Verstimmung, Nervenschwäche und schlechte Verdauung

Royal Tunbridge Wells und seine Pantiles

Wenn irgendwo die gute alte Zeit einmal zu Hause war, dann hier, in Royal Tunbridge Wells. Gewiss, vergangen ist sie heute hier wie überall; denn anders als vergangen hat es sie ja auch noch nie gegeben. Doch hier, im Heart of Kent, dem grünen Mittelpunkt des englischen Südostens, inmitten von Hopfen, Obst und heckenübersätem Weideland, im Talgrund zwischen felsgekrönten Buckeln, an deren Hängen längst die Stadt emporgewachsen ist, hier hat die alte Zeit sich leidlich durch die wechselnden Jahrhunderte gemogelt. Wohl wahr, sie hat dabei auch Federn lassen müssen: Der Kreisverkehr am Fuß des Common, des alten öffentlichen Grüns der Stadt mit Bäumen, Ginster, Farn und Gras, verwickelt drei belebte Straßen zu einem dauernden Gewirr, das jeglichem Verkehr die Lebensluft gleich mehrmals täglich nimmt. Doch ein paar Schritte weiter abseits ist der Lärm der Straße schon verschwunden: Der Durchlass im Gemäuer weitet sich zur stimmungsvollen Promenade mit hübschen, weiß lackierten Häuserfronten links und rechts, mit einem Säulengang vor einer Reihe von Geschäften und Linden, die den Weg beschirmen. Das sind die Pantiles, das Herzstück und die Wiege von Royal Tunbridge Wells, die älteste Fußgängerzone der Welt und noch immer eine der harmonischsten.

Nur ein paar kleinere Reklametafeln in den Kolonnaden sperren sich dagegen, dass die schöne Illusion zur plumpen Täuschung wird. Ansonsten aber dominiert das Bild der alten Welt mit ihrem Ebenmaß der Fenster und Fassaden: »Those were the days my friend!« Die gute alte Zeit! Und wer erscheint da wie bestellt, mit Dreispitz und Perücke, Ärmelkrause, Strumpf, Culotte und Schnallenschuh? Ein Abgesandter jener Zeit, der in der heutigen dezent Reklame machen soll für »A Day at the Wells«, das Multimedia-Porträt der städtischen Vergangenheit. Das aber tut er immerhin mit Geistesgegenwart: »You come from Germany? Be welcome! Our King is German, you remember? George II.«

Ein König? Und ein Deutscher? Natürlich, Georg August, Kurfürst von Hannover, wie sein Vater König über Großbritannien, doch kaum ein halber Engländer, wenngleich er, anders als noch George I., immerhin des Englischen schon mächtig war, Regierungszeit von 1727 bis 1760, die schönste Blütezeit von Tunbridge Wells, das damals schon seit hundert Jahren der liebste Badeplatz und Spielplatz für die feine englische Gesellschaft war: »Die Königin ist mit ihren Hofdamen in Tunbridge Wells«, das wird im Tagebuch des Samuel Pepys, der zur Zeit Charles II. lebte, zur häufig wiederholten Formel. Mochte London brennen oder gar die Pest das Land verheeren: Weit genug entfernt vom Hof und seiner Etikette lebte man in Tunbridge Wells wie an einem ewigen Sonntag. Kein Wunder also, dass der Modetreff im Wald bald einen zweiten Namen hatte: Eaux de Scandale.

Freilich, glaubt man der Legende, dann ist der ganze Flecken sowieso ein Teufelswerk: In Mayfield, sieben Meilen – »as the crow flies« – weit entfernt im Süden, lebte im 10. Jahrhundert der Heilige Dunstan, Erzbischof von Canterbury und nebenher ein guter Schmied. Den traf der Teufel an der Esse, als er sich sein Pferd beschlagen wollte. Kaum hatte er den Teufel im Visier, zwackte er ihn mit der glühend heißen Feuerzange in die Nase, dass der Böse einen Schrei und einen Satz tat – geradewegs von hier bis Tunbridge Wells, um sich dort in einer Quelle abzukühlen. Seither, heißt es, hat das Wasser jenen Stich von Schwefel und Eisen, der den Kurbetrieb beflügelt.

Soviel zur Legende, der Rest ist bloß Geschichte: Auf einem Ritt zurück nach London entdeckte 1606 ein junger Edelmann, Dudley, der dritte Lord North, eine eisenhaltige Quelle (»Chalybeate Spring«) im Wald von Waterdown, vier Meilen weit entfernt von Tunbridge, dem heutigen Nachbarort Tonbridge. Der Höfling hatte sich im nahen Eridge Castle von den Ermattungen der Ausschweifung erholen wollen, da kam ihm dieses Wasser gerade recht. Da es scheußlich schmeckte, musste es wohl nützlich sein. Er ließ es prüfen, hörte nur das Beste und genoss es auch selbst zum Beweis. Fortan war die Quelle angezeigt »in cold chronical distempers, weak nerves and bad digestion«, kurz, bei allen widrigen Begleitumständen des höfischen Wohllebens, Verstimmung, Nervenschwäche und schlechter Verdauung. Bei solch willkommener Indikation musste aus dem Wasserloch im Grünen bald eine Goldgrube werden. Die Quelle wurde eingefriedet und bekannt gemacht, den Rest tat die Distanz zur Hauptstadt: nach London war es gerade mal so weit wie von Paris nach Fontainebleau.

Der Ruhm wuchs schneller, als man Häuser bauen konnte. Selbst die Nobelsten der Gäste mussten anfangs noch in Zelten auf dem Hügelkamm kampieren. 1629 bereitete sich Königin Henrietta-Maria hier auf die Entbindung vor, und nach der Geburt ihres Sohnes, des späteren Königs Charles II., kehrte sie im Jahr darauf zurück: Tunbridge Wells, die Quellen von Tunbridge, waren in den Adelsstand erhoben. Noch im dritten Jahrhundert darauf nannte Prinzessin Victoria, Kind des Herzogs und der Herzogin von Kent, das muntere Städtchen »Dear Tunbridge Wells«, und schließlich gab ihm Edward VII. im Jahr 1909 den wahrhaft königlichen Namen »Royal Tunbridge Wells«, der seither alle alphabetischen Register durcheinanderbringt, da niemand sicher sein kann, unter welchem Buchstaben er zu suchen hat, »R« oder »T« – zumal es bloß die Stadt ist, die das königliche Beiwort trägt, nicht der borough, der Verwaltungsbezirk desselben Namens.

Nur einmal hatte Tunbridge Wells mit seinen Royals weniger Fortüne: 1698 glitt der Duke of Gloucester, damals noch ein Knabe von zwei Jahren, auf dem unbefestigten Gelände aus und lag im Dreck. Das weckte den Unmut der Mutter, Prinzessin Anne, und sie gab hundert Pfund, die Wege zu planieren und zu plätten. Doch als sie wiederkam im nächsten Jahr, hatte sich noch immer nichts getan, und niemand sah sie jemals wieder in Tunbridge Wells, weder als Prinzessin noch als Königin. Dabei waren doch die Wege bald mit roten Pfannenziegeln, sogenannten pantiles, akkurat befestigt. 1793 wurden zwar die kleinen viereckigen Ziegel durch die großen grauen Steinplatten ersetzt, über die wir heute promenieren, aber bei dem Namen Pantiles für das Fußgängerdorado blieb es. Die letzten echten pantiles liegen jetzt im Stadtmuseum.

Statt der Ulmen stehen heute Linden in den Pantiles, aber sonst ist noch alles beim Alten: »This place consists of a long walk, shaded by spreading trees, under which they walk while they are drinking the waters«, so hatte schon Anthony Hamilton, ein Autor aus dem 17. Jahrhundert, die Pantiles und die Kurgäste beschrieben. Alles ist noch da, als wäre er erst gestern hier gewesen: die Modeläden bei den Kolonnaden auf der einen Seite, der Fischmarkt auf der anderen; hier finden wir das Badehaus von 1804 mit einer Büste von Lord North, das nun die Quelle birgt, zu der noch immer ein paar Stufen abwärts führen, und so wie früher steht ein Mädchen in alter Tracht hier vor ihrer Dipper’s Hall und reicht das Wasser, wenn man will. Und das schmeckt immer noch nicht besser als 1907, als E. V. Lucas, der viel zitierte Wanderer der »Highways and Byways of Sussex«, es lakonisch goutierte: »If you like the taste of rusty horseshoes there is still the spring.«

Ein paar Schritte weiter finden wir die alte Musick Gallery; heute steht hier bloß ein junger Bariton, ganz ohne jegliche Begleitung, der presst die Hände vor der Brust aneinander und singt so selbstversunken und berückend, dass alles stehen bleibt und lauscht und nach den Pennys in der Tasche gräbt.

Es gab nur einen Ort, der Tunbridge Wells das Wasser hätte reichen können: das elegante Bath, das schon im Namen seinen Ruhm und Zweck bewies, das britische Spa, wenn man so will. Von dort kam 1735 Richard »Beau« Nash als Zeremonienmeister in die Pantiles und setzte Tunbridge Wells das letzte Glanzlicht auf: Jetzt zeigte er den happy few der englischen Gesellschaft, was er mit dem fremden Wort decorum meinte, was man tat und was man besser unterließ, wann der abendliche Ball begann (um achtzehn Uhr) und wann er unbedingt zu Ende war (um dreiundzwanzig Uhr). Heute führt er uns mit ausgesuchtesten Manieren durch sein Spielzeugreich von »A Day at the Wells«.

Ob die Wirklichkeit so vornehm wirklich war, das sei dahingestellt. Daniel Defoe zumindest hatte 1724 noch zum Kurbetrieb bemerkt, er sei doch wenig systematisch: »Some drink, more do not, and few drink physically.« Zerstreuung und Gesellschaft waren wesentlicher als das Wasser und die gute Luft. Das Nichtstun boomte mehr als ein Jahrhundert lang in Tunbridge Wells. Decimus Burton vor allem, der große Architekt des 19. Jahrhunderts, überzog zuletzt die einstmals grünen Hügel mit den elegantesten Ensembles, die wir heute noch bewundern.

Da gibt es die großen Hotels auf dem Mount Ephraim, allen voran bis heute das Spa und das malerische Royal Wells Inn am anderen Ende der Höhe; es gibt den schönen Promenadenhain The Grove und gleich daneben, hinter dem Calverley Hotel, in dem einst Queen Victoria logierte, den Calverley Park mit dem dorisch verkleideten Sandsteinportal der Victoria Lodge. Die halbkreisförmige Gebäudereihe Calverley Park Crescent ist mit ihren Säulen ganz bewusst den Pantiles nachempfunden, und hinter den blickdichten Hecken hoch über den Calverley Grounds liegen noch immer die Villen des Decimus Burton: millionaires’ rows hießen damals solche Straßen im Volksmund.

Die Eisenbahnverwaltung schließlich, voller Hybris, die sie Umsicht nannte, widmete dem Ruhm der Stadt ein eigenes Husarenstück: Sie schaffte es, dass die uralte Nachbarstadt Tunbridge, immerhin der Namensgeber für den Kurort, seinen Namen ändern musste. Tunbridge hieß nun Tonbridge, auf dass kein Reisender in Zukunft mehr am falschen Bahnhof seinen Zug verließe. Das tun die Reisenden zwar heute noch, doch bei dem neuen Namen blieb es.

Dann kam der Niedergang auf Zeit: Die neuen Badeorte an der Küste liefen Tunbridge Wells den Rang ab. 1802 hatte die Tänzerin Sarah Baker noch in den Pantiles ein Theater bauen lassen, dessen Bühne kurioserweise in Sussex lag, während der Zuschauerraum bereits zu Kent gehörte: Die alten Grafschaftsgrenzen hatten Tunbridge Wells noch nicht gekannt. 1843 wurde das Theater aufgegeben und zur Getreidebörse umgewandelt. Hoch auf einem Schild am Dach steht immer noch der Name Corn Exchange, und noch immer hält die frisch lackierte Erntegöttin Ceres ihre Sense hoch. Wo die Gesellschaft ausblieb, brauchte man auch kein Theater mehr.

Doch auch diese Zeiten sind inzwischen längst vorüber. Tunbridge Wells, die Partnerstadt von Wiesbaden, ist heute eine blühende Finanzstadt, Ausflugsort und Einkaufstreff, der lebhafte Hauptort des Weald und liegt in der Nähe der meisten historischen Häuser und Schlösser in Kent. Die schmalen viktorianischen Reihenhäuser in der Mount Ephraim Road sind heute prallvoll mit Büros, und ein neues Shoppingcenter dominiert die Innenstadt: Royal Victoria Place. In der High Street bieten Payne Son, die Silberhändler (»established 1790«), ihre Raritäten an, die schon als antik gelten konnten, als ihr Laden neu war. Die Corn Exchange ist jetzt ein Ladencenter, und wie bestellt zum neuen Aufschwung gibt es wieder ein Theater: Nur ein paar Meilen nördlich vor der Stadt entdeckte der Tenor Kim Begley 1989 im Landhaus David Salomons einen ganzen edwardianischen Theatersaal, an dem sein etwa hundertjähriges Bestehen wie ein Tag vorbeigegangen war. Den neuen Eigentümern hatte Broomhill, wie die Stätte heißt, zuletzt als Schulungsraum gedient. Doch schon im Sommer 1991 gab es erstmals wieder ein Konzert in Broomhill, und das berühmte Glyndebourne schickte seinen »Don Giovanni« in das prächtige Theater. Seither mietet der Broomhill Trust jeweils für zwei Monate im Sommer das Theater und veranstaltet Opern, Feste und Konzerte. London liegt noch immer vor der Tür, und Tunbridge Wells ist wieder eine Attraktion wie vor Jahrhunderten: »The company though always numerous, is always select.« – So hatte Anthony Hamilton damals geschrieben. »And joy and pleasure are the sole sovereigns of the place.«