Wir gingen sämtliche Aufnahmen nochmals durch. Kelly erkannte sonst niemanden mehr.
Ich fragte Sabatino, ob es eine Möglichkeit gebe, die Photos klarer darzustellen.
»Wozu? Du scheinst doch alle Leute zu kennen.« Das stimmte, aber ich wollte, daß Kelly sich Daddys Boß genauer ansehen konnte.
Dann schwiegen wir ein paar Minuten, während wir uns einzelne Aufnahmen erneut ansahen.
»Was weißt du sonst noch über Gibraltar?« fragte ich.
»Nicht viel. Was willst du mehr wissen?« Er paffte längst seine zweite Zigarre, und Kelly wedelte die zu ihr hinübertreibenden Rauchschwaden weg. »Das Geschäft bietet sich an: Wer genug Geld hat, schließt einen Deal mit den Kolumbianern und schmuggelt den Stoff nach Europa. Das tun alle möglichen Gangsterbanden - warum also nicht auch eure irischen Jungs?«
Big Al betrachtete mich so gelassen, als seien wir auf etwas völlig Alltägliches gestoßen. Und ich mußte zugeben, daß das alles keine wirkliche Erklärung für den Mord an Kev und seiner Familie zu sein schien.
Mein Schweigen dauerte Sabatino zu lange; er mußte wieder etwas sagen. »Jedenfalls hat’s hier jemand eindeutig auf Erpressung abgesehen.«
Nicht unbedingt, überlegte ich mir. Vielleicht war das eine Art Rückversicherung für die PIRA. Wenn Kevs Boß oder ihre Partner in Gibraltar nicht mehr mitspielen wollten, konnten diese Aufnahmen dafür sorgen, daß sie
weitermachten.
Ich sah zu Kelly hinüber. »Tust du uns bitte einen Gefallen? Holst du uns ein paar Dosen Cola?«
Sie war sichtlich froh, aus dem Qualm herauszukommen. Ich ging mit ihr zur Tür und zog den Vorhang zurück, um die Getränkeautomaten sehen zu können. Der lange Balkon war leer; die Tür zum Zimmer der Jungs war geschlossen, aber Rapmusik wummerte weiter durch die papierdünnen Wände; drinnen gaben die Cheerleader vermutlich eine Sondervorstellung. Ich beobachtete Kelly, bis sie die Getränkeautomaten erreicht hatte; dann setzte ich mich auf die Bettkante. Big Al spielte weiter mit dem Laptop.
»Ich bin letzte Woche ins Haus ihrer Eltern gekommen«, berichtete ich. »Alle sind tot gewesen. Er ist bei der DEA gewesen und von Leuten umgebracht worden, die er gekannt hat.« Ich zeigte auf den Bildschirm. »Hier haben wir Daddys Boß im Gespräch mit Vertretern des Drogenkartells. Das läßt vermuten, daß es innerhalb der DEA Korruption gibt, die den Drogenschmuggel quer durch Florida zu irischen Terroristen betrifft, die den Stoff dann über Gibraltar nach Europa eingeschleust haben. Allerdings scheint es dabei Ende 1987 gewisse Probleme gegeben zu haben.«
Aber Sabatino hörte kaum richtig zu. Die Vorstellung, ein leitender DEA-Mitarbeiter könnte korrupt sein, nahm ihn sofort gefangen. »So ist’s richtig! Du enttarnst den Hurensohn hoffentlich?«
»Ich weiß noch nicht, was ich tun werde.«
»Scheiße, du mußt ihn enttarnen, Nicky! Ich hasse sämtliche Cops! Ich hasse die DEA! Ich hasse alle Scheißkerle, die mein Leben ruiniert haben. Ihretwegen muß ich wie ein gottverdammter Einsiedler leben. Das ganze Zeugenschutzprogramm des FBI kann mir gestohlen bleiben!«
Ich fürchtete, die gesamte Frustration der vergangenen fünf Jahre könnte sich jetzt entladen. Dafür hatte ich keine Zeit. »Frankie, ich brauche ein Auto.«
Aber er hörte mir nicht zu. »Sie haben mich ausgenutzt und dann weggeworfen wie einen .«
»Ich brauche ein Auto.«
Er kam langsam wieder auf die Erde zurück. »Okay, für wie lange?«
»Zwei Tage, vielleicht drei. Und ich brauche Geld.«
»Bis wann?«
»Sofort.«
Big Al war ein bißchen komisch und eine traurige Gestalt: zu weich und unbedarft, um sich in dieser Welt behaupten zu können. Trotzdem tat er mir leid. Mein unerwartetes Aufkreuzen war vermutlich das schönste Erlebnis, das er seit Jahren gehabt hatte. Ein Dasein ohne Freunde und in ständiger Angst vor einem Mordanschlag mußte beschissen sein. Aber auch mir stand ein solches Hundeleben bevor, wenn ich’s nicht schaffte, Simmonds dieses Zeug zu bringen.
Big Al benutzte unser Zimmertelefon, um einen Autoverleih anzurufen. Da der Wagen erst in ungefähr einer Stunde zugestellt werden würde, machten wir zu dritt einen kleinen Spaziergang zu einem Geldautomaten. Dort hob er 1200 Dollar von vier Konten ab. »Man weiß
nie, wann man mal auf die Schnelle mucho dinero braucht«, erklärte er mir grinsend. Vielleicht war er doch nicht so unbedarft.
Als wir wieder im Zimmer waren und auf den Leihwagen warteten, spürte ich, daß Big Al noch etwas auf dem Herzen hatte. In der vergangenen halben Stunde hatte er offenbar intensiv über etwas nachgedacht.
»Möchtest du etwas Geld verdienen, Nicky - richtig Geld?«
Ich war dabei, mich zu vergewissern, daß ich alles wieder eingepackt hatte.
»Womit? Willst du’s mir schenken?«
»Gewissermaßen.« Er kam heran und blieb neben mir stehen, während ich den Reißverschluß meiner Tasche zuzog. »Die Diskette enthält die Namen einiger Bankkonten, auf denen massenhaft Drogengeld liegt. Überlaß sie mir zwei Minuten, damit ich die Angaben kopieren kann, um diese Konten abräumen zu können. Diesen Scheiß beherrsche ich im Schlaf.« Er legte mir einen Arm um die Schultern. »Nick, nur zwei Minuten auf deinem Laptop, dann sind wir beide reich!« sagte er beschwörend. »Na, was hältst du davon?« Er starrte mich durchdringend an.
Ich ließ ihn noch etwas zappeln. »Wer garantiert mir, daß ich meine Hälfte wirklich bekomme?« Er wollte gleich wissen, welchen Anteil ich mir vorstellte.
»Ich kann dir das Geld überallhin überweisen. Und sei unbesorgt, sobald ich die Konten abgeräumt habe, weiß niemand, wohin das Geld verschwunden ist.«
Ich mußte unwillkürlich grinsen. Geldwäsche war natürlich Frank de Sabatinos Spezialität. »Komm schon, Nicky Two, was sagst du dazu?« Er breitete mit großer Geste seine Arme aus, als spiele er wieder einmal den Paten.
Ich ließ ihn den Laptop benutzen und schrieb ihm die Nummer des Bankkontos auf, auf das er meinen Anteil überweisen sollte. Scheiße, Kellys Ausbildung würde bestimmt eine Menge Geld kosten, und ich selbst wollte eine kleine Entschädigung für meinen jahrelangen Kampf gegen diese Leute. Die Aussicht, so zu Geld zu kommen, war erfreulich; außerdem war das Ganze eine rein geschäftliche Transaktion.
Big Al war jetzt mit der Arbeit fertig. Auf seinem Gesicht lag ein ernsthafter, konzentrierter Ausdruck. »Wohin wollt ihr von hier aus?« fragte er.
»Das sage ich dir lieber nicht. Leute, mit denen ich Kontakt gehabt habe, sind jetzt tot, und ich möchte nicht, daß dir auch etwas zustößt.«
»Red keinen Scheiß!« Er sah zu Kelly hinüber und zuckte mit den Schultern. »Ich soll’s bloß nicht wissen, damit ich euch nicht verraten kann.«
»Nein, das stimmt nicht«, behauptete ich, obwohl es natürlich stimmte. »Du weißt ohnehin, was ich täte, falls du mich verrätst oder >vergißt<, das Geld zu schicken.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
Ich sah ihn lächelnd an. »Ich würde dafür sorgen, daß die richtigen Leute deinen Aufenthaltsort erfahren.«
Big Al wurde sichtlich blaß; dann fing er sich wieder und grinste so breit wie nie zuvor. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin schon eine Weile nicht mehr im Geschäft, aber
ich merke, daß sich nichts verändert hat.«
Das Telefon klingelte. An der Rezeption stand ein blauer Nissan abholbereit. Sabatino unterschrieb für den Wagen und gab mir den für den Kunden bestimmten Durchschlag, damit ich den Nissan wieder abgeben konnte. Kelly und ich stiegen ein; Big Al blieb mit seinem Aktenkoffer auf dem Gehsteig stehen. Ich drückte auf eine Taste, um das Fahrerfenster herunterzulassen. Im Hintergrund wummerten noch immer Bässe.
»Hör zu, du kriegst ’ne E-Mail, damit du weißt, wo der Wagen abgeliefert worden ist, okay?«
Er nickte langsam. Allmählich dämmerte ihm, daß wir dabei waren, ihn zu verlassen.
»Soll ich dich irgendwo absetzen?«
»Nein, ich hab’ zu arbeiten. Vielleicht sind wir bis morgen früh reich.«
Wir gaben uns durchs offene Fenster die Hand. Sabatino lächelte Kelly zu und sagte: »Vergiß nicht, Onkel Al in ungefähr zehn Jahren zu besuchen, junge Dame. Dann spendier ich eine Portion Eiscreme!«
Wir fuhren langsam die Atlantic Avenue entlang. Selbst um diese Zeit herrschte noch dichter Verkehr. Die vielen Neonreklamen machten die Straßenbeleuchtung überflüssig.
Kelly saß hinten, blickte aus dem Fenster und starrte dann ins Leere, als hänge sie eigenen Gedanken nach. Ich erzählte ihr nicht, daß wir eine siebenhundert Meilen weite Autofahrt vor uns hatten.
Wenig später lag Daytona hinter uns, und wir befanden uns auf der zur Interstate führenden Fernstraße.
Unterwegs dachte ich wieder mal über Kevs Worte am Telefon nach: »Du wirst staunen, wenn du siehst, woran ich gerade arbeite. Deine Freunde jenseits des Wassers sind fleißig gewesen.« Und er hatte gesagt: »Ich bin gerade dabei, eine neue Sache ins Rollen zu bringen, und wüßte gern, was du davon hältst.« Hieß das, daß Kev mit seinem Boß gesprochen hatte? Hatte sein Boß ihn daraufhin zum Schweigen bringen lassen? Aber über einen Korruptionsverdacht hätte Kev bestimmt mit keinem Menschen bei der DEA gesprochen. Wen, zum Teufel, hatte er also angerufen?
Ich hatte wertvolle PIRA-Unterlagen erbeutet, die ich nur teilweise verstand, aber vielleicht hatte Kev mehr Material in der Hand gehabt. Je mehr Informationen ich zusammentragen konnte, desto besser war meine Verhandlungsposition in einem Gespräch mit Simmonds - deshalb war ich wieder nach Washington unterwegs.
Sobald wir auf der Interstate 95 waren, schaltete ich den Tempomaten ein und ließ mein Gehirn im Leerlauf arbeiten.
Wir fuhren durch die Nacht, und ich hielt nur, um zu tanken und mich mit Koffein zu dopen, damit ich nicht am Steuer einschlief. Ich kaufte ein paar Flaschen Cola, um meinen Koffeinspiegel zu halten und Kelly ein Getränk anbieten zu können, falls sie aufwachte.
Bei Tagesanbruch war zu erkennen, daß die Landschaft sich verändert hatte, was deutlich zeigte, daß wir nach Norden in ein gemäßigteres Klima unterwegs waren. Dann ging die Sonne als riesige feuerrote Kugel
halb rechts vor mir auf, und meine Augen begannen zu brennen.
Wir hielten an einer weiteren Tankstelle. Diesmal bewegte sich Kelly. »Wo sind wir?« fragte sie gähnend.
»Keine Ahnung.«
»Okay, wohin fahren wir?«
»Das ist eine Überraschung.«
»Erzähl mir von deiner Frau.«
»Das ist alles schon so lange her, daß ich mich kaum erinnern kann.«
Ich sah in den Rückspiegel. Kelly war wieder auf dem Sitz zusammengesunken, als sei sie zu müde, um das angeschnittene Thema zu verfolgen. Oder vielleicht litt sie unter tödlicher Langweile. Wer hätte ihr das verübeln können?
Ich wollte mich in Kevs Haus umsehen, um festzustellen, ob dort weiteres Material zu finden war - am besten noch heute in der Abenddämmerung. Ich wußte, daß es irgendwo in seinem Haus ein sicheres Versteck geben würde, aber wo es sich befand, würde ich selbst herausbekommen müssen. Anschließend wollte ich den Großraum Washington noch vor Tagesanbruch wieder verlassen. Frankie Sabatino ahnte noch nichts davon, aber er würde seinen fetten Hintern in Bewegung setzen und uns helfen müssen, die USA zu verlassen. Tat er das nicht freiwillig, würde ich mit einem Fußtritt nachhelfen.
Gegen neun Uhr war Kelly hellwach und las die Zeitschrift, die ich ihr beim letzten Tankstopp gekauft hatte. Sie lag ohne Schuhe auf dem Rücksitz und war ganz in ihre Lektüre vertieft. Wir hatten kaum miteinander geredet. Wir befanden uns in einer Welt aus leeren Bonbonpapieren, Kaffeebechern aus Styropor, Kräckerpackungen und Colaflaschen.
»Kelly?«
»Hmm?«
»Du kennst doch das Versteck, das Daddy bei euch für Aida und dich eingerichtet hat?«
»Yeah?«
»Nun, weißt du vielleicht auch, ob Daddy ein Versteck für wichtige Sachen wie Geld gehabt hat? Oder eines für Mommys Schmuck? Hat er ein besonderes Versteck für solche Dinge gehabt?«
»Ja, klar, Daddy hat ein spezielles Versteck.«
Ich gab vor, mit dem Tempomaten beschäftigt zu sein, während ich betont beiläufig fragte: »Oh, wo denn?«
»In seinem Arbeitszimmer.«
Das klang logisch. Aber das war auch der Raum, der gründlich durchsucht worden war.
»Und wo dort?«
»In der Wand.«
»Wo genau?«
»In der Wand! Ich hab’ einmal gesehen, wie Daddy dort etwas reingelegt hat. Die Tür ist offen gewesen, und Aida und ich sind eben aus der Schule heimgekommen und haben gesehen, wie er etwas reingelegt hat. Wir haben an der Tür gestanden, aber er hat uns nicht bemerkt.«
»Ist das Versteck hinter dem Bild?« fragte ich, obwohl Kev bestimmt nicht so dämlich gewesen war.
»Nein, hinter dem Holz.«
»Holz?«
»Hinter dem Holz.«
»Könntest du mir die Stelle zeigen?«
»Fahren wir dorthin?« Sie setzte sich ruckartig auf. »Ich will Jenny und Ricky!«
»Wir können sie leider nicht besuchen, wenn wir hinkommen, weil sie beschäftigt sein werden.«
Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Du weißt doch, daß das meine Teddybären sind! Sie sind oben in meinem Zimmer. Kann ich sie holen? Sie brauchen mich.«
Ich kam mir wie ein Vollidiot vor. »Natürlich kannst du das. Aber nur, wenn du dabei ganz leise bist.« Ich wußte, daß noch mehr kommen würde.
»Kann ich auch Melissa besuchen und ihr sagen, daß
es mir leid tut, daß ich nicht zu ihrer Party kommen konnte?«
»Dafür reicht die Zeit nicht.«
Sie zog einen Flunsch und ließ sich in den Sitz zurücksinken. »Aber du rufst wenigstens ihre Mommy an?« Ich nickte.
Gegen achtzehn Uhr waren wir auf der I-95 kurz vor der Ausfahrt Lorton. Es regnete ausnahmsweise nicht, aber der Himmel war wolkenverhangen. Nur noch ungefähr eine Dreiviertelstunde zu fahren.
Ich konnte Kelly nicht im Rückspiegel sehen. Sie war wieder auf dem Sitz zusammengesunken.
»Bist du wach?«
»Ahh, ich bin müde, Nick. Sind wir bald da?«
»Das verrate ich nicht. Es soll eine Überraschung werden. Du bleibst einfach unten, ja? Ich möchte nicht, daß dich jemand sieht.«
Schließlich erreichte ich das Neubaugebiet, fuhr den Hunting Bear Path entlang und überwand die Stolperschwellen bewußt übervorsichtig, um mich gründlich umsehen zu können. Alles wirkte ganz normal. Ich sah schon die Rückseite von Kevs Garage, aber die Vorderfront seines Hauses war noch nicht zu sehen.
Als ich daran vorbeifuhr, wurde endlich auch die Einfahrt sichtbar. Unmittelbar vor der Haustür parkte ein Streifenwagen. Kein Problem, einfach nach vorn sehen, in gleichmäßigem Tempo weiterfahren.
Als ich daran vorbei war, sah ich in den Rückspiegel. Das Standlicht brannte, und der Wagen war mit zwei
Uniformierten besetzt. Die beiden sollten dort nur Wache halten. Das Haus war noch nicht mit Brettern verschalt, aber weiter durch gelbes Trassierband abgesperrt.
Ich fuhr geradeaus weiter; ich konnte nicht erkennen, ob die Polizeibeamten mir nachsahen. Selbst wenn sie die Kennzeichen aller vorbeifahrenden Autos überprüften, spielte das keine Rolle. Sie würden nur auf Big Al stoßen. Falls ich bei dem Einbruchsversuch gestellt wurde, würde ich flüchten und Kelly hier zurücklassen. Vielleicht waren die uniformierten Beamten anständige Kerle, die sich um sie kümmern würden. Zumindest wäre das die einfachste Lösung gewesen, die mich jedoch in Gewissenskonflikte stürzte. Ich hatte Kelly versprochen, sie nicht zu verlassen; das Versprechen war vielleicht nicht viel wert, aber ich fühlte mich daran gebunden.
Ich fuhr bis ans Ende der Straße und bog rechts ab, um so rasch wie möglich außer Sichtweite zu kommen. Dann fuhr ich weit ausholend ein großes Quadrat ab, bis ich wieder hinter ihnen war. Dabei erreichte ich die Ansammlung kleiner Läden. Der Parkplatz war ungefähr zu einem Viertel voll, so daß wir parken konnten, ohne daß jemand auf uns achtete.
»Wir sind bei den Geschäften!« rief Kelly begeistert.
»Genau, aber wir können nichts kaufen, weil ich nicht mehr viel Geld habe. Aber wir können zu dir nach Hause.«
»Jaaa! Kann ich auch meine Pollypockets und Yakbacks aus meinem Zimmer holen?«
»Logisch kannst du das.« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete.
Ich ging nach hinten, öffnete den Kofferraum und holte die Reisetasche heraus. Dann machte ich Kellys Tür auf, stellte die Tasche auf den Rücksitz und beugte mich darüber.
»Gehen wir jetzt zu mir?«
Ich machte mich daran, ein paar Sachen bereitzulegen, die ich voraussichtlich brauchen würde.
»Ja. Ich möchte, daß du mir hilfst, indem du mir Daddys Versteck zeigst. Kannst du das? Es ist wichtig, weil er wollte, daß ich etwas für ihn überprüfe. Wir müssen uns reinschleichen, weil die Polizei vor dem Haus ist. Versprichst du mir, alles zu tun, was ich dir sage?«
»Ehrenwort! Darf ich Pocahontas auch mitnehmen?«
»Klar.«
Tatsächlich war mir das scheißegal; ich hätte zu allem ja und amen gesagt, solange sie mir Kevs Versteck zeigte.
»Fertig? Komm, setz deine Kapuze auf.« Unter dem wolkenverhangenen Himmel war es schon dunkel, und die Straße war zum Glück nicht besonders gut für Fußgänger ausgebaut. Wir mußten also nicht damit rechnen, unterwegs Melissa oder anderen Freundinnen von Kelly zu begegnen.
Ich hängte mir meine Tasche über die Schulter, nahm Kelly an der Hand und ging mit ihr los. Inzwischen war es kurz vor neunzehn Uhr, und die Straßenlampen brannten schon. Ich hatte vor, auf Umwegen zur Rückseite des Hauses zu gelangen, um es aus einiger Entfernung beobachten und mir in Ruhe überlegen zu
können, wie man am besten hineinkam.
Wir begannen das Baugelände in der Nähe der Rückseite des Hauses zu überqueren - vorbei an Chemietoiletten und Stapeln von Eisenträgern und Baumaterial. An manchen Stellen war der Schlamm so zäh, daß ich fürchtete, unsere Schuhe könnten darin steckenbleiben.
Kelly war vor Aufregung fast außer sich, obwohl sie tapfer versuchte, sich zu beherrschen. »Dort drüben wohnt meine Freundin Candice!« Sie zeigte auf eines der Häuser. »Ich habe ihr beim letzten Hausflohmarkt geholfen. Wir haben zwanzig Dollar bekommen.«
»Pssst!« sagte ich lächelnd. »Wir müssen jetzt ganz leise sein, sonst hören uns die Polizisten.« Kelly brauchte nicht lange, um das zu kapieren.
Schließlich standen wir im Schatten der Garage des benachbarten Hauses. Ich stellte die Reisetasche ab, um zu horchen und zu beobachten. Der Motor des Streifenwagens lief im Leerlauf. Die beiden Beamten waren keine zwanzig Meter von hier entfernt auf der anderen Seite des Zielobjekts postiert. Ich hörte mehrmals Funkverkehr, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Ab und zu kam ein Auto vorbei, bremste wegen der Stolperschwellen, ratterte darüber und beschleunigte dann wieder.
Auf der Rückseite von Kevs Haus gab es keinen mit Scheinwerfern gekoppelten Bewegungsmelder, sondern nur zwei Lampen, die sich mit zwei Lichtschaltern neben der Verandatür ein- und ausschalten ließen. Ich erinnerte mich daran, sie einmal beim Grillen angeknipst zu haben.
Ich bückte mich, zog langsam und lautlos den Reißverschluß der Tasche auf und nahm heraus, was ich brauchen würde. Dann brachte ich meinen Mund dicht an Kellys Ohr unter der Kapuze und flüsterte: »Du bleibst vorläufig hier, ja? Du mußt unsere Tasche gut bewachen. Mich siehst du dort drüben, okay?«
Sie nickte. Ich zog los.
Ich erreichte die zweiflüglige Verandatür. Alles der Reihe nach: erst feststellen, ob sie wirklich abgeschlossen war. Das war sie. Als nächstes hätte ich mich normalerweise nach einem Zweitschlüssel umgesehen - wozu sich mit Dietrichen abmühen, wenn vielleicht irgendwo ganz in der Nähe einer versteckt ist? Aber das hier war Kevs Haus; hier lag bestimmt kein Zweitschlüssel herum. Ich zog mir das riesige schwarze Tuch über Kopf und Schultern, nahm die Maglite zwischen die Zähne und machte mich mit dem Mehrzweckdietrich an die Arbeit. Sie dauerte nicht lange.
Ich öffnete lautlos die Verandatür, schob den Vorhang beiseite und konnte durch die Zwischentür ins Wohnzimmer sehen. Als erstes fiel mir auf, daß alle Jalousien heruntergelassen und alle Vorhänge zugezogen waren. Das war gut für uns, denn es bedeutete, daß wir Deckung finden würden, sobald wir drinnen waren. Als nächstes nahm ich einen fast umwerfend starken Chemikaliengeruch wahr.