Ich schlich zu Kelly zurück und flüsterte ihr zu: »Los, komm schon!«

Unsere Schuhe waren dick mit Schlamm bedeckt, deshalb zogen wir sie auf der Terrasse vor der Veranda aus und legten sie in die Reisetasche. Dann traten wir ein, und ich zog die Tür hinter uns zu.

Ich deckte die Streuscheibe meiner Maglite mit Zeige- und Mittelfinger ab, so daß nur ein schmaler Streifen Licht austrat, den ich auf den Boden richtete, damit wir uns im Wohnzimmer zurechtfanden. Die Möbel waren zur Seite gerückt worden, damit der Teppichboden entfernt werden konnte; darunter waren jetzt die mit Nut und Feder verbundenen nackten Spanplatten der Unterkonstruktion sichtbar. Irgend jemand hatte alle von Kev stammenden Blutflecken gründlich entfernt, was den starken Chemikaliengeruch erklärte.

Wir erreichten die Tür zur Diele. Kelly, die jetzt Erfahrung mit solchen Dingen hatte, blieb ohne Aufforderung davor stehen. Ich kniete mich hin, öffnete die Tür einen Spalt und sah hinaus. Die Haustür war geschlossen, aber der Lichtschein der Straßenbeleuchtung fiel durch das bunte Tiffanyfenster über ihr. Ich knipste die Maglite aus und postierte Kelly mit der Reisetasche in der Diele.

Dann machte ich eine Pause, um zu horchen und zu beobachten. Draußen lief der Motor des Streifenwagens noch immer im Leerlauf.

Ich spürte, wie Kelly mich am Ärmel zupfte.

»Nick?«

»Psst!«

»Wo ist der Teppichboden ... und woher kommt dieser gräßliche Gestank?«

Ich drehte mich um und legte Kelly meinen Zeigefinger auf die Lippen. »Darüber reden wir später«, flüsterte ich.

Das Funkgerät des Streifenwagens piepste wieder. Die beiden Beamten saßen vermutlich in ihrem Fahrzeug, tranken Kaffee und waren sauer, weil sie die ganze Nacht hier Wache halten sollten. Dann war Funkverkehr zu hören. Die Stimme aus der Zentrale klang wie ein weiblicher Hitler, als sie jemanden zusammenstauchte.

Ich bedeutete Kelly, bei der Reisetasche zu bleiben, ging zur Tür des Arbeitszimmers und öffnete sie lautlos. Dann kam ich zurück, holte die Tasche und schob Kelly vor mir her ins Arbeitszimmer. Meine Reisetasche stellte ich in die Tür, damit Licht aus der Diele in den Raum fiel.

Im Arbeitszimmer sah es nicht viel anders aus als bei meinem letzten Besuch, aber jemand hatte die Papiere, die im gesamten Raum verstreut gewesen waren, eingesammelt und an der Wand entlang ausgelegt. Kevs PC lag noch immer umgekippt auf der Schreibtischplatte; Drucker und Scanner standen wie zuvor auf dem Fußboden. Alle Geräte waren nach Fingerabdrücken abgesucht worden.

Ich nahm das schwarze Tuch und eine Schachtel Zeichennadeln aus meiner Reisetasche und schob den Stuhl ans Fenster. Dann stieg ich in aller Ruhe hinauf und befestigte das Tuch sorgfältig mit den Nadeln am Fensterrahmen Nun konnte ich die Tür zumachen und die Maglite einschalten. »Wo ist das Versteck?« fragte ich Kelly flüsternd. »Du brauchst es mir nur zu zeigen.«

Als ich den Lichtstrahl über die holzgetäfelten Wände des Arbeitszimmers gleiten ließ, deutete sie auf eine Stelle der Wandverkleidung im toten Winkel hinter der Tür. Das war gut; dort schien sich niemand zu schaffen gemacht zu haben.

Ich machte mich sofort daran, das Paneel mit einem Schraubenzieher loszuhebeln. Draußen auf der Straße fuhr ein Auto vorbei, und ich hörte die Polizeibeamten laut lachen - vermutlich auf Kosten der Hexe in der Zentrale. Die beiden hatten lediglich den Auftrag, Neugierige daran zu hindern, hier herumzuschnüffeln. Wahrscheinlich würde dieses Haus bald abgerissen werden. Wer würde schon ein Haus kaufen wollen, in dem eine ganze Familie ermordet worden war? Vielleicht würde an dieser Stelle ein kleiner Park zum Gedenken an die Familie Brown angelegt werden.

Ich behielt Kelly in meiner Nähe, damit sie nicht unruhig wurde. Sie interessierte sich dafür, was ich machte, und ich lächelte ihr gelegentlich zu, um ihr zu zeigen, daß alles in Ordnung war.

Das Paneel gab mit leisem Knarren nach. Ich entfernte es und stellte es beiseite. Dann kniete ich hin und leuchtete mit meiner Maglite in den Hohlraum dahinter. Ihr Lichtstrahl zeigte mir etwas metallisch Glänzendes: einen in die Wand eingebauten würfelförmigen Tresor mit etwa fünfzig Zentimeter Seitenlänge. Das

Zahlenschloß schien Ähnlichkeit mit einem britischen Chubb zu haben. Die richtige Kombination zu finden, konnte Stunden dauern.

Ich nahm mein schwarzes Werkzeugetui aus der Reisetasche, machte mich an die Arbeit und versicherte Kelly dabei mehrmals, es werde nicht lange dauern. Aber ich merkte, daß sie langsam unruhig wurde. Zehn Minuten vergingen. Eine Viertelstunde. Zwanzig Minuten. Schließlich konnte sie nicht länger stillhalten und quengelte laut flüsternd: »Was ist mit meinen Teddybären?«

»Psst!« Ich legte einen Finger auf ihre Lippen. »Die Polizei!« In Wirklichkeit meinte ich natürlich: »Zum Teufel mit deinen Teddybären; die holen wir, wenn ich fertig bin.« Ich arbeitete konzentriert weiter.

Nach kurzer Pause drängte sie hörbar lauter: »Aber du hast gesagt, daß ich sie holen kann!«

Damit mußte Schluß sein. Die freundliche Masche zog offenbar nicht. Ich drehte mich nach ihr um und knurrte: »Wir holen sie, wenn ich fertig bin. Und jetzt halt die Klappe!«

Kelly war sichtlich erschrocken, aber sie hielt jetzt den Mund.

Zum Glück bekam ich die Zahlenkombination schneller heraus, als ich gehofft hatte. Ich war eben fertig, hatte mein Werkzeug schon eingepackt und war dabei, die Tresortür aufzuziehen, als Kelly zu jammern begann: »Mir gefällt’s hier nicht, Nick. Alles ist so anders!«

Ich fuhr herum, bekam sie zu fassen und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu. »Halt die Klappe, verdammt noch mal!« fauchte ich. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber ich hatte jetzt keine Zeit für lange Erklärungen.

Ich hielt ihr weiter den Mund zu, während ich langsam mit ihr ans Fenster ging. Ich horchte und wartete, aber draußen war nichts Verdächtiges zu hören. Nur angeregte Unterhaltung, zwischendurch Lachen und das Piepsen des Funkgeräts.

Aber als ich mich vom Fenster abwandte, hörte ich ein kurzes metallisches Scharren.

Dann herrschte eine Zehntelsekunde lang atemlose Stille.

Im nächsten Augenblick krachte der große Zinnbecher, in dem Kev Filzschreiber, Bleistifte und Kugelschreiber stehen hatte, laut scheppernd vom Schreibtisch auf den Boden. Der Krach ging weiter, als die Stifte aus dem Becher nach allen Seiten auseinanderkullerten.

Ich wußte, daß ich dieses Scheppern zwanzigfach verstärkt wahrgenommen hatte, aber ich wußte auch, daß die Polizeibeamten es ebenfalls gehört haben würden.

Kelly fing ausgerechnet jetzt an, vor Angst zu schluchzen, aber ich könnte mich nicht um sie kümmern. Ich ließ sie stehen, hastete zur Tür und hörte, wie draußen Autotüren geöffnet wurden. Auch der Funkverkehr hatte sich schlagartig verstärkt.

Ich zog meine Pistole aus dem Hosenbund, entsicherte sie und verließ das Arbeitszimmer. Mit drei großen Schritten hatte ich die Diele durchquert und war in der Küche verschwunden. Ich schloß die Tür hinter mir, holte mehrmals tief Luft und wartete.

Die Haustür wurde aufgeschlossen, und ich konnte die beiden in der Diele hören. Als sie das Licht anknipsten, sah ich einen Lichtstreifen unter der Küchentür.

Dann waren auf der anderen Seite der dünnen Sperrholztür schwere Schritte, nervöse Atemzüge und das Klirren eines am Gürtel getragenen Schlüsselbunds zu hören.

Die Tür des Arbeitszimmers wurde aufgestoßen. Im nächsten Augenblick rief jemand aufgeregt laut:

»Melvin, Melvin - komm mal her!«

»Jo!«

Ich wußte, daß ich jetzt handeln mußte. Ich hielt die Pistole schußbereit, legte die linke Hand auf den

Türknopf und drehte ihn lautlos. Dann trat ich in die Diele hinaus.

Melvin, der mir den Rücken zukehrte, stand auf der Schwelle von Kevs Arbeitszimmer. Er war jung und ziemlich stämmig. Ich war mit wenigen Schritten hinter ihm, schlang ihm meinen linken Arm um den Hals und rammte ihm die Pistolenmündung in den Nacken. Mit beherrschter Stimme, die meiner augenblicklichen

Verfassung keineswegs entsprach, forderte ich ihn auf: »Lassen Sie Ihre Pistole fallen, Melvin. Keine

Dummheiten! Weg mit der Waffe!«

Seine rechte Hand griff nach der Pistole, zog sie aus dem Halfter und ließ sie zu Boden fallen.

Ob der andere seine Dienstwaffe gezogen hatte, konnte ich nicht erkennen. Im Arbeitszimmer brannte bisher kein Licht. Die Taschenlampe des anderen Beamten nutzte mir nichts. Melvin und ich blockierten den größten Teil des Lichts der Dielenlampe. Ich hoffte jedoch, der erste Mann würde seine Pistole schon weggesteckt haben, um die Kleine nicht noch mehr zu ängstigen. Aus ihrer Sicht war Kelly nur ein kleines Mädchen, das unter vorerst ungeklärten Umständen in dieses Haus geraten war.

»Mach Licht, Kelly!« rief ich. »Los, beeil dich!«

Keine Reaktion.

»Los, Kelly, mach Licht.« Ich hörte leichte Schritte auf uns zukommen. Ein Klicken, dann flammte die Deckenlampe auf.

»Okay, bleib dort stehen.« Ich sah, daß sie rotgeweinte Augen hatte.

Hinter dem Schreibtisch stand der Michelin-Mann. Er mußte über hundert Kilogramm wiegen und befand sich schon fast im Pensionsalter. Die Pistole steckte noch im Halfter, aber seine rechte Hand lag auf ihrem Griff.

»Lassen Sie die Waffe stecken!« warnte ich ihn. »Los, sagen Sie’s ihm, Melvin.« Ich stieß ihm die Mündung meiner Pistole gegen den Hals.

»Ich bin erledigt, Ron«, bestätigte Melvin.

»Keine Dummheiten, Ron, verstanden? Es lohnt sich nicht, wegen dieser Sache den Helden zu spielen. Wirklich nicht!«

Ich merkte gleich, daß Ron mich verstand. Vermutlich dachte er an seine Frau, seine Hypothek und seine Chancen, jemals wieder eine Tüte Donuts zu sehen.

Im nächsten Augenblick piepste Melvins Funkgerät. »Wagen sechs-zwo, Wagen sechs-zwo, hören Sie mich?« fragte die scharfe Frauenstimme aus der Zentrale. Das klang wie ein Befehl, nicht wie eine Frage. Es mußte

großartig sein, mit ihr verheiratet zu sein.

»Das seid ihr, Melvin, stimmt’s?« fragte ich.

»Ja, Sir, das sind wir.«

»Sagen Sie ihr, daß hier alles in Ordnung ist.« Um meiner Aufforderung mehr Gewicht zu verleihen, drückte ich die Pistole noch fester gegen seinen Hals. »Die Waffe ist entsichert, Melvin, und ich habe den Finger am Abzug. Melden Sie ihr, daß alles in Ordnung ist. Es lohnt sich nicht, den Helden zu spielen, Kumpel.«

»Ich mach’s«, stieß Ron hervor.

»Wagen sechs-zwo, Meldung!« verlangte die Stimme.

»Okay, Sie nehmen die rechte Hand hoch und drücken mit der linken die Sprechtaste«, wies ich Ron an. »Kelly, du darfst kein Wort sagen, verstanden?«

Sie nickte. Ron drückte die Sprechtaste seines Funkgeräts. »Zentrale, hier sechs-zwo. Wir haben das Haus abgesucht. Alles in Ordnung.«

»Verstanden, sechs-zwo, Meldung um 2213 registriert.«

Ron klickte zweimal mit der Sprechtaste.

Kelly schluchzte sofort wieder los und hockte sich auf den Fußboden. Ich stand weiter auf der Schwelle, hielt meine Pistole gegen Melvins Hals gedrückt und hatte Ron, dessen Waffe noch im Halfter steckte, mitten im Raum vor mir stehen.

»Wenn Sie jetzt nicht mitspielen, Ron, erschieße ich erst Melvin und anschließend auch Sie. Haben Sie das verstanden?«

Ron nickte.

»Okay; dann drehen Sie sich um, Ron.«

Er gehorchte.

»Knien Sie sich hin.«

Ron kniete sich hin. Er war nur eineinhalb Meter von Kelly entfernt, aber solange sie sich nicht bewegte, hatte ich freies Schußfeld.

Melvin schwitzte ungeheuer. Mein um seinen Hals geschlungener Arm war bereits feucht, und ich sah sogar Schweißtropfen über meine Pistole laufen. Unter seinem durchgeschwitzten Uniformhemd zeichnete sich die kugelsichere Weste ab.

»Sie ziehen mit der linken Hand Ihre Pistole heraus, Ron«, wies ich ihn an. »Aber ganz langsam, nur mit Daumen und Zeigefinger anfassen. Dann lassen Sie die Waffe links neben sich fallen. Haben Sie das verstanden, Ron?«

Er nickte.

»Sagen Sie ihm, daß er keinen Scheiß machen soll, Melvin«, forderte ich meine Geisel auf.

»Mach keinen Scheiß, Ron.«

Ron zog langsam seine Pistole aus dem Halfter und ließ sie links neben sich fallen.

»Jetzt machen Sie mit der linken Hand die Handschellen vom Gürtel los und legen sie hinter sich ab. Verstanden?«

Ron gehorchte. Ich konzentrierte mich auf Melvin, der angefangen hatte, heftig zu zittern. Ich sprach leise in sein Ohr. »Keine Angst, Ihnen passiert nichts. Diese Story können Sie später Ihren Enkeln erzählen. Sie müssen nur tun, was ich sage. Haben Sie verstanden?«

Er nickte.

Ich wandte mich wieder an Ron. »Okay, legen Sie sich hin, Ron. Mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden.«

Er gehorchte und war damit vorerst außer Gefecht gesetzt. »Als nächstes trete ich einen Schritt zurück, Melvin«, kündigte ich an. »Aber meine Pistole bleibt dabei weiter auf Ihren Kopf gerichtet - kommen Sie also nicht auf dumme Ideen. Dann werde ich Sie auffordern, sich hinzuknien. Haben Sie das verstanden?«

Als er nickte, trat ich rasch einen Schritt zurück, um sofort außer Melvins Reichweite zu sein. Er sollte keine Chance haben, den heldenhaften Versuch zu unternehmen, sich herumzuwerfen und nach der Pistole zu greifen oder sie zur Seite zu schlagen.

»Okay, Sie knien sich jetzt hin. Legen Sie sich genau wie Ron auf den Fußboden. Strecken Sie Ihren linken Arm aus, bis er seinen rechten berührt.«

Nun lagen die beiden vor mir auf dem Bauch. Ich trat hinter sie, hob die Handschellen auf, drückte meine Pistole gegen Melvins Ohr und fesselte sein linkes Handgelenk an Rons rechtes. Dann zog ich Melvins Handschellen aus ihrer Gürteltasche, trat zurück und sagte: »Legt euch mit dem Rücken zueinander auf die Seite, damit ich die freien Hände auch fesseln kann. Habt ihr verstanden? Glaubt mir, Jungs, ich will diese Sache bloß hinter mich bringen, damit ich schnellstens abhauen kann.«

Ich legte ihnen das zweite Paar Handschellen an. Damit waren sie endgültig außer Gefecht gesetzt. Ich nahm ihnen die Geldbörsen ab und warf sie in die

Reisetasche. Melvins Handfunkgerät behielt ich; Rons Gerät flog ausgeschaltet in meine Reisetasche. Ich holte die Rolle Gewebeband heraus und benutzte sie, um ihre Beine aneinanderzufesseln, bevor ich die beiden in die Diele schleppte. Das war verdammt mühsam, aber ich wollte verhindern, daß sie sahen, was ich als nächstes tun würde.

Ich sah zu Kelly hinüber, die an die Wand gepreßt auf dem Fußboden hockte. Für sie mußte das alles schrecklich gewesen sein. Sie hatte sich so darauf gefreut, wieder nach Hause zu kommen, und nun war hier alles ganz anders als erwartet. Sie mußte nicht nur verkraften, daß Mommy, Daddy und Aida nicht da waren; alle vertrauten Dinge in ihrem Elternhaus schienen entweder mit Chemikalien getränkt, zur Seite geschoben oder einfach verschwunden zu sein.

»Willst du mal nachsehen, ob du deine Teddybären findest?« hörte ich mich fragen.

Sie sprang auf, rannte hinaus und polterte die Treppe hinauf.

Im Arbeitszimmer kniete ich vor dem fehlenden Paneel nieder und konnte nun endlich den Wandtresor öffnen. Er enthielt lediglich eine einzelne Diskette.

Ich schob den Stuhl an den Schreibtisch zurück und stellte den PC wieder auf. Kurze Zeit später lief er bereits. Die Dateien waren nicht durch Kennwörter geschützt, aber darauf hatte Kev wahrscheinlich bewußt verzichtet. Falls ihm etwas zustieß, sollte jeder lesen können, was auf dieser Diskette gespeichert war.

Ich öffnete mehrere Dateien, ohne auf etwas

Interessantes zu stoßen. Dann entdeckte ich eine, die Flavius benannt war, und wußte, daß ich fündig geworden war. Das war der Deckname unseres Unternehmens in Gibraltar gewesen.

Ich begann zu lesen. Kev hatte ziemlich genau das herausbekommen, was Big Al berichtet hatte: Die Zusammenarbeit zwischen PIRA und Drogenkartell hatte damit begonnen, daß die Terroristen angefangen hatten, kolumbianisches Kokain über Nordafrika nach Gibraltar zu schmuggeln, um es in ganz Europa zu vertreiben. Die PIRA verstand sich auf diese Arbeit, und das Drogenkartell zahlte gut.

Nach einiger Zeit war die PIRA dazu übergegangen, mit Eigenkapital aus Spendengeldern, die Noraid in den USA eingesammelt hatte, ins Drogengeschäft einzusteigen. Dabei war es um große Summen gegangen; Kevs Zahlen zeigten, daß Sinn Fein jährlich Gewinne von über einer halben Million Pfund erzielt hatte.

Von diesen Spendengeldern war Kokain gekauft worden, das nach Europa geschmuggelt und dort mit hohen Gewinnen weiterverkauft worden war; mit den Gewinnen aus dem Drogenhandel waren in Staaten des ehemaligen Ostblocks Waffen und Sprengstoff gekauft worden. Das war eine ideale Geschäftspartnerschaft: Die PIRA hatte das Geld, der Osten hatte die Waffen. Der Zerfall der UdSSR und der Aufstieg der russischen Mafia hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können.

Aber damit durfte ich mich nicht länger beschäftigen. Ich konnte nicht einfach dasitzen und lesen. Ich befand mich in einem Haus mit zwei Polizeibeamten und einem kleinen Mädchen, das verständlicherweise stinksauer war. Ich warf die Diskette aus und steckte sie ein.

Die Hexe aus der Zentrale meldete sich schon wieder: »Wagen sechs-zwo, kommen.«

Scheiße.

Ich ging zu den beiden Männern in die Diele hinaus. »Ron, Sie müssen sich noch mal melden.«

Aber sein trotziger Blick zeigte mir, daß er sich weigern würde. »Reden Sie doch selbst mit ihr! Ich weiß, daß Sie uns nicht erschießen - nicht wegen so ’ner Kleinigkeit.«

Die Frauenstimme kreischte eine halbe Oktave höher: »Wagen sechs-zwo!«

Ron hatte natürlich recht.

»Kelly! Kelly! Wo bist du?«

»Komme sofort - hab’ gerade Ricky gefunden.«

Ich stieg über meine beiden neuen Freunde hinweg, um Kelly unten an der Treppe in Empfang zu nehmen. Für nette, mitfühlende Worte blieb jetzt keine Zeit. »Schnell, zieh Mantel und Schuhe an!«

Ich kontrollierte, ob ich meine gesamte Ausrüstung wieder eingepackt hatte, zog meine Sportschuhe an und sah nach, ob Ron und Melvin noch sicher gefesselt waren. Die beiden wirkten ganz zufrieden; ich vermutete, daß sie damit beschäftigt waren, sich eine gute Ausrede für ihren gegenwärtigen Zustand einfallen zu lassen.

Wir verließen das Haus wieder über die Veranda. Ich nahm Kelly an der Hand, schleppte sie mehr oder weniger hinter mir her und achtete dabei scharf auf Jenny und Ricky. Ich wollte auf keinen Fall, daß die Nachbarn lautes Geschrei wegen verlorener Teddybären hörten.

Als wir wegfuhren, erhellten die Straßenlampen, unter denen wir durchkamen, immer wieder das Wageninnere, so daß ich Kelly im Rückspiegel beobachten konnte. Sie sah elend aus und hatte rotgeweinte feuchte Augen. Sie hatte allen Grund, traurig zu sein, denn sie war alt genug, um zu erkennen, daß sie vermutlich zum letzten Mal hier gewesen war. Dies war nicht mehr ihr Zuhause. Damit waren wir jetzt gleich. Wir waren beide heimatlos.

Ich sah die Wegweiser zum Dulles International Airport und gab etwas mehr Gas. Ich durfte nicht riskieren, nach Florida zurückzufahren.

35

Ich bog auf die Zubringerstraße zum Flughafen ab und steuerte die billigen Parkplätze unter freiem Himmel an. Dabei gestattete ich mir ein schiefes Lächeln; wenn ich so weitermachte, würden sie bald voller Wagen stehen, die ich gestohlen hatte. Mein Ärmel bekam ein paar Regentropfen ab, als ich den Parkschein aus dem Automaten zog, und bis wir einen Parkplatz gefunden hatten, plätscherte leichter Regen aufs Autodach.

Da ich am Haus der Browns vorbeigefahren war, konnten Ron und Melvin eine Verbindung zwischen mir und diesem Wagen hergestellt haben. Vielleicht waren sie schon befreit und hatten das Kennzeichen des verdächtigen Fahrzeugs durchgegeben. Dagegen konnte ich nicht viel tun, außer hier zu warten und zu hoffen, daß wir in der Masse der geparkten Wagen und im Regen nicht auffallen würden. Es war noch viel zu früh, als daß ein Erwachsener mit frischen Narben im Gesicht sich mit einem kleinen Mädchen auf dem Flughafen hätte zeigen können.

Ich drehte mich nach hinten um. »Alles in Ordnung, Kelly?« fragte ich. »Entschuldige, daß ich dich so angebrüllt habe, aber Erwachsene glauben manchmal, zu Kindern streng sein zu müssen.«

Sie starrte einen der Teddybären an, zupfte an seinem Pelz und schmollte.

»Du bist ein braves Mädchen, und mir tut’s leid, daß ich die Beherrschung verloren habe. Ich hab’s nicht so gemeint, ich bin nur so aufgeregt gewesen.«

Sie nickte langsam, während sie weiter mit ihrem zottigen Freund spielte.

»Möchtest du mit nach England?«

Sie sah auf. Sie sagte nichts, aber ich deutete ihr Verhalten als Zustimmung.

»Das ist gut, denn ich möchte auch, daß du mitkommst. Du hast mir bisher schon viel geholfen. Möchtest du mir auch in Zukunft helfen?«

Sie zuckte mit den Schultern. Ich beugte mich über meine Sitzlehne, griff nach dem anderen Teddybären und rieb seine Nase an ihrer Backe. »Vielleicht können Jenny und Ricky mir auch helfen. Was hältst du davon?«

Sie nickte widerstrebend.

»Okay, als erstes müssen wir ein paar Sachen aus der Reisetasche aussortieren.«

Ich setzte mich zu Kelly nach hinten, stellte die Tasche zwischen uns und zog den Reißverschluß auf. »Was können wir deiner Meinung nach entbehren?«

Ich wußte bereits, was ich aussortieren würde - alles bis auf das schwarze Tuch, das als Decke dienen konnte, und unser Waschzeug. Mehr brauchten wir im Augenblick nicht. »In Ordnung?« fragte ich, als ich mit dem Aussortieren fertig war. »Ist das alles?« Kelly nickte zustimmend, als habe sie diese Auswahl selbst getroffen.

Was ich nicht mehr brauchte, legte ich in den Kofferraum. Der Regen war unterdessen stärker geworden. Ich stieg wieder hinten ein und faltete das schwarze Tuch als Decke zusammen. »Wir müssen hier ein paar Stunden warten. Für den Flughafen ist’s noch viel zu früh. Wenn du willst, kannst du ein bißchen schlafen.«

Kelly streckte sich auf dem Rücksitz aus, und ich deckte sie zu. »So ist’s besser - du kannst mit Jenny und Ricky im Arm schlafen.«

Sie sah zu mir auf und lächelte. Wir waren wieder Freunde.

»Aber du gehst nicht wieder weg, Nick?«

Ausnahmsweise sagte ich die Wahrheit. »Nein, ich habe zu arbeiten. Du kannst beruhigt schlafen. Ich bleibe hier.« Ich setzte mich wieder ans Steuer, nahm den Laptop auf die Knie und klappte den Bildschirm hoch. Gleichzeitig überzeugte ich mich davon, daß der Zündschlüssel steckte, damit ich jederzeit wegfahren konnte. Falls wir erkannt wurden, mußten wir sofort startbereit sein.

Ich schaltete den Laptop ein, dessen Bildschirm das

Innere des Wagens geisterhaft erhellte. Dann schob ich Kevs Diskette ein. Ich wollte seinen Bericht unbedingt zu Ende lesen, aber als erstes speicherte ich den Inhalt der Diskette sicherheitshalber auf der Festplatte des Laptops. Zwischendurch fragte ich halblaut: »Kelly?« Keine Antwort. Das sanfte Rauschen des Regens hatte seine Arbeit getan.

Ich las weiter, wo ich aufgehört hatte. Ich wußte, daß Gibraltar schon immer ein Zentrum für internationalen Drogenhandel, Geldwäsche und Schmuggel gewesen war, aber 1987 hatte Spanien offenbar nicht nur weiter die Rückgabe der Halbinsel gefordert, sondern auch verlangt, die Briten sollten gegen den Drogenhandel vorgehen. Die Regierung Thatcher hatte die dortige Verwaltung angewiesen, entsprechende Maßnahmen zu treffen, aber die schnellen Motorboote brachten weiterhin Drogen aus Nordafrika herüber. London drohte damit, die Verwaltung der Kolonie selbst zu übernehmen, wenn der Drogenschmuggel nicht eingedämmt wurde, und ordnete zugleich höchst illegale Ermittlungen gegen verdächtige Polizei- und Regierungsbeamte an. Die Jungs, die bis dahin Bestechungsgelder kassiert hatten, erkannten die Gefahr und hörten schlagartig auf, mit der PIRA oder sonst irgend jemandem zusammenzuarbeiten.

Die Abriegelung der Gibraltar-Route bedeutete einen Teilerfolg im Kampf gegen Drogenschmuggel und Korruption, aber die Kolumbianer waren stinksauer. Eine wichtige Handelsroute war unterbrochen worden, und sie bestanden darauf, sie weiterhin nutzen zu können. Wie aus Kevs Bericht hervorging, gelangten sie zu dem

Schluß, hier sei eine Machtdemonstration nötig.

Ein Sprengstoffanschlag in Gibraltar sollte den Beamten als Warnung dienen, um sie wieder kooperationsbereit zu machen, und die PIRA erhielt aus Kolumbien den Auftrag, diesen Anschlag auszuführen.

Das brachte die PIRA in eine Zwickmühle. Sie hatte ebenso großes Interesse an der Wiedereröffnung der Gibraltar-Route wie die Kolumbianer, aber nach dem Debakel von Enniskillen durfte sie keinen Anschlag riskieren, der Ausländer das Leben kosten und sie selbst international noch mehr in Verruf bringen konnte. Daher weigerte sie sich, diesen Auftrag auszuführen.

Wie das von Kev zusammengetragene Material bewies, hatte das Drogenkartell der PIRA daraufhin ein Ultimatum gestellt: Ihr verübt den Bombenanschlag in Gibraltar - oder wir machen unsere Geschäfte in Zukunft mit der protestantischen UVF. Damit wurde die Lage für die PIRA kritisch.

Ihre Führungsspitze fand jedoch eine elegante Lösung, die selbst ich widerstrebend bewundern mußte. »Mad Danny« McCann war schon einmal aus der PIRA ausgeschlossen und gegen Gerry Adams’ Willen wieder aufgenommen worden. Und Mairead Farrell war seit dem Unfalltod ihres Freundes erst recht fanatisch geworden - »eine Art gesellschaftlicher Handgranate«, hatte Simmonds sie einmal genannt. Die PIRA beschloß, zwei Akteure nach Gibraltar zu entsenden, die sie am liebsten von hinten sah, und ihnen Sean Savage mitzugeben, der nur das Pech hatte, derselben Einheit wie McCann und Farrell anzugehören.

Das Team erhielt die technische Ausrüstung und das Semtex für die Bombe, sollte aber alles in Spanien zurücklassen, bis Aufklärung und Probeläufe in Gibraltar abgeschlossen waren. Sie sollten die Autobombe erst installieren, wenn der Wagen am dafür vorgesehenen Platz stand. Die PIRA gab ihren Leuten schlecht gefälschte Pässe mit und sorgte gleichzeitig dafür, daß London einen anonymen Hinweis erhielt. Die Briten sollten eingreifen und den Bombenanschlag verhindern, damit die PIRA nach der Verhaftung des Trios dem Drogenkartell glaubhaft versichern konnte, sie habe ihr Bestes versucht.

Wir waren vor dem geplanten Anschlag gewarnt worden, aber ich wußte noch gut, daß es geheißen hatte, es handle sich um keine Autobombe und der Sprengsatz solle von Hand ferngezündet werden. Diese Informationen bedeuteten, daß McCann, Farrell und Savage niemals eine Chance gehabt hatten. Sobald wir glauben mußten, der Sprengsatz sei angebracht und scharfgemacht, waren sie praktisch tot, denn irgendwann mußte einer von ihnen eine Bewegung machen, als wolle er die Fernzündung betätigen. Ich hätte mich jedenfalls nicht darauf verlassen, daß Savage nur nach seinen Pfefferminzdrops greifen wollte, und Euan war beim Kontakt mit McCann und Farrell ähnlich vorsichtig gewesen.

Auf dem Bildschirm erschien der Warnhinweis, der Akku sei bald leer und das Gerät brauche eine andere Stromversorgung. Scheiße! Ich wollte noch mehr lesen. Ich bestätigte die Warnung und überflog den restlichen

Text, so rasch ich ihn erfassen konnte.

Obwohl kein Sprengsatz hochgegangen war, hatte das Drogenkartell akzeptiert, daß seine irischen Lakaien die erhaltenen Befehle ausgeführt hatten. Schließlich waren dabei drei PIRA-Leute erschossen worden. Die PIRA blieb mit den Kolumbianern im Geschäft, auch als die Drogentransporte dann, wie Big Al gesagt hatte, über Südafrika und Spanien liefen.

Die Führungsspitze der PIRA hatte allen Grund, hoch zufrieden zu sein. Sie war zwei Unruhestifter losgeworden und hatte zudem drei neue Märtyrer vorzuweisen, was nicht nur ihre Sache in der Heimat stärkte, sondern auch die Spendenfreudigkeit von Amerikanern irischer Abstammung steigerte. Letzten Endes schienen nur die Briten schlecht weggekommen zu sein, aber obwohl die internationale Gemeinschaft die Erschießungen in Gibraltar öffentlich verurteilte, bewunderten die meisten Staats- und Regierungschefs heimlich Maggie Thatchers energischen Kampf gegen den Terrorismus.

Scheiße. Eine weitere Warnung forderte mich auf, den Laptop umgehend an eine externe Stromversorgung anzuschließen. Ich schaltete das Gerät aus und packte es frustriert weg. Ich hätte noch mehr erfahren wollen. Zugleich befand ich mich in Hochstimmung. Wenn ich’s schaffte, dieses Material nach England zu bringen, hatte ich Simmonds in der Tasche.

Inzwischen war es 3 Uhr 30 geworden. Mir blieb nichts anderes übrig, als noch einige Stunden zu warten, bis die ersten an- und abfliegenden Maschinen dieses

Tages für soviel Betrieb sorgten, daß ein Mann mit frischen Narben im Gesicht und einer Siebenjährigen an der Hand in der Menge untertauchen konnte.

Ich kippte die Rückenlehne etwas nach hinten und versuchte, eine bequemere Position zu finden, aber ich konnte mich nicht entspannen. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Das damalige Gibraltar-Unternehmen war ein Täuschungsmanöver gewesen, damit die PIRA und die Kolumbianer weiter Geld scheffeln konnten. Gut, aber welche Rolle hatten Kev und ich dabei gespielt? Ich lag in meinem Sitz und horchte auf den Regen, der aufs Autodach trommelte.

Für Euan und mich hatte alles am 3. März 1988 begonnen, weniger als eine Woche vor dem Einsatz in Gibraltar. Wir waren von unterschiedlichen Jobs in Ulster abberufen und nach Lisburn, dem Hauptquartier der britischen Armee in Nordirland, beordert worden. Von dort brachte uns ein Puma-Hubschrauber rasch zum Special Air Service in der Kaserne Sirling Lines im englischen Hereford.

Eine Ordonnanz geleitete uns vom Hubschrauberlandeplatz direkt ins Stabsgebäude des Regiments. Als ich vor dem Besprechungsraum Keksschalen und Teegeschirr stehen sah, wußte ich sofort, daß diese Sache wichtig war. Als es hier letztes Mal Tee und Kekse gegeben hatte, war die Premierministerin dagewesen.

Der halbdunkle Raum war schon fast überfüllt. Hinter dem Podium war eine große Projektionsleinwand entrollt, und die Sitzreihen waren ansteigend geordnet, um für alle gleich gute Sichtverhältnisse zu schaffen.

Wir sahen uns nach einem Sitzplatz um, als ich eine Stimme hörte: »Hey, hier sind wir, Kumpel!«

Kev und Slack Pat saßen da und tranken Tee. Bei ihnen waren Geoff und Steve, die beiden anderen Männer ihres Viererteams. Alle kamen aus der A Squadron und leisteten ihr halbes Jahr im Team zur Terrorismusbekämpfung ab.

Euan wandte sich an Kev. »Hast du schon gehört, worum es diesmal geht?«

»Wir sind unterwegs nach Gibraltar, Kumpel. Die PIRA will ’ne Bombe legen.«

Als der Kommandeur das Podium betrat, verstummten die Gespräche. »Zwei Probleme«, sägte er. »Nummer eins: Zeitdruck. Sie fliegen gleich nach dieser

Besprechung ab. Nummer zwei: Mangel an brauchbaren Aufklärungsergebnissen. Aber das Joint Operations Committee will das Regiment einsetzen. Wir geben Ihnen alle Informationen, die wir haben, und halten Sie dann unterwegs und am Zielort auf dem laufenden.«

Was, zum Teufel, machen Euan und ich hier? fragte ich mich. Für uns als Geheimdienstleute ist doch jeder Einsatz außerhalb Nordirlands illegal? Aber ich hielt vorsichtshalber den Mund; äußerte ich jetzt Zweifel, riskierte ich nur, zurückgeschickt zu werden und nicht an diesem Unternehmen teilnehmen zu dürfen.

Ich sah mich um und erkannte Stabsoffiziere des Regiments, den Operationsoffizier und massenhaft Nachrichtenoffiziere. Ebenfalls anwesend war ein

Technischer Offizier: ein Sprengmeister, dessen

Spezialität die Entschärfung von Bomben war; in dieser Funktion war er zum CT-Team abkommandiert.

Ein Mann, den ich nicht kannte, kam mit einer Teetasse in einer Hand und Keksen in der anderen aufs Podium. Er trat ans Rednerpult am rechten Rand. Vor seinen Füßen stand eine Reisetasche.

»Ich heiße Simmonds und leite in London die Geheimdienstabteilung Nordirland. Zuständig für das geplante Unternehmen sind Geheimdienst und militärischer Nachrichtendienst. Einleitend möchte ich die Ereignisse zusammenfassen, die uns alle heute hierhergeführt haben.«

Seine Reisetasche ließ darauf schließen, daß er mitkommen würde. Als der Diaprojektor eingeschaltet wurde, erschien auf der Leinwand hinter ihm ein helles Rechteck.

»Letztes Jahr«, fuhr er fort, »haben wir erfahren, daß ein PIRA-Team sich in Südspanien einquartiert hatte. Daraufhin haben wir die Briefkästen bekannter Akteure auf Post aus Spanien kontrolliert und eine Ansichtskarte gefunden, die Sean Savage von der Costa del Sol geschrieben hatte.«

Auf der Leinwand war ein Dia von Savage zu sehen. »Unser Sean«, sagte Simmonds mit schwachem Lächeln, »hat Mommy und Daddy mitgeteilt, er arbeite im Ausland. Das hat bei uns einige Alarmglocken schrillen lassen, denn worauf Savage sich am besten versteht, ist der Bau von Sprengsätzen.«

War das scherzhaft gemeint? Nein, so sah er nicht aus.

»Im November sind dann zwei Männer auf dem Flug von Malaga nach Dublin bei einer Zwischenlandung in Madrid kontrolliert worden. Die beiden hatten irische Pässe, und die Spanier haben uns die Angaben zur Person und die Paßfotos übermittelt. Wie sich gezeigt hat, sind ihre Pässe gefälscht gewesen.«

Einer der Flugreisenden war als Sean Savage identifiziert worden, aber erst die Identität des zweiten Mannes hatte für allgemeine Aufregung gesorgt.

Simmonds zeigte uns sein nächstes Dia. »Daniel Martin McCann, über den Sie bestimmt mehr wissen als ich.« Aber sein Lächeln zeigte, daß er das für sehr unwahrscheinlich hielt.

»Mad Danny« hatte sich seinen Spitznamen ehrlich verdient. Er wurde mit insgesamt sechsundzwanzig Morden in Verbindung gebracht, war schon oft verhaftet worden und hatte trotzdem nur zwei Jahre gesessen.

Nach Überzeugung des Geheimdiensts, sagte Simmonds, konnte die Anwesenheit McCanns und Savages an der Costa del Sol nur bedeuten, daß die PIRA irgendein britisches Ziel in Spanien oder Gibraltar angreifen wollte. »Eines ist klar«, fügte er hinzu, »die beiden sind nicht dort unten gewesen, um ihre Sonnenbräune aufzufrischen.«

Diesmal wurde laut gelacht. Ich sah, daß Simmonds das gefiel, als habe er seine Bemerkungen eingeübt, damit sie zum genau richtigen Zeitpunkt kamen. Trotzdem fand ich den Mann sympathisch. Es kam nicht oft vor, daß Leute bei so wichtigen Besprechungen Scherze machten.

Das nächste Dia zeigte einen Stadtplan von Gibraltar. Ich hörte Simmonds zu, erinnerte mich aber dabei an die siebziger Jahre, in denen ich als Infanterist in Gibraltar stationiert gewesen war. Das war eine herrliche Zeit gewesen.

»Gibraltar ist verwundbar«, stellte Simmonds fest. »Dort gibt es mehrere potentielle Attentatsziele wie die Residenz des Gouverneurs und die Gerichte, aber unserer Einschätzung nach sind die Royal Anglians, das Garnisonsregiment, am meisten gefährdet. Die Kapelle des ersten Bataillons marschiert jeden Dienstag auf, um zur Wachablösung zu spielen. Wir glauben, daß der Platz, auf den die Kapelle anschließend marschiert, sich am besten für einen Bombenanschlag eignet. In einem der dort geparkten Autos ließe sich leicht ein Sprengsatz verstecken.«

Er hätte hinzufügen können, daß der nicht sehr große Platz aus der Sicht eines Bombenlegers fast ideal war. Die umstehenden Gebäude würden die Sprengwirkung konzentrieren und so noch verstärken.

»Aufgrund dieser Gefahreneinschätzung haben wir die Zeremonie der Wachablösung am elften Dezember abgesagt. Die örtlichen Medien haben gemeldet, das Wachlokal müsse dringend renoviert werden. In Wirklichkeit haben wir Zeit für weitere Ermittlungen gebraucht, um verhindern zu können, daß es wiederaufgebaut werden muß.«

Nicht so gut wie seine vorige Bemerkung, aber trotzdem ein paar gedämpfte Lacher wert.

»Daraufhin ist die dortige Polizei durch britische

Kriminalbeamte verstärkt worden, deren Überwachungstätigkeit sich ausgezahlt hat. Als die Zeremonie am dreiundzwanzigsten Februar wieder stattgefunden hat, ist eine Frau, die angeblich an der Costa del Sol Urlaub gemacht hat, nach Gibraltar gekommen und hat die Parade photographiert. Eine unauffällige Überprüfung hat ergeben, daß sie mit einem gefälschten irischen Reisepaß unterwegs war. Eine Woche später ist sie wieder dagewesen - aber diesmal ist sie der Kapelle beim Abrücken bis auf den Platz gefolgt. Sogar einer der Felsenaffen hätte sich ausrechnen können, daß sie den Auftrag hatte, das Gelände für den Einsatz eines Bombenlegerkommandos zu erkunden.«

Diesmal wurde laut gelacht. Er hatte es wieder geschafft! Ich wußte nicht recht, ob wir über seine Witze oder die Tatsache lachten, daß er ständig welche machte. Wer, zum Teufel, war dieser Mann? Dies hätte eine unserer ernstesten Einsatzbesprechungen sein müssen. Aber Simmonds schien das gleichgültig zu sein - oder er war so mächtig, daß niemand es wagen würde, ihn zu kritisieren. Jedenfalls war bereits abzusehen, daß seine Anwesenheit in Gibraltar ein wirklicher Bonus sein würde.

Simmonds lächelte nicht mehr. »Nach unseren Erkenntnissen ist der Bombenanschlag für irgendeinen Tag dieser Woche geplant. Aber bisher deutet nichts darauf hin, daß McCann oder Savage Belfast verlassen wollen.«

Damit hatte er allerdings recht. Ich hatte die beiden erst gestern abend stinkbesoffen vor einer Bar in der Falls

Road gesehen. Sie hatten nicht den Eindruck erweckt, schon reisebereit zu sein. Oder vielleicht hatten sie sich diesen letzten feuchtfröhlichen Abschied vor dem Einsatz in Gibraltar gönnen wollen.

»Daraus ergeben sich für uns verschiedene Probleme.« Simmonds sprach jetzt ohne seine Notizen weiter. Bedeutete das, daß er keine Scherze mehr machen würde? Sein Tonfall war jedenfalls schärfer geworden.

»Was sollen wir mit diesen Leuten anfangen? Versuchen wir zu früh, sie unterwegs abzufangen, hätten andere PIRA-Teams Gelegenheit, den Anschlag zu verüben. Reisen die Terroristen über Malaga an und bleiben bis zur letzten Minute auf spanischem Gebiet, gibt es keinerlei Garantie dafür, daß die Spanier sie uns ausliefern - nicht nur wegen des Disputs um Gibraltar, sondern vor allem deshalb, weil der Tatvorwurf gegen die PIRA--Leute nur auf Verschwörung lauten könnte, was ziemlich dünn wäre. Daher, Gentlemen, müssen wir sie in Gibraltar verhaften.« Der Projektor wurde ausgeschaltet, so daß Simmonds’ Gesicht nur noch von unten durch die Beleuchtung des Rednerpults erhellt wurde. »Und daraus ergeben sich drei Operationen. Erstens können wir sie beim Grenzübertritt nach Gibraltar verhaften. Das ist leichter gesagt als getan; wir wissen möglicherweise nicht einmal, welchen Wagen sie fahren. Wir hätten nur ungefähr zehn bis fünfzehn Sekunden Zeit für eine positive Identifizierung und die anschließende Festnahme. Bei Leuten, die in einem Auto sitzen und wahrscheinlich bewaffnet sind, kann das verdammt schwierig sein. Die zweite Möglichkeit ist, das

Team zu verhaften, sobald es in die Nähe des Platzes kommt. Aber auch das setzt voraus, daß wir vorgewarnt sind, damit eine positive Identifizierung möglich ist, und daß das Team nach dem Grenzübertritt zusammenbleibt. Deshalb haben wir uns vorerst für die dritte Möglichkeit entschieden, die der Grund für die gegenwärtige Besprechung ist.«

Er trank einen Schluck Tee und bat darum, die Raumbeleuchtung einzuschalten.

»Der Security Service setzt Überwachungsteams ein, um die PIRA-Leute in Gibraltar zu identifizieren.« Während Simmonds weitersprach, sah er zu den jeweiligen Gruppen hinüber. »Die beiden Soldaten, die eben aus der Provinz eingetroffen sind, müssen die Verdächtigen einwandfrei identifiziert haben, bevor die Zivilbehörden die Durchführung des Unternehmens ans Militär abgeben. Sobald feststeht, daß der Sprengsatz an Ort und Stelle ist, nehmen die vier Männer unseres CT- Teams notfalls mit Waffengewalt die Verhaftung vor.«

Die beiden Soldaten, die eben aus der Provinz eingetroffen sind. Jetzt verstand ich, wen Simmonds meinte. Das waren Euan und ich.

»Nach der Festnahme«, fuhr er fort, »werden die PIRA-Leute den Zivilbehörden übergeben. Das Team kann selbstverständlich darauf vertrauen, nicht vor Gericht aussagen zu müssen. Die beiden Akteure aus der Provinz greifen unter keinen Umständen ein und nehmen vor allem keine, ich wiederhole, keine Verhaftung vor. Den Grund dafür brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären?«

Simmonds rang sich ein Lächeln ab. »Das war’s fürs erste, Gentlemen.« Er wandte sich an Frank, den Regierungskommandeur. »Francis, wir fliegen in zehn Minuten zum RAF Lyneham ab, wo eine Hercules für uns bereitsteht, nicht wahr?«

Knapp drei Stunden später saß ich mit Euan, der sich über einen schwarzen Fleck auf seinen neuen Sportschuhen ärgerte, in einer C-130-Hercules. Kev war damit beschäftigt, die Waffenkiste und die Munition zu kontrollieren - und die Sanitätstaschen, die mir persönlich wichtiger waren. Sollte ich angeschossen werden, wollte ich sofort eine Infusion mit Blutplasma bekommen können.

Wir landeten am Donnerstag, den 3. März 1988, gegen 23 Uhr 30. Ganz Gibraltar schien noch wach zu sein; jedenfalls war die Stadt hell erleuchtet. Die Maschine rollte zum militärischen Teil des Flughafens, wo unser Vorauskommando mit Lastwagen wartete, um uns rasch und ohne Aufsehen wegzubringen.

Unser vorgeschobener Stützpunkt war HMS Rooke, das Küstenkommando der Royal Navy. Wir hatten ein halbes Dutzend Räume in der Offiziersunterkunft zugewiesen bekommen und richteten uns dort mit eigener Küche und Einsatzzentrale ein. Überall verliefen dicke Kabelstränge, Telefone klingelten, und Techniker liefen in Jeans oder Jogginganzügen herum, um Funkgeräte und Satellitenverbindungen zu testen.

Simmonds mußte fast schreien, um sich bei diesem Lärm verständlich zu machen. »Nach neuesten

Erkenntnissen dürfte das PIRA-Team um eine Frau erweitert worden sein, die vermutlich das Kommando führt. Sie heißt Mairead Farrell. Photos kommen frühestens in einer Stunde, aber ich habe schon jetzt einige Informationen. Sie ist ein besonders gefährliches Frauenzimmer ...« Er machte eine Pause, damit seine nächsten Worte um so besser wirkten. »... Herkunft aus dem Mittelstand, einunddreißig, ehemalige Klosterschülerin.«

Als das Lachen verklungen war, erzählte Simmonds uns mehr über Mairead Farrell. Sie hatte eine zehnjährige Haftstrafe dafür verbüßt, daß sie 1976 im Hotel Conway in Belfast eine Bombe gelegt hatte, und sich sofort nach der Entlassung bei der PIRA zum Dienst zurückgemeldet. Auf seinem Gesicht lag ein feines Lächeln, als er berichtete, ihr Liebhaber mit dem unglaublichen Namen Brendan Burns habe sich vor kurzem selbst in die Luft gesprengt.

Dann war diese improvisierte Besprechung zu Ende, und wir machten uns auf die Suche nach einem Kaffee. Einer von Simmonds’ Leuten kreuzte auf und verteilte Stadtpläne. »Die Firma hat die Meldepunkte schon eingetragen«, sagte er.

Während wir die Eintragungen begutachteten, fuhr er fort: »Die Hauptzufahrten von der Grenze her sind praktisch lückenlos markiert, der Rest der Stadt ziemlich gut und die Vororte nur an den wichtigsten Stellen.«

Ich sah mir die Meldepunkte an. Scheiße!. Insgesamt mußten wir uns etwa hundert Markierungen einprägen, bevor das PIRA-Team aus Spanien herüberkam. Ich wußte nicht, was schwieriger war - die Terroristen abzufangen oder diese Hausaufgaben zu machen.

»Noch Fragen, Jungs?«

»Yeah, drei«, sagte Kev. »Wo schlafen wir, wo ist das Klo und wo gibt’s einen Kaffee?«

Am nächsten Morgen faßten wir Waffen und Munition und fuhren zum Schießstand hinaus. Kev und die drei anderen Männer des CT-Teams hatten ihre eigenen Pistolen. Euan und ich mußten mit Leihwaffen zurechtkommen - unsere Pistolen waren in Londonderry zurückgeblieben. Das spielte jedoch keine große Rolle; viele Leute glauben, Soldaten des Regiments seien in bezug auf ihre Waffen sehr pingelig, aber das stimmt nicht. Hat man die Gewißheit, daß eine Pistole fehlerfrei funktioniert und den Punkt trifft, auf den man zielt, ist man schon zufrieden.

Auf dem Schießstand machte jeder von uns, was er für notwendig hielt. Die anderen vier wollten sich nur davon überzeugen, daß die Magazine funktionierten und die Pistolen den Transport in der Waffenkiste unbeschädigt überstanden hatten. Das wollten Euan und ich auch, aber wir mußten zusätzlich feststellen, wie unsere neuen Waffen sich bei verschiedenen Schußweiten verhielten. Nachdem wir die Magazine rasch nacheinander leergeschossen hatten, um ganz sicher zu sein, daß keine Ladehemmung auftrat, schossen wir aus fünf, zehn, fünfzehn und zwanzig Metern Entfernung auf Pappkameraden. Dabei stellten wir beispielsweise fest, daß wir aus fünfzehn Metern auf die Schultern zielen mußten. Bei dieser für eine Pistole ziemlich großen Schußentfernung trafen die nach unten sinkenden Geschosse die unteren Rippen und hätten den Mann außer Gefecht gesetzt. Jede Pistole ist anders, deshalb brauchten wir eine Stunde, um uns unserer Sache ganz sicher zu sein.

Als wir fertig waren, dachten wir gar nicht daran, unsere Waffen zu zerlegen, um sie zu reinigen. Wozu auch, wenn sie tadellos funktionierten? Wir benutzten nur eine Bürste, um die Kammer von Kohlenstoffablagerungen zu befreien.

Als nächstes waren wir in der Stadt unterwegs, um uns die Meldepunkte einzuprägen, wobei wir gleichzeitig unsere Funkgeräte überprüften und feststellten, ob es irgendwelche Funklöcher gab. Damit waren wir noch beschäftigt, als Alpha sich gegen 14 Uhr plötzlich meldete: »An alle, sofort hierher zurückkehren.«

Simmonds, der schon im Besprechungsraum war, stand sichtlich unter Druck. Wie wir alle hatte er nur wenig Schlaf bekommen. Er hatte einen Zweitagebart, und sein Haar wirkte ungekämmt. Irgend etwas lag in der Luft; die Betriebsamkeit und der Gerätelärm im Hintergrund waren auffällig stärker. Simmonds hatte ungefähr zwanzig Zettel in der Hand. Seine Assistenten steckten ihm weitere zu, während er sprach, und verteilten dann photokopierte Verhaltensmaßregeln an uns. Darin las ich erstmals, daß das Unternehmen jetzt unter dem Decknamen Flavius lief.

»Vor ziemlich genau eineinhalb Stunden«, sagte er, »haben Savage und McCann die Paßkontrolle auf dem Flughafen in Malaga passiert. Die beiden sind aus Paris gekommen und von Farrell abgeholt worden. Wir haben keine Ahnung, wie sie dort hingekommen ist. Nun ist das Team komplett. Es gibt nur ein kleines Problem - die Spanier haben die drei aus den Augen verloren, als sie mit einem Taxi weggefahren sind. Sicherheitshalber postieren wir bereits jetzt zusätzliche Aufpasser an den Grenzübergängen. Ich habe keinerlei Grund zu der Annahme, daß der Anschlag nicht wie geplant stattfinden soll.«

Er machte eine Pause und musterte uns nacheinander. »Erst vor wenigen Minuten habe ich zwei sehr wichtige Informationen erhalten. Erstens: Die Akteure werden kein Auto benutzen, um im Zielgebiet einen Parkplatz für ihren Anschlag zu blockieren. Dazu müßten sie zweimal mit einem Auto über die Grenze nach Gibraltar fahren, und nach unseren Erkenntnissen wollen sie dieses Risiko nicht eingehen. Deshalb müssen wir annehmen, daß der Wagen, mit dem die drei nach Gibraltar kommen, auch den Sprengsatz enthält. Zweitens: Damit ganz

sichergestellt ist, daß die Autobombe im genau richtigen Augenblick hochgeht, soll sie durch eine tragbare Fernzündung zur Detonation gebracht werden. Denken Sie daran, Gentlemen, jedes Mitglied des Teams oder alle drei können im Besitz dieser Fernzündung sein. Diese Bombe darf nicht hochgehen. Sie könnte Hunderte von Menschenleben gefährden.«

Das tosende Donnern der Schubumkehr der vier

Triebwerke eines landenden Flugzeugs ließ mich aufschrecken. Es war kurz nach sechs Uhr. Ich hatte knapp drei Stunden geschlafen. Draußen war es noch fast dunkel, aber der Regen hatte ziemlich nachgelassen. Ich beugte mich nach hinten. »Los, Kelly, aufwachen!« Als ich sie an der Schulter wachrüttelte, ächzte sie verschlafen. »Oh ... okay, bin schon wach.« Dann setzte sie sich auf und rieb sich die Augen.

Sobald Kelly sich gekämmt hatte, stiegen wir mit der Reisetasche aus, und ich sperrte den Wagen ab, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß nirgends etwas Interessantes herumlag. Was ich jetzt unter keinen Umständen brauchen konnte, war ein Parkwächter, der sich für meinen Mehrzweckdietrich interessierte. Wir gingen zur Haltestelle hinüber und brauchten nicht lange auf einen Shuttle-Bus zu warten, der uns zum Abfluggebäude brachte.

In dem großen Terminal sah es aus wie auf jedem Flughafen um diese Zeit am frühen Morgen. An den Schaltern der Fluggesellschaften standen schon viele Geschäftsreisende an. Einige junge Leute, die offensichtlich viel zu früh zum Flughafen hinausgefahren waren, schliefen in ihren Schlafsäcken, die über drei, vier Sitze hinweg ausgebreitet waren, und hatten riesige Rucksäcke neben sich stehen. Männer in Overalls schoben mit mechanischen Bewegungen wie Zombies Reinigungsmaschinen über die gefliesten Böden.

Oben an der Rolltreppe nahm ich das kostenlose Flughafenmagazin aus einem Ständer. Ein Blick auf die Abflugpläne im hinteren Teil des Magazins zeigte, daß es vor 17 Uhr keinen Direktflug nach England gab. Also stand uns heute ein langer Tag bevor.

Ich betrachtete Kelly kritisch und stellte fest, daß wir uns beide waschen mußten. Wir fuhren mit der Rolltreppe zum Ankunftsbereich hinunter. Ich warf ein paar Münzen in einen Automaten und kaufte Seife und Papierhandtücher zur Ergänzung unseres Waschzeugs. Damit verschwanden wir in der nächsten Behindertentoilette.

Während ich mich rasierte, wusch Kelly sich oberflächlich das Gesicht. Ich wischte ihre Stiefel mit Klopapier sauber, schüttelte ihren Mantel aus, kämmte sie noch einmal und faßte ihr Haar mit einem Gummiband zusammen, damit es ordentlich aussah. Nach einer halben Stunde sahen wir ganz passabel aus. Auch die Narben in meinem Gesicht begannen schon zu verheilen. Ich versuchte zu grinsen, aber das tat noch immer zu weh. Jedenfalls würden wir so nicht gleich auffallen.

Ich griff nach der Reisetasche. »Fertig?«

»Fliegen wir jetzt nach England?«

»Erst müssen wir noch was erledigen. Komm!« Ich zupfte an ihrem Pferdeschwanz, mit dem sie wie ein Cheerleader im Miniformat aussah. Sie tat so, als ärgere sie sich darüber, aber ich merkte ihr an, daß sie meine Aufmerksamkeit genoß.

Wir fuhren mit der Rolltreppe wieder hinauf, machten einen Rundgang am äußeren Rand des Terminals entlang und gaben vor, die Flugzeuge auf dem Vorfeld zu besichtigen. In Wirklichkeit hielt ich nach zwei verschiedenen Dingen Ausschau. »Ich muß noch etwas aufgeben«, sagte ich, als ich das FedEx-Büro sah.

Die Nummer der Kreditkarte, von der die Versandkosten abgebucht werden sollten, schrieb ich von der Kopie des Mietwagenvertrags ab. Scheiße, Big Al sollte ruhig für ein paar Kleinigkeiten aufkommen, nachdem er jetzt reich war.

Kelly beobachtete genau, was ich tat. »Wem schreibst du?«

»Ich schicke etwas nach England - für den Fall, daß wir angehalten werden.« Ich zeigte ihr die beiden Disketten.

»Wem schickst du die?« Kelly wurde ihrem Vater von Tag zu Tag ähnlicher.

»Sei nicht so neugierig!«

Ich steckte die Disketten in einen FedEx-Umschlag, klebte ihn zu und schrieb die Adresse darauf. Früher hatten wir Kurierdienste benutzt, um der Firma in Hotelzimmern entwickelte Photos von Zielpersonen oder sonstiges Geheimmaterial zu schicken. Heutzutage war dieses Verfahren natürlich überholt; mit Digitalkameras kann man Photos machen, sein GSM-Mobiltelefon anschließen, eine Nummer in England wählen und die Bilder übertragen.

Danach setzten wir unseren Rundgang durchs Terminal fort. Ich fand die Steckdose, die ich suchte, am Ende einer Reihe schwarzer Plastiksitze, auf denen zwei Studenten schnarchten. Ich deutete auf die beiden letzten Sitze. »Komm, wir setzen uns einen Augenblick hin. Ich möchte mir etwas auf dem Laptop ansehen.«

Sowie ich den Laptop eingeschaltet hatte, fiel Kelly ein, daß sie Hunger hatte. »Fünf Minuten«, sagte ich geistesabwesend.

Was ich bereits gelesen hatte, bewies mir, daß in Gibraltar mit gezinkten Karten gespielt worden war, aber es hatte noch keine Erklärung dafür geliefert, was Kev damit zu tun hatte. Das wurde mir klar, als ich jetzt weiterlas.

Ende der achtziger Jahre hatte Maggie Thatcher die Regierung Bush offenbar unter Druck gesetzt, etwas dagegen zu unternehmen, daß Noraid in den USA Spenden für die PIRA sammelte. Bei Millionen irischamerikanischer Wähler, die dadurch vergrätzt werden konnten, war das jedoch ein schwieriges Vorhaben. Dann kam es zu einem Deal: Die Briten würden die Tatsache anprangern, daß mit Noraid-Geldern Drogen gekauft wurden, was dazu beitragen würde, die PIRA in den USA in Verruf zu bringen, und Bush würde daraufhin aktiv werden. Wer würde sich schließlich über eine US- Regierung beschweren, die sich im Kampf gegen den Drogenhandel engagierte?

Als der britische Geheimdienst Erkenntnisse über die über Gibraltar laufenden Drogentransporte der PIRA zu sammeln begann, schien sich eine Möglichkeit zu ergeben. Aber nach dem 6. März 1988 existierte sie plötzlich nicht mehr. Die vielen Wählerstimmen waren der Regierung Bush zu wichtig.

Anfang der neunziger Jahre gab es einen neuen US- Präsidenten - und in England einen neuen Premierminister. In Nordirland begann der

Friedensprozeß. Der Regierung Clinton wurde auf höchster Ebene mitgeteilt, wenn sie die PIRA nicht unter Druck setze, an den Friedensgesprächen teilzunehmen, würde die britische Regierung enthüllen, wozu in Amerika gesammelte Noraid-Spendengelder zweckentfremdet wurden. In den Augen der Weltöffentlichkeit hätten die USA, die andere Staaten so gern belehrten, dann als Versager im Kampf gegen den Drogenhandel im eigenen Hinterhof dagestanden.

Es kam zu einem neuen Deal. Clinton ließ Gerry Adams 1995 in die USA reisen, was nicht nur der irischamerikanischen Wählerschaft gefiel, sondern Clinton auch wie den Fürsten der Friedensstifter aussehen ließ. Damit schien er den erklärten PIRA-Gegner John Major zu brüskieren, aber die Briten störte das nicht weiter, denn sie wußten, was wirklich gespielt wurde. Hinter verschlossenen Türen wurde Gerry Adams mitgeteilt, falls die PIRA den Friedensprozeß behindere, würden die USA energische Zwangsmaßnahmen ergreifen.

Tatsächlich wurde daraufhin Waffenstillstand ausgerufen. Nach jahrelangen ergebnislosen Geheimgesprächen schien die Zeit für ernsthafte Verhandlungen reif zu sein. Clinton und die britische Regierung würden als Friedensstifter dastehen, und die PIRA würde Einfluß auf die zu treffenden Vereinbarungen nehmen können.

Am 12. Februar 1996 detonierte am Londoner Canary Wharf jedoch ein riesiger Sprengsatz, der zwei Todesopfer forderte und Hunderte von Millionen Pfund Sachschaden anrichtete. Damit war der Waffenstillstand gebrochen. Der Konflikt in Nordirland flammte wieder auf.

Aber das war noch längst nicht alles. Kev hatte auch entdeckt, daß die PIRA mit einigem Erfolg versucht hatte, bestimmte Beamte in Gibraltar zu erpressen. Offenbar war Gibraltar noch immer der Schlüssel zu Europa. Spanien war für Drogenschmuggler viel zu gefährlich. Gleichzeitig hatte die PIRA einige wichtige Persönlichkeiten in den USA erpreßt, um ihre Drogengeschäfte unbehindert fortführen zu können. Eines ihrer Opfer stand in der DEA-Hierarchie ganz weit oben, aber Kev hatte nie herausbekommen, wer dieser Mann war.

Ich wußte es; ich hatte ein Photo von seinem Boß.

Und jetzt wußte ich auch, weshalb McGear, Fernahan und Macauley in Gibraltar gewesen waren. Sie hatten den Auftrag gehabt, einem hohen Beamten eine letzte Warnung zu überbringen und zu versuchen, durch Erpressung zu erreichen, daß die Gibraltar-Route wieder geöffnet wurde. Möglicherweise hatte die ETA eine zu hohe Beteiligung an den in Spanien erzielten Gewinnen gefordert.

Ich klappte den Laptop zu. Ich mußte nach England zurück. Ich mußte mit Simmonds reden.

Kelly hatte mich beobachtet. »Gut«, sagte sie. »Können wir jetzt frühstücken?«

Ich ging mit ihr zu Dunkin’ Donuts. Sie bekam einen Pappbecher Milch, ich trank zwei Tassen Kaffee, und wir schlugen uns beide mit Donuts voll. Ich aß sechs.

Um zehn Uhr standen wir wieder auf der Rolltreppe, die uns zum Ankunftsbereich hinunterbrachte. Wir brauchten Reisepässe - britische oder amerikanische, das war mir egal. Auf dem Monitor verfolgte ich die internationalen Ankünfte. Vermutlich würden es keine britischen, sondern amerikanische Pässe werden, weil so viele Familien aus den Osterferien nach Washington zurückkamen.

Wie neulich drängten sich auf beiden Seiten der Sperrgitter massenhaft Abholer mit Blumen und Kameras. Kelly und ich hockten auf PVC-Sitzen in der Nähe der Gepäckbänder für Ankünfte aus dem Ausland. Ich hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und schien mit meiner Tochter zu schwatzen. Tatsächlich versuchte ich, sie in einem Schnellkurs zur Handtaschendiebin auszubilden.

»Glaubst du, daß du’s schaffst?«

»Klar!« antwortete sie selbstbewußt.

Wir saßen da und verfolgten, wie die Passagiere einer Maschine ihr Gepäck abholten.

Ich zeigte ihr eine potentielle Familie. »Solche Leute suchen wir - aber die haben zwei Jungen.« Ich lächelte. »Möchtest du einen Tag lang ein Junge sein?«

»Niemals. Jungs riechen schlecht!«

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay, dann warten wir noch ein bißchen.«

Dann kam eine Maschine aus Frankfurt an, und diesmal wurden wir fündig. Die Eltern waren Ende Dreißig, ihre beiden Kinder, ein Mädchen und ein Junge, neun bis zehn Jahre alt; die Mutter trug eine Umhängetasche aus durchsichtigem Kunststoff mit

Gittereinsatz, damit auf den ersten Blick zu sehen war, daß sich alles an seinem Platz befand. Ich konnte unser Glück kaum fassen. »Siehst du die da? Das sind unsere Leute. Komm, wir müssen los!«

»Yeah«, sagte Kelly leicht gedehnt. Sie wirkte plötzlich nicht mehr so selbstbewußt. Sollte ich ihr das wirklich zumuten? Ich hatte es in der Hand, das Unternehmen abzubrechen. Als die Familie in Richtung Toiletten ging, mußte ich eine Entscheidung treffen. Scheiße, eine so gute Gelegenheit würde vielleicht nicht wiederkommen.

»Sie geht mit ihrer Tochter rein«, sagte ich. »Paß auf, daß niemand hinter dir ist. Und denk daran, daß ich auf dich warte.«

Wir folgten den beiden unauffällig. Der Mann war mit dem Jungen vorausgegangen, als wollte er ein Taxi besorgen oder ihren Wagen holen.

Mutter und Tochter verschwanden schwatzend und kichernd in der Damentoilette. Die Frau hatte ihre Tasche über der rechten Schulter hängen. Kelly und ich steuerten auf die vorgelagerten Behindertentoiletten zu und betraten eine der geräumigen Kabinen.

»Ich warte in dieser hier, okay?«

»Okay.«

»Du weißt, was du zu tun hast?«

Ein nachdrückliches Nicken.

»Okay, dann los!« Ich schloß die Schiebetür und hielt sie von innen zu. Die Toiletten waren so geräumig, daß sich auch Rollstuhlfahrer darin bewegen konnten. Jeder Laut schien ein Echo zu erzeugen. Der Boden war feucht und roch nach Putzmittel. Der Wartungsplan auf der Innenseite der Tür zeigte, daß die Toilette erst vor einer Viertelstunde geputzt worden war.

Mein Herz hämmerte so stark, daß ich es unter meinem Hemd spürte. Meine ganze Zukunft hing vom Verhalten einer Siebenjährigen ab. Sie mußte mit einer Hand unter die Kabinentrennwand greifen, sich die Umhängetasche schnappen, sie unter ihrem Mantel verstecken und weggehen, ohne sich auch nur umzusehen. Nicht allzu schwierig, nur mit tausend Risiken behaftet. Aber ohne Pässe konnten wir die USA nicht verlassen - so einfach war das. Und zu Big Al konnten wir unmöglich zurückfahren. Die lange Fahrt wäre riskant gewesen, und ich konnte Big Al nicht mehr trauen, weil ich nicht wußte, was er inzwischen getrieben hatte. Alles war einfach beschissen kompliziert. Wir mußten so schnell wie möglich aus diesem Land heraus, das stand fest.

Ich schrak aus meinen trübseligen Gedanken auf, als plötzlich mehrmals an die Tür geklopft wurde. »Nickkk!« sagte eine nervöse Stimme halblaut.

Ich zog rasch die Tür auf, ohne auch nur einen Blick nach draußen zu werfen: Kelly kam mit der

Umhängetasche hereingestürmt. Ich schloß die Tür wieder, verriegelte sie und drehte mich nach meiner Komplizin um.

Ich klappte den WC-Deckel herunter, und wir setzten uns nebeneinander. Kelly wirkte aufgeregt und ängstlich zugleich. Ich war nur ängstlich, weil ich wußte, daß jeden Augenblick die Hölle losbrechen würde.

Dann war es soweit. Die Mutter stürmte kreischend aus der Toilette. »Hilfe, man hat mir meine Handtasche gestohlen! Wo ist Louise? Louise!«

Das Mädchen kam heraus und begann weinend zu rufen: »Mommy! Mommy!«

Ich hörte Mutter und Tochter kreischend weglaufen. Trotzdem mußten wir vorerst bleiben, wo wir waren. Die Leute würden scharf aufpassen; wer aus der Toilette kam, war automatisch verdächtig. Ich blieb also sitzen und sah mir die Reisepässe an.

Wir hatten soeben Mrs. Fiona Sandborn und ihre Familie beraubt. Okay, nur sah Mr. Sandborn leider Mr. Stone überhaupt nicht ähnlich. Aber dagegen ließ sich später etwas unternehmen. Ein weiteres Problem konnte dadurch entstehen, daß beide Kinder in den Pässen ihrer Eltern eingetragen waren.

Ich nahm alles Geld und die Lesebrille aus der Umhängetasche. Da der WC-Spülkasten für mich unzugänglich an der Wand eingebaut war, gab es hier keine Möglichkeit, die Tasche zu verstecken. Ich stand auf, trat an die Schiebetür und horchte.

Die Frau hatte einen Polizeibeamten gefunden. Ich konnte mir die Szene da draußen gut vorstellen. Um die beiden würden sich mehrere Neugierige versammelt haben. Der Cop würde sich Notizen machen, den Diebstahl über Funk der Zentrale melden und wahrscheinlich alle WC-Kabinen kontrollieren. Mir brach der Schweiß aus.

Ich hatte das Gefühl, schon stundenlang an dieser Tür zu stehen und zu horchen. Kelly kam übertrieben leise auf Zehenspitzen heran. Als ich mich zu ihr hinunterbeugte, flüsterte sie mir ins Ohr: »Ist’s schon wieder in Ordnung?«

»Beinahe.«

Dann hörte ich ein Krachen und Klopfen. Jemand, vermutlich der Polizeibeamte, stieß die Türen der freien WC-Kabinen auf und klopfte an die Türen der anderen. Er suchte wohl weniger den Dieb, sondern wollte kontrollieren, ob die Tasche irgendwo ohne das Geld weggeworfen worden war. Gleich würde unsere Kabine an der Reihe sein.

Für lange Überlegungen blieb keine Zeit. »Kelly, wenn jemand anklopft, mußt du reden. Am besten .«

Klopf-klopf-klopf.

In der Echokammer der Behindertentoilette klang das Klopfen wie das Zuschlagen einer Zellentür.

»Hallo?« fragte eine Männerstimme. »Polizei! Ist da jemand drin?« Dabei versuchte jemand, die Schiebetür von außen zu öffnen.

Ich schob Kelly rasch zur Kloschüssel zurück und flüsterte ihr zu: »Antworte, daß du bald rauskommst.«

»Ich komme bald raus!« rief sie.

Von draußen kam keine Antwort, aber das Klopfen wiederholte sich an der nächsten Kabinentür. Damit war die Gefahr hoffentlich vorüber.

Nun mußte ich nur noch meine Pistole und die Magazine loswerden. Das war einfach. Ich steckte alles in Mrs. Sandborns Umhängetasche, die ich eng zusammenknüllte, damit sie in den nächsten Abfallbehälter paßte.

Erst nach einer Stunde glaubte ich, wir könnten die Kabine gefahrlos verlassen. Ich wandte mich an Kelly. »Du heißt jetzt Louise, okay? Louise Sandborn.«

»Okay.«

Sie nahm das gleichmütig hin.

»Louise, wenn wir jetzt gehen, möchte ich, daß du richtig fröhlich aussiehst und an meiner Hand gehst.« Ich griff nach der Reisetasche. »Okay, wir sind unterwegs!«

»Nach England?«

»Natürlich! Aber zuerst müssen wir uns Plätze im nächsten Flugzeug besorgen. Du bist übrigens großartig gewesen - sehr gut gemacht!«

Einige Minuten nach 11 Uhr 30 waren wir wieder im Abflugbereich. Bis zum ersten möglichen Abflug mit BA-216 um 17 Uhr 10 nach Heathrow mußten wir uns noch über fünf Stunden hier herumtreiben.

Ich ging ans nächste Telefon, benutzte die Rufnummern aus dem Flughafenmagazin und rief nacheinander die in Frage kommenden Fluggesellschaften an, um nach freien Plätzen zu fragen. Der erste Flug mit British Airways war schon ausgebucht. Ebenso United Airways um 18 Uhr 10, BA um 18 Uhr 10 und United um 18 Uhr 40. Zuletzt gelang es mir, bei Virgin Atlantic zwei Plätze für den Flug um 18 Uhr 45 zu ergattern. Ich gab sämtliche Daten von Mr. Sandborn an, der die Tickets später abholen würde. Auch diesmal bezahlte ich wieder mit Angaben zur Kreditkarte auf dem Durchschlag von Frankie Sabatinos Mietwagen.

Ich schlenderte am Virgin-Schalter vorbei und stellte fest, daß er erst ab 13 Uhr 30 geöffnet war. Also eineinhalb Stunden lang warten und schwitzen.

Terry Sandborn sah älter aus als ich, und sein fast schulterlanges Haar fing schon an, grau zu werden. Mein Haar bedeckte kaum die Ohren und war braun. Zum Glück war sein Paß schon vier Jahre alt.

Zur Begeisterung Kellys und des Herrenfriseurs im Terminal verlangte ich den Bürstenschnitt Nummer eins und sah nun wie ein amerikanischer Marineinfanterist aus.

Dann gingen wir in den Reiseladen, wo ich ein Schmerzmittel kaufte, das Menstruationsbeschwerden bei Frauen zu lindern versprach. Ein Blick auf die auf der Packung angegebene Zusammensetzung genügte, um mir zu zeigen, daß ich offenbar das richtige Mittel erwischt hatte.

Die ganze Zeit über hoffte ich, die Polizei habe den Handtaschenraub als Gelddiebstahl eingestuft und den Fall nicht weiterverfolgt, sondern es dem Ehepaar Sandborn überlassen, den Verlust seiner Kreditkarten und Reisepässe zu melden. Ich wollte nicht am Virgin- Schalter aufkreuzen und von einem halben Dutzend Cops in Empfang genommen werden.

Noch eine halbe Stunde, bis wir zum Einchecken gehen konnten. Aber vorher hatte ich noch etwas zu erledigen.

»Kelly, wir müssen noch mal auf die Toilette.«

»Ich muß aber nicht.«

»Ich will mich dort verkleiden. Komm, ich zeig’s dir.«

Wir verschwanden in einer der Behindertentoiletten im

Abflugbereich, und ich schloß die Tür hinter uns. Als erstes holte ich Mrs. Sandborns Lesebrille heraus. Ihr dünner Goldrahmen enthielt Gläser von der Dicke des Bodens einer Colaflasche. Ich probierte sie auf. Die Brillenfassung war etwas klein, aber sie sah dennoch passabel aus. Ich drehte mich schielend nach Kelly um. Anschließend hatte ich Mühe, ihren Lachanfall zu beenden.

Dann riß ich die Packung Schmerztabletten auf. »Ich nehme jetzt ein paar dieser Tabletten ein, von denen mir schlecht wird. Aber das hat seinen Grund, okay?«

Sie wußte nicht recht, was sie davon halten sollte. »Oh, okay, wenn du meinst ...«

Ich schluckte sechs Kapseln und wartete. Erst kamen Hitzewallungen, dann brach mir der kalte Schweiß aus. Ich hob eine Hand, um zu signalisieren, daß alles in Ordnung war, während ich mich in die Kloschüssel übergeben mußte.

Kelly verfolgte erstaunt, wie ich mir im Waschbecken kaltes Wasser übers Gesicht laufen ließ. Ich begutachtete mich im Spiegel. Wie ich gehofft hatte, sah ich so blaß und krank aus, wie ich mich fühlte. Vorsichtshalber schluckte ich noch zwei Kapseln.

Vor der langen Reihe von Abfertigungsschaltern warteten nur wenige Fluggäste, und bei Virgin Atlantic war lediglich ein Schalter besetzt. Die Hosteß schrieb irgend etwas und hielt den Kopf gesenkt, als wir herankamen. Sie war eine schwarze Schönheit, Mitte Zwanzig, die ihre üppige Mähne zu einem Nackenknoten gebändigt trug.

»Hallo, mein Name ist Sandborn.« Das Kodein machte meine Stimme rauher und tiefer. »Bei Ihnen müßten zwei Tickets für mich liegen.« Ich bemühte mich, zerstreut und schusselig zu wirken. »Mein Schwager hat sie doch hoffentlich für mich gebucht?« Ich warf einen hoffnungsvollen Blick gen Himmel.

»Haben Sie eine Bestellnummer, Sir?«

»Tut mir leid, er hat mir keine gesagt. Einfach nur Sandborn.«

Sie tippte den Namen ein und sagte: »Ja, das stimmt, Mr. Sandborn, zwei Tickets für Sie und Louise. Wie viele Gepäckstücke geben Sie auf?«

Ich trug den Laptop über der Schulter und die Reisetasche in der Hand. Ich zögerte unschlüssig, als überlege ich, ob ich den Laptop bis zum Abflug noch brauchen würde. »Nur diese Tasche hier«, sagte ich und stellte sie auf die Waage. Sie wog nicht viel, aber das große schwarze Tuch füllte sie einigermaßen gut aus.

»Darf ich bitte Ihren Paß sehen?«

Ich tastete alle meine Taschen ab - scheinbar jedoch ohne Erfolg. In Wirklichkeit wollte ich Sandborns Reisepaß nicht sofort vorlegen. »Hören Sie, ich weiß, daß wir Glück gehabt haben, daß wir überhaupt Plätze bekommen haben, aber könnten Sie freundlicherweise dafür sorgen, daß wir zusammensitzen?« Ich beugte mich etwas nach vorn und fügte halb flüsternd hinzu: »Louise hat schrecklich Flugangst, wissen Sie.«

Kelly und ich wechselten einen Blick. »Alles okay, Baby, alles okay.« Ich senkte meine Stimme nochmals. »Wir sind in einer sehr traurigen Familiensache

unterwegs, wissen Sie.«

Nach einem hastigen Blick zu Kelly hinunter erklärte ich der Hosteß mit schmerzlicher Miene: »Wissen Sie, ihre Großmutter ist ...« Aber ich brachte den Satz nicht zu Ende, als sei der Rest zu schrecklich für die Ohren eines kleinen Mädchens »Ich sehe zu, was sich tun läßt, Sir.«

Ihre Finger flogen so rasend schnell über die Computertastatur, daß es aussah, als bluffe sie nur. Ich legte meinen Reisepaß auf den Schalter. Die Hosteß sah auf und lächelte. »Kein Problem, Mr. Sandborn.«

»Wunderbar!« Trotzdem wollte ich dieses Gespräch fortführen. »Glauben Sie, daß wir eine Ihrer Lounges benutzen können? Nach meiner Chemotherapie ermüde ich sehr leicht. Wir sind den ganzen Tag herumgelaufen, und ich fühle mich nicht besonders gut. Wissen Sie, ich brauche nur irgendwo anzustoßen - schon habe ich eine blutende Platzwunde.«

Sie betrachtete meine Narben und meinen blassen Teint und nickte verständnisvoll. »Meine Mutter hat eine Chemotherapie wegen Leberkrebs machen müssen«, sagte sie dann. »Zum Glück nach all den Schmerzen, die sie durchlitten hat, sehr erfolgreich.«

Ich bedankte mich für ihr Mitgefühl und ihre aufmunternden Worte.

Jetzt sieh zu, daß wir in die verdammte Lounge dürfen, bevor uns jemand erkennt!

»Moment, ich frage mal nach.« Sie lächelte Kelly zu, nahm den Telefonhörer ab und sprach hinein. Das Gespräch war sehr kurz. Die Hosteß legte auf und nickte mir zu. »Geht in Ordnung, Sir. Wir teilen uns die Lounge mit United. Ich schreibe Ihnen rasch eine Einladung aus.«

Ich bedankte mich, und sie griff nach dem Reisepaß. Hoffentlich kannte sie mich inzwischen so gut, daß das nur eine Formalität war. Während sie meinen Paß aufschlug, wandte ich mich an Kelly, redete mit ihr und schilderte ihr, wie aufregend es sei, zu Grandma zu fliegen.

»Ihr Flug wird um achtzehn Uhr fünfzehn aufgerufen, Sir.« Ich sah dankbar lächelnd auf.

»Gehen Sie bitte zu Flugsteig C. Von dort aus bringt ein Pendelbus Sie zur Lounge. Angenehmen Flug!«

»Herzlichen Dank! Komm, Louise, wir dürfen unser Flugzeug nicht verpassen!« Ich ließ Kelly ein paar Schritte vorausgehen, drehte mich noch einmal um und sagte halblaut: »Hoffentlich kann Grandma auf uns warten.« Sie nickte wissend.

Jetzt wollte ich nur in die Luft. Die erste Hürde war die Sicherheitskontrolle. Kelly ging als erste durch die Schleuse; ich folgte ihr. Kein Piepston. Ich mußte den Laptop aufklappen und einschalten, um zu beweisen, daß er funktionierte, aber darauf war ich vorbereitet. Alle Flavius--Dokumente waren jetzt unter Spiele gespeichert.

Wir gingen zu Flugsteig C weiter, passierten eine weitere Kontrolle und bestiegen den wartenden Pendelbus. Nachdem wir ungefähr fünf Minuten gewartet hatten, bis der Bus sich allmählich füllte, wurden die Türen geschlossen. Die Hydraulik senkte den Bus ab, und wir fuhren übers Vorfeld zu den Lounges für abfliegende Fluggäste hinüber.

In dem luxuriös eingerichteten Passagierbereich herrschte reger Betrieb. Ich hörte viele britische, aber auch deutsche und französische Stimmen. Kelly und ich gingen zur UA-Lounge weiter, nachdem wir vorher noch an einem Bonbonstand haltgemacht hatten.

Wir saßen unauffällig mit einer Cola und einem großen Cappuccino in einer Ecke. Leider gab mir diese erzwungene Ruhepause nur Gelegenheit, darüber zu grübeln, ob ich irgendeinen Fehler gemacht hatte.

Ein Sicherheitsbeamter kam an die Rezeption und sprach mit den Leuten hinter der Theke. Mein Herz begann zu jagen. Die Flugzeuge jenseits der wandhohen Fensterscheiben waren schon zum Greifen nahe. Man konnte sich fast einbilden, Kerosin zu riechen.

Ich zwang mich dazu, Ruhe zu bewahren. Hätte die Polizei speziell nach uns gefahndet, hätte sie uns inzwischen längst aufgespürt. Aber in Wirklichkeit konnte noch soviel schiefgehen, daß eigentlich etwas schiefgehen mußte. Ich schwitzte noch immer stark. Meine Stirn war schweißnaß. Und ich fühlte mich schwach, ohne beurteilen zu können, ob das von den Tabletten oder meiner Nervosität kam.

»Nick? Bin ich heute den ganzen Tag Louise oder nur gerade jetzt?«

Ich gab vor, darüber nachzudenken. »Nein, den ganzen Tag. Du bist den ganzen Tag Louise Sandborn.«

»Warum?«

»Weil sie uns nicht nach England lassen, wenn wir keinen anderen Namen benutzen.«

Sie nickte nachdenklich.

»Soll ich dir noch was verraten?« fragte ich.

»Was denn?«

»Wenn ich dich Louise nenne, mußt du Daddy zu mir sagen. Aber nur für heute.«

Ich wußte selbst nicht, welche Reaktion ich erwartet hatte, aber Kelly zuckte nur mit den Schultern. »Von mir aus«, sagte sie nonchalant. Aber sie hatte es wenigstens nicht abgelehnt, mich so zu nennen.

Die nächsten Stunden waren nervenaufreibend, aber hier waren wir wenigstens gut aufgehoben. Hätte ich irgendwelche Herzprobleme gehabt, hätte mich vermutlich der Schlag getroffen, so hoch war mein Blutdruck. Jeder Schlag meines Herzens hämmerte dröhnend laut in meinen Ohren.

Ich sagte mir immer wieder: Du bist jetzt hier, daran ist nichts mehr zu ändern, das mußt du einfach akzeptieren. Sieh bloß zu, daß du in den Scheißflieger kommst!

Ich sah zu Kelly hinüber. »Na, alles in Ordnung, Louise?«

»Alles bestens, Daddy«, versicherte sie mir lächelnd. Ich konnte nur hoffen, daß ihr dieses Lächeln erhalten blieb.

Ich sah, wie die Frau an der Rezeption sich nach vorn beugte, um ins Mikrofon zu sprechen. Sie rief unseren Flug auf und versicherte uns, es sei ihr ein Vergnügen gewesen, uns als Gäste in der Lounge gehabt zu haben.

Mit uns stand etwa ein Dutzend weiterer Gäste auf, falteten ihre Zeitungen zusammen und zogen die

Reißverschlüsse ihres Bordgepäcks zu.

Ich stand auf und reckte mich. »Louise?«

»Ja?«

»Auf nach England!«

Wir strebten zum Ausgang: Vater und Tochter, Hand in Hand, unbefangen schwatzend. Meine Theorie war, daß keiner uns ansprechen würde, solange wir miteinander redeten.

Vor uns in der Schlange standen vier oder fünf Leute, darunter ein Ehepaar mit kleinen Kindern. Die Pässe wurden von einem jungen Latino kontrolliert, der seinen Sicherheitsausweis an einer Kette um den Hals hängen hatte. Aber wir waren noch zu weit von ihm entfernt, als daß ich den Aufdruck hätte lesen können. Gehörte er zum Sicherheitsdienst des Flughafens oder der Fluggesellschaft?

Zwei uniformierte Sicherheitsbeamte kamen dazu, stellten sich hinter ihn und unterhielten sich halblaut. Ihre Plauderei wirkte so ungezwungen, daß ihre Natürlichkeit wahrscheinlich gespielt war. Ich wischte mir mit einem Jackenärmel unauffällig den Schweiß von der Stirn.

Die beiden Uniformierten waren bewaffnet. Jetzt machte der Schwarze einen Scherz, über den der Weiße lachte, während er sich umsah. Kelly und ich rückten in der Schlange vor.

Ich hielt sie weiter wie ein besorgter Vater an der Hand. Der Laptop hing über meiner linken Schulter. Kelly hatte ihre beiden Teddybären unter dem Arm.

Wir machten drei Schritte, warteten, rückten nochmals vor und standen vor dem Latino.

Ich wollte ihm alles möglichst einfach machen und gab ihm lächelnd den Reisepaß und die Bordkarten. Ich war der Überzeugung, daß die Uniformierten mich musterten. Deshalb verfiel ich in den Boxermodus: Ich konzentrierte mich völlig auf den jungen Latino; alles andere blieb außerhalb - gedämpft, verzerrt, peripher. Ein Schweißtropfen lief mir über die Backe, und ich wußte, daß er ihn gesehen hatte. Ich wußte auch, daß er meine keuchenden Atemzüge hören konnte.

Kelly stand halb rechts hinter mir. Ich lächelte ihr zu.

»Sir?«

Ich atmete, aufs Schlimmste gefaßt, aus und sah ihn an.

»Nur den Paß, Sir.« Er gab mir die Bordkarten zurück. Als unerfahrener Flugreisender grinste ich verlegen.

Er blätterte in dem Reisepaß und kam zu Sandborns Paßphoto, das er rasch mit meinem Gesicht verglich.

Jetzt bist du erledigt.

Ich zeigte ihm, daß ich seine Gedanken erriet. »Männliche Wechseljahre«, behauptete ich grinsend und fuhr dabei mit einer Hand über mein kurzgeschorenes Haar. Meine Kopfhaut war schweißnaß. »Der Bruce- Willis-Look!«

Der Scheißkerl verzog keine Miene. Er überlegte noch. Dann klappte er den Paß zu und hielt ihn mir wieder hin. »Angenehmen Flug, Sir.«

Ich wollte mich mit einem Nicken bedanken, aber er wandte sich bereits den Leuten hinter uns zu.

Wir gingen ein paar Schritte weiter zu den Girls von Virgin und gaben unsere Bordkarten ab. Die beiden

Sicherheitsbeamten rührten sich nicht von der Stelle.

Als wir die Verbindungsbrücke zum Flugzeug betraten, kam ich mir wie jemand vor, der durch bauchtiefes Wasser zu rennen versucht hat und nun plötzlich am Strand ist.

Der Latino machte mir noch immer Sorgen. Ich mußte auf dem ganzen Weg in die Maschine an ihn denken. Erst als ich unsere Sitze gefunden, den Laptop im Gepäckabteil verstaut, mich hingesetzt und nach dem Bordmagazin gegriffen hatte, holte ich tief Luft und atmete ganz langsam aus. Aber das war kein Seufzer der Erleichterung, sondern ich wollte mein Blut nur mit Sauerstoff anreichern. Nein, der Scheißkerl war nicht zufrieden gewesen. Er hatte Verdacht geschöpft, aber er hatte mir keine Fragen gestellt, mich nicht einmal nach meinem Namen gefragt. Wir waren vielleicht am Strand, aber wir hatten noch längst keinen trockenen Boden unter den Füßen.

Das Flugzeug füllte sich allmählich. Ich atmete tief weiter, um meinen Puls unter Kontrolle zu bekommen.

Das Kabinenpersonal war ständig in der Maschine unterwegs. Ich rechnete jeden Augenblick damit, eine Stewardeß mit den beiden Sicherheitsbeamten im Schlepptau auf uns zukommen zu sehen. Hier gab es nur einen Eingang, nur einen Ausgang. Eine Flucht war unmöglich. Während ich mir verschiedene Szenarien durch den Kopf gehen ließ, mußte ich einfach akzeptieren, daß die Würfel gefallen waren. Ich war jetzt ein gewöhnlicher Fluggast und erlebte wieder das Gefühl, das ich in jeder Militär- oder Verkehrsmaschine hatte: Ich war anderen Menschen ausgeliefert, konnte mein Schicksal nicht in die eigenen Hände nehmen und fand diesen Zustand abscheulich.

Noch immer kamen Leute an Bord. Ich hätte fast einen nervösen Lachanfall bekommen, als aus den Lautsprechern Gloria Gaynors Song »I Will Survive« kam. Ich sah zu Kelly hinüber und blinzelte ihr zu. Sie war damit beschäftigt, ihren Teddybären den Sitzgurt anzulegen.

Einer der Stewards kam in Virgin-Uniform, noch nicht in Hemdsärmeln, den Gang entlang und machte bei unserer Reihe halt. Seiner Blickrichtung nach schien er zu kontrollieren, ob wir angeschnallt waren. Aber dafür war es wohl noch viel zu früh? Ich nickte ihm lächelnd zu. Er machte kehrt und verschwand in der Bordküche.

Ich beobachtete den Eingang und fürchtete das Schlimmste. Eine Stewardeß streckte ihren Kopf aus der Küche und sah genau mich an. Kellys Teddybären waren plötzlich sehr interessant.

Ich spürte ein Kribbeln im Nacken. Mein Magen verkrampfte sich. Als ich langsam den Kopf hob, war die Stewardeß verschwunden.

Der Steward tauchte wieder auf - diesmal mit einer Tragetasche in der Hand. Er kam zu uns, blieb stehen und ging im Gang neben Kelly in die Hocke. »Hi!« sagte er.

»Hallo!«

Als er seine Hand in die Tragetasche steckte, wartete ich darauf, daß er einen Colt Kaliber 45 herausziehen würde. Ein guter Trick, mich glauben zu lassen, er gehöre zum Kabinenpersonal und habe eine Überraschung für

Kelly.

Aber er zog nur einen Nylonrucksack mit dem übergroßen Virgin-Logo und dem Aufdruck Kids With Altitude heraus. »Wir haben vergessen, dir einen von denen zu geben«, sagte er dabei. Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen.

»Oh, vielen Dank!« Ich grinste wie ein Tollhäusler. Meine Augen waren durch die Gläser von Mrs. Sandborns Brille aufs Doppelte vergrößert. »Vielen herzlichen Dank!«

Er gab sich große Mühe, mich anzusehen, als sei ich wirklich eine Art Halbidiot, und verschwand, nachdem er Kelly versprochen hatte, ihr gleich nach dem Start einen Orangensaft zu bringen.

Ich sah mir gemeinsam mit ihr das Bordmagazin an und fragte sie: »Welchen Film willst du dir ansehen, Louise?«

»Clueless«, antwortete sie grinsend.

»Von mir aus«, sagte ich.

Eine Viertelstunde später hob unsere Maschine auf die Minute pünktlich von der Startbahn ab. Plötzlich störte es mich überhaupt nicht mehr, einem unbekannten Piloten ausgeliefert zu sein.

36

Wir hörten uns die heruntergeleierte Begrüßung des Captains an, der uns versicherte, wie wundervoll es sei, uns an Bord zu haben, und uns mitteilte, wann wir gefüttert werden würden. Meine Körperwärme schaffte es allmählich, mein durchgeschwitztes Hemd zu trocknen. Sogar meine Socken waren naßgeschwitzt. Ich sah zu Kelly hinüber. Sie machte ein trauriges Gesicht. Ich stieß sie mit dem Ellbogen an. »Was hast du?«

»Ach, nichts weiter. Melissa fehlt mir, weißt du, und ich habe ihr nicht mal erzählt, daß ich nach England fliege.«

Inzwischen wußte ich, wie ich damit umzugehen hatte. »Nun, du brauchst in bezug auf Melissa nur an schöne Dinge zu denken, dann bist du wieder froh.« Ich wartete auf ihre Antwort und wußte schon im voraus, was sie sagen würde.

»Woran denkst du, damit du froh bist, wenn du dich an deinen besten Freund David erinnerst?«

Kein Problem; darauf war ich vorbereitet. »Nun, vor ungefähr zwölf Jahren haben wir zusammengearbeitet, und David hat sein Haus renoviert und einen neuen Fußboden gebraucht.«

Solche Gutenachtgeschichten mochte Kelly. Sie sah jedenfalls so aus, als würde sie an mich gelehnt bald einschlafen. Ich erzählte ihr, wie wir damals, als wir in Nordirland stationiert gewesen waren, in einem Stützpunkt der Security Forces den Fußboden eines Squash-Courts geklaut hatten. Wir waren um drei Uhr morgens mit Spaten, Hämmern und Meißeln angerückt, hatten die Bodenbretter in einen Kastenwagen geladen und waren damit nach Wales gefahren. Schließlich hatte Ihrer Majestät Regierung viel Zeit und Geld dafür aufgewendet, uns zu perfekten Einbrechern auszubilden.

Warum sollten wir diese Fertigkeiten nicht zum eigenen Vorteil nutzen? Die folgenden drei Tage hatten wir damit verbracht, Küche und Diele seines Hauses in Breconshire gemeinsam mit dem schönen neuen Fußboden auszulegen.

Ich blickte grinsend zu Kelly hinüber, um ihre Reaktion zu sehen, aber sie schlief bereits fest.

Ich fing an, mir den Film anzusehen, aber ich wußte, daß ich einschlafen würde, sobald die Wirkung der Tabletten abklang und ich meinen Verstand daran hindern konnte, sich immer wieder mit derselben Frage zu beschäftigen.

Daß es eine unheilige Allianz zwischen der PIRA und korrupten DEA-Mitarbeitern gab, stand fest - und Kevs Boß schien einer der Hauptakteure zu sein. Kev hatte von dieser Korruption gewußt, ohne schon die Namen der Beteiligten zu kennen. Und er hatte mit jemandem darüber reden wollen.

Hatte Kev am Tag meiner Ankunft in Washington nichtsahnend seinen Boß angerufen, um ihn nach seiner Meinung zu fragen? Sehr unwahrscheinlich, denn er hatte bestimmt auf Kevs Liste der Verdächtigen gestanden. Viel wahrscheinlicher war, daß er mit jemandem außerhalb der DEA gesprochen hatte, der die Problematik erkennen würde und dessen Urteil Kev schätzte. Konnte das Luther gewesen sein? Kev hatte ihn gekannt, aber hatte er ihm auch vertraut? Schwierig zu beurteilen. Jedenfalls war Kev nach diesem Telefongespräch innerhalb von einer Stunde tot gewesen.

Ein paar Stunden vor der Landung flammte die Kabinenbeleuchtung auf, und wir bekamen das Frühstück serviert. Ich stieß Kelly an, aber sie stöhnte nur und vergrub sich unter ihrer Decke. Ich rührte das Essen nicht an. Nachdem ich beinahe in Hochstimmung gewesen war, weil es uns gelungen war, an Bord dieses Flugzeugs zu kommen, war ich zutiefst deprimiert aufgewacht. Meine Laune war so finster wie der schwarze Kaffee vor mir. Es war verrückt gewesen, sich schon erleichtert zu fühlen. Wir waren noch längst nicht in Sicherheit; falls die anderen wußten, daß wir an Bord waren, würden sie natürlich seelenruhig abwarten, bis wir gelandet waren. Ich mußte damit rechnen, festgenommen zu werden, sobald ich die Maschine auf dem Vorfeld verließ.

Auch wenn ich nicht verhaftet wurde, war noch die Einreisekontrolle zu passieren. Die Beamten, die unerwünschte Personen abweisen sollten, waren viel wacher und kritischer als ihre Kollegen, die der Form halber die Pässe von Ausreisenden kontrollierten. Sie sahen sich die Papiere wesentlich genauer an, achteten auf die Körpersprache der Ankommenden und lasen in ihrem Blick. Kelly und ich reisten mit einem gestohlenen Reisepaß. Daß wir damit auf dem Dulles International Airport durchgekommen waren, bedeutete nicht, daß uns das noch einmal gelingen würde.

Ich nahm weitere vier Tabletten und spülte sie mit Kaffee hinunter. Dann fiel mir ein, daß ich jetzt ein amerikanischer Staatsbürger war. Als eine Stewardeß mit den Formularen vorbeikam, ließ ich mir eine der Karten geben, die Ausländer vor der Einreise ausfüllen mußten.

Kelly wollte noch immer nicht aufwachen.

Beim Ausfüllen der Karte beschloß ich, die Sandborns seien gerade umgezogen und wohnten jetzt neben Mr. und Mrs. Brown. Der Hunting Bear Parth war die einzige amerikanische Adresse, über die ich glaubwürdig reden konnte.

Falls ich bei der Einreisekontrolle verhaftet wurde, wäre das nicht das erste Mal gewesen. Einmal war ich bei der Rückkehr von einem Einsatz in Gatwick gelandet. Während der Paßbeamte in meinem Reisepaß blätterte, traten zwei Männer links und rechts an mich heran, hielten mich an den Armen fest und ließen sich von dem Beamten meinen Paß geben. »Mr. Stamford? Special Branch. Kommen Sie bitte mit.« Ich protestierte nicht einmal; meine Legende war stichhaltig, ich war wieder in England, hier konnte mir nichts passieren.

Nach einer Leibesvisitation in einem Vernehmungsraum wurde ich mit Fragen bombardiert. Ich hielt mich eisern an meine Legende: wo ich gewesen war, was ich dort gemacht hatte, warum ich es gemacht hatte. Sie riefen meine Tarnadresse an, und James bestätigte meine Darstellung. Alles schien bestens zu klappen.

Danach wurde ich in eine der Haftzellen auf dem Flughafen gesteckt, und drei Polizeibeamte kamen herein. Sie vergeudeten keine Zeit, sondern gingen wie Rugbystürmer auf mich los; abwechselnd hielten mich zwei an den Armen fest, während der dritte mich mit Boxhieben traktierte. Ohne ein Wort zu verlieren, machten sie mich ganz schön fertig.

Als nächstes wurde ich erneut verhört und beschuldigt, als Pädophiler in Thailand Kinder mißbraucht zu haben - eine abwegige Beschuldigung, denn tatsächlich war ich von einem Einsatz in Rußland zurückgekommen. Gegen diesen Vorwurf konnte ich mich nicht wehren; ich konnte nur alles leugnen und darauf warten, daß die Firma mich hier rausholen würde.

Nach einem ungefähr vierstündigen Verhör saß ich wieder in meiner Zelle, als zwei Kerle vom Intelligence Service hereinkamen, um mein Verhalten mit mir zu besprechen. Das Ganze war eine beschissene Übung gewesen! Sie hatten alle Ks bei ihrer Rückkehr nach England auf die Probe stellen wollen, aber leider den falschen Tatvorwurf gewählt. Die Polizeibeamten waren offenbar nicht bereit, lange auf eine Gerichtsverhandlung zu warten, wenn es darum ging, Kinderschänder zu bestrafen. Das hatten wir alle sehr schmerzlich zu spüren bekommen. Ein K, der über Jersey eingereist war, hatte nach dieser Behandlung sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen.

Kelly war noch ganz verschlafen und sah so mies aus, wie ich mich fühlte. Sie sah aus, fand ich, als habe sie irgendwo im Freien übernachtet. Jetzt streckte sie sich gähnend. Als sie die Augen öffnete und sich leicht desorientiert umsah, hielt ich ihr grinsend einen Pappbecher Orangensaft hin. »Na, wie fühlst du dich, Louise?«

Kelly schaltete nicht gleich, aber nach zwei bis drei Sekunden war sie wieder auf dem laufenden. »Danke, ganz gut.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie grinsend hinzufügte: »Daddy.« Dann schloß sie die Augen und kuschelte sich wieder in ihre Decke. Ich brachte es nicht über mich, ihr zu sagen, daß wir bald landen würden.

Wenigstens konnte ich sie dazu überreden, den Orangensaft zu trinken, während der Videofilm Welcome to London lief. Reichlich Prunk, Pomp und Pracht: die Leibgarde zu Pferd, marschierende Gardisten, die Königin in ihrer Kutsche die Mall entlangfahrend. London war mir noch nie so attraktiv erschienen.

Dann landete das Flugzeug und wir verwandelten uns wieder in Schauspieler.

Wir rollten übers Vorfeld zu unserer Abstellposition. Alle sprangen auf, als hätten sie Angst, irgend etwas zu verpassen. Ich beugte mich zu Kelly hinüber. »Warte, wir haben’s nicht eilig.« Ich wollte mitten in der Menge mitschwimmen.

Schließlich war wieder alles in Kellys Rucksack verstaut, so daß wir uns mit ihren Teddybären in die Schlange der Aussteigenden einreihen konnten. Ich versuchte nach vorn zu sehen, konnte aber nicht viel erkennen.

Wir erreichten die Bordküche, gingen nach links und schlurften zur Flugzeugtür weiter. Auf der Rampe waren zwei Männer in den mit Leuchtstreifen besetzten Jacken der British Airports Authority damit beschäftigt, eine Passagierin in ihren Rollstuhl zu setzen. Ich war wieder etwas optimistischer; die Freiheit schien zu winken.

Wir gingen die Rampe hinauf und folgten dem Tunnel ins Ankunftsgebäude. Kelly wirkte unbefangen und sorglos, was mir nur recht war; sie sollte am besten gar nicht ahnen, was für eine kritische Situation uns bevorstand.

Im Terminal herrschte lebhafter Fußgängerverkehr: Reisende liefen mit Handgepäck herum, betraten Duty- free-Shops, kamen aus diesen Läden oder drängten sich vor den Flugsteigen. Ich hatte meinen Laptop und Kellys Rucksack über der linken Schulter und hielt Kelly an der Hand. Sie trug ihre Teddybären. Wir erreichten den ersten Rollsteig.

Heathrow ist der am strengsten überwachte, mit den meisten Kameras ausgestattete und deshalb vermutlich sicherste Flughafen der Welt. Wir wurden schon jetzt von unzähligen Augenpaaren überwacht; dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um schuldbewußt oder verschlagen zu wirken. Der Rollsteig endete bei den Flugsteigen 43-47, und der nächste begann ungefähr zehn Meter weiter. Ich wartete, bis gerade niemand in unserer Nähe war, und beugte mich dann zu Kelly hinunter. »Also, vergiß nicht, daß ich heute dein Daddy bin . okay, Louise Sandborn?«

»Und ob!« sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Ich konnte nur hoffen, daß wir in einer Viertelstunde beide noch lächeln würden.

Am Ende des Rollsteigs fuhren wir mit der Rolltreppe nach unten und folgten den Hinweisschildern zur Paßkontrolle und Gepäckabholung. Unterwegs redete ich mit Kelly, um etwas zu tun zu haben, anstatt nervös auszusehen. Ich war schon mindestens hundertmal illegal in irgendwelche Länder eingereist - aber noch nie so unvorbereitet oder unter so starkem Druck stehend.

»Alles klar, Louise?«

»Natürlich, Daddy.«

Ich hängte ihr den Rucksack um, um die Hände freizuhaben, damit ich Reisepaß und Visumkarte aus der Jackentasche holen konnte. Wir schlenderten zur Paßkontrolle weiter und stellten uns am Ende der Schlange an. Ich erinnerte mich an einen amerikanischen Freund, der von Boston nach Montreal und von dort aus nach London weitergeflogen war. In Kanada hatte er versehentlich den Paß eines Fremden eingesteckt, mit dem er sich in Montreal ein Hotelzimmer geteilt hatte; da er den Paß nicht mehr umtauschen konnte, hatte er ihn einfach als seinen vorgezeigt. Niemand hatte auch nur mit der Wimper gezuckt.

Wir warteten geduldig. Ich trug den Laptop jetzt über der rechten Schulter und hielt Kelly an der linken Hand. Während wir miteinander redeten, lächelte ich ihr manchmal zu - aber nicht zu oft, denn das wäre verdächtig gewesen, und ich wußte genau, daß wir auf Monitoren und durch Einwegspiegel beobachtet wurden. Der Geschäftsmann vor uns passierte die Paßkontrolle mit einem knappen Winken und einem Lächeln zu der Beamtin. Dann waren wir an der Reihe. Wir traten an den Durchgangsschalter.

Ich legte der Beamtin meine Papiere hin. Sie überflog die Eintragungen auf der Karte. Von ihrem erhöhten Platz aus sah sie auf Kelly herab. »Hallo, willkommen in England.«

»Hi!« antwortete Kelly sehr amerikanisch.

Ich schätzte die Beamtin auf Ende Dreißig. Ihre Haare waren dauergewellt, aber mit der letzten Dauerwelle war irgend etwas leicht schiefgegangen.

»Na, ist der Flug schön gewesen?« fragte sie.

Kelly ließ Jenny oder Ricky mit einer Hand am Ohr baumeln, und der andere Bärenkopf ragte oben aus ihrem Rucksack. »Ja, sehr schön, danke«, sagte sie.

Die Beamtin setzte das Gespräch fort: »Und wie heißt du?« fragte sie, während sie weiter die Eintragungen auf der Karte las.

Sollte ich darauf vertrauen, daß Kelly den richtigen Namen sagen würde, oder sollte ich mich einmischen?

Kelly lächelte und sagte: »Kelly!«

Eigentlich lachhaft. Wir hatten einen so weiten Weg hinter uns, hatten so viele Gefahren überwunden - nur um durch eine Antwort aufzufliegen, die aus einem B- Movie hätte stammen können.

Ich lächelte Kelly zu. »Nein, so heißt du nicht!« widersprach ich nachdrücklich. Ich wagte nicht, die Beamtin anzusehen. Ich ahnte, daß ihr Lächeln verblaßte, und bildete mir ein, ihr Blick bohre sich seitlich in meinen Kopf.

Danach entstand eine Pause, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorkam, während ich fieberhaft überlegte, was ich als nächstes tun oder sagen sollte. Ich stellte mir vor, wie der Zeigefinger der Beamtin nach dem versteckt angebrachten Alarmknopf tastete.

Kelly kam mir zuvor. »Natürlich nicht, ist nur ein Scherz gewesen«, kicherte sie und hielt ihren Teddybären hoch. »Das ist Kelly! Ich heiße Louise. Und wie heißen Sie?«

»Margaret.« Die Beamtin lächelte wieder. Wenn sie geahnt hätte, wie nahe sie daran gewesen war, uns zu enttarnen ...

Sie schlug den Paß auf. Sie warf einen Blick auf das Paßbild und verglich es mit meinem Gesicht. Dann legte sie meinen Paß aufgeschlagen auf ein Gerät hinter dem Schalter, und ich erkannte das typisch blaue Leuchten einer UV-Prüflampe. Schließlich sah sie mich wieder an und fragte: »Wie alt ist dieses Paßbild?«

»Ungefähr vier Jahre, schätze ich.« Ich lächelte schwach und fuhr halblaut fort, als solle die Kleine nicht mitbekommen, was ich sagte: »Wissen Sie, ich habe eine Chemotherapie hinter mir. Die Haare wachsen gerade wieder nach.« Ich rieb mir den Kopf. Meine Kopfhaut war feucht und kalt. Ich konnte nur hoffen, daß ich noch immer todelend aussah. Die Tabletten bewirkten jedenfalls, daß ich mich so fühlte. »Ich will mit Louise die Eltern ihrer Mutter besuchen, weil sie auch eine schwierige Zeit hinter sich hat. Meine Frau ist bei unserem Jungen geblieben, der im Augenblick krank ist. Manchmal kommt eben alles zusammen!«

»Oh«, sagte sie. Das klang aufrichtig mitfühlend. Aber sie gab mir meinen Paß nicht zurück.

Dann folgte erneut eine längere Pause, als warte sie darauf, daß ich mich zu einem Geständnis durchrang. Oder vielleicht überlegte sie nur, was sie Freundliches, Humanes sagen könnte. »Angenehmen Aufenthalt«, wünschte sie uns zuletzt und legte die Papiere auf den

Schalter.

Ich mußte mich beherrschen, um sie nicht an mich zu reißen und mit ihnen zu flüchten.

»Vielen Dank«, sagte ich, griff nach den Papieren, steckte Paß und Karte in die Innentasche meiner Jacke und knöpfte sie zu, weil das jeder umsichtige Familienvater getan hätte. Erst dann wandte ich mich an Kelly. »Los, Baby, komm!«

Ich setzte mich in Bewegung, aber Kelly blieb einfach stehen. Scheiße, was hatte sie?

»Goodbye, Margaret«, strahlte sie. »Schönen Tag noch!«

Das war’s dann. Wir waren fast am Ziel. Ich wußte, daß es keine Probleme mit unserem Gepäck geben würde, denn ich hatte nicht vor, es abzuholen.

Ich las die Anzeigen über den Gepäckbändern. Als ich sah, daß auch die Passagiere einer Maschine aus Brüssel eben ihr Gepäck abholten, steuerte ich auf den blauen Durchgang zu. Falls wir angehalten wurden, weil jemandem auffiel, daß Kelly einen Virgin-Rucksack trug, wollte ich einfach wieder den Dummen spielen.

Aber am blauen Durchgang hatten um diese Zeit keine Zollbeamten Dienst. Wir hatten’s geschafft.

37

Vor uns öffnete sich die große Glasschiebetür zur Halle des Ankunftsgebäudes. Wir gingen durch die Menge von Wartenden, die Namensschilder hochhielten oder auf

Freunde oder Angehörige warteten. Niemand würdigte uns eines Blickes.

Ich ging geradewegs zum Bureau de change. Wie sich zeigte, hatte ich vor der Abreise aus Washington bei Ron, Melvin und der Familie Sandborn schöne Beute gemacht, so daß ich jetzt über dreihundert Pfund in der Tasche hatte. Wie ein Schwachkopf vergaß ich, mir kleine Scheine für den Automaten geben zu lassen, und wir mußten endlos lange anstehen, um U-Bahnfahrscheine zu kaufen. Aber das störte mich nicht; ich genoß sogar die einstündige U-Bahnfahrt zur Bank Station. Ich war ein freier Mann, ich war unter gewöhnlichen Menschen. Keiner dieser Leute, wußte, wer wir waren, oder würde uns plötzlich mit einer Waffe bedrohen.

Die Londoner City besteht aus einer seltsamen Mischung aller möglichen Baustile. Als wir den U- Bahnhof verließen, kamen wir an majestätischen Gebäuden mit Säulenfronten und puritanisch strengen Linien vorbei - steinerne Zeugen des alten Establishments. Aber hinter der nächsten Ecke wurden wir mit Monstrositäten aus den sechziger und frühen siebziger Jahren konfrontiert, deren Architekten eine »Jetzt ruinieren wir die City«-Pille geschluckt haben mußten. Eines dieser Gebäude war mein Ziel: die NatWest Bank in der Lombard Street, die so eng ist, daß kaum ein Auto hindurchpaßt.

Wir gingen durch die Drehtür aus Glas und Stahl und betraten die Kassenhalle, in der ganze Reihen von Kassiererinnen hinter Panzerglas saßen. Aber ich war nicht hier, um Geld abzuheben.

An der Rezeption saßen ein Mann und eine Frau, beide Anfang Zwanzig, beide mit NatWest-Anzügen. Auf den Brusttaschen war sogar ein kleines Firmenzeichen aufgenäht, das möglicherweise verhindern sollte, daß die Angestellten sie auch außer Dienst trugen.

Ich sah, wie die beiden Kelly und mich kurz musterten, und spürte, daß sie die Nase rümpften. »Hi, wie geht’s?« begrüßte ich sie fröhlich, bevor ich Guy Bexley verlangte.

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?« fragte die Frau, während sie nach dem Telefonhörer griff.

»Nick Stevenson.«

Sie tippte die Nummer der Nebenstelle ein. Der Mann machte sich wieder am anderen Ende der Theke zu schaffen.

Ich beugte mich zu Kelly hinunter und flüsterte: »Das erkläre ich dir später.«

»Mr. Bexley kommt gleich herunter. Möchten Sie inzwischen Platz nehmen?«

Wir warteten auf einer Couch, die sehr lang, sehr üppig gepolstert und sehr plastikartig war. Ich glaubte zu hören, wie das Räderwerk in Kellys Kopf sich drehte.

Dann die unvermeidliche Frage: »Nick, bin ich jetzt Louise Stevenson oder immer noch Louise Sandborn?«

Ich runzelte die Stirn und kratzte mich am Kopf. »Hmmm ... Kelly!«

Guy Bexley kam herunter. Er war mein

»Kundenbetreuer«, was immer das bedeutete. Ich wußte nur, daß er der Mann war, den ich verlangte, wenn ich an mein Sicherheitspaket heranwollte. Er war Ende

Zwanzig, und seine Frisur und sein Kinnbart ließen erkennen, daß er sich in dem von der Bank gestellten Anzug nicht wohl fühlte; er hätte lieber eine PVC-Hose getragen und sich mit einer Wasserflasche in der Hand die ganze Nacht mit bloßem Oberkörper auf einer Raverparty ausgetobt.

Wir gaben uns die Hand. »Hallo, Mr. Stevenson, lange nicht mehr gesehen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Arbeit. Das ist Kelly.«

Er beugte sich zu ihr hinunter. »Oh, hallo, Kelly«, sagte er grinsend, als wolle er demonstrieren, daß er gelernt hatte, mit Kindern umzugehen.

»Ich brauche nur mal fünf Minuten meine Schließfachkassette, alter Freund.«

Wir folgten ihm zu den abgetrennten kleinen Besprechungsräumen auf der anderen Seite der Kassenhalle. Ich war schon oft in diesen Räumen gewesen. Sie waren alle identisch; jeder enthielt nur einen runden Tisch, vier Stühle und ein Telefon. Hier zählten Leute Geld oder bettelten um ein Darlehen. Guy wollte hinausgehen.

»Kann ich bitte auch den Kontoauszug meiner Diamantreserve sehen?«

Guy nickte und ging hinaus. »Was machen wir hier?« fragte Kelly.

Ich hätte inzwischen wissen sollen, daß sie es nicht ertragen konnte, irgendwo nicht eingeweiht zu sein. Genau wie ihr Daddy. »Wart’s nur ab«, sagte ich und blinzelte ihr zu.

Einige Minuten später kam Guy zurück, stellte eine

Stahlkassette auf den Tisch und gab mir meinen zusammengefalteten Kontoauszug. Ich war nervös, als ich das Deckblatt aufklappte, und las als erstes die Zahl rechts unten.

426570 Dollar zu einem Umrechnungskurs von 1,58 Dollar pro Pfund Sterling.

Big Al hatte es geschafft! Und er hatte Wort gehalten! Ich mußte mich beherrschen, weil Bexley noch dastand. »Ich brauche nur ungefähr fünf Minuten«, erklärte ich ihm.

»Wenden Sie sich an die Rezeption, wenn Sie fertig sind; dann bringt jemand Ihre Kassette in den Tresor zurück.« Guy schüttelte mir die Hand, winkte Kelly zu und schloß die Tür hinter sich.

Die Kassette war etwa dreißig mal fünfundvierzig Zentimeter groß: ein Aktensafe mit einem billigen Zahlenschloß, den ich bei Woolworth für einen Zehner gekauft hatte. Ich hatte eigentlich vorgehabt, ein richtiges Bankschließfach zu mieten, aber dann hatten sich die Schließfachaufbrüche gehäuft. Außerdem hätte ich mit dem Schlüssel aufkreuzen müssen, und ich konnte nicht dafür garantieren, daß ich ihn ständig bei mir haben würde. Diese Methode war besser, hatte jedoch den Nachteil, daß ich mich an die Schalterstunden würde halten müssen, falls ich einmal ins Ausland flüchten mußte.

Ich öffnete die Kassette, nahm ein paar alte Ausgaben von Private Eye heraus, die ich für den Fall, daß die Box einmal von selbst aufsprang, obenauf gelegt hatte, und gab sie Kelly. »Mal sehen, ob du daraus schlau wirst.«

Sie griff nach einem Heft und begann darin zu blättern.

Als erstes nahm ich das Mobiltelefon mit dem dazugehörigen Ladegerät heraus. Ich schaltete es ein. Der Akku war noch zu einem Viertel geladen. Ich stellte das Telefon ins Ladegerät und schloß es an eine Wandsteckdose an.

Als nächstes entnahm ich der Kassette einen Klarsichtbeutel mit gebündelten Dollar- und Pfundnoten, fünf südafrikanischen Krüger-Rand und zehn halben Sovereigns, die ich aus dem Golfkrieg mitgebracht hatte. Hinter den feindlichen Linien eingesetzte Soldaten hatten zwanzig dieser Dinger mitbekommen, um die Einheimischen bestechen zu können, wenn wir in der Scheiße saßen. In meiner Patrouille hatte jeder zehn Goldstücke für sich abgezweigt; wir hatten behauptet, die anderen im Einsatz verloren zu haben. Anfangs hatte ich sie lediglich als Souvenirs aufgehoben, aber ihr Wert war bald gestiegen. Heute interessierte mich lediglich das Bargeld.

Darunter lag ein altmodisches Lederportefeuille, das eine komplette neue Identität enthielt - Reisepaß, Führerschein, Kreditkarten, alle Papiere, die ich brauchte, um mich in Nicholas Duncan Stevenson zu verwandeln. Angefangen hatte ich mit einer

Sozialversicherungsnummer, die ich in einem Pub in Brixton für fünfzig Pfund gekauft hatte, aber ich hatte Jahre gebraucht, um das alles zusammenzutragen.

Dann nahm ich ein Notebook aus der Kassette. Ein wundervolles Gerät, mit dem ich überall auf der Welt faxen, Memos verschicken, Dateien verwalten und

Informationen speichern konnte. Das Problem war nur, daß ich keine Ahnung hatte, wie man das Ding benutzte. Ich brauchte es nur als Telefon- und Adreßbuch, das durch ein Kennwort gesichert war.

Ich sah rasch zu Kelly hinüber. Sie blätterte gelangweilt in Private Eye, ohne ein Wort zu verstehen. Ich griff erneut in die Kassette und nahm die 9-mm- Pistole Marke Browning heraus, die ich Ende der achtziger Jahre aus Afrika mitgebracht hatte. Ich füllte ihr Magazin mit Patronen aus einer kleinen Tupperware- Box, schob es in den Griff und zog den Schlitten zurück, um die Pistole durchzuladen. Kelly blickte kurz auf, interessierte sich aber nicht weiter für die Waffe.

Ich schaltete das Notebook ein, tippte die Zahl 2242 und fand die Nummer, die ich suchte. Dann griff ich nach dem Mobiltelefon. Kelly sah erneut auf. »Wen rufst du an?«

»Euan.«

»Wer ist das?«

Sie wirkte leicht verwirrt.

»Er ist mein bester Freund.« Ich gab weiter seine Telefonnummer ein.

»Aber .«

Ich legte den Finger auf die Lippen. »Psst!«

Euan war nicht zu Hause. Ich sprach auf seinen Anrufbeantworter und bat um seinen Rückruf, ohne meinen Namen zu nennen. Das war nicht nötig, weil er meine Stimme erkennen würde. Danach legte ich meinen Laptop und alles andere, was ich nicht mitnehmen würde - auch den Kontoauszug -, in die Stahlkassette.

Kelly langweilte sich jetzt mit Private Eye, deshalb nahm ich ihr die Hefte wieder weg, um sie in die Kassette zurückzulegen. Ich wußte, daß ihr eine Frage auf der Zunge lag.

»Nick?«

Ich packte die Kassette weiter voll. »Ja?«

»Du hast gesagt, daß David dein bester Freund ist.«

»Ah, richtig. Okay, mein bester Freund heißt in Wirklichkeit Euan. Aber ich muß ihn manchmal David nennen, weil . « Ich wollte mir eine Lüge einfallen lassen, aber wozu eigentlich? »Ich habe ihn David genannt, damit du seinen richtigen Namen nicht weißt, falls wir geschnappt werden. Dann hättest du ihn keinem Menschen erzählen können. Mit solchen Methoden arbeiten wir dauernd, um uns selbst zu schützen.« Inzwischen hatte ich alles eingepackt und klappte den Deckel der Stahlkassette zu.

Kelly hatte darüber nachgedacht. »Oh, okay. Dann heißt er also Euan.«

»Wenn du ihn kennenlernst, zeigt er dir vielleicht sogar den Fußboden, von dem ich dir erzählt habe.«

Ich steckte den Kopf aus der Tür und winkte die Frau von der Rezeption heran. Sie kam herein, nahm meine Kassette vom Tisch und ging damit hinaus.

Ich wandte mich an Kelly. »Jetzt wird’s Zeit für ein paar Einkäufe, glaube ich. Wir brauchen beide jede Menge neuer Sachen, und danach gehen wir in ein gutes Hotel und warten auf Euans Anruf. Was hältst du davon?«

Ihre Miene hellte sich auf. »Okay!«

Sobald diese Sache ausgestanden war, würde ich unter einem anderen Namen ein neues Bankkonto einrichten, mein Geld darauf einzahlen und danach aufhören, Stevenson zu sein. Ziemlich mühsam zu organisieren, aber für 426 570 Dollar konnte ich damit leben.

Für Kelly wurde die Taxifahrt zum Trafalgar Square zu einer Besichtigungstour mit mir als Fremdenführer. Ich hatte mehr Spaß daran als sie, und der Gesichtsausdruck des Taxifahrers im Rückspiegel zeigte mir, daß ich offenbar vieles durcheinanderbrachte.

Wir fuhren die Strand entlang, als ich auf beiden Straßenseiten Bekleidungsgeschäfte sah. Wir bezahlten das Taxi und kauften als erstes eine Reisetasche, in die Socken, Unterwäsche, Jeans, Blusen, Hemden, Schlafanzüge und Waschzeug kamen. Dann hielt ich ein weiteres Taxi an und nannte Brown’s Hotel als Fahrtziel.

»Das alte Hotel wird dir gefallen, Kelly«, sagte ich. »Es hat zwei Eingänge, so daß man von der Dover Street hereinkommen und auf der anderen Seite zur Albermarie Street hinausgehen kann. Sehr wichtig für Spione wie uns.«

Ich schaltete das Mobiltelefon ein, wählte die Nummer der Auskunft und rief dann Brown’s Hotel an, um ein Zimmer reservieren zu lassen. Keine halbe Stunde später waren wir in unserem Zimmer, aber zuvor hatte ich Kelly gegenüber angeben wollen und dabei feststellen müssen, daß der Ausgang zur Dover Street nicht mehr geöffnet war. Mein Finger lag offenbar nicht ganz am Puls der Zeit.

Unser Zimmer war Welten von denen entfernt, die wir bisher gewohnt waren. Es war behaglich luxuriös und hatte vor allem eine Minibar mit Toblerone. Ich überlegte, ob ich gleich ein Bier trinken sollte, aber dazu war es zu früh; ich hatte noch zu arbeiten.

Die Zeitverschiebung machte sich bemerkbar. Kelly sah erschöpft aus. »Baden kannst du morgen früh«, erklärte ich ihr. Sie nickte dankbar, zog ihren neuen Schlafanzug an und kroch unter die Decke. Keine zwei Minuten später spielte sie schon wieder Seestern.

Ich sah nach, ob mein Mobiltelefon eingeschaltet war und das Ladegerät funktionierte. Euan kannte meine Stimme und meine Nachricht: »Hier ist John, der Installateur. Wann soll ich den Wasserhahn auswechseln? Ruf doch mal an .« Das würde genügen.

Ich beschloß, ein zehnminütiges Nickerchen zu machen, bevor ich duschte, eine Kleinigkeit aß und dann ins Bett ging. Schließlich war es erst siebzehn Uhr.

Um Viertel vor sechs Uhr morgens klingelte mein Mobiltelefon. Ich drückte die grüne Taste. »Hallo?« sagte die tiefe, sehr beherrschte Stimme, die ich so gut kannte.

»Ich brauche dich, Kumpel«, sagte ich. »Du mußt mir helfen. Kannst du nach London kommen?«

»Wann soll ich kommen?«

»Sofort.«

»Ich bin in Wales. Das dauert ein paar Stunden.«

»Okay, ich warte unter dieser Nummer.«

»Kein Problem. Ich fahre mit dem Zug, der ist schneller.«

»Danke, Kumpel. Ruf mich ungefähr eine Stunde vor der Ankunft in Paddington an.«

»Wird gemacht.«

Euan legte auf.

Ich fühlte mich erleichtert wie noch nie. Als ob ich eben mit einem Arzt telefoniert und erfahren hätte, der Krebstest sei negativ gewesen.

Allein die Zugfahrt würde über drei Stunden dauern, deshalb konnte ich vorerst nicht viel anderes tun, als die Gefechtspause zu genießen. Kelly wachte auf, während ich mich in der Times, die jemand unter der Tür durchgeschoben hatte, über den Wahlkampf informierte - in Brown’s Hotel brauchte kein Gast mit Kleingeld zum nächsten Zeitungskiosk zu gehen. Ich rief den Zimmerservice an, bestellte ein Frühstück und probierte den Fernseher aus. Keine Power Rangers. Großartig.

Wir ließen uns nach dem Frühstück viel Zeit, duschten, zogen uns an und sahen gut aus. Dann machten wir einen geruhsamen Spaziergang über Piccadilly Circus, Leicester Square und Trafalgar Square zum Bahnhof. Ich betätigte mich auch diesmal als Fremdenführer, aber Kelly hörte kaum zu. Sie wollte nur die Tauben füttern. Ich sah immer wieder auf meine Armbanduhr, weil ich hoffte, Euan werde bald anrufen, und während Kelly fast in einem Taubenschwarm verschwand, klingelte mein Mobiltelefon. Es war 9 Uhr 50. Ich steckte einen Finger ins rechte Ohr, um den Verkehrslärm und das Gekreische von Kelly und anderen Kindern auszusperren.

»Ich bin in einer Stunde in Paddington.«

»Wunderbar. Wir treffen uns auf dem Bahnhof Charing Cross, Bahnsteig drei, okay, Kumpel?«

»Bis dann.«

Das Hotel Charing Cross gehört zum Bahnhofskomplex und ist vom Trafalgar Square in zwei Minuten zu Fuß zu erreichen. Ich hatte den Bahnhof Charing Cross als Treffpunkt gewählt, weil ich wußte, daß man von der Hotelhalle aus die Taxis beobachten kann, die Fahrgäste vor dem Eingang absetzen.

Wir saßen oben in der Hotelhalle, in der es von amerikanischen und italienischen Pauschaltouristen nur so wimmelte, und warteten. Nach gut einer halben Stunde sah ich ein Taxi mit einer vertrauten Gestalt auf dem Rücksitz vorfahren. Ich machte Kelly auf Euan aufmerksam.

»Gehen wir nicht hinaus, um ihn zu begrüßen?«

»Nein, wir bleiben vorläufig hier, weil wir ihn überraschen wollen. Genau wie in Daytona, weißt du noch?«

»Richtig, wir müssen im Hintergrund bleiben und die Umgebung beobachten.«

Ich beobachtete, wie Euan ausstieg. Es war so wunderbar, ihn zu sehen, daß ich am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt wäre. Er trug Jeans und klobige Holzfällerstiefel, im Vergleich zu denen Hush Puppies hochmodisch und elegant gewirkt hätten. Dazu hatte er eine schwarze Bomberjacke aus Nylonsatin an, damit er auf dem Bahnsteig leicht zu erkennen war. »Wir lassen ihm ein paar Minuten Vorsprung«, schlug ich Kelly vor. »Dann gehen wir hinüber und überraschen ihn,

okay?«

»Yeah!« Sie klang ganz aufgeregt. Sie hatte zwei Klumpen Vogelscheiße auf dem Rücken ihres Mantels. Ich wartete darauf, daß das Zeug trocknete, bevor ich es abwischte.

Ich wartete noch fünf Minuten, bis ich sicher war, daß er nicht beschattet wurde. Dann gingen wir zum Bahnhof hinüber und traten unter Bögen hindurch in die Schalterhalle. In dem im viktorianischen Stil erbauten Bahnhof gab es Filialen von W. H. Smith und anderen Einzelhandelsketten. Wir fanden Bahnsteig 3 und sahen Euan an einen Pfeiler gelehnt eine Zeitung lesen. Wieder wäre ich am liebsten losgerannt, um ihn zu umarmen. Wir gingen langsam auf ihn zu.

Euan hob den Kopf und sah mich. Wir lächelten uns zu und sagten wie aus einem Mund: »Hi! Wie geht’s?« Er betrachtete erst mich, dann Kelly, ohne sich nach ihr zu erkundigen; er wußte, daß ich ihm irgendwann erzählen würde, was es mit der Kleinen auf sich hatte. Wir gingen durchs Bahnhofsgebäude zu den Treppen, die zur Themse hinunterführten. Unterwegs begutachtete Euan meine Frisur und versuchte ein Grinsen zu verbergen. »Klasse Haarschnitt!«

Vor dem U-Bahnhof Embankment bestiegen wir ein Taxi. Verfahren sind Verfahren und dienen nur dem eigenen Schutz; sobald man von den bewährten Verfahren abweicht, sind Probleme vorprogrammiert. Um etwaige Verfolger abzuschütteln, ließen wir das Taxi ziemliche Umwege fahren, so daß wir nicht zehn, sondern zwanzig Minuten bis zu Brown’s Hotel brauchten.

Sobald wir in unserem Zimmer waren, stellte ich für Kelly den Fernseher an und telefonierte mit dem Zimmerservice. Wir hatten alle Hunger.

Euan schwatzte bereits mit Kelly. Sie genoß es sichtlich, einen neuen Gesprächspartner zu haben - auch wenn er wieder nur ein erwachsener Mann war. Die beiden schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen, und Kelly fühlte sich in seiner Gesellschaft offenbar wohl.

Das Essen wurde serviert: Ein Beefburger mit Chips für Kelly, zwei Club-Sandwiches für uns. »Wir lassen dich jetzt in Ruhe essen«, erklärte ich Kelly. »Wir gehen ins Bad, weil du fernsehen willst und ich mit Euan verschiedene Dinge zu bereden habe. In Ordnung?«

Sie nickte und hatte bereits den Mund voll.

»Bis bald, Kelly«, sagte Euan grinsend. »Laß mir ein paar Chips übrig!«

Wir gingen mit unserem Kaffee und den Sandwiches ins Bad. Die Fernsehgeräusche verstummten, sobald ich die Tür hinter uns schloß.

Ich begann mit meinem Bericht. Euan hörte auf dem Wannenrand sitzend aufmerksam zu. Er war sichtlich erschüttert, als ich von Kev und Marsha erzählte. Ich war bis zu Kellys und meiner Festnahme durch Luther & Co. gekommen, als er mich erstmals unterbrach.

»Scheißkerle! Was sind das für Leute gewesen? Glaubst du, daß sie auch Kev umgelegt haben?«

»Wahrscheinlich.« Ich setzte mich neben ihn. »Kev hat die drei Mörder gekannt. Kelly hat bestätigt, daß Luther mit Kev zusammengearbeitet hat. Unklar ist mir nur, mit wem er telefoniert hat, um >die Sache ins Rollen zu bringen<.«

»Aber du tippst auf Luther?«

Ich nickte. »Weiß der Teufel, wie er ins Gesamtbild paßt, aber ich vermute, daß er auch bei der DEA und ebenfalls korrupt gewesen ist. Bei der DEA scheint’s einige zu geben, die sich mit Drogengeldern bestechen lassen.« Ich berichtete ihm noch von dem nächtlichen Kampf mit McGear und was Frankie de Sabatino und ich in den GIFs auf meiner Diskette entdeckt hatten.

Euan nickte langsam. »Alles hängt also damit zusammen, daß die PIRA harte Drogen nach Europa schmuggelt. Offengehalten wird die Route durch Bestechung, Erpressung und Gewalt. Aber was ist mit McGear - hat er irgendwas gesagt?«

»Kein Wort. Er hat gewußt, daß er sterben würde.«

»Und dieser Sabatino? Hat er auch eine Kopie deiner Diskette?«

Ich lachte. »Du weißt, daß ich dir das nicht sagen werde. Sicherheit geht vor, Kumpel, Sicherheit geht vor!«

»Recht hast du.« Er zuckte mit den Schultern. »Reine Neugier.«

Ich sprach weiter und schilderte ihm, was ich in Kevs Haus gefunden hatte. Euan hörte schweigend zu. Er saß einfach nur da und nahm alles in sich auf. Ich fühlte mich plötzlich erschöpft, als habe meine symbolische Stabübergabe an Euan bewirkt, daß alles, was in den letzten zehn Tagen passiert war, mich endlich einholen

und seinen Tribut fordern konnte.

Ich musterte Euan prüfend. Auch er wirkte ziemlich mitgenommen.

»Was du sagst, klingt alles ganz logisch - bis auf einen Punkt.«

»Welchen?«

»Hätten die Kolumbianer nicht voraussehen müssen, daß ein Bombenanschlag in Gibraltar verschärfte Sicherheitsmaßnahmen auslösen und den Drogenschmuggel erschweren würde?«

»Dieser Anschlag ist eine letzte Warnung an alle gewesen, die damals aus dem Drogengeschäft aussteigen wollten. Glaub mir, Kumpel, der Fall ist mehrere Nummern zu groß für mich. Ich will ihn bloß Simmonds übergeben und bin heilfroh, wenn ich nichts mehr damit zu tun habe.«

»Ich helfe dir, wo ich kann.« Euan riß eine Packung Benson & Hedges auf; er rauchte offenbar wieder. Ich stand auf, um nicht eingequalmt zu werden.

»Ich will nicht, daß du direkt beteiligt bist. Kev und Pat sind tot, mich hat’s beinahe erwischt - dich brauche ich als Rückendeckung für den Fall, daß irgendwas schiefgeht.«

»Was soll ich also tun?«

Ich roch den Schwefelgestank seines Zündholzes. Er grinste, als ich ärgerlich den Rauch von meinem Gesicht wegwedelte. Er wußte, daß ich es haßte, eingequalmt zu werden. Manche Reaktionen bleiben selbst unter extremem Druck gleich.

»Morgen nachmittag müßtest du mit FedEx Kopien der Disketten bekommen«, sagte ich. »Falls mir oder Simmonds etwas zustößt, mußt du allein weitermachen.« Inzwischen war bereits das ganze Bad eingenebelt. Jeden Augenblick konnte der Brandmelder losschrillen.

»Kein Problem, Kumpel«, sagte er in seiner sehr langsamen, sehr gelassenen, sehr überlegten Art. Hätte jemand Euan mitgeteilt, der Haupttreffer in der National Lottery sei auf ihn gefallen, hätte er »Das ist nett« gesagt und dann weiter sein Kleingeld aufgestapelt oder seine Socken zusammengelegt.

»Wie viele Diskettenkopien gibt’s außer denen, die du mir geschickt hast?«

»Das sage ich dir lieber nicht, Kumpel. Jeder erfährt nur, was er wissen muß!«

Er nickte grinsend. Er wußte, daß ich ihn damit schützte.

»Noch etwas«, fuhr ich fort. »Ich will Kelly nicht zu dem Treffen mit Simmonds mitnehmen. Bei unserem letzten Gespräch hat er mich verdammt unfreundlich abgefertigt. Falls wir uns in die Haare geraten, möchte ich nicht, daß Kelly ins Kreuzfeuer gerät. Du bist der einzige Mensch, dem ich sie anvertrauen kann. Nur für eine Nacht, vielleicht für zwei. Kannst du mir diesen Gefallen tun?«

Euan antwortete so prompt, wie ich erwartet hatte. »Kein Problem.« Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. Er wußte jetzt, daß ich ihn vorhin ungezwungen mit Kelly hatte schwatzen lassen, damit sie sich kennenlernten.

»Nimmst du sie mit nach Breconshire?« »Klar. Hast du ihr erzählt, daß ich in Wales lebe?«

»Sie weiß, daß du in einer Schäferhütte haust.«

Er warf seine Kippe ins WC, weil er wußte, daß ich diesen Geruch nicht leiden konnte.

Ich legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Diese Woche ist beschissen gewesen, Kumpel.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Wir gehen jetzt zu Kelly rüber und trinken unseren Kaffee aus. Dann ziehst du los und bringst diesen Scheiß mit Simmonds in Ordnung, damit du wieder Ruhe hast.«

»Wie hat der Burger geschmeckt?«

»Gut. Ich habe Euan ein paar Chips aufgehoben.« Ich setzte mich neben sie aufs Bett. »Hör zu, Kelly, Euan und ich haben miteinander geredet, und weil ich hier in London viel zu erledigen habe, halten wir’s für eine gute Idee, wenn du mit Euan aufs Land fährst und bei ihm übernachtest. Nur für eine Nacht, bis ich morgen nachkomme. Was hältst du davon? Hey, dann kannst du sogar den Fußboden sehen, den wir verlegt haben! Weißt du noch, wie ich davon erzählt habe?«

Kellys Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß sie vermutete, keine andere Wahl zu haben.

»Nur für eine Nacht«, sagte ich, »und um Euans Haus herum gibt’s überall Schafe.«

Sie sah auf ihre Hände hinunter und murmelte: »Ich möchte bei dir bleiben.«

»Was, du willst nicht hin?« fragte ich mit gespieltem Überraschung. »Dort gibt’s massenhaft Schafe!«

Kelly wand sich vor Verlegenheit. Sie war zu höflich,

um vor Euan nein zu sagen.

»Es ist nicht für lange.« Dann ließ ich als gemeinem Kerl die Falle zuschnappen. »Du magst Euan, nicht wahr?«

Sie nickte zögernd.

»Es ist nur für eine Nacht. Ich rufe dich sowieso an; wir können abends miteinander reden.«

Sie wirkte ziemlich unglücklich. Schließlich hatte ich ihr versprochen, sie nie mehr allein zu lassen. Dann fiel mein Blick auf mein Mobiltelefon und brachte mich auf eine Idee. »Was hältst du davon, wenn ich dir mein Telefon mitgebe? Paß auf, ich zeige dir, wie es funktioniert.« Ich führte ihr die Bedienung vor. »So, jetzt kannst du’s gleich selbst ausprobieren. Wenn du weißt, wie es funktioniert, kannst du’s heute nacht unter dein Kopfkissen legen.«

Ich sah zu Euan hinüber und bemühte mich, ihn einzubeziehen. »Weil sie ihr eigenes Zimmer bekommt, stimmt’s?«

»Richtig, sie bekommt ein eigenes Zimmer - das mit Blick auf den Schafpferch.«

»Und in ihrem Zimmer steht auch ein Fernseher, stimmt’s?« fragte ich weiter.

»Klar«, bestätigte er nickend, während er sich vermutlich fragte, wo er den Fernseher herbekommen sollte.

Schließlich stimmte Kelly doch zu; sie war keineswegs begeistert, aber das verlangte auch niemand. Ich schaltete das Mobiltelefon ein, tippte meine PIN ein und gab es ihr. »Wenn ihr angekommen seid, steckst du das

Ladegerät ein, dann funktioniert es weiter, okay?«

»Okay.«

»Nachts legst du das Telefon unter dein Kopfkissen, damit du das Klingeln bestimmt hörst. Verstanden?«

»Ja, ja, schon gut.« Sie begriff jetzt, daß ihr eindeutig keine andere Wahl blieb.

»Hör zu, wenn wir aufs Land fahren, müssen wir die Teddybären reisefertig machen«, sagte Euan. »Wie heißen sie? Sind sie schon mal mit dem Zug gefahren?«

Damit hatte er bei Kelly den richtigen Ton getroffen. Wir gingen nach unten und fuhren mit einem Taxi zum Bahnhof Paddington.

38

Wir kauften für Kelly Eiscreme, Süßigkeiten und Limonade, nur um sie von der bevorstehenden Reise abzulenken. Sie überlegte noch, welches Comic-Heft sie wollte, als Euan nach einem Blick auf seine Uhr sagte: »Bald ist es soweit, Kumpel.«

Ich begleitete sie auf den Bahnsteig und umarmte Kelly an der Waggontür. »Ich rufe dich heute abend an, Kelly. Ehrenwort!«

Als sie einstieg, sahen Jenny und Ricky mich aus dem Virgin-Rucksack auf ihrem Rücken an. »Okay.«

Der Schaffner ging den Zug entlang und schloß die Türen. Euan ließ das Fenster herunter, damit Kelly winken konnte.

»Nick?« Sie beugte sich aus dem offenen Fenster und winkte mich zu sich, als wollte sie mir noch etwas ins Ohr flüstern.

»Was?« Ich brachte mein Gesicht nahe an ihres heran.

»Das!« Sie schlang ihre Arme um meinen Hals, zog mich an sich und drückte mir einen dicken Kuß auf die Backe. Ich war so verblüfft, daß ich einfach nur dastand.

Der Zug fuhr an.

»Also, dann bis morgen!« rief Euan noch. »Mach dir keine Sorgen um uns. Wir kommen schon zurecht!«

Als der Zug langsam aus dem Bahnhof rollte, hatte ich dasselbe schmerzliche Gefühl wie in dem Augenblick, in dem Pats Leiche in den Krankenwagen verladen worden war, aber diesmal wußte ich nicht, warum. Schließlich geschah das nur zu ihrem Besten, und Kelly war in sicheren Händen. Ich zwang mich dazu, das Ganze als ein weiteres gelöstes Problem zu betrachten, und machte mich auf den Weg zu den Münztelefonen.

Vauxhall erkundigte sich sehr geschäftsmäßig: »Nebenstelle, bitte?«

»Zwo-sechs-eins-zwo.«

Nach kurzer Pause meldete sich eine Stimme, die ich sofort erkannte: »Zwo-sechs-eins-zwo, hallo.«

»Hier ist Stone. Ich habe, was Sie brauchen.«

»Nick! Wo sind Sie?«

Ich steckte den Zeigefinger ins rechte Ohr, als die Lautsprecherstimme eine Zugabfahrt ankündigte.

»Ich bin in England.« Eine überflüssige Feststellung, weil er selbst hören konnte, daß der Zug nach Exeter in Kürze abfahren würde.

»Ausgezeichnet.«

»Ich muß Sie dringend sprechen.«

»Gleichfalls. Aber ich bin hier bis nach Mitternacht eingespannt.« Er überlegte kurz. »Vielleicht können wir uns auf einem Spaziergang unterhalten. Wie wär’s mit morgen früh um halb fünf?«

»Wo?«

»Ich komme vom U-Bahnhof. Sie finden mich bestimmt.«

»Wird gemacht.«

Ich hängte den Hörer mit dem Gefühl ein, daß die Würfel nun endlich einmal mich begünstigten. Kelly war in Sicherheit, Simmonds hatte ganz zugänglich gewirkt. Mit etwas Glück konnte ich in ein paar Stunden aus diesem ganzen Schlamassel heraus sein.

Im Hotel bestellte ich mir einen Leihwagen, um Kelly nach dem Treff mit Simmonds in Breconshire abholen zu können, und aß eine Kleinigkeit. In Gedanken spielte ich durch, was ich zu Simmonds sagen würde - und wie ich es sagen würde. Ich besaß zweifellos genau die Beweise, die Simmonds verlangt hatte. Daß ich die Videobänder, die ein zusätzliches Beweismittel gewesen wären, nicht hatte, war bedauerlich, aber trotzdem war mein Material eigentlich besser, als er hätte erwarten können. Schlimmstenfalls mußte ich jetzt damit rechnen, arbeitslos auf der Straße zu landen. Zum Glück hatte ich wenigstens das Startkapital für ein neues Leben.

Ich dachte an Kelly. Was würde aus ihr werden? Wer würde sich ihrer annehmen? Wie sehr hatte ihr geschadet, was sie erlebt und gesehen hatte, was ihr und ihren Angehörigen zugestoßen war? Ich versuchte mir einzureden, für alles würde sich irgendeine Lösung finden lassen ... irgendwie. Dabei konnte Simmonds helfen. Vielleicht konnte er die Zusammenführung mit ihren Großeltern arrangieren oder mir zumindest Hinweise geben, wohin ich mich wenden mußte, damit ihr von Fachleuten geholfen wurde.

Ich versuchte zu schlafen, tat aber kein Auge zu. Um drei Uhr morgens holte ich meinen Leihwagen vom NCP-Parkplatz und fuhr in Richtung Vauxhall Bridge.

Ich machte einen weiten Umweg, fuhr die ganze King’s Road bis World’s End hinunter, bog dann in Richtung Themse ab und fuhr wieder nach Osten, weil ich meine Gedanken zum letzten Mal ordnen wollte, aber auch weil diese Fahrt das menschenleere Embankment mit seinen historischen, nachts angestrahlten Gebäuden entlang für mich eine der schönsten Aussichten der Welt bot. Besonders in dieser Nacht schienen die Scheinwerfer etwas heller zu leuchten und die Brücken noch klarer hervorzutreten, so daß ich mir wünschte, Kelly säße neben mir und könnte diesen Anblick genießen.

Ich erreichte die Vauxhall Bridge frühzeitig und fuhr auf der Uferstraße nach Osten in Richtung Lambeth Bridge weiter. Der Treff wirkte beim Vorbeifahren unverdächtig. In der Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen vier Autos von jungen Leuten, die Benzin und Schokoriegel kauften, und der Kastenwagen einer Firma für Gebäudereinigung, dessen Fahrer ebenfalls tankte.

Weiter flußabwärts sah ich auf dem anderen Ufer die Parlamentsgebäude. Ich mußte unwillkürlich grinsen.

Wenn die Abgeordneten nur wüßten, was die Geheimdienste wirklich trieben! In den Fernsehnachrichten hieß es, wir würden wohl bald eine neue Regierung bekommen. Allerdings würde ich nicht mitwählen dürfen. Ich existierte schon seit Jahren nicht mehr offiziell als Stone, Stamford, Stevenson oder sonst jemand.

Ich fuhr einmal um einen Verkehrskreisel herum und folgte derselben Straße in Richtung Vauxhall Bridge, um den Treff erneut zu kontrollieren. Da ich noch immer zu früh dran war, hielt ich an der Tankstelle und holte mir einen Becher Kaffee und ein Sandwich.

Der Treff schien noch immer in Ordnung zu sein. Ich wollte Simmonds abfangen, ihn auf Umwegen zu meinem Wagen führen und eine kleine Spazierfahrt mit ihm machen. Auf diese Weise hatte ich alle äußeren Umstände unter Kontrolle. Ich konnte mich selbst, aber auch ihn schützen.

Ich parkte ungefähr vierhundert Meter westlich des Treffs. Während ich das Sandwich aß, überlegte ich die Route zu meinem Auto zurück. Dann stieg ich aus, ging die Straße entlang und war um fünf vor vier da. Um mir die Wartezeit zu verkürzen, sah ich mir die in dem Bike- Shop ausgestellten Motorräder an und beschloß, mir wirklich eines als Geschenk für mich selbst zu kaufen. Nein, nicht bloß als Geschenk - als Belohnung.

Um 4 Uhr 20 trat ich in die Schatten unter dem Eisenbahnhochgleis gegenüber dem Ausgang, den Simmonds benutzen würde. Die einzigen Fußgänger um diese Zeit waren zwei Clubbesucher, die auf dem

Heimweg oder in einen anderen Club unterwegs waren. Ihr betrunkenes Gelächter zerriß die ruhige Morgenluft, dann herrschte wieder Stille.

Ich sah sofort, daß er es war, denn ich kannte seine Art, mit leicht vorgebeugtem Kopf und kleinen Schritten zu gehen und dabei seinen Aktenkoffer zu schlenkern. Ich beobachtete, wie er sich nach rechts wandte, um erst den Fußgängerüberweg und dann die stählerne Fußgängerbrücke zu benutzen, die über eine Kreuzung mit fünf Straßen hinweg zur Bahnstation führte. Ich wartete geduldig. Ich hatte es nicht eilig; er würde zu mir kommen.

Als er die Straße überquerte, kam ich aus dem Schatten unter der Fußgängerbrücke.

Er lächelte. »Nick, wie geht’s?« Er ging weiter und nickte dabei nach links in Richtung Lamberth Bridge. »Machen wir einen Spaziergang?« Das war ein Befehl, keine Frage.

Ich nickte in die entgegengesetzte Richtung, wo mein Leihwagen stand. »Ich bin mit dem Auto da.«

Simmonds blieb stehen und betrachtete mich mit der Miene eines enttäuschten Lehrers. »Nein, wir machen einen Spaziergang, denke ich.«

Da ich diesen Treff organisiert hatte, hätte ihm klar sein müssen, daß ich für unsere Sicherheit sorgen würde. Er starrte mich noch ein paar Sekunden an und setzte sich dann wieder in Bewegung, als wisse er, daß ich ihm folgen würde. Ich ging neben ihm her.

In der Dunkelheit vor uns leuchteten die Parlamentsgebäude jenseits der Themse wie auf einer

Ansichtskarte. Wir befanden uns auf einem breiten Gehsteig, an den sich eine Rasenfläche anschloß, die dann in einen asphaltierten Streifen überging, der die Zufahrt zu den Geschäften unter den Bögen des Hochgleises bildete.

Simmonds sah wie immer aus: Krawatte nachlässig gebunden, Hemd und Anzug verknittert, als lebe er aus dem Koffer.

»Also, Nick, was haben Sie?« Er lächelte, ohne mich dabei anzusehen. Als ich meine Story erzählte, unterbrach er mich nicht, sondern ließ seinen Blick auf den Boden gerichtet und nickte zwischendurch mehrmals. Ich kam mir wie ein Sohn vor, der seine Probleme mit seinem Vater bespricht, und hatte ein gutes Gefühl dabei.

Wir waren seit gut einer Viertelstunde unterwegs, und ich hatte meinen Bericht beendet. Nun war die Reihe an Simmonds. Ich hatte erwartet, daß er haltmachen oder eine Bank suchen würde, damit wir uns setzen konnten, aber er ging weiter.

Jetzt sah er zu mir herüber und lächelte. »Nick, ich habe nicht geahnt, daß Sie so gründliche Arbeit geleistet haben. Mit wem haben Sie noch über diese Sache gesprochen?«

»Nur mit Sabatino und Euan.«

»Und hat Euan oder dieser Sabatino Kopien der Disketten?«

»Nein, meine sind die einzigen«, log ich. Selbst wenn man jemanden um Hilfe bittet, läßt man sich nicht in die Karten sehen. Man weiß nie, wann man noch mal einen

Trumpf braucht.

Er blieb unglaublich gelassen. »Wir müssen sicherstellen, daß niemand davon erfährt - zumindest vorläufig nicht. Diese Sache ist mehr als nur ein Korruptionsfall auf unterer Ebene. Die Querverbindungen zur PIRA, mit Gibraltar und anscheinend auch zur DEA zeigen, daß der Fall in der Tat sehr ernst ist. Da Sie die Hintergründe offenbar ziemlich gut aufgeklärt haben, möchte ich Sie etwas fragen.« Er machte eine Pause, als sei er ein Richter, der dabei war, seine Entscheidung zu verkünden. »Glauben Sie, daß in diese Angelegenheit noch weitere Kreise verwickelt sind?«

»Weiß der Teufel«, sagte ich. »Jedenfalls kann man nicht vorsichtig genug sein. Deshalb wollte ich erst mal unter vier Augen mit Ihnen reden.«

»Und wo ist die kleine Brown jetzt?«

Ich log wieder. »Kelly schläft im Hotelzimmer. Ich werde Hilfe brauchen, um sie zu ihren Großeltern bringen zu können.«

»Natürlich, Nick. Alles zu seiner Zeit.«

Wir gingen eine Zeitlang schweigend weiter, bis wir eine Bar an der Ecke einer Eisenbahnunterführung erreichten. Simmonds bog nach rechts unter die Gleise ab. Als er weitersprach, bewies mir sein Tonfall, daß er die Erfüllung seiner Forderung als selbstverständlich voraussetzte. »Bevor ich etwas für Sie tun kann, brauche ich natürlich Ihr gesamtes Beweismaterial.« Er sah mich noch immer nicht an, sondern achtete darauf, in keine der ölschillernden Pfützen zu treten.

»Ich habe die Disketten nicht bei mir, falls Sie das meinen.«

»Nick, ich tue mein Bestes, um Ihnen beiden Schutz zu gewähren. Aber dazu brauche ich das Beweismaterial - sämtliche Kopien. Können Sie mir die jetzt besorgen?«

»Ausgeschlossen! Frühestens in ein paar Stunden.«

»Nick, ohne Beweismaterial kann ich nichts tun. Ich brauche alle Kopien - sogar die, die Sie normalerweise in Ihrem Sicherheitspaket hätten.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie wissen, daß ich die zu meinem eigenen Schutz brauche.«

Wir bogen wieder rechts ab und gingen nun parallel zu den Gleisen in Richtung Bahnstation zurück. Einige Minuten folgten wir schweigend einer schmalen, zwischen Lagerhäusern verlaufenden Straße. Simmonds schien tief in Gedanken versunken zu sein. Über uns ratterte ein Güterzug vorbei, der den halben Südwesten Londons aufwecken wurde. Warum, zum Teufel, war es für Simmonds so wichtig, genau zu wissen, wie viele Kopien es gab, und alle in die Hände zu bekommen?

»Glauben Sie mir«, schrie ich, um das Rattern zu übertönen, »diese Seite habe ich völlig unter Kontrolle. Ich bin schon oft genug reingelegt worden. Sie wissen so gut wie ich, daß ich alle schützen muß - auch Sie.«

»Ja, natürlich, aber ich muß über das gesamte Beweismaterial verfügen können. Nicht einmal Sie sollten es haben. Das ist einfach zu riskant.«

So drehten wir uns nur im Kreis. »Okay, das verstehe ich.

Aber was ist, wenn Sie umgelegt werden? Dann könnte ich meine Behauptungen nicht mehr beweisen. Hier geht’s nicht bloß um die Korruption der Amerikaner, verstehen Sie? Diese Sache damals in Gibraltar ist ein abgekartetes Spiel gewesen. Das betrifft auch uns.«

Simmonds nickte langsam zu einer Pfütze im Rinnstein hinunter.

»Ein paar Dinge verstehe ich nicht«, fuhr ich fort. »Warum ist uns gesagt worden, der Sprengsatz sollte ferngezündet werden? Wie konnte es passieren, daß die Akteure bekannt waren, aber niemand gewußt hat, daß überhaupt keine Bombe existierte?«

Er äußerte sich noch immer nicht dazu.

Irgend etwas paßte hier nicht recht zusammen.

Scheiße!

Mir kam es vor, als hätte mich wieder ein Feuerlöscher am Hinterkopf getroffen. Warum war ich bloß nicht früher darauf gekommen? Das Rattern des Güterzugs verhallte allmählich in der Ferne. Die Morgenstille kehrte zurück. »Aber das wissen Sie alles, nicht wahr?«

Keine Antwort. Er behielt sein gleichmäßiges Tempo bei.

Wer hatte uns mitgeteilt, der Sprengsatz in Gibraltar soll ferngezündet werden? Simmonds, der unseren Einsatz von der Zentrale aus überwacht hatte. Verdammt, warum war ich darauf nicht schon früher gekommen?

Ich blieb abrupt stehen. Simmonds ging noch einige Schritt« weiter. »Hier geht’s nicht nur um die PIRA und die Amerikaner, nicht wahr? Die Sache ist viel größer. Und Sie sind darin verwickelt, stimmt’s?«

Auf dieser Seite befanden sich unter den Bahngleisen keine Läden, sondern Handwerksbetriebe: Autowerkstätten, blechverarbeitende Betriebe und mehrere Auslieferungslager, vor denen über Nacht Firmenfahrzeuge parkten. Um uns herum standen Kippmulden für Metallabfälle und große rote Abschleppwagen mit gelben Blinkleuchten auf ihren Fahrerkabinen.

Er drehte sich um und kam die fünf oder sechs Schritte zu mir zurück. Wir sahen uns erstmals in die Augen. »Nick, ich glaube, Sie sollten sich über eines im klaren sein: Sie werden mir alle Informationen geben - und damit meine ich wirklich alle. Wir dürfen nicht riskieren, daß weitere Kopien im Umlauf sind.«

Sein Gesichtsausdruck war jetzt der eines Schachgroßmeisters, der dabei ist, den entscheidenden Spielzug zu machen. Schock und Entsetzen auf meinem Gesicht mußten unverkennbar sein.

»Wir haben den Amerikanern, die fest entschlossen waren, Sie zu liquidieren, nicht unbedingt zugestimmt, Nick, aber Sie sollten wissen, daß wir Sie beseitigen werden, wenn sich das als notwendig erweisen sollte.«

»Wir?«

»Die Sache ist weitreichender, als Sie glauben, Nick. Sie sind intelligent, Sie müssen die politischen und geschäftlichen Folgen eines Waffenstillstands erkennen. Das Bekanntwerden des Materials auf Ihren Disketten würde viel mehr in Unordnung bringen, als Sie bisher ahnen. Das mit Kevin und seiner Familie ist ausgesprochen unglücklich gewesen, das gebe ich zu.

Nachdem er mir von seinen Erkenntnissen erzählt hatte, habe ich versucht, meine amerikanischen Kollegen zu einer gemäßigteren Reaktion zu bewegen.«

Deshalb war ich so plötzlich nach England zurückbeordert worden! Nach seinem Telefongespräch mit Kev wollte Simmonds mich schnellstens aus Washington weghaben. Ich sollte nicht mit Kev reden oder seine Ermordung verhindern können.

Ich dachte an Kelly. Wenigstens war sie in Sicherheit.

Er schien meine Gedanken lesen zu können. »Falls Sie sich dafür entscheiden, mir das Material nicht zu übergeben, bringen wir die Kleine um. Und danach bringen wir Sie um - nachdem wir aus Ihnen herausgeholt haben, was wir brauchen. Seien Sie nicht naiv, Nick. Wir sind einander sehr ähnlich. Hier geht’s nicht um Gefühle, sondern ums Geschäft, Nick, ums Geschäft.« Er betrachtete mich wie ein Vater seinen unfolgsamen Sohn. »Ihnen bleibt wirklich nichts anderes übrig.«

Ich versuchte dagegen anzukämpfen. Er mußte bluffen.

»Euan läßt übrigens einen schönen Gruß ausrichten und Ihnen bestellen, daß er einen Fernseher für ihr Zimmer aufgetrieben hat. Glauben Sie mir, Nick, Euan bringt Sie auf Befehl jederzeit um. Der finanzielle Anreiz gefällt ihm sehr.«

Ich schüttelte langsam den Kopf.

»Denken Sie doch mal nach. Wer hat den ersten Kontakt arrangiert?«

Er hatte recht, das war Euan gewesen. Simmonds war da, um Befehle zu erteilen; Euan war da, um den Abzug zu betätigen. Aber ich wollte das alles noch immer nicht wahrhaben.

Er griff in seine Jacke und zog ein Mobiltelefon aus der Innentasche. »Lassen Sie sich von Euan bestätigen, welchen Auftrag er hat. Er rechnet ohnehin damit, daß ich ihn später anrufe.«

Er schaltete das Telefon ein und wartete darauf, die PIN eingeben zu können. Er lächelte, während er auf das beleuchtete Display hinabblickte. »So haben die

Amerikaner Sie übrigens gefunden, wissen Sie. Die

meisten Leute glauben, daß man Mobiltelefone nur während eines Gesprächs anpeilen kann. Aber das stimmt nicht. Solange sie eingeschaltet sind, sind sie Minisender, selbst wenn nicht gesprochen wird. Auf diese Weise lassen sich Bewegungsprofile erstellen. Das ist oft sehr nützlich.«

Als er seine PIN eintippte, bestätigte das Gerät jede Ziffer mit einem Piepsen. »Aber nachdem Sie die Überwacher bei Lorton abgeschüttelt hatten, ist uns nichts anderes übriggeblieben, als Sie nach England heimkehren zu lassen. Ich mußte wissen, was Sie

herausbekommen hatten. Übrigens freue ich mich, daß Ihre Chemotherapie erfolgreich gewesen ist.«

Scheiße! Er hatte kein Wort über meinen fast

kahlgeschorenen Schädel verloren - weil er den Grund dafür bereits kannte. Aber Euan war gerissen genug gewesen, mich darauf anzusprechen. Mir wurde fast übel, wenn ich daran dachte, daß er bereit war, seine Fähigkeiten gegen mich einzusetzen.

Simmonds lächelte. Er wußte, daß er mich im Griff hatte.

»Nick, ich will’s Ihnen noch mal sagen. Ich brauche wirklich alle Disketten. Sie wissen, daß die Kleine entsetzlich leiden würde; das ist nichts, was wir gern täten, aber hier stehen wichtige Dinge auf dem Spiel.«

Eigentlich wünschte ich mir, die Verbindung mit Euan käme zustande. Ich wollte mit ihm reden, wollte von ihm bestätigt bekommen, daß Simmonds nur bluffte. Aber in meinem Innersten wußte ich, daß das nicht der Fall war.

Simmonds hatte die Nummer schon fast eingetippt.

Ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte Kelly schützen. Er durfte dieses Gespräch nicht führen.

Mein fast ansatzlos geschlagener rechter Haken traf seine Nase. Ich hörte das dumpfe Knacken, mit dem sein Nasenbein brach, und er klappte mit einem erstickten Aufschrei zusammen. Während er sich vor mir auf dem Boden wand, beförderte ich den Aktenkoffer mit einem Tritt unter einen Abschleppwagen. Im nächsten Augenblick hob ich das Mobiltelefon mit der linken Hand auf, war mit einem großen Schritt hinter Simmonds und schob es unter sein Kinn. Dann packte ich das Gerät auf der anderen Seite mit der rechten Hand und drückte es mit aller Kraft gegen seinen Adamsapfel.

Ich blickte mich um. Wir waren hier viel zu gut zu sehen, und was ich vorhatte, würde einige Minuten dauern. Also schleifte ich ihn rückwärtsgehend zwischen zwei der geparkten Fahrzeuge. Dort ging ich hinter ihm auf die Knie und verstärkte den Druck gegen seinen Kehlkopf. Simmonds strampelte mit den Beinen, schlug mit den Armen um sich und versuchte mir das Gesicht zu zerkratzen.

Sein Wimmern und Stöhnen erfüllte die Luft. Ich reagierte darauf, indem ich mich nach vorn beugte und seinen Kopf mit meinem Oberkörper nach vorn drückte, bis sein Kinn fast auf seiner Brust lag. Gleichzeitig verstärkte ich den Druck weiter. Nur noch zwei Minuten, dann war es geschafft.

Nach dreißig Sekunden begann er, sich mit der verzweifelten Kraft eines Mannes zu wehren, der erkennt, daß sein Tod bevorsteht. Aber ich hatte ihn so fest im Griff, daß er sich nicht mehr befreien konnte, sosehr er sich auch anstrengte.

Seine Hände griffen immer wieder nach meinem Gesicht. Ich bewegte ständig den Kopf, um ihnen auszuweichen, ohne dabei den Druck auf seinen Kehlkopf zu verringern. Die Narben des Zweikampfes mit McGear waren schon aufgekratzt, aber ich spürte kaum, daß ich blutete. Dann gelang es ihm, drei Fingernägel in die Wunde unter meinem Auge zu bohren. Ich mußte einen Aufschrei unterdrücken, als die Fingernägel sich in meine empfindliche Gesichtshaut bohrten. Ich machte alles noch schlimmer, indem ich den Kopf in den Nacken warf; seine Fingernägel rissen große Hautfetzen ab.

Ob uns jemand sah, war mir jetzt gleichgültig. Darauf verschwendete ich längst keinen Gedanken mehr. Ich keuchte vor Anstrengung fast so laut wie Simmonds, und der Schweiß, der mir übers Gesicht lief, brannte in meinen Wunden.

Dann wurden seine Bewegungen allmählich schwächer, bis er nur noch krampfhaft mit den Beinen zuckte. Seine Hände sanken kraftlos herab. Sekunden später war er bewußtlos. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, einfach aufzustehen und ihn so liegenzulassen, damit er mit seinem durch Sauerstoffmangel unheilbar geschädigten Gehirn weiterleben mußte. Aber davon kam ich wieder ab. Dieser Scheißkerl sollte sterben.

Ich wartete eine halbe Minute. Sein Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr. Ich legte zwei Finger auf seine Halsschlagader und konnte keinen Puls mehr fühlen.

Ich schleppte ihn zwischen den Fahrzeugen hindurch und ließ ihn an ein Werkstattor gelehnt sitzen. Dann richtete ich mich auf und fing an, mich abzuklopfen. Ich steckte mein Hemd wieder in die Hose und wischte mir mit dem Ärmel Schweiß und Blut vom Gesicht. Dann kontrollierte ich das Telefon. Ich wischte meine Fingerabdrücke ab, ließ es zwischen den Fahrzeugen liegen und ging davon, ohne Simmonds noch eines Blickes zu würdigen. Was kümmerte es mich, ob mich jemand gesehen hatte? Das spielte jetzt keine Rolle. Ich hatte wichtigere Sorgen.

Ich fuhr nach Westen und hielt meinen Jackenärmel unters Auge gedrückt, um die Blutung zu stoppen.

Die ganze Situation wirbelte weiter in meinem Kopf durcheinander, aber langsam ließen die einzelnen Teile des Puzzles sich zusammensetzen.

Zum Beispiel wußte ich jetzt, wie Luther & Co. mich aufgespürt hatten: Sie mußten Pat mit Gewalt dazu gebracht haben, meine Nummer preiszugeben; dann hatten sie mein Mobiltelefon angepeilt, das eingeschaltet geblieben war, weil ich auf seinen Anruf gewartet hatte.

Hätte ich Euan oder Simmonds gegenüber zugegeben, daß sich die einzige Sicherungskopie des Materials auf der Festplatte meines Laptops befand, und ihnen das Gerät ausgehändigt, wäre ich jetzt tot. Sowie alles Material sichergestellt war, wäre ich als unerwünschter Zeuge beseitigt worden.

Hatte Simmonds mit Euan vereinbart, daß er ihn irgendwann nach unserem Treff anrufen würde? Euan war über drei Stunden weit entfernt, und der tote Simmonds würde bald aufgefunden werden. Wenn Euan von dem Mord erfuhr, würde er kein Risiko eingehen: Er würde mit Kelly verschwinden oder sie womöglich gleich umbringen. In beiden Fällen wäre sie für mich verloren gewesen. Ich konnte sie übers Mobiltelefon anrufen und auffordern, aus dem Haus zu flüchten, aber was hätte das genutzt? Euans Haus lag völlig einsam in einer Wildnis aus Hügeln, Gras, Felsen und Schafmist. Er hätte sie mühelos aufgespürt.

Ich konnte die Polizei anrufen - aber würde sie mir glauben? Ich konnte ein paar Stunden mit dem Versuch vergeuden, sie zu überzeugen, bis es dann zu spät war. Oder sie fühlte sich berufen, Euans Haus zu umstellen und ihn aufzufordern, sich zu ergeben. Das Resultat wäre das gleiche gewesen.

Einen Augenblick lang dachte ich auch an Big Al. Hoffentlich hatte er’s geschafft, sich rechtzeitig abzusetzen. Geld hatte er bestimmt genug. Wenn er mir vierhundert Mille überwiesen hatte, hatte er bestimmt achthundert selbst behalten. Nein, um den alten Fettsack brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Ich strich ihn aus meinen Gedanken.

Auf einer Hinweistafel wurde die Raststätte unmittelbar vor dem Flughafen Heathrow angekündigt. Ich hatte eine Idee.

Ich bog von der Autobahn zur Raststätte ab und fuhr auf den Parkplatz. Jetzt brauchte ich nur noch eine Telefonzelle zu finden und ein Gespräch zu führen.

In der Tankstelle herrschte lebhafter Betrieb. Ich fand erst hundert Meter weiter einen Parkplatz. Als ich ausstieg, öffnete der Himmel seine Schleusen. Bis ich die vier Telefonzellen vor dem Burger King erreicht hatte, war ich bis auf die Haut durchnäßt. Die beiden ersten Apparate waren Kartentelefone. Ich hatte ungefähr drei Pfund in Kleingeld in der Tasche - nicht genug. Ich hastete in den Shop und fuhr mir mit einem Jackenärmel übers Gesicht, um das Blut notdürftig abzuwischen. Ich kaufte eine Zeitung mit einem Fünfer, sah die Kassiererin besorgt mein Gesicht mustern und verließ den Laden. Dann ging ich wieder hinein und kaufte mit einem Zehner eine Packung Rolos. Die Frau wirkte noch ängstlicher. Sie war sichtlich erleichtert, als ich das Wechselgeld einstrich und hinauslief.

Als ich die Nummer meines Telefons eintippte, spürte ich, wie sich mein Magen verkrampfte. Hatte Kelly das Telefon geladen und dann eingeschaltet gelassen? Warum eigentlich nicht? Sie war bisher immer zuverlässig gewesen.

Das Telefon begann zu klingeln.

Trotz meiner Aufregung hatte ich plötzlich einen weiteren Grund zur Sorge. Was würde ich tun, wenn Euan das Telefon an sich genommen hatte? Sollte ich einfach auflegen oder versuchen zu bluffen, um irgendwie herauszubekommen, wo sie war?

Für lange Überlegungen blieb keine Zeit mehr. Das Klingeln verstummte, und ich hörte eine leise, zögernde

Stimme. »Hallo? Wer ist da?«

»Hi, Kelly, ich bin’s, Nick«, sagte ich so beiläufig wie möglich. »Bist du allein?«

»Ja, du hast mich geweckt. Kommst du jetzt zurück?« Ihre Stimme klang müde und verwirrt. Während ich angestrengt versuchte, die passende Antwort zu finden, sprach sie zum Glück weiter. »Euan hat gesagt, daß ich vielleicht einige Zeit bei ihm bleibe, weil du verreisen mußt. Aber das ist nicht wahr, stimmt’s, Nick? Du hast versprochen, daß du mich nie wieder allein läßt.«

Die Verbindung war schlecht. Ich mußte mir das andere Ohr zuhalten, um Kelly trotz des Regens, der aufs Glas der Telefonzelle prasselte, zu verstehen. Nebenan telefonierte ein Fernfahrer mit seinem Chef, dem er lautstark und aufgebracht erklärte, er könne wegen des Fahrtenschreibers nicht weiterfahren und denke nicht daran, seinen Führerschein zu riskieren, bloß um eine Ladung beschissener Anoraks nach Carlisle zu bringen. Dazu kamen das stetige Brausen der Autobahn und der Lärm der Besucher des Schnellrestaurants. Das alles mußte ich ausblenden und mich auf den Anruf konzentrieren, weil ich Kelly nicht auffordern durfte, lauter zu sprechen.

»Ja, natürlich hast du recht, ich lasse dich nie allein«, versicherte ich ihr. »Euan hat dich angelogen. Ich habe ein paar ziemlich schlimme Sachen über ihn rausgekriegt. Bist du noch im Haus, Kelly?«

»Ja. Ich bin im Bett.«

»Schläft Euan noch?«

»Ich glaube schon. Willst du mit ihm reden?«

»Nein, nein. Laß mich einen Augenblick nachdenken.«

Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren, während ich überlegte, wie ich ausdrücken sollte, was ich zu sagen hatte.

»Natürlich komme ich und hole dich ab. Ich bin sogar sehr bald da. Paß jetzt bitte gut auf, Kelly: Du mußt etwas sehr Schwieriges und Gefährliches für mich tun. Aber wenn du das geschafft hast, brauchst du nie wieder Angst zu haben.« Während ich das sagte, kam ich mir wie ein Schwein vor.

»Ich muß aber nicht von hier weglaufen?«

»Nein, nein, nein ... so ist’s diesmal nicht. Aber es geht um den schwierigsten Auftrag, den man als Spion haben kann.« Kelly durfte nicht zum Nachdenken kommen, deshalb sprach ich hastig weiter. »Aber als erstes möchte ich etwas überprüfen, okay? Du bist im Bett, stimmt’s? Zieh dir die Decke über den Kopf und sprich ganz leise, okay?«

Ich hörte das Rascheln, mit dem Kelly unter der Bettdecke verschwand. »Was machen wir jetzt, Nick?«

»Als erstes drückst du auf irgendeine Zahlentaste des Telefons. Dann leuchtet es auf, und du siehst ein kleines Bild einer Batterie. Wie viele Blöcke sind in der Batterie zu sehen? Kannst du sie erkennen?«

Wieder undefinierbare Geräusche.

»Ja, ich sehe sie.«

»Wie viele Blöcke sind in der Batterie?«

»Drei. Ich sehe drei Blöcke. Einer davon blinkt.«

»Das ist gut.«

Aber das stimmte nicht wirklich. Zwei Blöcke

bedeuteten, daß Kelly das Telefon nicht ins Ladegerät gestellt hatte, so daß der Akku nicht einmal halb geladen war. Aber ich würde lange mit ihr reden müssen, um ihr alles Schritt für Schritt zu erklären.

»Was ist das für ein Krach?« fragte sie.

Der Fernfahrer war jetzt echt sauer und brüllte ins Telefon; er regte sich so auf, daß die Scheiben seiner Zelle anzulaufen begannen.

»Der braucht dich nicht zu stören, Kelly. Ich erzähle dir jetzt, was du zu tun hast, aber du mußt mir dabei weiter am Telefon zuhören. Kannst du das?«

»Warum ist Euan böse, Nick? Was ...?«

»Hör zu, Kelly, Euan will mir etwas tun. Erwischt er dich bei diesem Auftrag, tut er dir auch was. Verstehst du das?«

Ich hörte wieder ein Rascheln; sie steckte offenbar noch unter der Decke. »Ja«, antwortete sie leise.

Das klang ziemlich eingeschüchtert. Es hätte bestimmt eine bessere Methode gegeben, ihr das alles beizubringen, aber ich hatte einfach nicht die Zeit, sie mir zu überlegen.

»Falls Euan aufwacht«, sagte ich, »oder falls das Telefon nicht mehr funktioniert, schleichst du dich ganz, ganz leise aus dem Haus. Ich möchte, daß du auf dem Weg zur Straße bis zu dem großen Tor gehst, durch das du mit Euan reingefahren bist. Du weißt, welches ich meine?«

»Yeah.«

»Dort bei den Bäumen mußt du dich verstecken, bis du hörst, daß ein Auto kommt und hält. Aber du darfst erst

aus deinem Versteck kommen, wenn es zweimal hupt. Hast du verstanden? Den Wagen fahre ich. Er ist ein blauer Astra, okay?«

Eine kurze Pause. »Was ist ein As . Astra, Nick?«

Scheiße, sie war erst sieben und Amerikanerin. Was erwartete ich eigentlich von ihr?

»Okay, ich komme mit einem blauen Auto, halte dort am Tor und hole dich ab.«

Ich ließ sie diese Anweisungen wiederholen und fügte dann sicherheitshalber hinzu: »Wenn Euan aufwacht und dich sieht, rennst du so schnell du kannst zu den Bäumen und versteckst dich. Erwischt er dich nämlich dabei, daß du machst, was ich dir sage, sehen wir uns nie wieder. Laß mich nicht im Stich, okay? Und denk daran, du bleibst unter den Bäumen versteckt, auch wenn Euan dich ruft, okay?«

»Okay. Aber du kommst und holst mich, ja?«

Das klang leicht zweifelnd.

»Natürlich komme ich dich holen! Hör zu, du stehst jetzt auf, legst das Telefon aufs Bett und ziehst dich an - alles ganz langsam und leise. Zieh Jeans, ein Sweatshirt und deinen Mantel an.

Und du weißt, wo deine Sportschuhe sind? Die nimmst du auch mit, ziehst sie aber noch nicht an.«

Ich hörte, wie Kelly das Telefon weglegte und ihre Sachen zusammensuchte.

Beeil dich, verdammt noch mal!

Ich zwang mich dazu, Ruhe zu bewahren.

Knapp zwei Minuten später hörte ich: »Fertig, Nick.«

»Okay, paß jetzt gut auf. Euan ist nicht mehr mein

Freund; er hat versucht mich umzubringen. Hast du verstanden, Kelly? Er hat versucht mich umzubringen.«

Am anderen Ende entstand eine Pause.

»Warum? Ich . das verstehe ich nicht, Nick. Du hast gesagt, daß er dein Freund ist.«

»Ich weiß, ich weiß, aber so was kann sich ändern. Willst du mir helfen?«

»Ja.«

»Gut, dann mußt du alles machen, was ich dir sage. Als erstes steckst du deine Sportschuhe in die Manteltaschen. Okay, jetzt wird’s Zeit, nach unten zu gehen. Das Telefon nimmst du mit, okay?«

»Yeah.«

Die Zeit wurde knapp - und mein Kleingeld ebenfalls.

»Aber denk daran, du mußt ganz leise sein, sonst weckst du Euan. Sollte er aufwachen, rennst du aus dem Haus in dein Versteck. Versprichst du mir das?«

»Ehrenwort.«

»Okay, jetzt schleichst du die Treppe hinunter, so leise du kannst. Sprich erst wieder mit mir, wenn du in der Küche bist, ab jetzt dürfen wir beide nur noch flüstern, okay?«

»Okay.«

Ich hörte, daß die Zimmertür geöffnet wurde, und stellte mir vor, wie Kelly am Bad vorbeikam, das links von ihr lag. Etwa vier Meter vor ihr und einen halben Stock höher befand sich die Tür von Euans Zimmer. War sie offen oder geschlossen? Danach konnte ich jetzt nicht mehr fragen. Noch einige Schritte, dann würde sie oben an der Treppe an der großen alten Standuhr vorbeikommen. Wie auf ein Stichwort hin hörte ich ihr langsames, schwerfälliges Ticken, das geradewegs aus einem Hitchcock-Film zu stammen schien.

Das Ticken wurde allmählich leiser; Kelly schlich anscheinend sehr vorsichtig die Treppe hinunter. Ich hörte nur einmal eine Stufe knarren und fragte mich wieder, ob Euans Tür offen oder geschlossen war. Schlief er normalerweise bei offener Tür? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

Am Fuß der Treppe würde sie nach rechts zurück in die Küche gehen.

Ich versuchte mir vorzustellen, wo Kelly gerade war, aber sie bewegte sich so lautlos, daß ich ihren Weg nicht verfolgen konnte. Dann hörte ich das kaum wahrnehmbare Knarren von Türangeln - das war die Küchentür. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich die Kleine für dieses Vorhaben ausnutzte, aber sie wußte, was auf dem Spiel stand ... na ja, gewissermaßen. Scheiße, die Entscheidung war gefallen; jetzt konnte ich nur weitermachen. Klappte alles, war sie gerettet; ging etwas schief, war sie tot. Unternahm ich jedoch nichts, war sie auf jeden Fall tot. Also weiter!

»Ich bin jetzt in der Küche«, flüsterte sie, »aber ich sehe nicht viel. Darf ich Licht machen?«

Das war das lauteste Flüstern, das ich je gehört hatte.

»Nein, nein, Kelly, du mußt so langsam und leise reden wie ich«, flüsterte ich drängend. »Und du darfst kein Licht machen, sonst wacht Euan auf. Laß dir Zeit und hör mir genau zu. Verstehst du irgendwas nicht, fragst du mich einfach, und wenn irgendwas schiefgeht oder du ein Geräusch hörst, machst du eine Pause, damit wir beide horchen können, okay?«

»Okay.«

Das Problem dabei war, daß Kelly um so schlechter zu verstehen war, je leiser sie sprach. Zum Glück hatte der Fernfahrer jetzt sein Gespräch beendet; er hängte wütend den Hörer ein und stürmte in den Burger King. Eine Frau nahm seinen Platz ein und fing an, mit einer Freundin zu schwatzen.

Die Küche in Euans Haus bestand aus zwei zusammengelegten Räumen, dem alten Küchenanbau und dem früheren Gang zwischen dem Haus und dem ehemaligen Schafstall. Der rückwärtige Teil war zu einem kleinen Wintergarten ausgebaut worden, und im vorderen Teil befanden sich die L-förmige Küchenzeile und ein großer runder Eßtisch. Ich konnte nur hoffen, daß Kelly nichts vom Tisch auf den Fußboden werfen würde. Als ich mich an die Nacht erinnerte, in der wir den Fußboden geklaut hatten, lief mir bei dem Gedanken an die langen Jahre voller Freundschaft, Vertrauen und sogar Liebe ein kalter Schauder über den Rücken. Ich fühlte mich ausgenutzt, verraten, mißbraucht.

Der Telefonakku konnte nicht mehr lange halten.

»Alles okay?« fragte ich. Ich gab mir alle Mühe, mir keine Panik anmerken zu lassen, aber ich wußte, daß die Situation bald kritisch werden würde. Würde Kelly sich daran erinnern, was sie tun sollte, wenn das Telefon verstummte?

»Ich kann nichts sehen, Nick.«

Ich dachte kurz nach und bemühte mich, mir die genaue Anordnung der Küche ins Gedächtnis zurückzurufen. »Okay, Kelly, du gehst jetzt ganz langsam zum Ausguß hinüber. Dann stellst du dich vor den Herd.« Ich wartete einige Sekunden. »Bist du dort?«

»Yeah.«

»Genau vor dir an der Wand über dem Herd findest du einen Schalter. Siehst du den?«

»Ich muß ihn erst suchen.«

Im nächsten Augenblick sagte sie: »Nick, ich kann wieder sehen.«

Kelly mußte die kleine Leuchtstoffröhre über der Arbeitsfläche eingeschaltet haben. Ihre Stimme klang hörbar erleichtert.

»Gut gemacht! Jetzt gehst du zurück und machst ganz leise die Küchentür zu. Tust du das für mich?«

»Okay. Kommst du mich bald holen?«

Ich hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Sollte ich sie jetzt abbrechen und Kelly nur auffordern, die Haustür zu öffnen und auf mich zu warten? Nein, verdammt noch mal! Euan konnte jederzeit einen Anruf bekommen, der ihm Simmonds’ Tod meldete.

»Natürlich hole ich dich, aber das geht nur, wenn du genau tust, was ich dir sage, okay? Du läßt das Telefon am Ohr und machst ganz langsam und vorsichtig die Küchentür zu.«

Ich hörte ein leises Knarren.

»Okay, jetzt gehst du zum Ausguß zurück, nimmst alles heraus, was darunter steht und stellst es auf den Küchentisch. Das kannst du doch?«

»Okay.«

Am anderen Ende war ein leises Klappern zu hören, als sie Flaschen und Plastikbehälter auf den Tisch stellte.

»Jetzt ist alles draußen.«

»Gut gemacht! Lies mir jetzt ganz leise vor, was auf den Etiketten steht. Das kannst du doch?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Es sind zu viele Flaschen, und hier ist’s nicht hell genug. Ich kann’s nicht!«

Kelly stand hörbar unter Druck; ihre Stimme zitterte, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Scheiße, das dauert alles viel zu lange.

»Okay, du gehst einfach zum Lichtschalter an der Küchentür und machst Licht. Aber laß dir Zeit, okay?«

»Okay.« Kelly schniefte hörbar. Dieses Geräusch kannte ich inzwischen nur allzu gut. Wenn ich nicht aufpaßte, würde sie als nächstes in Tränen ausbrechen - und dann war alles verloren.

Ich hörte sie zur Küchentür schlurfen.

»Jetzt kann ich besser sehen, Nick.«

»Gut. Jetzt gehst du zurück und liest mir vor, was auf den Etiketten steht.«

»Okay.« Kelly ging an den Tisch, und ich hörte, wie sie nach der ersten Plastikflasche griff.

»Ajax.«

»Okay, was steht auf der nächsten?«

Scheiße, das dauerte zu lange! Ich hatte den Hörer krampfhaft ans Ohr gepreßt, fühlte mein Herz jagen, hielt den Atem an und imitierte unwillkürlich Kellys Bewegungen. Die Frau in der Telefonzelle nebenan hatte die beschlagene Scheibe abgewischt und schien ihrer Freundin jetzt fortlaufend zu schildern, was der Verrückte neben ihr trieb. Mit blutigen Kratzwunden im Gesicht und völlig durchnäßter Kleidung sah ich bestimmt wie ein Massenmörder aus.

Ein lautes Klappern von Metall auf dem Fußboden ließ mich zusammenzucken.

»Kelly? Kelly?«

Schweigen, dann nahm sie das Telefon wieder in die Hand.

»Entschuldigung, Nick. Ein Löffel ist runtergefallen. Ich hab’ ihn nicht gesehen. Ich hab’ Angst, Nick. Ich will nicht weitermachen. Bitte, bitte, hol mich hier raus!«

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie in Tränen ausbrechen würde.

»Keine Angst, Kelly, alles ist in Ordnung.«

Ich hörte sie ins Telefon schniefen.

Nein, nicht jetzt, verdammt noch mal!

»Alles in Ordnung, Kelly, alles in Ordnung. Ich kann dich nur holen, wenn du mir hilfst. Du mußt tapfer sein. Euan will mich umbringen. Nur du kannst mir jetzt helfen. Traust du dir das zu?«

»Bitte beeil dich, Nick. Ich will, daß du mich holst.«

»Alles in Ordnung, Kelly, alles in Ordnung.«

Nichts war in Ordnung, Nick, weil Nicks verdammtes Kleingeld bald zu Ende gehen würde. Ich hatte nur noch ein paar Pfundmünzen, die nicht mehr lange vorhalten würden. Ich warf ein weiteres Geldstück ein, das aber durchfiel, und mußte hastig ein neues aus der Tasche holen.

Kelly fing an, mir weitere Etiketten vorzulesen. Die meisten Produktnamen konnte sie nicht richtig lesen. Ich forderte sie auf, mir die Namen zu buchstabieren. Nach jeweils drei bis vier Buchstaben wußte ich, worum es sich handelte. »Nein, das ist nicht zu gebrauchen. Lies mir das nächste vor.«

Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren, während ich versuchte, mich an alle benötigten Zutaten zu erinnern. Endlich las sie etwas vor, das brauchbar war.

»Hör mir jetzt bitte genau zu, Kelly. Das ist eine grüne Büchse, nicht wahr? Stell sie jetzt so hin, daß du sie bestimmt wiederfindest. Dann schleichst du nach nebenan in den Raum, in dem die Waschmaschine steht. Den kennst du doch?«

»Ja.«

Euan hatte einen Platz für alles, und alles stand an einem bestimmten Platz. Ich wußte sogar, daß er seine Gabeln in der Besteckschublade sorgfältig nebeneinanderlegte.

»Im Regal gleich neben der Tür steht eine große blaue Plastikflasche. Auf dem Etikett steht >Gefrierschutzmittel<.«

»Was?«

»Gefrierschutzmittel. G-E-F-R-I-E-R . Diese Flasche holst du an den Küchentisch, okay?«

Das Telefon polterte auf den Tisch. Ich biß die Zähne zusammen und wartete.

Nach einer halben Ewigkeit meldete Kelly sich wieder. »Ich hab’ die Flasche.«

»Stell sie auf den Tisch und mach sie auf.«

Sie legte das Telefon wieder hin. Dann waren schwere Atemzüge und ein unterdrücktes Schluchzen zu hören, als sie mit dem Flaschenverschluß kämpfte.

»Ich krieg sie nicht auf, Nick.«

»Du brauchst die Verschlußkappe nur nach links zu drehen. Du weißt, wie man eine Flasche aufmacht.«

»Sie geht nicht auf! Ich versuch’s echt, Nick, aber meine Hände zittern.«

Scheiße, auch das noch! So funktioniert das nie.

»Kelly? Kelly? Was ist mit dir? Sprich mit mir, los, red mit mir!«

Keine Antwort.

Komm schon, Kelly, sag irgendwas.

Nichts. Ich hörte sie nur schniefen, als kämpfe sie gegen Tränen an.

»Nick ... hol mich hier raus. Bitte, Nick, bitte.« Kelly schluchzte jetzt.

»Laß dir Zeit, Kelly, laß dir ruhig Zeit. Das ist in Ordnung, alles ist in Ordnung, ich bin hier, du brauchst keine Angst zu haben. Okay, du bleibst jetzt einen Augenblick stehen und horchst. Falls du etwas hörst, sagst du’s mir gleich, und ich versuche ebenfalls zu horchen, okay?«

Ich horchte angestrengt, um sicherzugehen, daß Euan nicht aufgestanden war. Außerdem erschien mir eine Zäsur notwendig: eine bewußt eingelegte Pause, die verhindern sollte, daß mögliche Fehler sich multiplizierten; man mußte sich Zeit lassen, aber trotzdem so schnell wie möglich arbeiten. Ich wußte genau, was getan werden mußte, aber das Frustrierende

war, daß ich alles diesem Kind erklären mußte, das unter schrecklichem Druck lautlos arbeiten sollte - während mir das Kleingeld und dem Mobiltelefon der Saft ausging.

Die Frau verließ die Zelle nebenan und lächelte mir begütigend zu, als fürchte sie, ich könnte mich mit einem Fleischerbeil auf sie stürzen.

»Geht’s wieder, Kelly?«

»Ja. Soll ich noch immer die Flasche aufschrauben?«

Ich begriff nicht, warum sie das nicht schaffte. Aber als ich anfangen wollte, ihr neue Anweisungen zu geben, fiel mir ein, daß der Drehverschluß eine Kindersicherung hatte. Während ich ihr erklärte, was sie tun mußte, hörte ich ein leises Piepsen.

Akku. Scheiße!

»Also, du mußt die Kappe reindrücken, bevor du sie drehst. Aber wir müssen uns ein bißchen beeilen, sonst funktioniert das Telefon nicht mehr, bevor wir fertig sind.«

»Was soll ich jetzt tun, Nick?«

»Steht die Plastikflasche jetzt offen auf dem Tisch?«

Nichts.

»Kelly? Kelly? Bist du noch da?«

War der Akku leer?

Dann hörte ich: »Was soll ich jetzt machen?«

»Gott sei Dank, ich dachte schon, der Akku sei leer. Hast du irgendwas, mit dem du die grüne Büchse öffnen kannst? Ich weiß was - am besten mit dem Löffel, Kelly. Du legst das Telefon auf den Tisch, nimmst den Löffel und stemmst damit den Deckel auf, okay?«

Während ich angestrengt horchte, versuchte ich zu überlegen, welche Möglichkeiten uns noch blieben, falls diese Sache schiefging. Ich kam zu dem Schluß, daß uns keine blieben.

»So, jetzt kommt der schwierigste Teil. Traust du dir den zu? Um den zu schaffen, muß man wirklich gut sein.«

»Ja, mir fehlt nichts mehr. Tut mir leid, daß ich geheult habe, aber ...«

»Ich weiß, ich weiß, Kelly. Ich bin auch nervös, aber gemeinsam schaffen wir’s. Du steckst das Telefon jetzt zu deinen Sportschuhen in die Tasche. Dann nimmst du eine der großen Plastikflaschen vom Tisch, gehst damit zur Haustür und öffnest sie einen Spalt weit. Aber nicht ganz, nur ein kleines Stück. Dann klemmst du die Flasche in den Spalt, damit die Tür nicht wieder zufällt. Aber denk daran, die Haustür ist groß und schwer und darf beim Aufmachen nicht quietschen oder knarren. Glaubst du, daß du das schaffst?«

»Yeah, das kann ich. Und wie geht’s weiter?«

»Das sage ich dir gleich. Aber vergiß nicht: Falls das Telefon nicht mehr funktioniert und du mich nicht mehr hörst, rennst du zu den Bäumen und versteckst dich.«

Dort würde Euan sie vermutlich aufspüren, aber was sollte ich ihr sonst raten?

»Okay.«

Die Sache mit der Haustür war der heikelste Punkt. Selbst wenn Euan fest schlief, würde sein Unterbewußtsein die Veränderung des Luftdrucks und vielleicht auch ein leises Knarren wahrnehmen. Daraus

konnte ein Traumbild entstehen, das nach Art eines sechsten Sinns davor warnte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.

Trotzdem hatte sie dann wenigstens einen Vorsprung - wenn sie sich daran erinnerte, was ich ihr eingeschärft hatte.

»Ich bin wieder in der Küche«, meldete sie. »Was soll ich jetzt tun?«

»Hör bitte gut zu. Was jetzt kommt, ist sehr wichtig. Bis zu welcher Zahl kannst du zählen?«

»Ich kann bis zehntausend zählen.«

Das klang wieder etwas lebhafter, als spüre Kelly, daß das Ende in Sicht war.

»Du sollst nur bis dreihundert zählen. Kannst du das?«

»Klar kann ich das.«

»Aber nicht laut, sondern nur im Kopf.«

»Okay.«

»Als erstes gehst du wieder an den Herd. Weißt du, wie man das Gas andreht?«

»Natürlich! Ich helfe Mommy oft beim Kochen.«

Als ich das hörte, mußte ich schlucken.

Ich zwang mich dazu, mich wieder zu konzentrieren. Ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. Vielleicht war Kelly ohnehin bald tot. Ich kam mir wie ein Schweinehund vor, weil ich sie meine Dreckarbeit erledigen ließ; aber wenn ich das schon tat, mußte ich ihr wenigstens helfen, gute Arbeit zu leisten.

»Ausgezeichnet. Du weißt also, wie man das Gas im Backrohr und an allen Kochstellen andreht?«

»Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich kochen kann.«

Eine ganze Busladung Jugendlicher, die von einem Schulausflug zurückkamen, stürmte den Burger King. Sechs oder sieben Jugendliche blieben zurück, kamen auf die Telefonzellen zu, schrien lachend durcheinander und versuchten sich gemeinsam in die freie Telefonzelle nebenan zu quetschen. Ihr Geschrei war so ohrenbetäubend, daß ich nicht mehr hören konnte, was Kelly sagte. Ich mußte etwas unternehmen. »Augenblick, Kelly, bin gleich wieder da.«

Ich bedeckte die Sprechmuschel mit einer Hand, streckte den Kopf aus der Telefonzelle und brüllte: »Hey, ihr - haltet gefälligst die Schnauze! Ich habe meine Tante am Telefon, ihr Mann ist gerade gestorben, und ich versuche mit ihr zu reden, okay? Laßt uns in Ruhe telefonieren!«

Die Jugendlichen verstummten beschämt. Sie zogen ab, folgten ihren Klassenkameraden und kicherten mit gespielter Unbekümmertheit, um ihre Verlegenheit zu tarnen.

Ich sprach wieder ins Telefon.

»Paß jetzt gut auf, Kelly. Das Telefon funktioniert vielleicht bald nicht mehr, weil der Akku leer ist. Du mußt das Gas im Backrohr und an allen Kochstellen aufdrehen. Nimm das Telefon mit, damit ich das Gas höre. Fang schon mal an, während ich weiterrede.«

Ich hörte das leise Zischen des Propangases, mit dem Euan kochte.

»Es riecht gar nicht gut, Nick.«

»Schon okay. Jetzt verläßt du die Küche und machst die Tür hinter dir zu. Aber denk daran, daß du ganz leise sein mußt. Wir wollen Euan nicht wecken. Red nicht mehr mit mir, sondern hör nur noch zu. Du verläßt die Küche und machst die Tür zu, okay?«

»Okay, ich sage dann nichts mehr.«

»Genau!«

Ich hörte, wie die Küchentür geschlossen wurde.

»Nick?«

Ich hatte Mühe, Ruhe zu bewahren. »Ja, Kelly?«

»Darf ich bitte Jenny und Ricky mitnehmen?«

Ich bemühte mich, ruhig zu antworten. »Nein, Kelly, dafür reicht die Zeit nicht! Hör mir jetzt bitte gut zu. Ich möchte, daß du im Kopf bis dreihundert zählst. Dann holst du ein paarmal tief Luft, hältst den Atem an und gehst in die Küche zurück. Nicht laufen - gehen! In der Küche kippst du das Gefrierschutzmittel in die grüne Büchse. Dann gehst du wieder hinaus, aber ich möchte nicht, daß du Euan weckst.«

Wenn sie hinfiel und sich weh tat, konnte sie dem Anschlag auf Euan zum Opfer fallen.

»Du gehst langsam hinaus, machst die Küchentür hinter dir zu, verläßt das Haus und ziehst ganz, ganz leise die Haustür ins Schloß. Jenny und Ricky kannst du nicht mehr holen.«

»Aber ich will sie . bitte, Nick!«

Ich ignorierte ihre Bitte. »Dann läufst du zu den Bäumen, so schnell du kannst, und versteckst dich. Unterwegs hörst du einen lauten Knall, nach dem ein Feuer ausbricht. Du bleibst aber nicht stehen, um ihn dir anzusehen. Und bleib unbedingt in deinem Versteck, bis ich komme. Ich komme so schnell wie möglich.

Ehrenwort!«

In solchen Augenblicken war ich froh, daß meine Ausbilder uns die Anweisungen für behelfsmäßige Brand- und Sprengsätze eingebleut hatten, bis wir sie auswendig herunterbeten konnten. Damals, vor vielen Jahren, war das eine stupide Auswendiglernerei gewesen, die aber sein mußte, weil man im Einsatz kein Notizbuch mitnehmen konnte. Ich hatte gelernt, wie man aus einfachsten Zutaten Sprengsätze bastelt und improvisierte elektrische Zünder baut. Ich kannte die Herstellungsformeln und die Konstruktionsweise aller nur denkbaren Höllenmaschinen - vom einfachsten Brandsatz wie diesem, mit dem ich Euan umbringen würde, bis hin zu einem Sprengsatz, den ich vom anderen Ende der Welt aus telefonisch zünden konnte.

Das Mobiltelefon begann wild zu piepen und verstummte dann einfach. Ich stellte mir vor, wie das in dem Gefrierschutzmittel enthaltene Glyzerin mit der Mischung zu reagieren begann. Nach ungefähr vierzig bis fünfzig Sekunden würde es sich entzünden. Je nach Feuchtigkeitsgehalt auch ein paar Sekunden später.

Kelly hatte nicht ganz eine Minute Zeit, das Haus zu verlassen; sobald das Propan entzündet wurde, würde es eine gewaltige Explosion mit nachfolgendem Brand geben. Euan würde hoffentlich darin umkommen, aber etwa auch Kelly?

Bitte, bitte, bitte, laß die verdammten Teddybären oben in deinem Zimmer!

Ich lief zu meinem Wagen und raste nach Westen davon. Das erste Licht des neuen Tages versuchte eben,

die geschlossene Wolkendecke zu durchdringen.

40

Diese Fahrt war die schlimmste meines Lebens.

Auf einem Schild las ich: Newport, 70 Meilen. Nachdem ich schätzungsweise dreißig Meilen mit Überlichtgeschwindigkeit zurückgelegt hatte, verkündete das nächste Schild: Newport, 60 Meilen. Ich hatte das Gefühl, mich in einer Tretmühle abzustrampeln, ohne von der Stelle zu kommen - in einer Tretmühle in hüfttiefem Wasser.

Mein Körper hatte seine Adrenalinproduktion wieder verringert und signalisierte mir, daß ich verletzt war. Mein Hals, an dem ich tiefe Kratzwunden hatte, brannte wie Feuer. Meine Wunde auf der Stirn blutete nicht mehr, aber die Wunde unter dem rechten Auge, die Simmonds aufgerissen hatte, begann anzuschwellen und beeinträchtigte mein Sehvermögen.

Euan, dieser Scheißkerl. Mein Freund, dem ich in all diesen Jahren bedingungslos vertraut hatte. Daran zu denken, war fast zu schmerzlich. Ich fühlte mich wie betäubt. Ich fühlte eine große innere Leere. Irgendwann würde diese Benommenheit in Schmerz oder Zorn umschlagen, aber soweit war es vorerst noch nicht. Vor meinem inneren Auge sah ich Kellys Gesichtsausdruck, als der Zug anfuhr - und das Lächeln auf Euans Gesicht.

Und was würde aus mir werden? Niemand würde es wagen, etwas gegen mich zu unternehmen, weil alle wußten, daß ich das Belastungsmaterial noch hatte. Falls mein Brandanschlag gelang, würde das an Euan adressierte Päckchen vorerst als unzustellbar bei FedEx liegenbleiben. Der Mord an Simmonds würde um jeden Preis vertuscht werden. Falls irgendein übereifriger Kriminalbeamter der Wahrheit gefährlich nahekam, würde er liquidiert werden. John Stalker war nicht der erste, der aus solchen Gründen beseitigt worden war, und er würde auch nicht der letzte sein.

Mir wurde plötzlich klar, warum die PIRA oder jemand, der angeblich in ihrem Auftrag gehandelt hatte, jeweils zu Beginn irgendwelcher Friedensgespräche einen Soldaten oder Polizisten erschossen oder in England eine Bombe gelegt hatte. Ganz einfach: Weil es sich lohnte, dafür zu sorgen, daß die Unruhen weitergingen.

Auf unserer Seite gab es viele, die von Konflikten wie in Nordirland profitierten und sie nicht beendet sehen wollten. Die Royal Ulster Constabulary ist vermutlich die bestbesoldete Polizei Europas, wenn nicht sogar der Welt. Als ihr Kommandeur muß man sagen, man wünsche sich das Ende des Bürgerkriegs herbei, aber tatsächlich befehligt man eine schlagkräftige Polizeitruppe und verfügt über große Macht und unbegrenzte Geldmittel. Innerhalb der RUC sind wiederum Fürstentümer entstanden, die ihre Existenz allein den Unruhen verdanken und für den Kampf gegen den Terrorismus alles an Männern und Material erhalten, was sie nur anfordern.

Weshalb sollte selbst ein 24jähriger RUC-Constable, verheiratet, zwei Kinder, das Ende der Unruhen herbeiwünschen? Er verdiente genug, um sich einen hohen Lebensstandard, ein hübsches Haus und Urlaubsreisen ins Ausland leisten zu können. Wozu sollte er sich Frieden wünschen, der ihn womöglich seinen guten Job kosten konnte?

Auch das britische Heer hat kein Interesse an der Beendigung des Nordirlandkonflikts. Die Provinz ist ein phantastisches Versuchsgelände für Waffen und ein erstklassiger Truppenübungsplatz - und wie die RUC kann das Heer sich auf diese Weise ein größeres Stück vom Kuchen sichern. Das Heer muß jedes Jahr um Haushaltsmittel kämpfen und steht dabei in Konkurrenz zur Marine, die mehr Geld für Trident-U-Boote fordert, und zur Luftwaffe, die den Eurofighter beschaffen will. Solange Nordirland auf der Tagesordnung steht, kann das Heer mit dringenden operativen Notwendigkeiten argumentieren - und niemand wird bestreiten, daß für den Kampf gegen den Terrorismus Geld nötig ist.

Der britischen Industrie hätte ein Waffenstillstand große Verluste beschert. Die großen Rüstungsfirmen lieferten Material, das speziell auf die Gewährleistung innerer Sicherheit zugeschnitten war, und verdienten unter den dortigen Einsatzbedingungen Millionen. Auf dem nordirischen Kriegsschauplatz erprobtes Material wurde ihnen von ausländischen Käufern aus den Händen gerissen. Kein Wunder, daß der Nordirlandkonflikt Großbritannien zu einem der drei größten Waffenexporteure der Welt gemacht hatte - mit segensreichen Auswirkungen auf die britische

Zahlungsbilanz.

Ich wußte jetzt, weshalb McCann, Farrell und Savage hatten sterben müssen. Enniskillen. Ein für die PIRA negatives Medienecho. Menschenschlangen vor Kondolenzbüchern. Ein einschneidender Rückgang der Spenden von Amerikanern irischer Abstammung. Damals mußte wirklich die Gefahr einer Zeit des Dialogs und der Aussöhnung bestanden haben. Das hatten Simmonds und seine Komplizen nicht dulden können. Sie hatten Märtyrer schaffen müssen, um den Druck aufrechtzuerhalten.

Und ich? Ich war vermutlich nur ein kleiner Aussetzer einer gutgeölten Maschine. Und Nordirland war vermutlich nur eines ihrer vielen Tätigkeitsgebiete. Vielleicht provozierten diese Kerle auch Unruhen und Morde in Hebron, hetzten die Kroaten gegen die Serben auf und hatten sogar Kennedy ermorden lassen, weil er den Vietnamkrieg hatte beenden wollen. Schließlich war alles ein Geschäft, wie Simmonds gesagt hatte. Ich konnte ihnen nicht das Handwerk legen. Aber das machte mir keine Sorgen. Wozu denn auch? Immerhin hatte ich Kevs und Pats Tod gerächt. Das mußte mir genügen.

Ich verließ die Autobahn und fuhr auf der Straße nach Abergavenny weiter. Der Regen hatte aufgehört, aber dieser Straßenabschnitt war wegen häufiger Instandsetzungsarbeiten berüchtigt. Euans Haus lag etwa zehn Meilen jenseits der Stadt in Richtung Brecon.

Ich betätigte mich als Kolonnenspringer und erreichte damit, daß andere Fahrer hupten und mir mit der Faust drohten. Dann sah ich vor mir eine endlose Schlange roter Bremsleuchten. Der morgendliche Berufsverkehr hatte eingesetzt. Ich kam ebenfalls zum Stehen. Der Stau wurde durch Straßenbauarbeiten verursacht und schien mindestens eine Meile lang zu sein.

Ich fuhr aufs befestigte Bankett hinaus. Andere Autofahrer hupten wütend, als ich sie auf der Innenseite überholte. Das wilde Hupkonzert alarmierte die Arbeiter, die eine neue Fahrbahndecke aufbrachten. Sie rannten mir laut rufend entgegen, gestikulierten wie wild und deuteten auf die Schilder Durchfahrverbot. Aber ich beachtete sie gar nicht. Ich konnte nur hoffen, daß die Polizei mich nicht anhalten würde. Ich schaltete herunter, gab Gas und schaltete wieder hoch.

Ich erreichte Abergavenny und blieb auf der Umgehungsstraße. Als ich dann an einer Ampel mit endlos langen Schaltzeiten aufgehalten wurde, fuhr ich auf dem Gehsteig weiter und setzte mich so an die Spitze der Autoschlange.

Jenseits der Stadt ging es auf einer schmalen, kurvenreichen Straße in die Hügel weiter. Ich trat das Gaspedal durch, raste mit siebzig bis achtzig Meilen dahin und benutzte die gesamte Straßenbreite, als gehöre die Straße mir. Vor jeder Linkskurve fuhr ich so weit rechts, daß die Brombeerhecken an der rechten Wagenseite kratzten. In dieser Position hätte ich etwaige Hindernisse hinter der Kurve früher erkannt. Ohne zu bremsen, schaltete ich in den zweiten Gang herunter, trat in der Kurve wieder das Gaspedal durch, legte gleich den vierten Gang ein und ließ ihn drin.

Nach ungefähr zwei Meilen versperrte ein langsamer Lastwagen fast die gesamte Straße. Dieser Viehtransporter, der auf zwei Ebenen Schafe beförderte, hatte am Heck einen Aufkleber, der mich fragte, ob seine Fahrweise in Ordnung sei - sonst sollte ich die Firmenleitung anrufen. Ich hatte reichlich Zeit, den Text zu studieren, während ich mit nicht mehr als zwanzig Meilen hinter dem Scheißkerl herzockelte.

Auf der kurvenreichen Straße mußte er mich in seinen Rückspiegeln sehen, aber er dachte nicht daran, links ranzufahren, um mich überholen zu lassen. Als wir nur noch fünfzehn Meilen schnell waren, sah ich auf meine Uhr. Es war kurz nach halb zehn, und ich war seit knapp drei Stunden unterwegs.

Ich fuhr immer wieder rechts raus, konnte nicht überholen und mußte wieder einscheren. Sogar die Schafe beobachteten mich jetzt. Der Lastwagenfahrer hatte seinen Spaß daran; ich begegnete seinem Blick in einem der großen Außenspiegel und sah ihn lachen. Er kannte diese Straße wie seine Westentasche und wußte deshalb, daß ich noch mehrere Meilen hinter ihm bleiben mußte, wenn er mich nicht freiwillig vorbeiließ. Also mußte ich riskieren, ihn halb auf dem Bankett fahrend zu überholen, und konnte dabei nur hoffen, daß mir niemand entgegenkommen würde.

Als der Fahrer des Viehtransporters vor der nächsten Kurve herunterzuschalten begann, beschleunigte ich und überholte ihn auf der falschen Straßenseite. Wenn mir jemand entgegenkam, waren wir beide tot. Der Lkw- Fahrer blendete auf und hupte; wahrscheinlich hoffte er, mich ablenken zu können, damit ich in den Straßengraben fuhr. Diesmal hatte ich jedoch Glück. Die Straße war frei, und ich ließ den Viehtransporter bald weit hinter mir.

Eine Viertelstunde später erreichte ich die Abzweigung zu Euans Tal. Ich bog mit quietschenden Reifen links ab. Schon nach hundert Metern wurde die Straße zu einem schmalen Fahrweg. Falls hier ein Traktor vor mir herfuhr, würde ich kaum eine Überholmöglichkeit finden, aber diesmal blieb das Glück mir treu, und ich wurde nicht mehr aufgehalten. Nach weiteren zwanzig Minuten erreichte ich das Tal. Schon vor dem letzten Hügelrücken war die Rauchsäule zu sehen.

41

Die Mauern standen noch, aber das Dach war größtenteils eingestürzt, und aus den von der Hitze geplatzten Fenstern schlugen vereinzelt Flammen. Zwei Löschfahrzeuge standen vor dem Haus, und die Feuerwehrleute versuchten den Brand unter Kontrolle zu bringen.

Eine Handvoll Neugieriger hatte sich versammelt: Einheimische in Regenmänteln und Gummistiefeln, die von der anderen Seite des Tals herübergekommen waren, um zu gaffen.

Ich fuhr weiter und hielt am Tor. Ein paar Feuerwehrleute drehten sich nach mir um, sagten aber

nichts, weil sie zu beschäftigt waren.

Ich stieg aus, rannte über die Straße zu dem etwa fünfzig Meter entfernten Wäldchen und winkte und brüllte wie ein Verrückter.

»Kelly! Kelly!«

Nichts.

»Ich bin’s - Nick! Du kannst jetzt rauskommen!«

Aber sie war nicht da. Tief in meinem Innersten hatte ich wahrscheinlich schon gewußt, daß sie nicht dasein würde. Sie war in dem Augenblick tot gewesen, als sie meinen Anruf beantwortet hatte.

Ich machte kehrt und ging langsam den Fahrweg entlang auf die Gaffer zu. Sie musterten mich flüchtig, wobei ihnen der Anblick meines ramponierten Gesichts offenbar nicht behagte, und wandten sich wieder ab, weil sie die rauchende Ruine interessanter fanden.

»Ist da jemand dringewesen?« fragte ich, ohne jemanden gezielt anzusprechen.

Eine ältere Frau antwortete: »Er hat gestern abend Licht gehabt, und die Sanitäter sind im Haus gewesen. Wirklich ein Jammer! Er ist ein so netter junger Mann gewesen.«

Als ich die Gruppe verließ und auf das Haus zuging, vertrat mir ein Feuerwehrmann den Weg und hob eine behandschuhte Hand. »Entschuldigung, Sir, halten Sie bitte Abstand. Der Brand ist noch nicht vollständig gelöscht.«

»Radio Wales«, sagte ich und versuchte mir einen amtlichen Anstrich zu geben. »Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?«

Ich sah über seine Schulter. Andere Feuerwehrleute zerrten verkohlte Einrichtungsgegenstände aus Euans Haus und warfen sie auf einen Haufen, der mit Löschwasser bespritzt wurde. Der Brandgeruch war jetzt sehr stark.

Ich sah wieder den Feuerwehrmann an. »Hier scheint es einen Brand gegeben zu haben, bei dem Gasflaschen hochgegangen sind«, sagte er. »Ich muß Sie bitten, weiter zurückzutreten, Sir.«

»Ist irgend jemand verletzt oder getötet worden?«

Während ich das fragte, fiel mir etwas auf, das ein anderer Feuerwehrmann auf den Haufen warf: Jenny oder Ricky. Ich hatte die beiden nie unterscheiden können, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Der Teddybär war völlig verkohlt und hatte nur noch einen halben Arm.

»Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir Gewißheit haben, aber diesen Brand kann niemand überlebt haben.«

Er hatte recht. Unter anderen Umständen wäre das eine Explosion gewesen, auf die ich hätte stolz sein können.

Kelly war tot. Vielleicht würde ich darüber hinwegkommen. Gewiß nicht rasch, aber irgendwann . Was hätte ich ihr schließlich bieten können?

Kelly hätte sich in einem schlimmen Zustand befunden, wenn sie erkannt hätte, was mit ihr passiert war, und eine Therapie gebraucht. Außerdem hatte sie angefangen, an unserem Lebensstil Gefallen zu finden. An sich hatte ihr Tod mir eine Last von den Schultern genommen. In Zukunft brauchte ich sie nicht mehr zu beschützen oder mir Sorgen um sie zu machen. Ich wandte mich ab und ging tief in Gedanken versunken zu meinem Wagen zurück. Was geschehen war, ließ sich nicht ungeschehen machen; ich konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Alles weitere würde ich in den Nachrichten sehen.

Irgendwo in der Ferne hinter mir hörte ich einen Vogel kreischen, vielleicht eine Krähe. Das klang fast, als rief jemand meinen Namen.

Ich blieb stehen und drehte mich um.

Und da war Kelly, die hinter den Bäumen hervorkam und auf mich zurannte.

Ich wollte ihr entgegenlaufen, beherrschte mich dann aber. Alles sollte ganz unaufgeregt wirken, obwohl das Herz mir bis zum Hals schlug.

Sie warf sich mir in die Arme und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Ich hielt sie auf Armeslänge von mir weg. »Warum bist du nicht unter den Bäumen gewesen?« fragte ich halb aufgebracht, halb erleichtert, denn ich wußte nicht, ob ich schimpfen oder sie an mich drücken sollte.

»Warum bist du nicht unter den Bäumen gewesen, wie ich’s gesagt habe?«

Sie starrte mich ungläubig an. »Weil man immer auf Abstand achtet, um aus dem Hintergrund beobachten zu können. Das weiß ich von dir!«

Ich griff nach ihrer Hand und sagte grinsend: »Schön, du hast recht.«

Wir gingen zufrieden lächelnd den Weg entlang. Kelly war völlig durchnäßt; ihr Haar klebte an ihrem Kopf.

Wir erreichten meinen Leihwagen und stiegen wortlos

ein.

Ich sah sie im Rückspiegel an. Wir wechselten einen Blick. Sie lächelte, und ich knurrte: »Anschnallen!«

Dann ließ ich den Motor an, und wir fuhren davon.