Wooden Walls vom Medway
Rochester und Chatham mit den Historic Dockyards
»Dickens was here« – und sein Spazierstock steht noch heute an der Wand in Rochester. Das Eastgate House von 1590 beherbergt ein Charles Dickens Centre, und was an Bildern, Büchern oder Lebensspuren hier versammelt ist, das passt zum Bild der High Street draußen vor der Tür: schwarzes Fachwerk, rote Ziegelwände, weiß lackierte Planken an der Wetterseite der Fassaden – überall viktorianische Behaglichkeit. Zahlreich sind die Bauten links und rechts des roten Backsteinpflasters, die in Dickens’ Büchern eine Rolle spielen, die imposante Guildhall und das Restauration House, die Kathedrale und das Royal Victoria and Bull Hotel, wo sich der Pickwick Club versammelte: Keine Stadt in England ist so sehr Dickens’ Stadt wie Rochester, sein »Dullborough« und »Cloisterham«, die alte Metropole an der letzten Windung des Medway. Und wer vom Fluss herüberkommt und den Verkehr vergessen kann, der sieht die Stadt womöglich so wie auf den ersten Seiten des Romans »Die Pickwickier«, geführt von dem bemerkenswerten Mr. Jingle: »Schöner Ort, ruhmreiche Gebäude – drohende Mauern – wackelige Torbögen – dunkle Winkel – zerfallende Treppen – auch alte Kathedrale – erdiger Geruch« – und was der Attraktionen mehr sind. Begnügen wir uns mit dem Schlusswort: »Kapital!«
Es gibt im Englischen ein Wort für ein solches Stadtbild: dickensified. Und nirgends trifft das Wort so zu wie hier in Rochester, wo Dickens nie gelebt hat. Auch sein Chalet, in dem er 1870 starb, ist erst später abgetragen und hier neu errichtet worden. Doch in Chatham hat er seine Kinderjahre zugebracht, von 1817 bis 1821, und Chatham liegt nur ein paar Hundert Meter weiter an derselben High Street, am selben Medway sowieso. »Wenn heute einer sagen könnte, wo Rochester endet und Chatham beginnt«, hat Dickens selbst gesagt, »dann kann der mehr als ich.« Heute sind die beiden als »City of Rochester-upon-Medway« ohnehin eine Stadt. Und dennoch ist die Unterscheidung so spitzfindig wie sinnvoll. Denn Chatham ist in vielem die Ergänzung und das Gegenbild zum schönen Rochester.
Die eine ist die Dickens-Stadt im Sonntagsstaat, frisch lackiert, mit Blumenkörben an den Häusern; die andere trägt alle Tage ihre Arbeitskluft und zeigt auch sonntags ihre Schwielen an den Händen. Von 1547 bis 1984, seit den Stuarts bis weit in das Atomzeitalter, lag hier im weichen Schlick der wechselnden Gezeiten der Royal Dockyard, die Werft für Englands Seestreitkräfte. Vierhundert Kriegsschiffe wurden hier auf Kiel gelegt; das erste, 1586, war die »Sunne«, das letzte wurde 1966 die »Okanagan«, ein U-Boot der Royal Canadian Navy.
Hier hat John Dickens, der Vater des Erzählers, als Zahlmeister sein Glück versucht, bis er 1822 aufgab und zurück nach London ging. Der Niedergang der Werft kam mit den großen Schiffen und der stärkeren Verlandung in der Medway-Mündung; als die Admiralität die Dockyards 1984 aufgab, verlor die Stadt mit einem Schlag achttausend Arbeitsplätze.
Doch wo andernorts vielleicht saniert, geplündert, abgewickelt worden wäre, hat man sich hier der eigenen Geschichte angenommen und präsentiert die Werftanlage als Historic Dockyard, als Museum. In Zahlen zumindest ist es die größte Sehenswürdigkeit im englischen Südosten, auch wenn die Attraktion der spröden Stätte niemals an die Popularität von Canterburys Kathedrale heranreichen wird. Auf zweiunddreißig Hektar stehen siebenundvierzig historische Bauten beisammen, die meisten aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert, Schwimmdocks, Trockendocks und Schiffsbauhallen, alles im Originalzustand, die Werkstätten der Handwerker, die Amtsstuben der Zahlmeister, die Messe und sogar die Dockyard Church, die eigene Kirche.
Im Backstein des Portals prangt nach wie vor das Wappen Georges III. von 1811, doch den Besuchern bietet sich ein Überblick, der weiter reicht als bloß bis 1811 und die gesamte Zeit der Segel- wie der Dampfschifffahrt umfasst, die ganze Zeit von Englands Größe. Da liegen Kanonen aus den Zeiten der Armada neben solchen aus dem Zweiten Weltkrieg, das U-Boot »XE8« von 1944 neben dem viktorianischen Dreimastdampfboot »Gannet« von 1876 in eiserner Rüstung, und wiederum daneben, in der gleichen schlanken Körperform der Schiffe, das Trockendock 2, die Wiege des berühmtesten von allen Schiffen Chathams und der Royal Navy, der »Victory«, auf Kiel gelegt im Siebenjährigen Krieg, 1759, doch nach dem Krieg erst, 1765, vom Stapel gelaufen, ruhmreich schließlich erst als Veteran, als Nelsons Flaggschiff vor Trafalgar, 1805.
Vieles ist verrottet, mürbe oder blind geworden. Die großen Hallen, die den Medway säumen, stammen schließlich aus den Jahren 1836 bis 1855, frühes Zeugnis einer neuen Rippenkonstruktion, und wenn man sie auch heutzutage gerne zu »Industrial Cathedrals« stilisiert, dulden sie doch keinen Zweifel, dass man sie zu nichts als harter Arbeit hier errichtet hat. Ebenfalls ein bloßer Arbeitsplatz und doch ein eleganter Prachtbau ist die Backsteinhalle für die Segel und die Flaggen von 1734. Wo schon die »Victory« gerüstet wurde, sind immer noch die Segelmacher bei der Arbeit, Wimpel, Souvernirs, robuste Einkaufstaschen sind ihr täglich Brot, aber dann und wann kommt ihnen auch ein Segel in die Nähmaschine. Die Seilerei am Fluss ist gleichfalls in Betrieb, die älteste in England, die noch funktioniert, und obendrein der längste Bau in Chatham: eine knappe Viertelmeile unter einem Dach.
Die größte Sehenswürdigkeit indes ist erst 1990 im alten weißen Mast House eingerichtet worden: die Wooden Walls Gallery, das ebenso patriotische wie lehrreiche Herzstück der Werft. Wooden Walls, so nannte England stolz im 18. Jahrhundert seine Flotte, der schwimmende, bewehrte Schutzwall des Imperiums. Der Bau der »Valiant«, eines vierundsiebzigfach bestückten ship of the line in den Krisenjahren 1758/59 wird hier als lebensechtes Modell mit großem Aufwand simuliert. In England liebt man solche liebevoll gestalteten Lokaltermine der Geschichte, bis ins Letzte ausgetüftelte Spektakel, die dem eigenen historischen Bewusstsein zwanglos auf die Sprünge helfen sollen und die Pilgerfahrt der »Canterbury Tales«, den eleganten Zeitvertreib im Kurort Tunbridge Wells (»A Day at the Wells«) oder die vom Krieg gezeichnete Geschichte Dovers (»White Cliffs Experience«) multimedial vor Augen führen. Ihnen allen aber hat die Wooden Walls Gallery unstrittig voraus, dass ihre Reanimation am rechten Ort vonstattengeht: Die weißen Fachwerkbauten stammen aus den Jahren 1753–1758, und vor den Toren fließt derselbe Medway. So begleitet man den Zimmermannseleven William Crockwell durch die Werkstatt und die Zeit und lernt weit mehr, als bloßer Unterricht in dieser Zeit vermag: Dass für jedes Schiff ein Eichenwald so groß wie die gesamten Dockyards gebraucht wurde, zweihunderttausend Eichen insgesamt in der Geschichte Chathams; dass Handwerker aus zwanzig verschiedenen Berufen Hand in Hand beim Schiffsbau tätig waren – und jeder erst nach sieben Jahren Lehre; dass schon damals mehr als tausendsiebenhundert Mann hier Arbeit hatten, vom Oberschiffsbauer bis hin zum Rattenfänger, dessen Schaffen Jahr für Jahr mit vier Pfund in die Bücher kam. Man sieht die Männer beim Kalfatern, die Schmiede mit dem Anker und die Sägeburschen, die in Handarbeit aus ganzen Eichen Bohlen machen im Akkord.
Schon nach vierzig Jahren war die große Zeit der »Valiant« vorüber, nach 1799 tat sie nur noch Dienst als Quarantäneschiff im Medway; Dickens mag sie also noch gesehen haben. 1826 unternahm sie ihre letzte Fahrt die Themsemündung abwärts bis Sheerness und wurde ausgeschlachtet. Ihre Eichenspanten zieren sicher heute noch so manche malerische Fachwerkwand in England.
Es ist ein Abstecher für einen halben Tag, der Weg von Rochester nach Chatham. Vom Medway geht der Blick zurück auf Gundolfs alte Kathedrale; dort oben wünschte sich Dickens seine letzte Ruhestatt. Doch sein Grab liegt in Westminster Abbey, für die Kreisstadt war er zu berühmt. Dafür ist er hier immer noch lebendig, und nimmt man Chatham noch zu Rochester hinzu, dann ist das Inventar der beiden Zwillingsstädte, wie Mister Pickwick es einst beschrieb, heute noch zu schmecken, zu fühlen und zu riechen: »Soldaten, Seeleute, Juden, Kreide, Garnelen, Polizisten und Dockarbeiter«, und in den Läden »Schiffsbedarf, Zwieback, Äpfel, Plattfische und Austern«.