Der Held als Frau
Knole und andere Schlösser in Kent
Orlandos Lieblingsplatz liegt hoch bei einer Eiche, auf dem Rücken einer Höhe – »so hoch in der Tat, dass man unten neunzehn englische Grafschaften sehen konnte; und an klaren Tagen dreißig oder vielleicht vierzig, wenn das Wetter sehr schön war«. – Man sieht zuweilen den Kanal, im Osten Londons, eingehüllt in Rauch, und in der Ferne obendrein den Snowdon.
Nichts von alledem ist wahr: Der Snowdon liegt in Wales, der Ärmelkanal fern auf der anderen Seite, und auch Orlando ist erfunden, oder doch zur Hälfte, Titelheld und -heldin eines biografischen Romans von Virginia Woolf. Die zweite Hälfte freilich hat gelebt, Victoria (»Vita«) Sackville-West, Vertraute wie Geliebte der Autorin. Sie war das kaum verhüllte Vorbild für Orlando. Ihr hat Virginia Woolf ihre Arbeit gewidmet, und am Ende mochte sie die Freundin fragen: »Habe ich dich erfunden?«
Vorgefunden hat sie immerhin den Schauplatz, hoch auf dem Rücken des Sevenoaks Ridge. Hier, wo der Sandstein sich zu grünen Buckeln wölbt, inmitten alter Bäume, verborgen hinter Eichen, Buchen, Ahorn und Kastanien, liegt auf einem dieser Hügel oder knolls, nach einem alten Wort, Vitas Vaterhaus und heißt nach seiner Lage: Knole – nicht das schönste, nicht das meistbesuchte, aber doch das typischste, charaktervollste und vor allem »englischste« von allen Herrenhäusern Kents. Und das will einiges bedeuten: Einzig noch Northumberland verzeichnet mehr an Schlössern und Kastellen als die alte Grafschaft Kent, die Wiege und der Garten Englands.
Wie der Roman im spielerischen Umgang mit der Erzählform der Biografie das Leben Vita-Orlandos erzählt, so erzählt er auch das Leben dieses Hauses seit der Frühzeit bis zum »Augenblick der Gegenwart«, dem 11. Oktober 1928, dem Erscheinungstag des Buches. Auch Orlando lebt die ganze Zeit und altert über vier Jahrhunderte eben mal um zwanzig Jahre: »Orlando, der Held, wird von den Tagen Elisabeths bis zur Gegenwart leben und auf halbem Wege eine Frau werden«, schrieb VW (Virginia Woolf) vor der Veröffentlichung an ihren Verleger, »es wird völlig phantastisch und sehr einfach geschrieben sein …«
Fantastisch ist der Wandel des Geschlechts, der freilich Vitas Neigungen entspricht: Sie liebte Frauen und liierte sich mit Männern. Fantastisch ist die Dauerhaftigkeit im Wandel, doch eben hierin liegt die Wahrheit der Erzählung eigentlich begründet, denn eine Reise durch die Zeit ist jede Fahrt durch Englands heckenübersäte countryside mit ihren alten Dörfern, Herbergen und Kirchen, jeder Schlossbesuch zumal – und ganz besonders der Besuch in Knole, das auch im Augenblick der Gegenwart wie in Tudorzeiten vor uns steht.
»Heart of Kent«: So heißt der beste Schauplatz einer solchen Zeitreise. Und Schlösser und Kastelle bilden hier wie vor Jahrhunderten die Pfosten, zwischen denen dieses Herzstück Englands abgesteckt ist: Leeds Castle im Osten, Sissinghurst und Scotney Castle, die beiden Ruinen mit herrlichen Gärten, und das märchenhaft-wehrhafte Bodiam Castle gleich jenseits der Grenze von Sussex im Süden, Penshurst Place und Hever Castle im Westen, dazwischen, als Filetstück: Knole.
»Das große Haus zu Sevenoaks«, wie es bereits im 15. Jahrhundert hieß, ist mit dem Gang der Zeiten nicht nur im Roman, sondern auch in der Wirklichkeit verbunden: Es ist – »as time goes by« – um sieben Innenhöfe rings gebaut, hat zweiundfünfzig Treppen und soll so viele Räume haben wie Tage im Jahr: dreihundertfünfundsechzig. Niemand weiß, ob das bloß Zufall ist oder Zahlenmagie der Erbauer; selbst Vita Sackville-West, die auf Knole herangewachsen ist und die dem Haus ihrer Geburt ein Buch gewidmet hat (»Knole and the Sackvilles«, 1922), gesteht, die Zahlen nie geprüft zu haben: Am liebsten, schreibt sie, sei ihr die Idee, der letzte Architekt sei unverhofft darauf gestoßen, dass er mit wenig Aufwand und ein wenig Zahlenakrobatik, mit Vorzimmern und List und Lobbys, bedeutungsschwere Wirkung schaffen könne. Wie auch immer: Heute sind die Zahlen in der Welt und heischen Unterwerfung.
Was die Autorin in der Dichtung an das Leben und Erleben einer einzigen Figur gebunden hat, das verbindet sich historisch mit dem Namen einer einzigen Familie: Ein Lord of Sauqueville, ein Ritter aus der Normandie, vier Jahre schon nach der Eroberung des Jahres 1066 urkundlich bezeugt, soll der Ahnherr aller Sackvilles sein. Wie diese hat Orlando neben englischem auch normannisches Blut in den Adern.
Als festes Haus ist Knole seit 1281 belegt. 1456 kaufte es der Erzbischof von Canterbury, Thomas Bourchier, für zweihundertsechsundsechzig Pfund, dreizehn Shilling und vier Pence und verwandelte die Festung in eine Wohnstatt. Drei weitere Erzbischöfe folgten, dem vierten, Thomas Cranmer, forderte Heinrich VIII. es ab. So fiel es an die Krone. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte England eine mächtige Zentralgewalt, niemand musste sich fortan um seine eigene Verteidigung bemühen, die Zeit der castles, der Burgen, war vorüber: Knole wurde eines der ersten großen country houses Englands.
Zu Heinrichs Zeit gelangte ein Richard de Sackville zu Reichtum und zu rüdem Ruf, der durch das Wortspiel »sackfill« oder »fillsack« überliefert wurde. Seine Mutter war eine Tante der Königin Anne Boleyn, Heinrich Blaubarts zweiter Frau, und deren Tochter, Elisabeth I., gab Knole an ihren Cousin Thomas Sackville, als sie auf dem Thron saß, 1566 noch auf Zeit, 1603 für immer.
Sackville war ein Günstling seiner Königin, kein Zweifel, Politiker, Botschafter in Frankreich und den Niederlanden, Schatzmeister zuletzt – und Künstler obendrein, der Dichter der ersten englischen Tragödie im Blankvers. Er war – mit einem Wort –, wie Vita Sackville-West, Orlando. Und so wie Orlando ließ auch Thomas, unter James I. 1604 zum Earl of Dorset erhoben, das Haus aufs Prächtigste verwandeln.
Seit jener Zeit hat Knole sich kaum verändert. Da ist die große, aber unscheinbare Westfassade, die noch der König hatte bauen lassen, das Erste, was der heutige Besucher sieht, ein graues Bild von Ebenmaß und Abgeschlossenheit. Man muss aus einem hohen Fenster blicken können, um Knole in jener Vielfalt zu entdecken, die Orlando immer wieder fasziniert: »Sein Haus. Dort lag es im frühen Sonnenschein des Frühlings. Es sah eher wie eine Stadt aus denn wie ein Haus, aber eine Stadt, die nicht kreuz und quer erbaut war, wie dieser Mann es wünschte oder jener, sondern von einem einzigen Baumeister mit einer einzigen Vorstellung im Kopf.« – Es war der Kopf Bouchiers.
Homogen wie alles auch der Stein: Kentish rag, rauer grauer Kalkstein der Umgebung, der im Sonnenlicht ein wenig glänzen mag, silbern wie Perlmutt, und für die feineren Konturen polierter Muschelkalk aus Kent, Bethersden marble. Mögen auch die stolzen Bauten des 18. Jahrhunderts weithin als gefälliger, auch typischer gelten: Englischer zumindest sind sie nicht. Sie seien, so schreibt Vita Sackville-West, »in England, they are not of England«.
Englisch ist in Knole schon die Fassade aus Bescheidenheit. Draußen an der Außenmauer, die genauso alt ist wie das Haus und aus demselbem grauen Stein, weisen uns die kleinen Schilder, unauffällig schwarz mit weißer Schrift, voller Understatement bloß zum »House«. Umso mehr beeindruckt dann bereits die Anfahrt, scheinbar weg vom Haus, im Bogen hinab und durch die Senke eines lange verschwundenen Baches und aufwärts zwischen Baumgiganten, vorbei an unzähligem Damwild und zuletzt ans Tor. Dort wiederholt sich das Erlebnis: Unscheinbar beinahe wirkt der Stone Court, bis die Führerin mit einem Wink hinaufweist an die Regenrinnen mit den alten Initialen »TD« – Thomas Earl of Dorset. Das Wasser aus den viereckigen Rohren sammelt sich in einem großen Reservoir gleich unter uns. Im Innern schließlich ist die Wirkung dann am größten. Immer wieder sagt uns unsere Begleiterin, im zugeknöpften Mackintosh, mit bläulich eingefärbten Haaren, »wir sind kein Museum«. – Sie sagt tatsächlich »wir«, nicht »Knole« – nur um dann wieder eine neue Tür zu öffnen zu einem neuen Raum voller Bilder, hier ein halbes Dutzend Ölgemälde nach van Dyck, dort eine Reihe Porträts »after Holbein«, dort sechs großformatige Kopien nach Raphael, zuletzt die Reynolds gleich im Dutzend mit einem Gainsborough als Zugabe.
Nur ein Cembalo in England ist älter als das in Knole von 1622. Kein Möbel ist berühmter als das sogenannte »Knole Settee« aus dem 17. Jahrhundert, der ferne Ahnherr ungezählter Sofas. Und ohne seinesgleichen ist im ganzen Land der King’s Room mit der opulenten Ausstattung aus Goldbrokat und reinem Silber. James II. hat hier einst logiert, als er noch Duke of York war, seither hat man das funkelnde Gemach für ihn bereitgehalten. Doch er kam kein zweites Mal. Über hundert Menschen haben dieses Bett in jahrelanger Arbeit kürzlich wiederhergestellt, und als vor ein paar Jahren die Ausstattung des Raumes vorübergehend in Amerika gezeigt wurde, war eine Dame des Vertrauens drei Wochen lang damit befasst, das Silber zu polieren – Spiegel, Kerzenständer, Bürsten und Flakons. Jetzt sei sie nicht mehr sauer, sagt heiter die Dame vom National Trust, die hier gemütlich Wache hält, dass sie zu Hause mit ihrem Silber nicht immer so zurechtkomme, wie sie sich das vorgestellt habe. Auch der Tisch ist ganz aus Silber, einen ähnlichen besitzt die Queen in Windsor, wird uns anvertraut, aber der ist in der Tat vier Jahre jünger.
Ein einziger Raum im ganzen Haus gilt als »Museumsraum«, auch das will sagen, dass das Haus als Ganzes kein Museum ist. Es ist noch immer bewohnt, die Türen rechts und links im Durchgang zum Stone Court tragen allesamt den kleinen Hinweis »private«, und stünde hier ein Name auf dem Schild: Er wäre Sackville – wie seit 1566.
1946 gab Vitas Onkel sein Haus schweren Herzens an den National Trust, doch immer noch bewohnen Sackvilles den größeren Teil, und in den öffentlichen Räumen ist der alte Geist zu Hause wie sonst nirgends. Die hingestreckte Schöne am Fuß der großen Treppe stellt Giannetti Baccelli dar, eine italienische Tänzerin, die Geliebte des dritten Duke of Dorset – seit 1720 waren die Sackvilles Herzöge. Noch nach über zwei Jahrhunderten fällt es leicht zu glauben, dass der Herzog, wie von Sinnen, ihr seinen diamantenbesetzten Hosenbandorden antrug und sie damit ihre Haare zusammenhielt. Und wer weiß, vielleicht war er ja wirklich der Geliebte der Marie-Antoinette, Botschafter in Frankreich war er jedenfalls. Selbst der Duft ist hier der alte: Das machen die Potpourris nach dem Rezept der Lady Germain von 1750, Rosenblätter, Veilchen und Lavendel, Myrten, Eisenkraut und Rosmarin, Lorbeerblätter, Balsam und Geranien und vieles mehr in großen Schalen, die im ganzen Haus verteilt sind.
Im Augenblick der Gegenwart ist die Vergangenheit lebendig: Das macht Knole so einzigartig unter Englands Herrenhäusern. Ähnlich ist es nur in Penshurst Place, das gemeinsam mit der Kirche und dem alten Leicester Arms Hotel jenseits der Straße ein ganzes Dorf beherrscht. Das zinnenbewehrte gotische Schloss ist noch bewohnt und gänzlich in Privatbesitz. Auch hier der Eindruck von Geschlossenheit im Westen, und wiederum erschließt sich das gegliederte Gemäuer dem Besucher erst, wenn er sich nähert, von Süden her, vorüber an getrimmten Eiben und weiter in den akkuraten Garten.
Gebaut aus gutem, festem Stein, mehr auf würdige Bemessenheit bedacht als auf verfeinerte Schönheit: So hat einer der Bewohner, Sir Philip Sidney, auch er ein Diplomat und Dichter, Penshurst Place am Ausgang des 16. Jahrhunderts beschrieben. Damals war das Haus schon alt, die große mittelalterliche Halle stammt von 1340 und stützt ihr weites Dach noch immer auf dieselben mächtigen Kastanienbalken wie schon vor sechshundert Jahren. Und auch zu diesem Haus ist einem Dichter eine Zeile über das Vergehen und die Zeiten in den Sinn gekommen: »Fresh as the ayre, and new as are the houres«, so schrieb Ben Jonson über Penshursts Garten. Doch Penshurst Place hat Zeiten des Verfalls und Niedergangs erlebt, im 18. Jahrhundert nahm ein neuer Eigner den alten Namen Sidney an, um so die Kontinuität des Hauses zu bewahren, und so mag der jetzige Besitzer, Viscount De L’Isle, wahlweise auf zwei und vier Jahrhunderte zurückblicken.
Wer mit dem Auge reist, der findet leicht in Hever und Leeds Castle, was er sucht. Das malerische Inselschloss Leeds Castle ist das Traumschloss jeder Sehnsucht nach dem Mittelalter – »das schönste Schloss der Welt«, nach Lord Conway. Und es tut im Grunde nichts zur Sache, dass das ganze Zitat weit weniger werbewirksam ist: Wenn man das Schloss im Nebel sieht und die Mauern, wie sie sich im Graben spiegeln, dann könnte man wohl denken, es sei »das schönste Schloss der Welt«.
Das alte Königinnenschloss, beliebter Rastplatz auf dem Weg nach London, ist heute im Besitz einer Gesellschaft und kann für Seminare angemietet werden. Im Sommer gibt es Golfturniere und Ballonregatten, und aus der Höhe sieht der See mit den Gebäuden auch am besten aus. Oder zu Ostern, wenn in den gelben Meeren der Narzissen zwanzigtausend Ostereier auf die Kinder der Besucher warten. Im Innern ist der Abglanz der Epochen allenfalls geborgt, zusammengetragen zumeist, wenn auch mit Geschmack. So steht man unverhofft vor belgischen Behängen und einem Pastell von Degas oder findet neben einem Triptychon eines flämischen Meisters zwei Pissarros. Daneben in den alten Kaminen ein künstliches Feuer. Die letzte Eignerin, Lady Bailley, die Leeds Castle in den zwanziger Jahren erwarb, wünschte sich, mit Recht, auch den Komfort des 20. Jahrhunderts.
Und schließlich Hever Castle, ein Park, ein Parkplatz und ein Wasserschloss dahinter. Hier wird die Reise durch die Zeit zur sentimental journey. Hever war der Stammsitz der Familie Bullen, deren unglückseligste Vertreterin sich auf dem Weg zum Gipfel für die Vornehmheit entschied und ihren derben Namen in »Boleyn« verwandelte. Hier war es, wo der König um sie warb und wo er sich, in Briefen, als »treuer Diener« ihr zu Füßen legte: »Obwohl Ihr, meine Geliebte, nicht geruhet, Euch an das Versprechen zu erinnern, das Ihr mir bei unserer letzten Zusammenkunft gabt – nämlich … auf meinen letzten Brief zu antworten – geziemt es nach meiner Ansicht dennoch einem wirklichen Diener, sich nach dem Befinden seiner Geliebten zu erkundigen« – die Launen des Verliebten als geschraubte Perioden. Die Hochverehrte sitzt derweil an ihrer Handarbeit und lässt den König zappeln. In der Staircase Gallery ist eine ihrer Hauben ausgestellt, gefertigt von Anne Boleyn. Der König, immerhin verheiratet mit Katharina von Aragón, wünscht sich unterdessen in die Arme »meines Schatzes, dessen hübsche Brüste ich bald zu küssen hoffe«. Auch dieser Brief ist überliefert. Heinrich hat wohl kaum geahnt, dass der Angebeteten in gar nicht fernen Zeiten der Makel angehaftet werden würde, dass sie der Brüste dreie habe! In ihrem Zimmer wird ihr Stundenbuch verwahrt mit ihrem handschriftlichen Motto: »Remember me when you do pray/ that hope doth lead from day to day/ Anne Boleyn.« Sie trug es bei sich auf dem Weg zur Hinrichtung im Tower, wo ihr Ehemann sie köpfen ließ wegen wiederholten Ehebruchs, sogar mit ihrem Bruder, womöglich aber nur, weil sie ihm eine Tochter schenkte, aber keinen Sohn für seinen Thron. Für den Henker war ein Honorar von vierundzwanzig Pfund vereinbart, und das zu einer Zeit, da ein ganzes Drittel der steuerzahlenden Bevölkerung unter einem Jahreslohn von einem Pfund blieb.
Fast flüsternd weisen die Besucher einander auf die Fingerzeige an den Wänden hin und haben Mühe, Heinrichs Ehen wenigstens im Abzählvers zu überblicken: »Bluff Henry the Eighth to six spouses was wedded:/ One died, one survived, two divorced, two beheaded.« Da ist er überführt, der »Blut- und Fettfleck«, wie es Dickens schrieb, »im Buch der englischen Geschichte«.
Von der Geschichte ist in Hever freilich kaum etwas erhalten. Nach dem frühen Tod von Annes Vater fiel das Schloss an Heinrich, der gab es an seinen vierten Versuch, an Anne von Kleve, als Mitgift für die Scheidung nach einem halben Jahr Ehe. Nach deren Tod ging Hever unter. Und von Heinrich blieb der gut gemeinte Vers aus früher Zeit: »For whoso loveth, should love but one;/ Change whoso will, I will be none.«
Erst einem reich gewordenen Amerikaner, William Waldorf Astor, Nachfahre deutscher Emigranten aus Walldorf nahe Heidelberg, war es vorbehalten, Hever zu neuem Leben zu erwecken. Er fand, dass sein Amerika für einen Gentleman bei Weitem nicht die richtige Adresse sei und kaufte 1903, was noch von Hever übrig war.
Einen Großteil des Schlosses ließ er neu errichten – in bloß drei Jahren, mit Hunderten von Arbeitern. Er überzog das Innere mit kostbar falschem Tudorstuck und kunstvollen Intarsien, mit Schnitzereien in der besten Art der alten Meister, aber ausgeführt im 20. Jahrhundert. Er ließ im Hintergrund des Schlosses ein echtes, gleichwohl falsches, Tudordorf errichten, den Park gestalten bis zum Taxuslabyrinth, schuf einen italienischen Garten und dahinter einen See, so kunstvoll und so künstlich wie der große Rest; so aufwendig und kostbar, dass die perfekte Kulisse selbst zum Kunstobjekt erhoben wurde, die Fälschung zum Original. Der Zweifel kommt erst auf den zweiten Blick und im Vergleich: Hat man den Morning Room gesehen mit seiner Ausstattung des 17. Jahrhunderts, dann sind die Balken in den Räumen nebenan mit einem Mal zu akkurat, und noch die Holzkassetten an den Wänden lassen leicht das Lineal erkennen.
Ganz anders Knole: »We don’t restore, we just conserve«, erklärt uns unsere Begleitung programmatisch. Die schweren Dielen, dunkel von den Jahren, sind von alten Schrammen wie genarbt, die Planken haben Löcher oder Risse, aber im Glanz spiegeln sie die Pflege wider, die man ihnen hier gewährt. So scheinen die Jahrhunderte in Knole bis in den Augenblick der Gegenwart hinein.
Nur der Roman »Orlando« selbst ist Opfer der Vergänglichkeit geworden. Virginia Woolf hatte das Manuskript ihrer Freundin geschenkt. Es blieb auch späterhin in Knole, wohin es denn auch mehr gehört als an jeden anderen Ort. Noch vor ein paar Jahren sahen wir es so am Anfang der Visite. Doch die purpurrote Tinte droht inzwischen völlig zu verblassen, und wenn man es dereinst noch einmal in der Großen Halle wiederfindet, dann womöglich als Kopie. Es wäre, paradox genug, in diesem Haus die erste.