Aquarelle malen oder Verse schmieden können oder was man einem resoluten Blaustrumpf mit dem Drang zum Ausdruck sonst an Künsten zugebilligt hätte. Doch sie wollte sich partout die Finger schmutzig machen an hochbrisanten Chemikalien wie in Alkohol gelöster Kollodiumwolle, die aufs Innigste dem Sprengstoff verwandt waren. Sie zahlte Lehrgeld, doch das Lehrgeld zahlte Zins und Zinseszins. Zu Beginn des Jahres 1864 signierte sie ihr erstes Lichtbild mit dem stolzen Zusatz: »My first success«. Bald zeigte sie ihre Alben herum, schon 1864 wurde sie in London in die Photographic Society gewählt. Die Bilder aus dem schwarzen Kasten wurden ihre Leidenschaft. »Aus meinem Kohlenhäuschen machte ich die Dunkelkammer«, schrieb sie später, »und aus dem verglasten Hühnerstall das Atelier.« Statt des Geflügels gingen nun die Nachbarn und die Künstler bei ihr ein und aus. In ihrem Schlafzimmer bezog sie Posten, von dort aus schaute sie mit einem Auge auf die Straße, die auch heute noch zum Strand hinunterführt, und wenn ein ansehnlicher Mensch vorüberkam, schickte sie ihr Mädchen hinterher. Oft genügte Überredung, manchmal gab sie auch ein wenig Silbergeld. Dafür ließen sich die meisten fotografieren, Bauern, Dörfler, Handelsreisende, vor allem aber ihre Dienstmädchen. Viele sind inzwischen namenlos, aber allesamt dabei unsterblich. »Ihre Porträts versprechen die meisten Werke ihrer Zeitgenossen zu überdauern«, befand schon damals der Künstler und Designer Roger Fry aus dem Bloomsbury-Zirkel um Virginia Woolf und Vanessa Bell. Mit den Bildern ihrer Zeitgenossen, vor allem der berühmten, hat uns Julia Cameron das Antlitz ihrer viktorianischen Ära verwahrt.
Ellen Terry kam zum ersten Mal mit sechzehn Jahren, damals schon die gefeierte Shakespeare-Darstellerin, als die man sie heute noch kennt, und die Gefährtin des berühmten Architekten Edwin Godwin, der später dann der Vater ihrer Kinder wurde. In London traf sie Watts, den Modeporträtisten, und stürzte sich mit ihm, noch immer sechzehn, in das desaströse Intermezzo ihrer ersten Ehe. Die beiden lebten kurze Zeit im Haus The Briary nahe der Freshwater Bay.
Julia Margaret Cameron hat Ellen Terry ebenso fotografiert wie G. F. Watts und viele aus dem großen Kreis um Tennyson: die Dichter Thomas Carlyle, Henry Longfellow und Robert Browning, den Präraffaeliten Holman Hunt, den berühmten Charles Darwin, ihren Schwager Thoby Prinsep.
Auf einem Foto schaut uns recht sinister Alice Liddell an, die Alice aus dem Wunderland von Lewis Carroll, der seine Titelgestalt und wohl auch seine Obsessionen auch auf Bildern festgehalten hat: das kleine Mädchen unzweideutig als lolitahafte Versuchung. Julia Prinsep Jackson, verwitwete Duckworth, eine Nichte von Julia Cameron, wendet sich auf einem ihrer berühmtesten Bilder mit eben jenem Blick zur Seite, den man durch spätere Fotos von ihrer Tochter Virginia Woolf kennt. Hier in Dimbola Lodge traf Julia Duckworth ihren zweiten Ehemann, Sir Leslie Stephen. »Die Freshwater-Gesellschaft jener Tage kam näher an den Zweck und an das Ideal der französischen Salons heran als jede andere Gruppierung in England«, schrieb später jemand, der dazugehörte. »In Tennyson hatten wir unseren Chateaubriand, und unsere Madame Recamier war Mrs. Cameron.« Sie vor allem zog die Künstler nach Dimbola Lodge und Freshwater. Ausstaffiert wie eine Bäuerin vom Balkan, in jener schlichten Einfachheit, die ihr die Zeitgenossen attestierten, schaut sie nun mit derbem Blick am Objektiv vorbei ins Unbestimmte. Und ihr Ehemann, Charles Hay Cameron, sieht auf dem Bild von 1867 mit seinen zweiundsiebzig Jahren eher aus wie Merlin, der Zauberer von König Artus, als wie ein Verwaltungsbeamter der Queen.
Neben den schablonenhaften, massenhaft verbreiteten Visitenkartenbildern vieler Berufsfotografen nahmen sich die Bilder Camerons wie Meisterwerke aus: »Ich wünschte, ich könnte solch ein Bild malen«, schrieb Watts, der Maler, unter eins ihrer Porträts. Kaum war die Kunst entwickelt worden, mit Licht und Linsen Bilder festzuhalten, zeigte diese Frau den Konkurrenten, dass man sie mit Schatten noch verbessern konnte. Bei Belichtungszeiten von bis zu mehreren Minuten ließen andere Fotografen das Licht von allen Seiten in ihr helles Atelier. Julia M. Cameron dagegen zog häufig die Vorhänge vor und verlängerte die Qual ihrer Modelle noch obendrein durch die Bevorzugung von Nahaufnahmen mit einem wahren Linsenungetüm, das hemmungslos das letzte Licht verschluckte: Sieben Minuten, klagte einer, da werde man zum Märtyrer. Da war keine Zeit für ein gewisses Lächeln. Wenn gewackelt wurde, fing die resolute Fotografin noch einmal von vorne an: »Ich zählte bis vierhundert und fünfhundert und bekam ein gutes Bild.« Das Bild von Julia Jackson zeigt uns heute noch, was man damals den »Rembrandt-Effekt« der Cameron nannte. Als Tennyson ihr bei Gelegenheit ein neues Opfer vor die Linse setzte, den Dichter Henry Longfellow, verließ er ihn mit süffisantem Ratschlag: »Sie müssen tun, was sie Ihnen sagt. Ich bin bald wieder da und sehe, was von Ihnen übrig geblieben ist.«
Wer damals vom Verkauf der Bilder leben wollte, musste den Modellen auf den Fotos schmeicheln. Das ging am leichtesten durch stilisierte Ähnlichkeit und würdevolle Posen, für die Gerüste, Sessellehnen, Nackenstützen geradestanden. Nur wer unabhängig war, der konnte es sich leisten, mit dem Fotoapparat die Oberfläche zu durchdringen, um bis zur Seele zu gelangen. Julia Cameron verzichtete auf alle Stützen und belichtete stattdessen einige Glasplatten mehr. Als sie, auf dem Gipfel ihres Schaffens, eine Neuausgabe von Tennysons Artus-Zyklus »Idylls of the Kings« mit ihren Fotos illustrierte, nahm sie für die Abschiedsszene zwischen Lancelot und Guinevere zweiundvierzig Platten auf, ehe sie mit ihrem Resultat zufrieden war.
In ähnlich rückwärtsgewandten, romantischen Posen erscheint auch der berühmte Dichter und Nachbar auf ihren Porträts. Von seinem Haus den Hang hinunter führt ein Pfad bis an die Gartenpforte, die seither seinen Namen trägt und gelegentlich Anlass zu delikaten Spekulationen und kaum verhohlenen Verdächtigungen gibt. Es gibt im Park von Farringford noch immer jene Brücke, die von seinem Haus den öffentlichen Hohlweg überspannte, auf dem schon damals die Verehrer auf der Lauer lagen wie heute wohl die Paparazzi, entfernte peinliche Verwandte von Camerons Kunst. So mochte er wohl unentdeckt bis an den Garten von Dimbola Lodge gelangen, ans Wasser oder in das Haus der Freunde.
Julia Margaret Cameron starb 1879 fern in Ceylon. Einer ihrer letzten Briefe war an Lady Tennyson gerichtet und setzt dem Klatsch in der Freshwater Bay das Wesentliche gegenüber: »Ein heiliger Segen hat meine Fotografie begleitet«, so heißt es da, »sie gibt Millionen Vergnügen und vielen ein tieferes Glück.«