Ein Raum für sie allein
Virginia Woolf und Monk’s House in Rodmell
Nach den alten Reiseführern sind wir hier so gut wie aus der Welt, am Fuß der Downs, der Kreidehügel nah am Meer, doch auf der Seite, die der Küste abgewandt ist, am breiten Bett des River Ouse, dort wo der Fluss bei Flut stromaufwärts durch die Wiesen treibt, an Piddinghoe vorüber, Southease, Rodmell – bis nach Lewes: »Farms and stacks and thatches«, versprach einmal der Sussex-Band von Arthur Mees »King’s England« seinen Lesern. Das ist noch heute so wie damals, 1937, die kleinen Bauernhäuser sind dieselben, die kieselhellen, buckligen Feuersteinmauern, die Fachwerkwände, die zum Wetterschutz mit roten Ziegelpfannen bedeckt sind, die holzverschalten weißen cottages, die blassen Heckenrosen in den kleinen Gärten, sogar die Heuschober sind noch zu ahnen, nur die strohgedeckten Dächer werden seltener. »Wenn erst der Abend kommt, bist du allein«, schrieb E. V. Lucas in seinen »Highways and Byeways in Sussex«, »und nur das Blöken der Schafe und der Sirenenton der Fährschiffe erinnern noch an Leben und Zivilisation.« Die Schiffe haben wir in Newhaven gesehen, wo das Geschäft mit den Konvois der Sattelschlepper und der Reisenden aus Frankreich die Misere hinter seinen Backsteinfronten mühevoll verdeckt: Die Arbeitslosenrate hat hier schon einmal das halbe Hundert überschritten. Die kleine Straße, die nach Norden führt, hieß einmal A 275, jetzt hat sie keinen Namen mehr, seit es jenseits des Flusses die A 26 gibt. Von Piddinghoe bleibt uns der drollige Rundturm der Kirche, auch Southease hat solch einen runden Turm, den es in Sussex nur noch einmal gibt, in Lewes; an den grünen Kreidehängen sehen wir die Schafe, in den Ufermarschen nah am Fluss das Vieh. In Rodmell an der kleinen Tankstelle verlassen wir die stille Durchgangsstraße und rollen abwärts durch das enge Dorf, fast bis ans Ende bei der Kirche. Hier legen wir die Reiseführer weg, denn hier ist literarisches Terrain: Monk’s House, das Heim von Virginia Woolf. Hier lebte sie mit ihrem Mann von 1919 bis zu ihrem Tod im Fluss im Frühjahr 1941, übers Wochenende und auch unter der Woche, meist im Wechsel mit den Londoner Adressen. Bei seinem Tod im Jahre 1969 hatte Leonard fünfzig Jahre mit Monk’s House gelebt. Und in seiner Autobiografie gab er noch 1967 den alten Reiseführern Recht: »Der Blick über den River Ouse auf die Höhenrücken der Downs ist seit Chaucers Tagen unverändert geblieben.«
Das stimmt nicht ganz, nicht weit entfernt, am Fuß der Hügel gegenüber, liegt eine staubige Zementfabrik und beißt sich aus dem Grün ein weißes Stück heraus: »Verdammte Scheißkerle«, schrieb Virginia Woolf bei Baubeginn 1932 in einem Brief, und nur die trügerische Aussicht auf die Pleite jener Firma ließ sie beide bleiben. Doch ansonsten ist die Gegend unverändert, die Kirche hinterm Haus bewahrt auch nach der Restaurierung die alten normannischen Formen, und im Innern von Monk’s House wachen die rührigen Damen des National Trust darüber, dass auch künftig alles bleibt, wie es war – ein Arbeitsplatz, ein Wohnhaus, aber kein Museum. Ein Teil des Hauses ist bewohnt, ein Opernsänger aus dem nahen Glyndebourne lebt in den kleinen Räumen oben und teilt sich Mittwoch nachmittags und sonnabends die Küche mit dem National Trust. Doch gerade so bleibt die Erinnerung an die wohl größte Dichterin in unserem Jahrhundert lebendig.
Am Donnerstag, dem 3. Juli 1919, notierte sie in ihrem Tagebuch: »Monk’s House gehört uns auf immer.« – Und setzte in Klammern hinzu, wie unterdrückten Jubel: »Dies ist fast das erste Mal, dass ich diesen Namen schreibe, den ich hoffentlich viele Male schreiben werde, bevor ich ihn satt habe.« Mag sein, dass sie in ihrer Haut nie recht zu Hause war, am Ende war sie es nicht einmal in der Welt. Doch zu wohnen und »sich einzurichten« in mehr als bloß einer Bedeutung des Wortes, war ihr wie Ersatz dafür. »Ein eigenes Zimmer« heißt eines ihrer Bücher, ein Pamphlet gegen die untergeordnete Stellung der Frau. Ihre Tagebücher sind uns nun die besseren Begleiter zu ihren Stätten auf dem Lande als die besten Reiseführer.
Monk’s House war das dritte Haus der Virginia Woolf in den Downs – und blieb ihr letztes. Nach wiederholten, lang andauernden Zusammenbrüchen und einem wochenlangen Klinikaufenthalt im Sommer 1910 hatte sie in Firle zum ersten Mal ein Haus für sich allein gemietet, weit genug entfernt von London. Nicht einmal ein Jahr später fand sie mit Leonard Woolf beim Wandern in den Downs ihr Traumhaus: Asheham. Als ihnen das gekündigt wurde, 1919, bemerkte sie in ihrem Tagebuch: »Oh je oh je!«, und setzte, voll Einsicht, hinzu: »L. meinte, es brauchte nicht viel, um aus einem Haus einen Fetisch zu machen; was stimmt; in der Zwischenzeit hängen wir in der Luft.«
Seit 1916 wohnte ihre Schwester Nessa, Vanessa Bell, in der Nähe in Charleston Farnhouse nahe Firle, mit Liebhaber und Ehemann, im ständigen Kontakt mit alten Künstlerfreunden aus der Zeit in Bloomsbury. »Wir waren eine Familie, während sie ein Paar waren«, schrieb später Angelica Garnett, Vanessas Tochter, über die Woolfs. – »Sonne und Mond« hat Hilde Spiel – wie andere zuvor – die beiden schönen Schwestern genannt, die ungestüme, hemmungslose ältere und ihre bleiche Schwester, die wie ein Seismograf auf alle Schwankungen in der Familie mit Wahnsinnsschüben reagierte und die in der liebevollen Ehe ohne sexuelle Lustempfindung und -erfüllung ihrem Namen eine tiefere Bedeutung gab, als wäre er tatsächlich ein Programm: Virginia, die Jungfräuliche. In Charleston hatte sie Familienkontakte, wenn ihr einmal danach war.
Nach allerlei Versuchen, abermals ein Haus zu mieten, kaufte sie in Lewes ungesehen einen alten Mühlenturm, und als die Woolfs ihn sich besehen wollten, entdeckten sie bei einem Auktionator den Hinweis »Grundstück 1, Monk’s House, Rodmell. Ein altmodisches Haus inmitten von dreiviertel Acre Land bezugsbereit zu verkaufen.« In Lewes an der High Street im White Hart Hotel, wo wir zuvor beim lunch saßen, einem alten, stilbewussten Coaching Inn, erhielten sie für siebenhundert Pfund den Zuschlag – »ich mit purpurroten Wangen & L. zitternd wie Espenlaub«. Am ersten September zogen sie ein, zwei Wagenladungen brachten die nötigen Sachen, die Bücher hatte Leonard zu Packen fest verschnürt. Eine Woche später begann Virginia nach langer Pause ein neues Tagebuch und schrieb aufs Titelblatt: »Monk’s House. Rodmell. 7. Sept. 1919«.
»Es ist ein unprätentiöses Haus«, so hatte sie zuvor notiert, »lang & niedrig, ein Haus mit vielen Türen; auf der einen Seite an die Straße von Rodmell grenzend, & an dieser Seite holzverschalt, obwohl die Straße von Rodmell an unserem Ende nicht viel mehr als ein Weg für Fuhrwerke ist, der auf die flachen Sumpfwiesen hinausführt.«
Daran hat sich nichts geändert, die weiß lackierte Wetterseite gibt auch heute keinen Hinweis auf das Innere, und trotz der kleinen Eingangspforte treten wir, wie die Besitzer, von der Gartenseite her ins cottage. Das Wohnzimmer mit tiefer Balkendecke und rotem Fliesenboden ist mit schlichten Möbeln ausstaffiert, manche sind bemalt, Arbeiten aus Charleston wie der Tisch und die vier Stühle von Vanessa Bell und Duncan Grant, dem Vater ihrer Tochter Angelica, Virginias Nichte. Die Wände sind in einem hellem Grün gestrichen, das ins Türkis hinüberspielt. »Die Farbe Grün kommt mir in den Sinn, wenn ich an dieses Haus und den Garten denke mit seinen gewundenen Feigenbäumen und seinem weiten Rasen und dem Blick auf die Flussauen«, so erinnert sich Angelica Garnett: »Grün war die Farbe Virginias.« Als junges Mädchen hatte sie einmal mit einem selbst genähten Kleid aus grünem Möbelstoff ihren vierzehn Jahre älteren Stiefbruder George provoziert, der sich nach dem Tod der Mutter eine Erzieherrolle angemaßt hatte. Grün, für das man sie in der Familie belachte, war das Eigene, das sie nach außen hin behauptete.
Der kleine Essraum schließt sich an die Küche, die nur halb zu sehen ist; die Räume oberhalb sind dem Besucher ebenfalls verschlossen. Virginia Woolfs Schlafzimmer ist an die Außenwand gebaut, kann – und konnte – nur vom Garten her betreten werden. »Ich musste immer daran denken, wie unangenehm es war, bei Regen hinaus zu müssen, um ins Bett zu gehen«, so erinnerte sich später Louie Mayer, die seit Mitte der dreißiger Jahre Köchin bei den Woolfs war. Vieles hatte nach dem Einzug noch verändert werden müssen. Am Anfang hatte es im Haus kein Bad gegeben, kein warmes Wasser, kein WC. Und der geheimnisvolle Name Monk’s House war vermutlich nur der Einfall eines früheren Verkäufers, um dem cottage mehr als seinen bäuerlichen Reiz zu geben: Mönche sind in Rodmell nicht belegt.
1925 nahm sich die Hausherrin fest vor: »Ich will in diesem Sommer mit Schreiben dreihundert Pfund verdienen und in Rodmell ein Bad und heißes Wasser installieren lassen.« Und mit ihren »Essays« und »Mrs. Dalloway« nahm sie tatsächlich so viel Geld ein, dass sie den Umbau zahlen konnte. Dennoch blieb es ein einfaches, schmuckloses Haus, und noch im kalten Winter 1940 schrieb sie: »Es bläst ein schneidender Wind, scharf wie eine Sense, der Teppich im Esszimmer ist steif wie aus Gusseisen.« Das neue Badezimmer lag über der Küche; anfangs glaubte Louie Mayer, dass Mrs. Woolf dort oben lange Selbstgespräche führte, bis sie erfuhr, dass sie doch nur die Sätze sprach, die sie zur Nacht geschrieben hatte. Sie wollte hören, wie sie klängen.
1929, als im Oktober »Ein eigenes Zimmer« erschienen war, hatte sie tatsächlich ihr Zimmer bekommen: Der Anbau mit dem Schlafzimmer war fertig, in dem sie, statt zu schlafen, häufig schrieb. Regelmäßig fand die Köchin hier den Boden mit Papier bedeckt, so wie im ganzen Haus, Blatt um Blatt geschichtet, oftmals mit denselben Sätzen.
Hier finden wir auch ein Regal mit Büchern, meist neue Ausgaben und Übersetzungen ihrer Romane. »Das Haus muss einmal bis zum Rand mit ihnen voll gewesen sein«, erklärt die Dame vom National Trust. »Aber nach dem Tod von Mister Woolf wurde alles verkauft.« Schon zu Beginn des Krieges waren die Woolfs ganz nach Rodmell gezogen, und nach den Luftangriffen, als ihr Haus in London von einer Bombe getroffen wurde, brachten sie die Möbel und die Bücher hier in Sicherheit und lebten nun mit Suchscheinwerfern auf den Hügeln und der Sorge vor der Invasion. Einmal schlug eine Bombe in der Nähe ein, sodass die Scheiben klirrten.
Der Garten, der vom Haus zur Kirche ansteigt, war das Reich von Leonard, für den ein Nachbar aus dem Dorf die Gärtnerarbeit tat. In den ummauerten Gevierten, vermutlich Resten alter Schweinekoben, wuchern dichtgedrängt die Pflanzen. »Das Grün der Grasnarbe mit den Büscheln purpurfarbener japanischer Anemonen ist mir immer vor Augen«, heißt es im Tagebuch. Weiter oben folgt die Obstbaumwiese und der Rasen für das rituelle Boulespiel der Familie an Besuchstagen, unterhalb der Küchengarten.
Später kam die weiße Lodge nahe der Kirche dazu, ein Pavillon aus Holz, damals halb so groß wie heute. Hier hat man für die Besucher Bilder ausgestellt, Vergrößerungen aus dem Album der Woolfs, und im kleinen Raum daneben steht noch immer, wenn auch hinter Glas, ihr Schreibtisch, einfach, schnörkellos und groß, mit einer Brille, Federhaltern und dem blauen Schreibpapier, das sie für ihre Manuskripte nahm. – »Ach, diese tausend Hilfsmittel, die es braucht, um auch nur einen Satz zu schreiben!«, so hatte sie in den ersten Tagen in Rodmell geschrieben. Die Quälerei und Lust zugleich, »die Jungfräulichkeit eines Blattes Papier zu zerstören«, blieb ihr bis zum Ende.
Schreckvisionen, Angstträume und Wahnvorstellungen begleiteten das Schreiben immer wieder und mehrten sich, wenn eine Arbeit fortgegeben wurde, an den Leser. Dazwischen gab es immer wieder glückliche Momente; viele, die sie kannten, berichteten von ihrer Heiterkeit, von ihrer Spannkraft, ihrem Lachen. »Es war ein sehr lustiges Haus«, schrieb Nigel Nicolson, der Sohn ihrer Vertrauten Vita Sackville-West, später über Monk’s House. Doch die Angst, verlacht zu werden, trieb sie auch bei ihrem letzten Manuskript im späten Winter 1941 in die Krise. 1915, als die Woolfs in Richmond lebten, hatte es in ihrer Nähe drei Tote in der Themse gegeben. »Begünstigt das Wetter Selbstmord?«, hatte sie in ihrem Tagebuch gefragt, sechzehn Monate nach ihrem Suizidversuch, und hatte noch ein allgemeines Urteil über das menschliche Leben angefügt: »Ich war immer der Meinung, wir bewerteten es unsinnig hoch.«
Am 28. März 1941 schrieb sie in einem Brief an Leonard, sie fühle, dass sie diesmal nicht genesen werde. Und: »Ich kann Dein Leben nicht länger ruinieren.« Dann ging sie in den Fluss, mit schweren Steinen in der Jackentasche. Sie war neunundfünfzig Jahre alt geworden. Da der River Ouse bei Flut stromaufwärts treibt, fanden Kinder sie erst vierzehn Tage später. »Es war das Schrecklichste, was ich je erlebt habe«, sagte Louie Mayer.
Ihre Asche wurde ebenso wie später die von Leonard im Garten verstreut. Zwei Ulmen standen anfangs hier als Denkmal. Die erste fiel in einem Sturm im Jahre 1943, die zweite ging wie viele auf der Insel beim großen Ulmensterben ein, Mitte der achtziger Jahre. Zwei Büsten stehen jetzt da, umwachsen von Efeu zur Erinnerung, ein Abguss der berühmten Arbeit Stephen Tomlins, der die Porträtierte älter machte, als sie 1931 war, und die Büste ihres Mannes aus dem Jahr vor seinem Tod. Doch das Einzige, was wirklich haltbar ist, hat Nigel Nicolson benannt, ihr Schaffen: »Man reichte ihr eine winzige Information, die so unaufregend wie ein Klumpen Blei war. Was sie zurückgab, glitzerte wie Diamanten.«