Der Bus war ungefähr zur Hälfte mit Leuten besetzt, die volle Tragetüten bei sich hatten. Kelly hockte neben mir am Fenster. Ihr Samthut erwies sich als wirkungsvolle Verkleidung; er verbarg ihr daruntergestopftes Haar, und die breite Krempe verdeckte ihr Gesicht. Ich war mit mir zufrieden. Ich hatte sie vor Luther und seinen Spießgesellen gerettet. Ich hatte das Richtige getan.

Wir waren unterwegs nach Alexandria, das meines Wissens südlich von Washington, aber noch innerhalb der Ringautobahn lag, und wir fuhren dorthin, weil Alexandria als Fahrtziel des ersten Busses, der an der Haltestelle vorbeigekommen war, angegeben gewesen war.

Alle Fahrgäste waren mürrisch und naß, und die viele Feuchtigkeit schlug sich als Kondenswasser an den Busscheiben nieder. Ich lehnte mich über Kelly hinweg und wischte die Scheibe mit dem Ärmel ab, aber das half nicht viel. Ich sah wieder nach vorn, wo die Scheibenwischer mit Höchstgeschwindigkeit arbeiteten.

Als erstes brauchten wir ein Hotel, und wir mußten innerhalb der nächsten ein bis zwei Stunden eines finden, denn je länger ich die Hotelsuche hinausschob, desto ungewöhnlicher würde sie wirken.

»Nick?«

Ich sah sie lieber nicht an, denn ich wußte genau, was sie fragen würde.

»Ja?«

»Warum sind diese Männer hinter dir her? Hast du

etwas Unrechtes getan?«

Ich spürte, wie sie mich hinter ihrem Hut musterte.

»Ich weiß nicht mal, wer sie sind, Kelly. Ich habe keinen Schimmer.« Ohne den Blick von der

Windschutzscheibe zu nehmen, fragte ich: »Bist du hungrig?«

Aus dem Augenwinkel heraus sah ich sie nicken.

»Es dauert nicht mehr lange. Wohin willst du? McDonald’s? Wendy’s?«

Sie nickte bei beiden, dann murmelte sie etwas Unverständliches. Ich starrte weiter angestrengt nach vorn. »Was?«

»Micky D’s.«

»Micky D’s?«

»McDonald’s! Das weiß doch jeder!«

»Ah. Okay, da gehen wir hin.«

Ich hing wieder meinen Gedanken nach. Ab sofort konnte ich nur noch mit Bargeld bezahlen; ich mußte den schlimmsten Fall annehmen - daß wir durch meine Kreditkarte aufgespürt worden waren. Trotzdem würde ich London noch einmal anrufen. Tief in meinem Innersten vermutete ich, daß die Firma meine Personalakten inzwischen in den Reißwolf gesteckt hatte, aber was hatte ich schließlich zu verlieren?

Wir fuhren an einem Motel vorbei, das Roadies Inn hieß. Es schien für uns geeignet zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, aber das spielte keine Rolle. Das konnte ich auch später noch herausfinden. Ich zeigte dem Fahrer an, daß wir an der nächsten Haltestelle aussteigen wollten.

Als das Roadies Inn in den sechziger Jahren erbaut worden war, hatte es bestimmt luxuriös ausgesehen. Jetzt wirkte sogar der Rasen vor dem Gebäude ausgebleicht, und in der roten Leuchtschrift ZIMMER FREI flackerten die Buchstaben Z und R. Genau richtig für uns.

Ich warf einen Blick durch die Fliegengittertür des Haupteingangs. Eine junge Frau Mitte Zwanzig saß rauchend an der Rezeption und hatte den Fernseher an der gegenüberliegenden Wand eingeschaltet. Ich konnte nur hoffen, daß wir nicht die Stars der Abendnachrichten gewesen waren. Im Büro hinter der Rezeption sah ich einen kahlköpfigen, übergewichtigen Mann, den ich auf Ende Fünfzig schätzte, an einem Schreibtisch sitzen und arbeiten.

»Ich möchte, daß du hier wartest, Kelly.« Ich deutete auf die Außenwand des Motels, wo im ersten Stock quer über die Gebäudefront ein Balkon verlief.

Das gefiel ihr nicht.

»Ich brauche nicht lange«, sagte ich und näherte mich rückwärtsgehend dem Eingang. »Bleib einfach hier, ich bin gleich wieder da.« Jetzt hatte ich den Eingang erreicht. Ich zeigte auf sie, als sei sie ein junger Hund, den ich erziehen wollte. »Du bleibst hier, okay?«

Die junge Frau an der Rezeption trug Jeans und ein TShirt. Sie hatte die blondesten Haare, die ich je gesehen hatte - bis auf die Wurzeln. Sie sah vom Fernseher weg zu mir herüber und fragte automatisch: »Hallo, was kann ich für Sie tun?«

»Ich bräuchte ein Zimmer für drei oder vier Nächte.«

»Klar, für wie viele?«

»Zwei Erwachsene und ein Kind.«

»Klar, Augenblick.« Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger das Zimmerverzeichnis entlang.

Im Fernsehen liefen Nachrichten. Ich drehte mich um und sah sie mir an, aber der Mordfall Brown wurde mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht besaß er schon keinen Nachrichtenwert mehr. Ich hoffte es jedenfalls.

»Kann ich einen Abdruck von Ihrer Karte machen?«

Ich verzog das Gesicht. »Ah, da gibt’s ein kleines Problem. Wir machen hier Urlaub, wissen Sie, und man hat uns aus unserem Mietwagen die Koffer gestohlen. Wir sind schon bei der Polizei gewesen, und ich warte auf die Ersatzkarten, aber im Augenblick kann ich nur bar bezahlen. Ich weiß, daß Sie einen Abdruck von meiner Kreditkarte machen müßten, aber vielleicht könnte ich im voraus zahlen, und Sie stellen das Telefon in unserem Zimmer vorläufig ab?«

Die Blondine begann zu nicken, aber aus ihrem Gesichtsausdruck sprach noch immer nicht das richtige Mitgefühl.

»Wir sitzen wirklich in der Klemme.« Ich spielte den deprimierten ausländischen Touristen. »Wir müssen morgen zum britischen Konsulat fahren und die Sache mit unseren Reisepässen regeln.« Ich zog ein Bündel Dollarscheine aus der Tasche.

Es schien einige Zeit zu dauern, bis sie das alles begriff. »Tut mir echt leid, das zu hören.« Sie machte eine Pause, als warte sie darauf, daß in ihrem Gehirn weitere Chemikalien reagierten. »Augenblick, ich hole den Manager.«

Sie ging nach hinten ins Büro, und ich beobachtete, wie sie mit dem Glatzkopf am Schreibtisch sprach. Aus der Körpersprache der beiden schloß ich, daß er ihr Vater war. Ich fühlte, wie mir ein Schweißtropfen das Rückgrat entlang hinunterlief. Falls sie uns ein Zimmer verweigerten, waren wir vielleicht meilenweit vom nächsten Motel entfernt gestrandet und mußten uns ein Taxi bestellen, was bedeutete, daß wir leichter aufzuspüren waren.

Beeilt euch! Ich drehte mich um und warf einen Blick nach draußen, ohne Kelly jedoch sehen zu können. Scheiße, hoffentlich kam im nächsten Augenblick nicht Mr. Honest Citizen hereingestürmt und verlangte zu wissen, wer dieses arme kleine Mädchen draußen im Regen zurückgelassen hatte. Ich ging rasch zum Ausgang und streckte den Kopf ins Freie. Kelly stand ganz brav an der Stelle, die ich ihr gezeigt hatte.

Als ich an die Rezeption zurückkam, trat eben Dad aus seinem Büro. Die Blondine war am Telefon und nahm eine Zimmerbestellung entgegen.

»Ich habe nur nachgesehen, ob unser Wagen nicht die Durchfahrt blockiert.« Ich grinste freundlich.

»Wie ich höre, haben Sie ein Problem?« Dad lächelte freundlich, aber etwas vage. Ich wußte, daß er uns keine Schwierigkeiten machen würde.

»Ja«, seufzte ich, »wir sind bei der Polizei gewesen und haben die Kartengesellschaften angerufen. Jetzt müssen wir abwarten, bis die neuen Kreditkarten kommen. Bis dahin habe ich nur Bargeld. Ich bin gern bereit, für drei Tage im voraus zu zahlen.«

»Das ist kein Problem.«

Bestimmt nicht. Unsere kleine Bargeldtransaktion würde garantiert nicht in seinen Büchern auftauchen. Dad war vielleicht etwas schwer von Begriff, aber in Gelddingen offenbar hellwach.

Er lächelte. »Wir lassen Ihr Telefon eingeschaltet.«

Ich spielte den erleichterten Touristen, trug mich ein und bekam den Zimmerschlüssel. Dann stiegen Kelly und ich über die Außentreppe aus Stahlbeton in den ersten Stock hinauf.

Kelly zögerte vor der Zimmertür, sah zu mir auf und sagte: »Nick, ich möchte zu Mommy. Wann darf ich wieder heim?«

Scheiße, nicht schon wieder! Ich wünschte mir nichts mehr, als sie zu Mommy zurückbringen zu können. Damit hätte ich mir ein großes Problem vom Hals geschafft. »Bald, Kelly«, antwortete ich. »Ich hole uns gleich was zu essen, okay?«

»Okay.«

Ich legte mich aufs Bett und dachte über meine Prioritäten nach.

»Nick?«

»Ja?« Ich starrte die Zimmerdecke an.

»Darf ich fernsehen?«

Gott sei Dank!

Ich griff nach der Fernbedienung und suchte rasch die Kanäle ab, um sicherzustellen, daß sie keine Nachrichten erwischte, in denen wir vorkamen. Ich fand Nickelodeon und blieb dabei.

Ich war zu einem Entschluß gelangt. »Ich gehe jetzt los und kaufe uns etwas zu essen«, sagte ich, während ich an die einzige Option dachte, die mir noch offenstand. »Du bleibst inzwischen hier, okay? Ich hänge das Schild Bitte nicht stören draußen an die Tür, und du machst niemandem auf. Hast du verstanden?«

Sie nickte.

Die Telefonzelle stand neben einem koreanischen Lebensmittelgeschäft. Es nieselte noch immer. Ich konnte die Rollgeräusche von Autoreifen auf dem nassen Asphalt hören, als ich die Straße überquerte.

Ich warf mehrere Quarter ein und wählte.

»Britische Botschaft, guten Abend«, sagte eine Frauenstimme. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte bitte den Militärattache sprechen.«

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Nick Stamford.« Scheiße, ich hatte schließlich nichts zu verlieren.

»Danke. Augenblick, bitte.«

Wenige Sekunden später fragte eine energische Männerstimme: »Stamford?«

»Ja.«

»Warten Sie.«

Ich hörte einen pfeifenden Dauerton und glaubte schon, ich sei wieder abgeschnitten worden. Aber als ich eben einhängen wollte, hörte ich plötzlich Simmonds’ Stimme. Mein Anruf mußte nach London weitervermittelt worden sein. Gelassen wie immer sagte er: »Sie scheinen gewisse Schwierigkeiten zu haben.«

»Schwierigkeiten ist nicht das richtige Wort dafür.«

Ich berichtete in verschleierter Sprache, was seit

meinem letzten Anruf passiert war.

Simmonds ließ mich ausreden, ohne mich zu unterbrechen. »An sich kann ich nicht allzuviel tun«, sagte er dann. »Sie verstehen natürlich, in welcher Lage ich mich befinde?« Ich merkte, daß er stinksauer auf mich war. »Sie sind angewiesen worden, sofort zurückzukommen. Sie haben diesen Befehl nicht ausgeführt. Sie hätten Ihren Freund nicht besuchen dürfen, das wissen Sie.« Seine Stimme klang weiter cool, aber ich wußte, daß er innerlich kochte.

Ich konnte mir vorstellen, wie er in seinem verknitterten Hemd und der ausgebeulten Cordsamthose an seinem Schreibtisch saß, auf dem neben einem gerahmten Familienphoto ein Stapel brandheißer Faxe aus Washington lag, die dringend bearbeitet werden mußten.

»Das ist nichts im Vergleich zu der Situation, in die ich Sie bringen kann«, stellte ich fest. »Ich habe Material, das Ihren ganzen Laden bloßstellen kann. Und Sie können sich darauf verlassen, daß ich Journalisten finde, die sich dafür interessieren. Ich bluffe nicht. Ich brauche Hilfe, um aus dieser Scheiße rauszukommen, und ich brauche sie sofort.«

Am anderen Ende entstand eine Pause, als warte ein geduldiger Vater das Ende des Wutanfalls seines Kindes ab.

»Ihre Position ist ziemlich schwierig, fürchte ich«, sagte er dann. »Ich kann nichts für Sie tun, bevor Sie irgendeinen Beweis dafür beibringen, daß Sie nicht in diese Sache verwickelt sind. Ich schlage vor, daß Sie herauszubekommen versuchen, was genau passiert ist. Dann können wir darüber reden, und ich kann Ihnen vielleicht helfen. Was halten Sie von meinem Vorschlag? Sie können auch Ihre Drohung wahrmachen, aber davon möchte ich Ihnen abraten.«

Ich spürte, wie meine Magennerven sich verkrampften. Unabhängig davon, ob sie mir diesmal halfen oder es darauf ankommen ließen, ob ich nur geblufft hatte, würde ich den Rest meines Lebens auf der Flucht sein. Die Firma mag es nicht, erpreßt zu werden.

»Mir bleibt praktisch nichts anderes übrig, nicht wahr?«

»Ich freue mich, daß Sie das einsehen. Bringen Sie mir, was Sie finden.«

Am anderen Ende wurde aufgelegt.

Während mein Verstand auf Hochtouren arbeitete, betrat ich das koreanische Geschäft. Ich kaufte ein Haartönungsmittel, das sich angeblich mit zwölf Wäschen entfernen ließ, und einen Haarschneider. Außerdem kaufte ich Toilettenartikel und Rasierzeug, weil wir in Washington nicht wie zwei Landstreicher herumlaufen durften. Dann füllte ich meinen Einkaufskorb mit Coladosen aus dem Kühlschrank und legte Äpfel und Süßigkeiten dazu.

Ich konnte keinen Micky D’s finden und landete schließlich in einem Burger King. Ich kaufte zwei MegaDeals, mit denen ich ins Motel zurückging.

Ich klopfte an die Zimmertür, als ich sie aufsperrte. »Rate mal, was ich mitgebracht habe? Hamburger, Fritten, Apfelkuchen, heiße Schokolade .«

An der Wand neben dem Fenster stand ein kleiner Rundtisch. Die Tragetaschen flogen aufs Bett, und ich warf die Hamburger schwungvoll wie ein heimgekehrter Jäger auf den Tisch. Nachdem ich die Papiertüten aufgerissen hatte, um ein Tischtuch zu haben, kippte ich die Fritten aus und riß die Saucen auf, bevor wir uns beide über das Essen hermachten. Kelly war anscheinend völlig ausgehungert.

Ich wartete, bis sie den Mund richtig voll hatte. »Hör zu, Kelly, du weißt doch, wie große Mädchen dauernd ihr Haar färben und daran herumschneiden und alles mögliche damit anstellen? Ich dachte, du würdest es auch mal versuchen wollen.«

Kelly nahm meinen Vorschlag gleichmütig auf.

»Welche Farbe würde dir denn gefallen - ein schönes Dunkelbraun?«

Sie zuckte mit den Schultern.

Ich wollte das Ganze hinter mich bringen, bevor Kelly allzuviel von dem verstand, was wirklich vorging. Sobald sie ihren heißen Apfelkuchen aufgegessen hatte, führte ich sie ins Bad und ließ sie Bluse und Unterhemd ausziehen. Ich prüfte die Wassertemperatur, ließ Kelly sich über die Wanne beugen, machte rasch ihr Haar naß, frottierte es trocken und bürstete es aus. Dann versuchte ich mein Glück mit dem Haarschneider. Nach einiger Zeit merkte ich, daß das Ding eigentlich ein Bartschneider war, und bis ich begriffen hatte, wie man damit umging, sah ihre Frisur beschissen aus. Je länger ich diesen verunglückten Schnitt zu korrigieren versuchte, desto kürzer wurde er. Kelly sah bald wie ein

Junge aus.

Während ich die Gebrauchsanleitung auf der Flasche mit dem Haartönungsmittel studierte, fragte sie: »Nick?«

Ich las noch immer die Gebrauchsanweisung, um diesmal wirklich alles richtig zu machen.

»Was?«

»Kennst du die Männer, die dich verfolgt haben?«

Solche Fragen hätte ich stellen müssen.

»Nein, ich kenne sie nicht, Kelly, aber ich kriege raus, wer sie sind.« Ich dachte darüber nach und stellte die Flasche mit dem Haartönungsmittel beiseite. Ich stand hinter ihr, so daß unsere Blicke sich im Badezimmerspiegel trafen. Ihre Augen waren jetzt nicht mehr so stark gerötet. Im Gegensatz zu ihren wirkten meine um so dunkler und müder. Ich erwiderte ihren Blick eine Zeitlang. Schließlich fragte ich: »Kelly, warum bist du in dein Versteck gegangen?«

Sie gab keine Antwort. Ihr Blick sagte mir, daß sie meine Fähigkeiten als Damenfriseur anzuzweifeln begann.

»Hat Daddy >Disneyland< gerufen?«

»Nein.«

»Warum hast du dich dann versteckt?« Diese Fragerei setzte mir so zu, daß ich Ablenkung brauchte. Ich schraubte die Flasche auf.

»Wegen des Lärms.«

Ich machte mich daran, das Haartönungsmittel mit einem Kamm zu verteilen.

»Oh, was für ein Lärm ist das gewesen?«

Sie sah mich im Spiegel an. »Ich bin in der Küche gewesen, aber ich habe im Wohnzimmer furchtbaren Lärm gehört. Ich habe mich hingeschlichen und nachgesehen.«

»Was hast du gesehen?«

»Daddy hat die Männer angebrüllt, und sie haben ihn geschlagen.«

»Haben sie dich gesehen?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin nicht reingegangen. Ich wollte Mommy rufen, damit sie kommt und Daddy hilft.«

»Und was hast du getan?«

Sie senkte den Blick. »Ich konnte ihm nicht helfen, ich bin zu klein.« Als sie nun wieder aufsah, brannte ihr Gesicht vor Scham. Ihre Unterlippe begann zu zittern. »Ich bin in unser Versteck gelaufen. Ich wollte zu Mommy, aber sie ist mit Aida oben gewesen, und Daddy hat die Männer angebrüllt.«

»Du bist zum Versteck gelaufen?«

»Ja.«

»Und du bist dortgeblieben?«

»Ja.«

»Ist Mommy gekommen und hat dich gerufen?«

»Nein. Du hast mich gerufen.«

»Du hast Mommy und Aida also nicht gesehen?«

»Nein.«

Vor meinem inneren Auge stand das Bild der beiden Leichen im ersten Stock.

Ich schloß sie in die Arme, als sie zu schluchzen begann. »Kelly, du hättest Daddy nicht helfen können. Die Männer sind zu groß und stark gewesen. Wahrscheinlich hätte nicht mal ich ihm helfen können,

obwohl ich ein Erwachsener bin. Du kannst nichts dafür, daß sie Daddy weh getan haben. Aber es geht ihm schon wieder besser, und ich soll mich um dich kümmern, bis er sich wieder ganz erholt hat. Mommy und Aida haben ihn begleiten müssen. Sie haben einfach keine Zeit gehabt, dich zu holen.«

Ich ließ sie ein bißchen weinen, dann fragte ich: »Hast du einen der Männer gesehen, die uns heute verfolgt haben?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Haben die Männer, die bei Daddy gewesen sind, Anzüge angehabt?«

»Ich glaube schon, aber sie haben darüber so Maldinger getragen.«

Ich erriet, was sie meinte. »Etwas, das Daddy tragen würde, wenn er dein Zimmer streicht?«

Sie nickte.

»Sie haben also Anzüge getragen, aber diese Maldinger darüber angehabt?«

Sie nickte erneut.

Ich hatte es geahnt; diese Jungs waren gut, sie waren Profis. Sie hatten keine häßlichen roten Flecken auf ihre schönen Anzüge bekommen wollen.

Ich fragte sie, wie viele Männer im Wohnzimmer gewesen waren und wie sie ausgesehen hatten. Kelly reagierte verwirrt und ängstlich. Ihre Lippe begann wieder zu zittern. »Darf ich bald wieder heim?« Sie kämpfte gegen Tränen an.

»Ja, sehr bald, sehr bald. Wenn Daddy sich erholt hat. Bis dahin kümmere ich mich um dich. Also los, Kelly,

wir probieren aus, wie du als großes Mädchen aussiehst.«

Nachdem das Tönungsmittel seine Wirkung getan hatte und herausgewaschen war, ließ ich Kelly ihre neuen Sachen anziehen. Falls wir flüchten mußten, mußte sie angezogen sein, deshalb sagte ich ihr, sie dürfe außer Hut, Mantel und Schuhen nichts ausziehen.

Sie inspizierte ihr Spiegelbild. Die neuen Klamotten waren viel zu groß, und ihre Frisur war ... nun, Kelly betrachtete sie jedenfalls zweifelnd.

Wir sahen uns gemeinsam Nickelodeon an, bis sie nach einiger Zeit einschlief. Ich lag neben ihr, starrte die Zimmerdecke an und überlegte, welche Möglichkeiten mir noch offenstanden - oder versuchte mir einzureden, es gäbe welche.

Was war mit Slack Pat? Er würde mir bestimmt helfen, falls er konnte, wenn er sich nicht in einen drogenabhängigen New-Age-Hippie verwandelt hatte. Aber die einzige Möglichkeit, mit ihm Verbindung aufzunehmen, war das Restaurant, von dem er immer geschwärmt hatte. Seiner Schilderung nach hatte er praktisch darin gelebt. Das Problem war jedoch, daß mir der Name dieses Restaurants im Moment nicht einfiel; ich wußte nur noch, daß es auf einem Hügel am Rande von Georgetown stand.

Was war mit Euan? Auf ihn durfte ich nicht hoffen, denn er war noch in Ulster im Einsatz, und ich konnte ihn erst wieder erreichen, wenn er zurück in England war.

Ich sah zu Kelly hinüber. So würde sie in nächster Zukunft ständig leben müssen: immer angezogen, jeden Augenblick zur Flucht bereit. Ich legte die Steppdecke über sie.

Nachdem ich unsere Abfälle in den Papierkorb geworfen hatte, überzeugte ich mich davon, daß das Schild noch außen an der Tür hing und Kellys Schuhe in ihren Manteltaschen steckten. Danach überprüfte ich meine beiden Waffen - die 9-mm-Pistole in Kevs Jacke und die Sig in meinem Hosenbund. Natürlich würden morgen alle Zeitungen Kellys Photo bringen, aber falls die Sache kritisch wurde, waren wir wenigstens fluchtbereit. Ich kannte meine Fluchtroute und würde nicht zögern, mir den Weg freizuschießen.

Ich holte meine neuen Kleidungsstücke aus der Tragetasche und nahm sie mit ins Bad. Nachdem ich mich rasiert hatte, zog ich mich aus. Ich stank, denn Kevs Sachen waren innen voller Blut. Schweiß hatte es verdünnt, so daß es sich über Rücken und Schultern seines Hemds und die Beine seiner Jeans ausgebreitet hatte. Ich stopfte alles in einen Plastikwäschesack, den ich morgen früh wegwerfen würde. Als nächstes nahm ich eine lange heiße Dusche und wusch mir die Haare. Dann zog ich mich an, vergewisserte mich, daß die Tür abgesperrt war, und streckte mich neben Kelly aus.

Als ich gegen halb sechs Uhr aufwachte, hatte ich eine grausige Nacht hinter mir. Ich wußte nicht einmal sicher, ob ich all die furchtbaren Sachen nur geträumt hatte.

Ich dachte wieder über Geld nach. Meine Kreditkarten durfte ich auf keinen Fall benutzen, denn ich mußte annehmen, daß sie gesperrt waren oder dazu dienen konnten, uns aufzuspüren. Also konnte ich überall nur bar zahlen - heutzutage in den USA gar nicht einfach. Falls es mir gelang, Pat ausfindig zu machen, würde er mir mit Geld aushelfen, aber ich wußte, daß ich jede Gelegenheit würde nutzen müssen, um anderswo an Geld heranzukommen. Kelly schnarchte laut. Ich steckte unsere Schlüsselkarte ein, schloß leise die Tür hinter mir, überzeugte mich davon, daß das Schild am Türknopf hing, und machte mich auf die Suche nach einem Feuerlöscher.

Als ich an der offenen Tür der Besenkammer vorbeikam, sah ich in einem Regalfach ein halbes Dutzend keilförmiger Türstopper liegen. Ich steckte zwei davon ein.

Einen Feuerlöscher fand ich an der Wand neben dem Aufzug. Ich schraubte rasch den Deckel ab und zog die Kohlensäurepatrone heraus - einen zwanzig Zentimeter langen schwarzen Stahlzylinder. Ich verstaute ihn in der Innentasche von Kevs Jacke und ging ins Zimmer zurück.

Ich steckte die drei Reservemagazine für die Sig Kaliber 45 in die linke Jackentasche und beschloß, die USP im Zimmer zu behalten. Ein gutes Versteck war der Spülkasten der Toilette. Eine Schußwaffe kann es vertragen, für kurze Zeit im Wasser zu liegen. Ich wollte nur vermeiden, daß Kelly sie fand und anfing, sich selbst zu durchlöchern.

Ich döste noch etwas, schrak auf und döste erneut. Um sieben Uhr langweilte ich mich und hatte Hunger. Mit dem Zimmer hatte ich auch das Frühstück bezahlt, aber um es zu bekommen, würde ich zur Rezeption hinuntergehen müssen.

Kelly fing an, sich zu bewegen. »Guten Morgen«, sagte ich. »Möchtest du frühstücken?«

Sie gähnte herzhaft, setzte sich auf und sah wie eine Vogelscheuche aus, weil sie mit noch feuchtem Haar eingeschlafen war. Ich stellte sofort den Fernseher für sie an, weil ich nicht wußte, worüber ich mit ihr reden sollte.

Sie blickte an sich hinab, als überlege sie, wie sie vollständig angezogen ins Bett gekommen war.

»Du bist eingeschlafen«, erklärte ich ihr lachend. »Ich habe dich gestern abend nicht mal mehr ausziehen können. Hey, das ist wie ein Campingausflug, nicht wahr?«

Das gefiel ihr offenbar. »Yeah«, sagte sie lächelnd, noch immer verschlafen.

»Soll ich runtergehen und dir ein Frühstück holen?«

Sie nickte nicht mir, sondern dem Fernseher zu.

»Denk daran, so geht’s jedesmal: Du darfst auf keinen Fall die Tür öffnen. Wenn ich zurückkomme, sperre ich sie von außen auf. Du darfst nicht mal den Vorhang aufziehen, weil die Zimmermädchen sonst glauben, daß sie reinkommen können, aber wir wollen mit niemandem reden, nicht wahr? Ich lasse das Schild Bitte nicht stören draußen, okay?«

Sie nickte wieder, aber ich wußte nicht, wieviel sie davon verstanden hatte. Ich nahm das Tablett für den Eiskübel mit, setzte meine Brille auf und ging zur Rezeption hinunter.

Der Frühstücksbereich war schon gut besetzt: von Leuten mit Wohnmobilen, die es zu unbequem fanden, in ihnen zu schlafen, und adretten, nach Rasierwasser duftenden Vertretern, die alle den Abschnitt »Gutes Aussehen zählt« ihres Handbuchs verinnerlicht hatten.

Das Frühstücksbüfett war auf zwei oder drei Tischen neben der Kaffeemaschine unter dem Fernseher angerichtet. Ich nahm drei Tüten Cornflakes, Bagels, Muffins, ein paar Äpfel, zwei Tassen Kaffee und einen

Orangensaft.

Die blonde Frau von der Rezeption, deren Nachtschicht gerade zu Ende gegangen war, kam zu mir herüber. »Hoffentlich klappt alles mit Ihren Pässen und so«, sagte sie lächelnd.

»Oh, das glaube ich bestimmt. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, einen schönen Urlaub zu haben.«

»Falls Sie Hilfe brauchen, stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung.«

»Danke.« Ich ging zur Theke hinüber und nahm ein Exemplar der dort kostenlos ausliegenden Zeitung USA Today mit. Außerdem steckte ich ein Zündholzbriefchen mit dem Werbeaufdruck Roadies Inn aus einer Glasschale ein, nahm eine Büroklammer aus einem Aschenbecher mit Gummibändern und Büroklammern und ging in unser Zimmer zurück.

Wenige Minuten später kaute Kelly ihre Cornflakes und verfolgte dabei begeistert Nickelodeon.

»Paß auf, ich muß für ungefähr eine Stunde weg«, erklärte ich ihr. »Ich habe ein paar Dinge zu erledigen. Ich möchte, daß du gewaschen und angezogen bist und dir die Haare gebürstet hast, wenn ich zurückkomme. Glaubst du, daß du hier allein zurechtkommst, nachdem du jetzt eine Frisur wie ein großes Mädchen hast?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Klar doch.«

»Was sind deine Lieblingsfarben?«

»Meine Lieblingsfarben sind Rosa und Blau.«

»Okay, Rosa hast du schon.« Ich deutete auf den aufgehängten Mantel, in dessen Taschen Kellys Schuhe steckten. Das war ein glücklicher Zufall gewesen. »Jetzt muß ich dir noch was Blaues kaufen.«

Ich putzte meine Brille rasch mit Toilettenpapier, steckte sie im Etui in Kevs Jacke, zog meinen schwarzen Nylonmantel darüber und vergewisserte mich, daß ich den Zylinder aus dem Feuerlöscher eingesteckt hatte. Das Kleingeld aus meinen Taschen ließ ich auf dem Nachttisch zurück; ich wollte mich so lautlos wie möglich bewegen können und konnte Ballast in den Taschen ohnehin nicht leiden.

Ich hielt meine Baseballmütze in der Hand und war abmarschbereit.

»Ich bleibe nicht lange. Denk daran, daß du niemanden reinlassen darfst. Ich bin wieder da, ehe du dich’s versiehst.«

Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war noch immer bleigrau und das Erdreich naß. Auf der Straße kroch eine endlose Autoschlange in Richtung Washington, D.C. Um diese Tageszeit waren sogar auf den Gehsteigen viele Menschen unterwegs.

Ich ging rasch, um mit den Büroangestellten - alle mit ihrem tatkräftigsten Morgengesicht - Schritt zu halten, und sah mich dabei nach einer Gelegenheit um, schnell zu Geld zu kommen und wieder im Motel zu sein, bevor Kelly wegen meiner Abwesenheit in Panik geriet.

Für eine Einkaufspassage war es zu früh, weil die Läden alle erst gegen zehn Uhr aufmachten, und hier gab es praktisch keine Hotels - die kamen erst in Richtung Stadtmitte. Ich ging an einigen Schnellrestaurants vorbei, die aber normalerweise nur einen einzigen Ein- und

Ausgang und zuviel Publikumsverkehr auf den Toiletten hatten, was sie für meinen Zweck ungeeignet erscheinen ließ. Eine Tankstelle wäre ideal gewesen, falls sie eine Außentoilette hatte, deren Schlüssel man sich an der Kasse holen mußte.

Ich war seit etwa zwanzig Minuten unterwegs. Dabei war ich an einigen Tankstellen vorbeigekommen, in denen reger Betrieb herrschte, aber sie waren alle so modern, daß sie Innentoiletten hatten.

Schließlich fand ich die richtige Tankstelle mit einer Außentoilette, an deren Tür ein Schild Schlüssel an der Kasse hing.

Jetzt brauchte ich nur noch zweierlei: eine Stelle, von der aus ich die Toilettentür beobachten konnte, ohne Verdacht zu erregen, und eine gute Fluchtroute. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite sah ich mehrere Anwaltskanzleien, Kreditvermittlungen und

Versicherungsbüros in alleinstehenden Klinkerhäusern aus den dreißiger Jahren, zwischen denen Fußwege die Verbindung zur nächsten Parallelstraße herstellten. Ich überquerte die Straße, folgte einem dieser Fußwege, erreichte die nächste Straße, bog zweimal links ab und kam auf die Straße gegenüber der Tankstelle zurück. Das ganze Gebiet auf dieser Straßenseite bildete ein Labyrinth aus Verbindungswegen, die für meinen Zweck ideal geeignet waren.

Etwa fünfzig Meter entfernt sah ich das Wartehäuschen einer Bushaltestelle, in dem schon zwei oder drei Passagiere standen. Ich schlenderte dorthin. Die Zahl der Wartenden vermehrte sich langsam; dann kam ein Bus, und wir waren wieder nur zu dritt. Ich las den Richtungsanzeiger jedes ankommenden Busses, machte ein Gesicht, als ärgerte ich mich, weil es nicht meiner war, und beobachtete wieder die Tankstelle auf der anderen Straßenseite.

Heutzutage haben die meisten Leute nicht mehr viel Geld in der Tasche, vor allem nicht hier im Land der Kreditkarte. Die idealen Opfer sind immer Touristen - sie haben meistens Bargeld und Reiseschecks bei sich -, aber in dieser Gegend würden keine unterwegs sein.

In der vergangenen halben Stunde hatten ungefähr zehn Leute getankt, aber leider hatte keiner von ihnen ein dringendes Bedürfnis verspürt. Ich dachte an Kelly; ich konnte nur hoffen, daß sie sich an meine Anweisungen hielt.

Dann fuhr ein Weißer, Anfang Zwanzig, mit einem neuen Camaro in die Tankstelle ein. Er trug einen sackartigen Overall in Rot, Blau, Grün, Orange und einem halben Dutzend weiterer Farben und dazu fast ebenso farbenprächtige Basketballstiefel. Sein Haar war an den Seiten abrasiert, während der Rest senkrecht nach oben stand. Aus dem Sound-System seines Sportwagens wummerten Bässe, die noch auf der anderen Straßenseite zu hören waren.

Er tankte voll und ging hinein, um zu zahlen. Als er wieder herauskam, hielt er einen Holzklotz als Schlüsselanhänger in der Hand, mit dem er in Richtung Toilette ging. Damit war er mein Mann.

Ich trat aus dem Wartehäuschen, schlug meinen Mantelkragen hoch und überquerte die Straße. Er steckte seine Geldbörse in die rechte Brusttasche seines Overalls und zog den Reißverschluß zu. Ich hatte mir die Überwachungskameras der Tankstelle bereits angesehen und wußte, daß ich von ihnen nichts zu befürchten hatte: Sie waren auf die Zapfsäulen gerichtet, um Kunden zu erfassen, die ohne zu zahlen wegfuhren, nicht auf die Giebelseite der Tankstelle, um Klopapierdiebe zu schnappen.

Als ich das Wartehäuschen verließ und die Straße überquerte, war ich ein Mann, der dringend auf die Toilette mußte - selbst auf das Risiko hin, daß in dieser Zeit sein Bus wegfuhr. Daß einer der Wartenden auf mich achtete, war eher unwahrscheinlich; wer morgens auf den Bus wartete, machte sich Gedanken über den bevorstehenden Arbeitstag oder seine Hypothek, die Kids oder den plötzlichen Migräneanfall, den seine Frau gestern abend gehabt hatte. Kein Mensch würde auf einen Mann achten, der eine Straße überquerte, um auf die Toilette zu gehen. Ich steuerte zielsicher darauf zu und ging hinein.

Der Raum war etwa dreieinhalb mal dreieinhalb Meter groß, ziemlich sauber und roch durchdringend nach irgendeinem Desinfektionsmittel. Vor mir hatte ich zwei Urinale, ein Waschbecken und einen an der Wand montierten Spender für Papierhandtücher. Mein Mann war rechts von mir in einer der beiden WC-Kabinen.

Ich hörte, wie ein Reißverschluß aufgezogen wurde, dann raschelte Stoff, und ich hörte ein Hüsteln. Ich schloß die Tür hinter mir und rammte die beiden mitgebrachten Türstopper mit meinem Schuh darunter.

Jetzt konnte niemand gegen meinen Willen mehr rein oder raus.

Ich stand an einem der Urinale und tat so, als würde ich es benutzen. Meine Hände befanden sich vor dem Körper, hielten aber den Stahlzylinder fest. Ich würde dem Mann den Rücken zukehren, bis er aus der Kabine kam.

So blieb ich drei bis vier Minuten lang stehen. Ich hörte ihn pissen, dann war nichts mehr zu hören. Ich drehte meinen Kopf nach rechts und tat so, als sähe ich zu dem vergitterten kleinen Fenster hinaus - für den Fall, daß er mich sah, aber aus irgendeinem Grund nicht herauskommen wollte.

Als ich mich dann beiläufig umdrehte, sah ich etwas wirklich Merkwürdiges. Öffentliche amerikanische Toiletten haben Saloon-Türen, deren Lücken oben und unten größer sind als in Europa. Durch die untere Lücke sah ich seinen rechten Fuß auf dem Boden stehen, aber sein Overall war wider Erwarten nicht bis zu den Knöcheln heruntergerutscht. Merkwürdige Haltung, fand ich, aber das war schließlich seine Sache. Dann fiel mir auf, daß die Kabinentür einen Spalt weit offenstand. Er hatte sie nicht verriegelt.

Ich hatte nicht vor, hier draußen zu stehen und mir lange Gedanken darüber zu machen. Ich hielt den Stahlzylinder mit der rechten Hand umklammert, hob den linken Arm, um mich zu schützen, und war mit wenigen lautlosen Schritten an der Tür. Im letzten Augenblick holte ich tief Luft, senkte die linke Schulter und stieß die Tür auf.

Er knallte an die Kabinenwand und kreischte: »Was soll der Scheiß? Was soll der Scheiß?« Dabei streckte er beide Hände aus, um sich abzustützen, und die Kabinentür ging nicht auf, weil er sein Gesäß dagegenstemmte.

Ich mußte mich nochmals gegen die Tür werfen. Das Geheimnis eines erfolgreichen Raubüberfalls besteht darin, schnell und hart zuzuschlagen. Indem ich mein ganzes Gewicht in diesen zweiten Rammstoß legte, klemmte ich ihn zwischen Tür und Wand ein. Er war ein großer, muskulöser Kerl; ich mußte aufpassen, daß er sich nicht von seiner Überraschung erholte und mich überwältigte. Ich faßte mit der linken Hand in seine Gelfrisur, zerrte seinen Kopf nach links und holte dabei mit der rechten Hand aus.

Man benutzt nicht nur seine Armmuskeln, um jemanden niederzuschlagen. Wie ein Boxer, der Hüften und Oberkörper einsetzt, um seinem Schlag Wucht zu verleihen, brauchte ich möglichst viel Schwung, wenn ich mit dem Stahlzylinder zuschlug. Während ich die Tür mit dem linken Ellbogen offenhielt, riß ich den Stahlzylinder hoch, verdrehte meinen Oberkörper, als wollte ich einen rechten Haken schlagen, und traf ihn dicht unter dem Ohr. Ich wollte ihn nur kampfunfähig machen, nicht umbringen oder mit einem bleibenden Gehirnschaden zurücklassen; hätte ich das gewollt, hätte ich mehrmals zugeschlagen. Auch so würde er diesen Tag in schlechter Erinnerung behalten, aber er hatte einfach Pech gehabt - er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Mein Schlag hatte gesessen. Der Kerl brach stöhnend zusammen. Ich konnte mir vorstellen, daß er sich in seiner Benommenheit am liebsten zusammengerollt hätte und unter die Kloschüssel gekrochen wäre, um sich zu verstecken. Deshalb hatte ich den Stahlzylinder statt einer Schußwaffe gewählt. Man weiß nie, wie Leute auf eine Pistole reagieren. Er hätte ein verdeckter Ermittler, der selbst bewaffnet war, oder ein ungewöhnlich mutiger Normalbürger sein können. Jedenfalls sind die alten Methoden immer noch die besten.

Er war mit dem Kopf an die Kloschüssel geknallt und hatte sich das Nasenbein gebrochen. Blut lief ihm in Strömen übers Kinn, und aus seiner Kehle drang ein hohes, kindliches Wimmern. Er befand sich in einer beschissenen Verfassung, aber er würde mit dem Leben davonkommen. Ich schlug nochmals zu, damit er unten blieb und nicht so schnell wieder aufwachte. Das Wimmern verstummte.

Ich legte meine linke Hand auf seinen Kopf und drehte ihn von mir weg, weil ich nicht wollte, daß er mich später identifizieren konnte. Mit der rechten Hand griff ich unter seinem Bauch hindurch, zog den Overall zu mir her, öffnete den Reißverschluß und angelte seine Geldbörse heraus. Dann tastete ich die übrigen Taschen für den Fall ab, daß er irgendwo ein loses Bündel Geldscheine stecken hatte. Meine Finger ertasteten einen Plastikbeutel, der meine Hand ausfüllte. Ich zog ihn heraus und sah, daß er genügend weißes Pulver enthielt, um das gesamte Wohnviertel, in dem dieser Kerl lebte, high zu machen - alles in sauberen kleinen

Plastikbriefchen verkaufsfertig abgepackt. Damit konnte ich nichts anfangen; ich ließ den Beutel auf den Boden fallen.

Jetzt sah ich auch, was er hier gemacht hatte, während ich am Urinal gestanden hatte. Um seinen linken Arm hatte er einen fest zusammengedrehten dünnen Gummischlauch, und aus einem Einstich in der Armbeuge quoll etwas Blut. Er mußte seinen linken Fuß auf die Kloschüssel gestellt haben, um seinen Arm aufstützen zu können, während er sich einen Schuß setzte. Auf dem gefliesten Boden sah ich eine aufgezogene Spritze liegen.

Ich hob den daneben hingefallenen Toilettenschlüssel auf. Der Kerl schien sich etwas erholt zu haben und begann wieder zu wimmern und zu stöhnen. Ich schlug seinen Kopf mehrmals gegen die Kloschüssel, damit er begriff, daß er für die nächste Zeit bleiben sollte, wo er war.

Ich trat rückwärts aus der Kabine und überzeugte mich mit einem raschen Blick davon, daß ich keine Blutflecken auf dem Mantel hatte. Dann zog ich die Türstopper heraus, steckte sie ein, verließ die Toilette und sperrte die Tür hinter mir ab. Den Schlüssel warf ich in die Hecke zum Nachbargrundstück.

Ich war außer Atem und fühlte, daß mir dicke Schweißtropfen übers Gesicht liefen, aber ich mußte äußerlich ruhig und gelassen wirken. Falls irgendein anderer Tankkunde um die Ecke kam, weil er auf die Toilette gehen wollte, würde ich behaupten, sie sei außer Betrieb.

Als ich die Straße überquerte, sah ich nach links und hinter mich. Nichts. Ich würde mich nicht noch mal umsehen. War der Überfall entdeckt worden, würde ich es bald wissen, weil ich Schreie oder Rufe oder schlimmstenfalls das Trampeln meiner Verfolger hören würde. Dann würde ich reagieren müssen - aber letztlich war ich der Mann mit der großen Kanone im Hosenbund.

Ich ging an der Bushaltestelle vorbei und bog auf den ersten Fußweg ab. Nachdem ich noch zweimal abgebogen war, zog ich meinen Nylonmantel aus und wickelte ihn um den schwarzen Stahlzylinder. Die Baseballmütze wickelte ich ebenfalls hinein. Dann ging ich weiter, bis ich hinter einem kleinen Wohnblock einen Müllbehälter sah, in dem ich mein Bündel entsorgen konnte. Damit war ich ein neuer Mensch, sobald ich meine Brille aufgesetzt hatte.

Als ich wieder die Straße erreichte, zog ich die erbeutete Geldbörse heraus und warf einen Blick hinein, als wollte ich mich davon überzeugen, daß ich meine Kreditkarte eingesteckt hatte. Ich klappte sie auf und stellte fest, daß ich ein Familienvater war; im Bilderfach steckte eine hübsche Aufnahme, die mich, meine Frau und zwei kleine Jungen zeigte - die Familie von Lance White. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, daß Mrs. White die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, wenn sie sah, in welchem Zustand ich heimkam.

Seine Geldbörse enthielt knapp zweihundertfünfzig Dollar; White kam anscheinend vom Geldautomaten oder hatte an diesem Morgen schon einiges an Drogen verkauft. Außer Bargeld fand ich ein halbes Dutzend

Kreditkarten, die ich aber nicht behalten würde; es hätte zu lange gedauert, sie zu Geld zu machen, und für Einkäufe mit Geldrückerstattung hätte ich sie höchstens eine Stunde lang benutzen können. Aber wozu sollte ich riskieren, daß die Polizei auf diese Weise meine Spur zurückverfolgte und von der Verkäuferin eine Personenbeschreibung erhielt? Der sonstige Inhalt der Geldbörse - Zettel mit Telefonnummern, vermutlich seine Kundenliste - war für mich wertlos. Als ich an einem Papierkorb vorbeikam, warf ich alles, bis auf das Bargeld, hinein.

Ich hatte jetzt fast vierhundert Dollar in der Tasche; damit konnten wir ein paar Tage auskommen, selbst wenn es mir nicht gelang, Pat aufzuspüren oder er mir nicht mit Geld aushelfen konnte.

Ich erreichte den Burger King und die Geschäfte in der Nähe unseres Motels. Eine Viertelstunde später verließ ich einen Discount Shop mit einer Reisetasche, die einige Sachen für mich und eine vollständige neue Garderobe für Kelly enthielt - bis hin zur Unterwäsche. Sämtliche Einkäufe hatte ich bar bezahlt.

Auf der Treppe zu unserem Zimmer warf ich einen Blick auf meine Uhr. Ich war fast zweieinviertel Stunden unterwegs gewesen, also doch etwas länger, als ich gesagt hatte.

Noch bevor ich die Zimmertür erreichte, fiel mir auf, daß sie offen war. Dann sah ich ein auf dem Boden liegendes Kissen, durch das sie offengehalten wurde. Ich konnte den eingeschalteten Fernseher hören.

Ich zog meine Pistole, preßte mich an die Wand und zielte mit der Waffe auf den Türspalt. Ich empfand erst ungläubiges Staunen, dann einen Schock. Mein Magen rebellierte, und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

13

Ich betrat vorsichtig das Zimmer. Nichts.

Als erstes sah ich für den Fall, daß Kelly sich dort versteckt hatte, unter dem Bett nach. Vielleicht wollte sie irgendein Spiel mit mir spielen.

»Kelly? Bist du hier irgendwo?« Mein Tonfall war so ernst, daß sie sofort aus ihrem Versteck gekommen wäre.

Keine Antwort. Mein Herz hämmerte so heftig, daß meine Brust schmerzte. Wenn die anderen sie hatten, warum hatten sie mich dann nicht längst überfallen?

Mir brach der Schweiß aus. Ich begann in Panik zu geraten, stellte mir vor, wie sie bei sich zu Hause gewesen war, gesehen hatte, wie ihr Vater geschlagen wurde, nach ihrer Mommy gekreischt hatte. Ich verstand das Gefühl der Verzweiflung, wenn man sich wünscht, jemand käme und nähme all die schlimmen Bilder weg.

Ich zwang mich dazu, Ruhe zu bewahren und darüber nachzudenken, was ich als nächstes tun sollte. Ich verließ das Zimmer, rannte den zu den Zimmern führenden Balkon entlang und rief unterwegs halblaut: »Kelly! Kelly!« Als ich um die Ecke bog, stand sie plötzlich vor mir.

Sie hatte sich eben zufrieden lächelnd von dem Cola-

Automaten abgewandt und bemühte sich, den Verschluß einer roten Büchse aufzureißen. Aber ihr stolzes »Sieh nur, was für ein großes Mädchen ich bin«-Lächeln verschwand schlagartig, als sie mich mit schußbereiter Pistole und todernster Miene vor sich auftauchen sah.

Ich hätte sie am liebsten mit Vorwürfen überschüttet, aber ich beherrschte mich und biß mir auf die Unterlippe.

Kelly wirkte plötzlich traurig und trübsinnig. Daß sie sich eine Dose Cola geholt hatte, war ihre erste selbständige Unternehmung gewesen, seit sie mit mir zusammen war, und ich hatte sie ihr durch meine vorzeitige Rückkehr verdorben. Als ich sie ins Zimmer zurückführte, vergewisserte ich mich durch einen raschen Blick in die Runde, daß wir nicht beobachtet worden waren.

Auf ihrem Bett waren leere Keks- und Kräckerpackungen verstreut; das Ganze erinnerte an eine Szene aus Animal House.

Ich ließ sie auf dem Bett sitzen, während ich nach nebenan ging und ihr ein Bad einlaufen ließ. Als ich wieder herauskam, machte sie noch immer ein trauriges Gesicht. Ich setzte mich neben sie. »Ich bin dir nicht böse, Kelly, ich mache mir nur Sorgen, wenn ich nicht weiß, wo du bist. Versprichst du mir, das nicht wieder zu machen?«

»Nur wenn du mir versprichst, mich nicht wieder allein zu lassen.«

»Versprochen. Jetzt zieh dich aus, damit du baden kannst.« Ich schob sie ins Bad, bevor sie richtig zum Nachdenken kam.

»Wäschst du dir die Haare selbst, oder macht das jemand für dich?« fragte ich, weil ich keine Ahnung hatte.

Kelly machte ein Gesicht, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.

»Soll ich sie dir waschen?« erkundigte ich mich.

»Ja, bitte.« Ich fragte mich, was in ihrem kleinen Kopf vorgehen mochte.

Ich griff nach dem Shampoo und machte mich an die Arbeit; sie jammerte, weil der Schaum in ihren Augen brannte und sie an den Ohren kitzelte, aber ich merkte, wie sie es genoß, daß sich jemand mit ihr beschäftigte. Das war verständlich, denn in letzter Zeit hatte sie nicht allzuviel Aufmerksamkeit bekommen. Ihre ganze Welt war auf den Kopf gestellt worden, und sie wußte es noch nicht einmal.

Kelly war eine Wasserratte. Für mich war das nur gut, denn je länger sie in der Badewanne blieb, desto weniger mußte ich mich um sie kümmern. Die Aufgabe, sie zu waschen, sie anzuziehen, mit ihr zu reden und ihre Fragen zu beantworten, war unerwartet anspruchsvoll. Ich ließ sie noch eine halbe Stunde planschen, bevor ich sie aus der Wanne holte und sie aufforderte, sich abzutrocknen.

Ich duschte, rasierte mich und zog frische Sachen an. Unsere alten oder nicht passenden Klamotten packte ich in einen Wäschesack, den ich in die neue Reisetasche legte, um ihn bei erster Gelegenheit wegzuwerfen.

Dann waren wir beide im Zimmer, und sie hatte sich selbst angezogen. Ihre Bluse war schief zugeknöpft;

während ich das in Ordnung brachte, merkte ich, daß sie mich mißbilligend begutachtete.

»Was gibt’s?«

»Deine Jeans sind schlimm. Du solltest dir wie Daddy Fünfhunderteinser kaufen.«

Als ob ich nicht schon genügend Probleme gehabt hätte, war jetzt die Modepolizei hinter mir her. »In meiner Größe gibt’s keine Fünfhunderteinser«, fuhr sie fort. »Jedenfalls behauptet Mommy das. Sie trägt keine Jeans; sie ist wie Aida - sie mag Röcke und Kleider.«

Ich mußte sofort wieder daran denken, wie Marsha vor ihrem Bett gekniet hatte. Ich wandte mich ab, damit Kelly mein Gesicht nicht sah.

Dann machte ich mich daran, ihr die Haare zu bürsten. Das war eine noch ungewohnte Aufgabe, die ich nicht wirklich beherrschte, und die Bürste verfing sich ständig und riß an ihren Haaren. Kelly schrie mehrmals auf und hielt meine Hand fest. Zuletzt gab ich ihr die Bürste, damit sie selbst weitermachen konnte.

Während sie das tat, saß ich auf der Bettkante und fragte: »Hör zu, kennst du Daddys Spezialcode für sein Telefon? Ich kann ihn nicht rauskriegen, obwohl ich schon alles versucht habe. Ich habe eins-eins-eins-eins, zwei-zwei-zwei-zwei und alle möglichen anderen Zahlen gedrückt, aber keine funktioniert. Weißt du, welche Zahlen man eintippen muß?«

Sie hörte mit dem Bürsten auf und starrte mich sekundenlang an, dann nickte sie.

»Toll! Welche Zahlen muß man also eingeben?«

Kelly gab keine Antwort. Sie schien angestrengt zu überlegen. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob sie ihren Daddy hinterging, wenn sie mir die Zahlen sagte.

Ich zog das Mobiltelefon aus der Tasche, schaltete es ein und sagte: »Siehst du, hier steht: >Bitte PIN eingeben. < Weißt du, welche Nummer dein Daddy eingibt?«

Als sie nickte, forderte ich sie auf: »Okay, dann zeig mir, wie’s gemacht wird.« Sie drückte auf die Tasten und beobachtete dabei ihre Finger.

»Eins-neun-neun-null?« fragte ich.

»Mein Geburtsjahr«, sagte sie mit strahlendem Lächeln und bürstete weiter ihre Haare.

Nun waren wir im Geschäft. Ich holte die Gelben Seiten aus der Schreibtischschublade und setzte mich damit auf die Bettkante.

»Was suchst du?« fragte Kelly, während sie gleichmäßig weiterbürstete.

»Ein Restaurant, das >Good Fellas< heißt«, antwortete ich. Ich fand die Adresse. »Wir fahren dorthin und suchen Pat.«

Ich überlegte, ob ich das Restaurant anrufen und nach ihm fragen sollte, aber am Telefon würde ich bestimmt nur abgewimmelt werden. Außerdem konnte der Anruf eine Kette von Ereignissen auslösen, von denen ich nichts wußte, bis wir beide geschnappt wurden. Es war besser, selbst hinzufahren.

Sie kicherte, als ich meine Brille aufsetzte. Ich nahm ihren Mantel vom Bügel und half ihr hinein. Als sie sich dann umdrehte, sah ich, daß an ihren Jeans noch das Etikett hing. Ich riß es ab und überzeugte mich davon, daß sonst alles in Ordnung war - wie irgendein altmodischer Vater, der mit seiner Tochter in die Stadt fahren will.

Ich zog meine Jacke an, kontrollierte, ob ich Magazine und Mobiltelefon eingesteckt hatte, und fragte Kelly: »Erinnerst du dich an Pat?«

»Nein. Wer ist sie?«

»Nicht sie, sondern ein Mann namens Patrick. Hat er Daddy vielleicht mal besucht?«

»Bringt Pat mich nach Hause?«

»Du darfst bald wieder heim, Kelly. Aber erst, wenn’s Daddy wieder bessergeht und du ein braves Mädchen bist und tust, was ich dir sage.«

Sie machte ein langes Gesicht. »Bin ich bis Samstag wieder zu Hause? Da gibt Melissa ihre Party, und wir übernachten alle bei ihr, und ich muß unbedingt dasein.«

Ich redete einfach weiter. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich war außerstande, Kelly abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen.

»Pat hat euch bestimmt mal besucht. Du erinnerst dich doch an Pat?«

»Und ich muß noch ein Geschenk für sie kaufen. Ich habe ein paar Freundschaftsarmbänder für sie geflochten, aber ich will ihr noch etwas kaufen.«

»Nun, wir versuchen heute, Pat zu finden, weil er uns helfen soll, dich heimzubringen. Vielleicht haben wir auch noch Zeit für deine Einkäufe, okay?«

»Wo ist Pat?«

»Ich glaube, daß er vielleicht in dem Restaurant ist. Aber solange wir dort sind, mußt du ganz still sein und darfst mit keinem Menschen reden. Spricht jemand dich an, nickst du nur oder schüttelst den Kopf, okay? Wir müssen wirklich vorsichtig sein, sonst erzählen sie uns nicht, wo Pat ist, und wir bekommen womöglich Schwierigkeiten.«

Ich wußte, daß ich mich darauf verlassen konnte, daß Kelly den Mund halten würde. Sie hatte sich exakt an meine Anweisungen gehalten, als ich sie unter den Pappkartons zurückgelassen hatte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich behauptete, sie könne bald wieder heim, aber mir fiel kein besseres Mittel ein, sie dazu zu bringen, alles zu tun, was ich sagte. Aber mit etwas Glück würde ich nicht dabeisein, wenn sie schließlich die Wahrheit erfuhr.

Bevor wir das Zimmer verließen, hatte ich noch einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Ich griff nach dem linken unteren Zipfel meiner Bettdecke und schlug ihn genau diagonal zurück. Dann riß ich ein Streichholz aus dem Zündholzbriefchen, das ich an der Rezeption mitgenommen hatte, und klemmte es zwischen die Wand und die lange Kommode, auf der unser Fernseher stand. Ich markierte eine Stelle an der Wand mit einem winzigen Kugelschreiberpunkt und bedeckte sie mit dem Streichholzkopf. Zuletzt legte ich die Büroklammer in eine der Schubladen unter dem Fernseher und drehte das Gerät ein kleines bißchen lauter.

Dann überzeugte ich mich mit einem kurzen Blick in die Runde davon, daß nichts Kompromittierendes liegengeblieben war; ich legte sogar die Gelben Seiten in die Schreibtischschublade zurück. Meine Pistole lag noch immer im Spülkasten, aber dort war sie vorläufig sicher, denn das Zimmermädchen hatte keinen Grund, hier hereinzukommen - und ein Polizeibeamter mit einem Durchsuchungsbefehl erst recht nicht.

Ich steckte zwei Äpfel und ein paar Schokoriegel in die Tasche des blauen dreiviertellangen Mantels, den ich für mich gekauft hatte. Dann schloß ich ab, überzeugte mich davon, daß das Schild an der Tür hing, und nahm Kelly an der Hand.

Wir leisteten uns ein Taxi nach Georgetown. Natürlich wäre es billiger gewesen, mit einem Bus oder der Metro zu fahren, aber so bekamen uns unterwegs weniger Fahrgäste oder Fußgänger zu Gesicht. Unser Taxifahrer war ein Nigerianer. Der Stadtplan auf dem Beifahrersitz neben ihm wirkte nicht sonderlich vertrauenerweckend, und die Englischkenntnisse des Manns waren sehr beschränkt. Er fragte mich radebrechend, wo Georgetown liege. Das kam mir so vor, als frage ein Londoner Taxifahrer nach Chelsea. Anhand des Stadtplans erklärte ich ihm geduldig, wie er fahren mußte. Ich rechnete mit ungefähr einer halben Stunde Fahrzeit.

Unterwegs begann es zu nieseln - nicht genug, um die Scheibenwischer laufen zu lassen, aber doch so stark, daß er sie gelegentlich einschalten mußte. Kelly mampfte einen Apfel und sah aus dem Fenster. Ich hielt Ausschau nach anderen Motels. Vielleicht würden wir bald wieder umziehen müssen.

Wir saßen einige Minuten lang schweigend nebeneinander, bis mir einfiel, daß der Fahrer erwarten würde, uns reden zu hören. »In deinem Alter bin ich noch kein einziges Mal mit einem Taxi gefahren«, erzählte ich. »Meine erste Taxifahrt habe ich mit fünfzehn gemacht, glaube ich.«

Kelly betrachtete mich erstaunt. »Du hast Taxis wohl nicht gemocht?«

»Nein, wir haben bloß nicht viel Geld gehabt. Mein Stiefvater ist meistens arbeitslos gewesen.«

Sie starrte mich stirnrunzelnd an. Dann wandte sie sich ab und sah wieder aus ihrem Fenster.

Vor der Key Bridge staute sich der Verkehr. Georgetown lag gleich gegenüber auf dem anderen Ufer des Potomac River, so daß wir schneller dort gewesen wären, wenn wir ausgestiegen und zu Fuß gegangen wären, aber es war klüger, sich nicht zu viel auf der Straße zu zeigen. Kellys Gesicht würde in allen Zeitungen und vielleicht sogar auf Fahndungsplakaten abgebildet sein. Die Polizei würde mit Hochdruck nach ihr und ihrem Entführer fahnden.

Ich beugte mich über die Lehne des Beifahrersitzes, griff nach dem Stadtplan und dirigierte den Taxifahrer zur Wisconsin Avenue, der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hauptverkehrsstraße. Ich hatte Georgetown als beinahe selbständigen Stadtteil in Erinnerung - mit vornehmen, hübschen Stadthäusern, die in San Francisco hätten stehen können. Die unebenen Gehsteige waren aus roten Ziegeln, und praktisch jeder am Randstein parkende Wagen schien ein BMW, Volvo, Mercedes, Golf GTI oder Discovery zu sein. An allen Häusern und Geschäften prangte ein Schild, das verkündete, dieses Gebäude werde von einem Sicherheitsdienst überwacht.

Versuchte man dort einzubrechen, hatte man eine Schnelle Eingreiftruppe im Genick, bevor man auch nur dazu kam, den Stecker des Videorecorders herauszuziehen.

Die Wisconsin Avenue ist ein breiter Boulevard mit Häusern und Läden auf beiden Straßenseiten. Wir fanden das Restaurant Good Fellas nach ungefähr einer halben Meile auf der rechten Seite der einen Hügel hinaufführenden Straße. Was Restaurants betraf, schien es eines dieser schicken Designerlokale zu sein; seine gesamte Straßenfront war schwarz bis hin zu den Rauchglasfenstern, und der einzige Farbklecks waren die Goldlettern über dem Eingang. Inzwischen war es fast Mittag; das Personal würde also vollzählig anwesend sein.

Wir betraten das Restaurant durch die zweiflüglige schwarze Glastür und standen im Eishauch einer Klimaanlage. Vor uns lag eine Art Vorraum, der die gesamte Frontbreite des Restaurants einnahm. Ungefähr in der Mitte saß an einem Schreibtisch eine junge Empfangsdame, die sehr elegant und freundlich aussah. Pats guter Geschmack imponierte mir. Die junge Frau sah uns lächelnd entgegen, als ich mit Kelly an der Hand auf sie zuging.

Als wir näher kamen, merkte ich, daß sie fragend lächelte. Sie war jetzt aufgestanden, und ich sah, daß sie zu ihrer weißen Satinbluse eine elegante schwarze Hose trug. »Entschuldigung, Sir«, sagte sie, »aber wir ...«

Ich hob lächelnd die Hand. »Schon gut, wir wollten nicht bei Ihnen essen. Ich versuche nur, meinen Freund

Patrick zu finden. Er ist vor gut einem halben Jahr Stammgast bei Ihnen gewesen. Erinnern Sie sich vielleicht an ihn? Meines Wissens ist er mit einer Ihrer Bedienungen befreundet gewesen. Er ist Engländer, redet wie ich.«

»Davon weiß ich leider nichts, Sir; ich bin erst seit Semesterbeginn hier.«

Semesterbeginn? Natürlich, wir waren in Georgetown, im Universitätsviertel. Viele der hiesigen Studenten und Studentinnen jobbten als Kellner oder Bedienungen.

»Könnten Sie vielleicht jemanden fragen? Ich muß ihn wirklich dringend finden.« Ich blinzelte ihr mit Verschwörermiene zu. »Ich habe seine Freundin mitgebracht - als besondere Überraschung.«

Die junge Frau lächelte Kelly freundlich an. »Hi. Möchtest du ein Pfefferminzbonbon?« Kelly nahm sich eine kleine Handvoll.

»Vielleicht kennt ihn irgend jemand vom Personal?« schlug ich vor.

Während sie darüber nachdachte, kamen hinter uns zwei Männer in eleganten Anzügen herein. Kelly sah mit Bonbons in den Backen zu ihnen auf. »Hallo, junge Dame«, sagte der eine lachend. »Bist du nicht noch ein bißchen zu klein für dieses Restaurant?«

Kelly zuckte wortlos mit den Schultern.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte die junge Frau und begleitete die beiden Gäste zur inneren Eingangstür, wo sie von jemandem in Empfang genommen wurden, der sie zu ihrem Tisch führte.

Sie kam zurück und griff nach dem Telefonhörer.

»Okay, ich telefoniere mal.«

Ich blinzelte Kelly zu.

»Hier ist jemand mit einem Kind, und die beiden suchen einen Engländer namens Patrick?« sagte sie mit jener Hebung am Satzende, die von der Ramsay Street ausgehend die ganze englischsprachige Welt erobert hatte.

Sie legte den Hörer auf und sagte: »Augenblick noch, dann kommt jemand.«

Das Telefon klingelte sofort wieder, und sie nahm eine Reservierung entgegen.

Kelly und ich standen einfach nur da. Nach gut einer Minute kam eine Bedienung aus dem Restaurant. »Hi. Kommen Sie bitte mit?«

Das klang nicht schlecht. Ich nahm Kelly an der Hand, und wir betraten das Restaurant.

Die Gäste aßen offenbar gern im Halbdunkel, denn auf ihren Tischen standen nur Kerzen. Als ich mich umsah, fiel mir auf, daß die Bedienungen ausnahmslos nabelfreie weiße Tops, hautenge Shorts und Tennisschuhe mit weißen Söckchen trugen.

Rechts an der Wand befand sich eine Bar mit gedämpfter Beleuchtung. Die beiden Männer in Anzügen standen als einzige Gäste an der Bar. In der Mitte des Restaurants fiel mir eine erhöhte kleine Tanzbühne mit darüber angeordneten Scheinwerfern auf.

Ich mußte unwillkürlich grinsen. Glückwunsch, Pat! Obwohl er fast keinen Hintern hatte, war Slack Pat bei Frauen immer erfolgreich gewesen.

Eines der Mädchen winkte Kelly zu. »Hi,

Schätzchen!« Unter ihrem weißen Top schienen sich zwei Zeppeline ein totes Rennen zu liefern.

Kelly war von allem begeistert. Ich hielt ihre Hand eisern umklammert. Während wir unserer Begleiterin folgten, sah Kelly zu mir auf und fragte: »Was ist das hier?«

»Eine Art Bar, in die Leute gehen, um nach der Arbeit ein bißchen auszuspannen.«

»Wie TGI Friday’s?«

»So ähnlich.«

Wir erreichten eine weitere zweiflüglige Tür und betraten eine neonhelle lärmende Welt. Rechts von uns lag die Küche, in der kreatives Chaos herrschte; links befanden sich Büros. Die schmutzigweißen Wände wiesen Kratzspuren auf, wo Möbelstücke angestoßen waren - oder vielleicht außer Kontrolle geratene Zeppeline.

Am Ende des Korridors lag ein weiterer Raum. Unsere Freundin führte uns hinein und verkündete: »Hier ist es!«

Dies war offenbar der Aufenthaltsraum, in dem die Mädchen spärlich bekleidet herumhingen. Hätte ich mir eine Künstler-Garderobe mit Schönheitstänzerinnen vorstellen sollen, hätte ich an halbnackte Mädchen vor Schminkspiegeln mit einem Rahmen aus matten Glühbirnen gedacht. Aber dieser Raum war ganz anders; er erinnerte mehr an ein sauberes, behagliches Wohnzimmer mit mehreren Sofas, einem halben Dutzend Sesseln und einigen Spiegeln. An einer Wand hing ein Rauchverbotsschild, und ich roch, daß hier tatsächlich niemand rauchte. Eine große Pinnwand war mit

Handzetteln und Ankündigungen von Universitätsveranstaltungen überladen.

Die Mädchen stürzten sich sofort auf Kelly. »Hi. Wie geht’s, Schätzchen?« fragten alle.

Ich sprach eine angebliche Polizeibeamtin an, deren blauer Uniformrock viel kürzer war, als die Vorschriften erlaubten. »Ich suche einen Engländer namens Pat. Er hat mir erzählt, er komme oft hierher.«

Kelly wurde von zwei Mädchen weggeschleppt. »Wie heißt du, Schätzchen?« Dagegen war ich machtlos.

»Sie heißt Josie«, behauptete ich.

Die Mädchen trugen alle Phantasiekostüme. Eine hielt ein Indianerkostüm mit Fransenjacke, Federkopfschmuck und sonstigem Zubehör hoch. »Gefällt’s dir?« fragte sie Kelly und machte sich daran, sie als Indianerin zu verkleiden. Kellys Augen leuchteten vor Begeisterung.

Ich sprach weiter mit der angeblichen Polizeibeamtin. »Irgendwie haben Pat und ich uns verpaßt, wissen Sie. Wir wollten uns treffen, damit Pat mit Josie in Urlaub fahren kann. Das ist kein Problem, ich kümmere mich natürlich um sie, aber sie wollte Pat so gern wiedersehen.«

»Pat ist schon ewig lange nicht mehr bei uns gewesen, aber Sherry weiß bestimmt, wo er zu erreichen ist - sie ist früher mit ihm ausgegangen. Sie hat sich ein bißchen verspätet, aber sie müßte jeden Augenblick kommen. Wenn Sie wollen, können Sie hier auf sie warten. Nehmen Sie sich ruhig eine Tasse Kaffee.«

Ich trat an die Kaffeemaschine, goß mir eine Tasse Kaffee ein und setzte mich in einen freien Sessel. Ich beobachtete, wie Kelly sich kichernd verkleiden ließ. Eigentlich hätte ich mich inmitten dieser spärlich bekleideten Schönheiten wie im Paradies fühlen müssen, aber ich war nervös, weil ich fürchtete, Kelly könnte sich irgendwie verraten.

Überall lagen Skripten und Lehrbücher herum. Auf einem der Sofas saß eine verschleierte Haremsdame, die auf ihren Knien einen Laptop balancierte und ihre Doktorarbeit tippte.

Ungefähr zwanzig Minuten später flog die Tür auf. Eine Rothaarige, die eine schwarze Umhängetasche trug, kam mit wehender Mähne wie von Furien gejagt hereingestürmt.

»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, Girls. Ich bin nicht Nummer eins gewesen, stimmt’s?«

Sie streifte ihre Schuhe ab, während sie zu Atem zu kommen versuchte.

»Hey, Sherry, hier ist jemand, der nach Pat fragt!« rief die Polizeibeamtin ihr zu. »Hast du ihn in letzter Zeit gesehen?«

Ich stand auf. »Ich suche Pat schon lange, aber Sie kennen ja seine Art - er ist überall und nirgends.«

»Das kann man wohl sagen.« Sherry streifte vor mir stehend so beiläufig ihre Jeans ab, als seien wir seit zwanzig Jahren verheiratet. »Er ist eine Zeitlang verreist gewesen. Ich habe ihn zuletzt vor ungefähr einem Monat getroffen, als er zurückgekommen ist.« Nach einem Blick zu Kelly hinüber fragte sie mich: »Sind Sie ein Freund von ihm?«

»Seit vielen Jahren.«

»Dann hat er wohl nichts dagegen. Ich habe irgendwo seine Telefonnummer. Ich hoffe, ich finde sie.«

Nur noch mit Slip und BH bekleidet wühlte Sherry in ihrer Umhängetasche, während sie mit mir sprach. Sie sah zu einem der anderen Mädchen hinüber und fragte besorgt: »Welche Nummer bin ich?«

»Vier.«

»Jesus! Kann jemand für mich auftreten? Kann ich als Nummer sechs auftreten? Ich bin noch nicht geschminkt.«

Hinter dem Laptop war ein kurzes Grunzen zu hören. Offenbar würde die Haremsdame jetzt als Nummer vier auftreten.

Sherry kippte kurz entschlossen ihre Handtasche auf einem Sessel aus. »Ah, da haben wir sie!«

Sie gab mir eine Restaurantkarte, auf deren Rückseite jemand eine Adresse mit Telefonnummer gekritzelt hatte. Diese Handschrift kannte ich.

»Ist das hier?« fragte ich sie.

»Riverwood? Ungefähr eine Viertelstunde mit dem Auto, auf der anderen Seite der Brücke.«

»Gut, ich rufe ihn gleich an. Vielen Dank!«

»Erinnern Sie ihn daran, daß ich noch lebe, ja?« sagte sie voll müder Hoffnung.

Ich ging zu Kelly hinüber. »Wir müssen gehen, Josie!«

Sie zog einen Flunsch. »Ohhh ...« Wahrscheinlich lag das an der Gesellschaft anderer Mädchen - jedenfalls wirkte sie entspannter als in der ganzen Zeit, seit wir von ihrem Haus weggefahren waren. »Müssen wir schon?« fragte sie mit dramatischem Augenaufschlag, der durch schwarz getuschte Wimpern verstärkt wurde. Auch ihre Lippen waren geschminkt.

»Ja, leider«, sagte ich, griff nach einem Wattebausch und fing an, das Zeug abzuwischen. »Können wir sie nicht hierbehalten?« fragte die Polizeibeamtin. »Wir kümmern uns um sie. Wir geben ihr Tanzunterricht.«

»Das würde mir gefallen, Nick!«

»Tut mir leid, Josie, aber um hier zu arbeiten, müßtest du viel älter sein, nicht wahr, Girls?«

Sie halfen Kelly, das Indianerkostüm auszuziehen. »In der Schule immer schön fleißig sein, Schätzchen«, sagte eine von ihnen. »Dann kannst du später hier bei uns arbeiten.«

Sie zeigten uns einen schnelleren Weg durch den Lieferanteneingang auf der Rückseite des Gebäudes. Als wir dorthin gingen, sah Kelly zu mir auf und fragte: »Was machen sie eigentlich?«

»Sie sind Tänzerinnen.«

»Warum tragen sie dazu Bikinis und all diese Federn?«

»Keine Ahnung«, behauptete ich. »Manche Leute sehen so was gern.«

Als ich dabei war, die Tür zu öffnen, hörte ich Sherry rufen: »Seine Tochter? Dieser gottverdammte Lügner!«

14

Wir gingen bei leichtem Regen wieder den Hügel hinunter und suchten ein Lokal. An einem Haus, das gar

nicht wie ein Restaurant aussah, hing das Schild Georgetown Diner. Wir gingen hinein.

Wir saßen in dem zu drei Vierteln leeren Café, ich mit einem Cappuccino, Kelly mit einer Cola, und waren beide tief in Gedanken versunken - ich dachte darüber nach, wie ich Verbindung zu Pat aufnehmen sollte, und Kelly stellte sich vermutlich vor, wie sie später wie Pocahontas gekleidet aufs College ging. Vor uns auf dem Tisch hatten wir einen Ständer mit Grußkarten und kleinen Zeichnungen von Georgetown. Dieses Café war eher eine Galerie als ein Coffee Shop.

»Wir können nicht einfach bei Pat aufkreuzen, weil wir ihn kompromittieren könnten«, erklärte ich Kelly. »Und ich kann ihn nicht anrufen, weil sie vielleicht schon eine Verbindung zwischen uns beiden hergestellt haben und sein Telefon abhören und sein Haus beobachten lassen.«

Kelly nickte wissend, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. Aber es gefiel ihr besser, in Erwachsenensachen eingeweiht zu werden, als sitzengelassen oder herumgezerrt zu werden.

»Das ist wirklich lästig, weil wir nur eine Viertelstunde von ihm entfernt sind«, fuhr ich fort. »Was läßt sich da machen?«

Sie zuckte mit den Schultern, dann zeigte sie auf den großen Kartenständer hinter mir und schlug vor: »Schick ihm eine Karte.«

»Gute Idee, aber das dauert viel zu lange.«

Dann hatte ich einen Einfall. »Gut gemacht, Kelly!«

Sie grinste von einem Ohr zum anderen, als ich prompt aufstand und eine Geburtstagskarte mit einem Häschen aus Samt und einer Rose in den Pfoten kaufte. Ich lieh mir einen Kugelschreiber, setzte mich wieder an den Tisch und schrieb: Pat, ich sitze in der Scheiße. Kev ist tot, und Kelly ist bei mir. ICH BIN’S NICHT GEWESEN. Rufe baldmöglichst 181-322-8665 von einer Telefonzelle aus an. Nick.

Ich klebte den Briefumschlag zu, schrieb Pats Adresse darauf und ließ mir die Gelben Seiten geben. Darin fand ich, was ich suchte - in dieser Straße und anscheinend zu Fuß erreichbar. Wir zogen unsere Mäntel an und gingen. Es regnete nicht mehr, aber der Gehsteig war noch naß. Ich kontrollierte die Hausnummern und stellte fest, daß wir in Richtung Potomac und Innenstadt gehen mußten.

Der Kurierdienst hatte sein Büro neben einem mit wunderbaren Kuriositäten vollgestopften New Age Shop, dessen Auslage mit Heilkristallen dekoriert war, die jedes Leben verändern konnten. Ich fragte mich, zu welchem sie mir geraten hätten, wenn ich hineingegangen und ihnen meine augenblickliche Lage geschildert hätte. Kelly wollte draußen bleiben und sich das Schaufenster ansehen, aber ich bestand darauf, daß sie mitging. Passanten würden sich ein kleines Mädchen, das allein vor einer Auslage stand, vielleicht zweimal ansehen und Kelly womöglich erkennen. Natürlich riskierte ich so, daß irgend jemand im Büro des Kurierdienstes sie erkannte, aber ich mußte zwischen dieser Gefahr und Kellys Nutzen als gute Tarnung für mich abwägen.

»Können Sie das bis heute nachmittag um vier Uhr zu meinem Freund bringen?« fragte ich den Mann am

Schalter. »Wir sitzen nämlich echt in der Tinte, weil wir vergessen haben, die Geburtstagskarte für ihn aufzugeben, nicht wahr, Josie?«

Ich zahlte die fünfzehn Dollar für die Zustellung in bar, und der Mann versprach mir, gegen 16 Uhr einen Motorradfahrer vorbeizuschicken. Die zwei Stunden bis dahin brauchte ich, um unseren Treff gründlich vorzubereiten.

Dann gingen wir ins Hotel Latham. Ich vermutete, daß mein Akzent dort nicht auffallen würde, und hatte richtig geraten: Die große Hotelhalle war voller ausländischer Touristen. Ich setzte Kelly in eine ruhige Ecke und ging zur Information.

»Ich suche eine Einkaufspassage, in der es eine Spielzone wie Kids Have Fun mit Kinderbetreuung gibt«, sagte ich.

Wie sich herausstellte, gab es in und um Washington mindestens ein halbes Dutzend solcher Spielzentren; ich brauchte die Adressen nur auf dem Stadtplan zu suchen, den die Dame an der Information mir freundlicherweise lieh. Eines lag in der Landside Mall, nicht weit vom Roadies Inn entfernt. Ich hielt ein Taxi an, und diesmal kannte der Fahrer sich aus.

Kids Have Fun ist eine von Franchisenehmern betriebene Kette von Spielzentren. Eltern sollen dort ihre Kinder für ein paar Stunden abliefern können, während sie selbst groß einkaufen. Ich hatte Marsha einmal begleitet, als sie Kelly und Aida aus einem abgeholt hatte. Das Kind bekommt ein Namensarmband, das sich nicht abnehmen läßt, und der Erwachsene eine Ausweiskarte, die ihn als einzigen zur Abholung berechtigt. An diesem Morgen waren die Mädchen ziemlich unausstehlich gewesen, und ich erinnerte mich gut, wie Marsha lachend auf das Reisebüro gegenüber dem Spielzentrum gezeigt und gesagt hatte: »Die ideale Lage für ein Reisebüro! Wie oft ich schon daran gedacht habe, die Kids abzuliefern und mir drüben ein Ticket nach Rio zu holen!«

Das Einkaufszentrum war kreuzförmig angelegt, und vier Department Stores - Sears, Hecht’s, JCPenney, Nordstrom - bildeten die Enden seiner Achsen. Im Mittelbereich führten Rolltreppen in die beiden Obergeschosse hinauf und von ihnen herunter. In der großen Cafeteria im zweiten Stock herrschte reger Betrieb. Die Raumtemperatur war fast tropisch - vermutlich mit Absicht, um den Getränkeabsatz zu fördern.

Ich entdeckte Kids Have Fun in der zu Hecht’s führenden Gebäudeachse und wandte mich an Kelly. »Hey, willst du später dort reinschauen? Sie haben Videofilme und alle möglichen anderen Sachen.«

»Ja, ich weiß. Aber ich will lieber bei dir bleiben.«

»Komm, wir gehen trotzdem mal rein.« Ich wollte sie noch nicht dort reinstecken, weil ich nicht einmal wußte, ob ich einen Anruf bekommen würde, aber ich mußte das Gelände schon jetzt erkunden und Vorbereitungen treffen.

Ich trat an den Schalter. »Man muß im voraus reservieren, um hier reinzukommen?«

Anscheinend nicht; man brauchte nur aufzukreuzen und einen Vordruck auszufüllen. Ich rechnete mir aus, daß ich nach einem Anruf um sechzehn Uhr höchstens eine halbe Stunde Zeit haben würde, um sie zu verstecken. Ich mußte von der schlimmsten Möglichkeit ausgehen: die anderen hatten die Nummer von Kevs Mobiltelefon, hörten es ab und bekamen mit, wie ich Pat genaue Anweisungen gab. Ich wollte, daß sie nicht in der Nähe und trotzdem sicher untergebracht war. Außerdem wußte ich nicht, ob ich mich hundertprozentig auf Pat verlassen konnte. Womöglich stand er auf der anderen Seite. Ich mußte vorsichtig sein, aber zugleich konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.

Ich merkte, wie Kelly sich umsah. Hier schien es ganz nett zu sein. Wir gingen wieder hinaus.

»Du kannst jetzt mitkommen, aber später muß ich eine Zeitlang allein unterwegs sein, okay?«

Sie war sofort sauer. »Wiesooo?«

»Weil ich etwas zu erledigen habe, okay? Aber jetzt kannst du mir helfen.«

Sie lächelte wieder. »Oh, okay, aber du bleibst nicht lange fort, stimmt’s?«

»Ich komme früher zurück, als du denkst.«

Kelly und ich machten einen Rundgang und erkundeten dabei das Einkaufszentrum, ohne daß sie etwas davon merkte.

»Was suchen wir, Nick?«

»Ein Geschäft, das Kameras und Telefone verkauft.«

Wir setzten unseren Rundgang fort, bis wir schließlich eines im Erdgeschoß entdeckten. Dort kaufte ich ein Ladegerät für das Mobiltelefon. Kelly beschloß, doch

kein weiteres Geschenk für Melissa zu brauchen, sondern verkündete, sie werde einfach nur die Freundschaftsarmbänder von zu Hause holen. Ich äußerte mich nicht dazu.

Um fünf vor vier zog ich das Mobiltelefon aus der Tasche und schaltete es ein. Ladezustand und Signalstärke waren in Ordnung. Ich war bereit.

Um zehn nach vier begann es zu klingeln. Ich drückte die Empfangstaste. »Hallo?«

»Ich bin’s.«

»Wo bist du?«

»Telefonzelle.«

»Ich möchte, daß du pünktlich um fünf Uhr in die Landside Mall in Alexandria kommst. Du betrittst sie durch JCPenney, gehst zum Mittelteil, fährst mit der Rolltreppe in den zweiten Stock und gehst in Richtung Sears weiter. Bis dahin alles klar?«

Am anderen Ende entstand eine Pause, als

rekapituliere er meine Anweisungen. »Okay.«

»Auf der linken Seite liegt das Restaurant Roadhouse. Dort gehst du rein und holst zwei Tassen Kaffee. Ich komme dann zu dir.«

»Bis später.«

Ich schaltete das Gerät aus.

»Wer ist das gewesen?« fragte Kelly.

»Erinnerst du dich, daß ich von Pat erzählt habe? Wir treffen uns später - das ist gut, nicht wahr? Willst du jetzt zu Kids Have Fun?«

Sie würde dort abgeliefert werden, ob sie wollte oder nicht. Falls Pat mich reinlegte, würde es hier bald von

Polizisten wimmeln.

Ich füllte den Vordruck mit den Namen aus, die wir im Motel angegeben hatten. Kelly studierte bereits die Hindernisbahn mit Polstern und großen Plastikbällen, die jeden Sturz abmilderten. Außerdem gab es überall Videobereiche, in denen Unmengen von Filmen gezeigt wurden, einen Saftspender und natürlich Toiletten. Alles schien gut durchorganisiert zu sein, und der Andrang war groß. Ich sah auch die Betreuer, die mit den Kindern Spiele spielten und ihnen Zauberkunststücke vorführten. Kelly würde sich sicher gut amüsieren. Natürlich bestand die Gefahr, daß sie etwas ausplauderte, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich zahlte für sie und erhielt für zwanzig Dollar Einsatz den Zauberschlüssel, mit dem ich mein Kind wieder abholen konnte.

»Soll ich anfangs noch bleiben?« fragte ich sie.

Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, hier dürfen nur Kinder rein.« Damit zeigte sie auf eine große Warntafel an der Wand: Achtung, Eltern, kommen Sie bitte den Spielgeräten nicht zu nahe - Sie könnten darüberfallen und sich weh tun!

Ich kauerte vor ihr nieder und sah ihr in die Augen. »Denk daran, du heißt heute Josie, nicht Kelly. Das ist ein großes Geheimnis, okay?«

»Ja, okay.« Sie war zu sehr damit beschäftigt, die Spielgeräte zu begutachten.

»Ich komme bald zurück. Du weißt, daß ich immer zurückkomme, nicht wahr?«

»Klar doch.« Sie wollte nur noch weg. Ihr Gesicht war mir zugekehrt, aber ihr Blick ging an mir vorbei. Das schien mir ein gutes Zeichen zu sein, als ich Kids Have Fun verließ.

Ich fuhr mit den Rolltreppen in den zweiten Stock hinauf, setzte mich in einem Café an einen Ecktisch und bestellte einen Espresso und eine Cremeschnitte.

Ich wußte, daß Pat mich nicht suchen würde, falls er sich verspätete. Statt dessen würde er genau eine Stunde am angegebenen Treffpunkt warten. Tauchte ich nicht auf, würde er morgen zur selben Zeit wiederkommen. Das ist der Vorteil einer Zusammenarbeit mit Leuten, die man kennt.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Zwei Minuten vor fünf - oder zwei Minuten vor acht Uhr morgens in Bagdad. Ein Blick die Rolltreppe hinunter zeigte mir, wo die zu JCPenney führende Achse vom Zentralbereich abzweigte. Von meinem Platz aus konnte ich auch die Eingänge von Sears und dem Restaurant Roadhouse beobachten.

Zwei Minuten nach fünf sah ich Pat unter mir aus Richtung JCPenney herankommen. Er schlenderte in brauner Bomberjacke aus Leder, Jeans und Turnschuhen lässig und entspannt auf die Rolltreppen zu. Aus dieser Entfernung sah er wie früher aus, nur sein Haar schien oben etwas dünner geworden zu sein. Ich freute mich schon darauf, ihn damit aufzuziehen.

Ich wußte, daß er JCPenney um Punkt fünf betreten hatte; ich wußte weiterhin, daß er sich unterwegs vergewissert haben würde, daß er nicht beschattet wurde, indem er frühzeitig auf den Parkplatz gefahren und sogar einige Zeit in seinem Auto sitzengeblieben war, um den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Pat wirkte manchmal ein bißchen vertrottelt, aber in beruflichen Dingen war er immer hellwach. Trotzdem beunruhigte mich der Gedanke, er könnte wieder mal gekokst haben.

Als er die Rolltreppe betrat, sah ich bewußt weg. Vorläufig interessierte ich mich nicht für ihn, sondern beobachtete sein Umfeld, um zu sehen, ob er beschattet wurde. Indem ich ihm den Rücken freihielt, schützte ich mich selbst. Mir fiel dabei die leichteste Rolle zu - die des eingeweihten Außenstehenden. Am schwierigsten hatten es Leute, die ihn beschatten sollten und dabei vermeiden mußten, von Dritten wie mir erkannt zu werden.

In städtischer Umgebung ist es immer am besten, sich da zu treffen, wo viele Fußgänger unterwegs sind. Dort ist es völlig normal, daß Leute sich treffen. Von Nachteil ist natürlich, daß etwaige Beschatter sich auch viel leichter tarnen können. Andererseits wird ihre Aufgabe dadurch viel schwieriger, daß man Geschäfte betreten und wieder verlassen, von einem Ladentisch zum nächsten gehen und häufig die Richtung wechseln kann. Will man sich also unbeobachtet treffen, geht man am besten einkaufen.

Pat kam die letzte Rolltreppe herauf, auf der er vor einer Gruppe kichernder Teenager stand. Oben ging die Gruppe nach links zum Baskin Robbins, während Pat sich nach rechts wandte. Es gab nur vier Rolltreppen - zwei aufwärts, zwei abwärts. Ich sah niemanden, der wie ein Profi aussah und auf Pat angesetzt war.

Ich beobachtete, wie er ins Roadhouse ging. Ich wartete noch fünf Minuten, kontrollierte erneut die nähere Umgebung, vergewisserte mich, daß die Bedienung sah, daß ich einige Dollarscheine auf den Tisch warf, und verließ das Café. Draußen auf der Sears- Achse hielt ich mich rechts, um das Roadhouse auf der linken Seite besser überblicken zu können. Auf diese Weise hatte ich auch mehr Zeit, mich in meine Umgebung hineinzufühlen und zu überprüfen, ob in Victoria’s Secret irgendwelche Männer standen, die fehl am Platz zu sein schienen, während sie vorgaben, sich für Reizwäsche zu interessieren.

Ich wußte noch immer nicht, ob ich mich auf Pat verlassen konnte. Aber das machte mir keine Sorgen; was ich zu tun hatte, tat ich aus alter Gewohnheit ganz automatisch. Aber ich überlegte mir, was ich tun würde, wenn ... Was tust du, wenn sie aus Richtung Sears kommen? Was tust du, wenn sie aus den Geschäften auf beiden Seiten kommen?

Rechtzeitige Planung verhindert, daß man wie ein Karnickel mitten auf der Straße erstarrt, wenn einen die Scheinwerfer erfassen. Sie hilft einem, die gefährliche Anfangsphase zu überstehen. In diesem speziellen Fall würde ich sofort meine Pistole ziehen, das Gefahrengebiet durch Sears oder über die Rolltreppen verlassen und zu Fuß weiterflüchten.

Ich betrat das Restaurant Roadhouse und sah Pat jetzt aus der Nähe. Er wirkte vorzeitig gealtert. Obwohl er erst vierzig war, machte er den Eindruck, als müßte er bald pensionsberechtigt sein.

Er saß an einem Zweiertisch vorn links und hatte zwei

Cappuccinos vor sich stehen. Um ihn herum saßen etwa ein Dutzend weiterer Gäste, die redeten, aßen und ihre Kinder ausschimpften. Ich trat an seinen Tisch, zog den bereitgehaltenen Fünfer aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und forderte Pat grinsend auf: »Mitkommen, Kumpel.«

Falls er mich verraten hatte, würde ich’s sehr schnell erfahren.

Da ich diesen Treff organisierte, sagte er kein Wort, sondern kam einfach mit. Wir gingen durchs Restaurant nach hinten in Richtung Toiletten; nach der Schwingtür standen wir in einem Korridor, der nicht nur zu den Toiletten, sondern durch eine weitere Tür auch zu Sears führte. Das hatte ich bei meinem Rundgang mit Kelly festgestellt. Ich öffnete diese Tür, ließ Pat den Vortritt und folgte ihm in die Abteilung Babyausstattung. Wir fuhren mit der Rolltreppe ins Erdgeschoß und wechselten unterwegs mehrmals die Richtung. Das funktionierte vielleicht nicht immer, aber mehr konnte ich im Augenblick nicht tun.

Durch die Parfümerieabteilung im Erdgeschoß gelangten wir direkt auf den Parkplatz hinaus und folgten dem Gehsteig zu einer Ansammlung von kleinen Läden und Snackbars.

Unterwegs sprachen wir kein Wort miteinander. Das war nicht nötig; Pat wußte auch so, was ablief.

Wir betraten die SubZone, ein klinisch nüchternes, blitzsauberes Franchiseunternehmen, das pikant belegte Baguettes in unglaublicher Auswahl verkaufte. Ich sagte Pat, er solle mir einen Kaffee und ein Schinken-Käse-

Baguette mitbringen. Das Restaurant war voll. Das war gut; es machte etwaigen Beobachtern das Leben schwerer.

»Setz dich dort drüben mit Blick auf die Toiletten hin«, forderte ich Pat auf. »Ich bin gleich wieder da, Kumpel.«

Er stellte sich an, um unsere Bestellung aufzugeben.

Ich ging durch die Tür zu den Toiletten, folgte dem Korridor und erreichte den Notausgang. Ich wollte mich nur vergewissern, daß er nicht durch einen Müllbehälter oder dergleichen verstellt war, seit ich ihn kontrolliert hatte. Der Notausgang war alarmgesichert, deshalb verzichtete ich darauf, mich davon zu überzeugen, daß er wirklich aufgehen würde. Da ich meine Fluchtroute erkundet hatte, wußte ich bereits, wie es dahinter aussah und wohin ich rennen mußte.

Pat nahm bereits mit zwei Kaffeebechern und einem Bestellbon Platz. Wenn ich so weitermachte, würde ich mir eine Koffeinvergiftung zuziehen. Außerdem fühlte ich mich beschissen; die Hitze in den geschlossenen Räumen, der hektische Trubel und die in den letzten zwei Tagen verbrauchte Energie machten sich bemerkbar. Aber das mußte ich überwinden; schließlich war dies ein wichtiges Unternehmen.

Ich setzte mich Pat gegenüber. Von diesem Platz konnte ich den Eingangsbereich beobachten, sah jeden, der hereinkam oder hinausging, und hatte Pat und eine Säule als Sichtschutz vor mir. Mir kam es darauf an, einen guten Überblick zu haben, weil ich genau wissen mußte, was um mich herum vorging.

Ich betrachtete Pat und verzichtete darauf, ihn wegen seines schütter gewordenen Kopfhaars aufzuziehen. Er wirkte alt und verbraucht. Seine Augen waren nicht mehr klar und scharf, sondern rotgerändert und trüb. Er hatte zugenommen, und sein Schmerbauch wölbte sein T-Shirt nach vorn und quoll über seinen Gürtel. Sein Gesicht war aufgedunsen, und ich konnte seinen Adamsapfel kaum noch ausmachen.

»Wir sind hier, weil ich in Amerika Urlaub mache, um dich zu besuchen, und wir einkaufen wollen.«

»Gut.«

Für den denkbaren Fall, daß Pat ein Abhörmikrofon am Körper trug, mußte ich ihn noch auf die Probe stellen.

»Sollte es Schwierigkeiten geben, verschwinde ich dorthin.« Ich zeigte zu den Toiletten hinüber. Ich wartete darauf, daß er fragen würde: »Oh, du willst durch die Toilette abhauen?« Damit wären etwaige Mithörer informiert gewesen. Das tat er jedoch nicht, sondern sagte nur: »Okay.« Das bewies mir, daß ich unbesorgt mit ihm reden konnte. Jetzt durfte ich keine Zeit mehr verlieren.

»Wie geht’s dir, Kumpel?« fragte ich.

»So lala. Aber bestimmt verdammt viel besser als dir. Wie hast du mich gefunden?«

»Durch Sherry im Good Fellas.« Pat lächelte, als er diese Namen hörte. »Yeah, Respekt, Kumpel!«

Sein Grinsen wurde breiter. »Okay, was liegt an?«

»Die gesamte Polizei ist hinter mir her.«

»Scheint so.« Seine rotgeränderten Augen blinzelten.

Ich berichtete, was ich erlebt hatte, und war noch mitten in meinem Bericht, als eine Serviererin die Baguettes brachte. Die Dinger waren riesig, groß genug, um eine ganze Familie zu ernähren.

»Was, zum Teufel, hast du bestellt?« fragte ich ihn. »Damit sitzen wir bis heute abend da!«

Pat biß heißhungrig hinein und kämpfte mit den Käsefäden, die zwischen seinen Lippen und dem Baguette hingen. Bei diesem Anblick fragte ich mich, wann er zuletzt gegessen haben mochte.

Ich hatte es zu eilig, meinen Bericht loszuwerden, um Appetit zu haben. »Hör zu, Kumpel«, sagte ich, »ehrlich gesagt will ich bloß abhauen und nach England zurück - aber das ist nicht so einfach. Ich muß rauskriegen, was hier vorgeht; ich muß wissen, was hinter dieser Sache steckt. Du erinnerst dich an Simmonds?«

»Yeah. Ist er noch dabei?«

»Ja. Ich habe mit ihm telefoniert. Ich habe ihm sogar angedroht, mein Sicherheitspaket zu öffnen, wenn die Firma mir nicht aus diesem Schlamassel raushilft.«

Pat machte große Augen. »Wow, das kann verdammt gefährlich werden! Jetzt sitzt du echt in der Scheiße. Was hat Simmonds zu deiner Drohung gesagt?« Seine Schultern machten eine langsame Rollbewegung, als er mit vollem Mund lautlos lachte.

Ich erzählte noch eine Viertelstunde weiter. Als ich fertig war, fragte Pat: »Glaubst du, daß die PIRA Kev umgelegt hat?« Sein begehrlicher Blick war auf mein Baguette gerichtet, das ich nicht angerührt hatte. Ich schob meinen Teller zu ihm hinüber.

»Weiß der Teufel. Keine Ahnung, was hinter diesem

Anschlag steckt. Hast du irgendeine Idee?«

»In Washington hat’s Gerüchte über eine amerikanische Beteiligung an dem 1988 in Gibraltar durchgeführten Unternehmen gegeben.«

»Was für eine Beteiligung?«

»Das weiß ich nicht. Es hat irgendwas mit den Stimmen der irisch-amerikanischen Wähler und diesem ganzen Scheiß zu tun. Und vielleicht auch damit, daß die PIRA sich Geldmittel von Noraid verschafft, indem sie auf dem Drogenmarkt mitmischt.«

Ich fragte mich, woher Pat das wußte. Vielleicht bezog er seine Drogen aus dieser Quelle. Der Gedanke daran machte mich traurig.

Während Pat auch mein Baguette verschlang, überlegte ich angestrengt weiter. »Vielleicht ist das der Zusammenhang mit Kev«, sagte ich. »DEA, Drogen, was denkst du?«

»Schon möglich. Die Briten kritisieren die Amerikaner seit Jahren, weil Noraid die PIRA finanziell unterstützt, aber die Yankees wissen, daß mit ihren Millionen irischamerikanischer Wähler nicht zu spaßen ist.«

Ich lehnte mich zurück und musterte ihn prüfend. »Darf ich fragen, woher du das alles weißt?«

»Wissen ist zuviel behauptet. Ich habe nur gehört, daß die PIRA Kokain kauft und dann streckt, sobald sie das Zeug aus den USA rausgebracht hat. Diese Geschichte macht seit vielen Jahren die Runde, daran ist nichts Neues. Aber vielleicht ist das ein guter Ausgangspunkt für dich. Scheiße, ich meine, du bist doch der Intelligenzler, nicht ich.«

Das klang vernünftig. Haben Terroristen etwas Geld übrig, kaufen sie natürlich Drogen, strecken sie und erzielen damit schöne Gewinne. Und die US-Regierung wird sich hüten, gegen die Hilfsorganisation Noraid vorzugehen, denn das wäre politischer Selbstmord gewesen. Aber wenn sich beweisen ließ, daß Noraid in den Drogenhandel verwickelt war, sah die Sache anders aus. Vielleicht hatte Kev gegen die PIRA gearbeitet und war von ihr beseitigt worden.

»Glaubst du, daß Kev irgendeiner Sauerei auf der Spur gewesen ist?« fragte ich Pat. »Oder daß er vielleicht sogar in sie verwickelt gewesen und deshalb liquidiert worden ist?«

»Keine Ahnung, Kumpel. Von solchen Sachen kriege ich bloß Kopfschmerzen.« Er machte eine Pause. »Also, raus damit, was brauchst du?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Cash.«

Er legte den Rest meines Baguettes hin, zog seine Geldbörse hervor und gab mir eine Bankkarte. »Auf diesem Konto sind ungefähr dreitausend Dollar«, erklärte er mir. »Es ist ein Sparkonto, von dem du jederzeit abheben kannst, soviel du brauchst. Was ist mit der Kleinen? Was wird aus ihr?«

»Ihr geht’s gut, Kumpel. Sie ist bei mir.«

Falls er mich verraten wollte, hatte ich damit wenigstens angedeutet, daß ich mir dieser Möglichkeit bewußt war und Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatte.

»Vielen Dank für alles, Kumpel«, sagte ich. »Für die Karte und dafür, daß du prompt gekommen bist.« Ich hatte gewußt, daß er mir helfen würde, aber ich wollte nicht, daß er dachte, ich hielte alles für selbstverständlich.

»Also, du kannst dich darauf verlassen, daß ich dich nicht in die Scheiße reinziehe«, fuhr ich fort. »Ich kompromittiere dich bestimmt nicht, aber ich brauche noch etwas. Kannst du mich heute abend noch mal anrufen? Ich muß mich hinsetzen und darüber nachdenken, was ich zu tun habe.«

»Gegen halb zehn?«

Ich nickte lächelnd. Im nächsten Augenblick hatte ich den zweiten guten Einfall dieses Tages. »Kennst du irgendwelche Sinn-Fein- oder PIRA-Adressen in

Washington?«

»Nein, aber ich kann nachfragen. Woran denkst du?«

»Ich muß rausbekommen, ob es eine Verbindung zwischen der PIRA und den Leuten gibt, die mich umzulegen versuchen - und die vermutlich Kev liquidiert haben. Könnte ich kontrollieren, wer bei einer

bestimmten Adresse ein und aus geht, wäre das immerhin schon ein Anfang. Ergibt sich etwas, könnte ich vielleicht reingehen und mich ein bißchen umsehen.«

Pat verschlang den Rest meines Baguettes.

»Vorsichtig, Kumpel, dabei kannst du leicht unter die Räder kommen.«

»Keine Angst, mir passiert nichts. Okay, ich bleibe hier. Ich lasse dir zehn Minuten Vorsprung, bevor ich gehe. Das Mobiltelefon ist ab fünf vor halb

eingeschaltet.«

»Kein Problem, wir telefonieren. Alles Gute!«

Pat stand auf und pickte ein paar Schinken- und

Käsestückchen aus dem Baguettekorb.

»Sherry, was?« fragte er. »Wie sieht sie aus? Sie hat wohl Sehnsucht nach mir?« Dann ging er davon, und die Rollbewegung seiner Schultern zeigte, daß er lautlos lachte.

15

Ich kehrte durch das Sears ins Einkaufszentrum zurück, fand einen Geldautomaten und hob dreihundert Dollar ab.

Draußen war es längst dunkel, aber der Andrang in den Geschäften war eher noch stärker. Da nicht auszuschließen war, daß ich beobachtet wurde, um geschnappt zu werden, wenn ich mich mit Kelly traf, wartete ich in einiger Entfernung, bevor ich sie abholte. Aber ich sah nichts Verdächtiges; Sorgen machten mir nur die Überwachungskameras. Je rascher ich Kelly dort rausholte, desto besser.

Ich beobachtete die Umgebung zehn Minuten lang, bevor ich mich näher an Kids Have Fun heranwagte. Schräg gegenüber lag ein Sportgeschäft; ich ging hinein und verwandelte mich augenblicklich in einen Basketballfan, der die in Schaufensternähe ausgestellten Trikots eingehend begutachtete. Kids Have Fun war voller Kinder, aber ich konnte Kelly nirgends sehen.

Ich schaute mich ein bißchen im Laden um, ging zu dem Trikotständer zurück, und dann entdeckte ich sie. Sie saß auf dem Fußboden vor einem Monitor, auf dem ein Kinderfilm lief. Um sie herum hockte ein gutes

Dutzend weiterer Kids - alle mit einem kleinen Saftkarton in der Hand. Mir dämmerte, daß dieses Mädchen nichts tat außer essen, trinken und fernsehen. Kein Wunder, daß sie nicht mehr wie Slack Pat aussah.

Ich ging hinein, legte meine Ausweiskarte vor und fragte nach meiner Tochter. Als festgestellt worden war, daß ich abholberechtigt war, erschien Kelly einige Minuten später, begleitet von einer Betreuerin.

Ich machte mich daran, ihr die Schuhe anzuziehen. »Hi, Josie, wie hat’s dir gefallen?«

Sie war sauer, weil ich sie mitten aus einem Film herausgeholt hatte. Das erschien mir als gutes Zeichen; es bewies, daß Kelly ihren Schock zu überwinden begann. Für mich war es eine Erleichterung gewesen, sie eine Zeitlang nicht bei mir zu haben, aber jetzt freute ich mich darüber, sie wiederzuhaben. Ich wußte nicht recht, wie ich das deuten sollte.

Wir nahmen ein Taxi, stiegen aber etwa vier Straßenblocks vor dem Motel aus und gingen zu Fuß weiter, um diesen einzigen sicheren Bereich nicht zu gefährden.

Ich öffnete die Zimmertür. Der Fernseher lief noch und erzählte uns von den Vorzügen der Automarke Nissan. Ich machte Licht, forderte Kelly auf, vorläufig auf dem Balkon zu bleiben, und sah mich im Zimmer um.

Die Betten waren nicht gemacht, und die noch immer zugezogenen Vorhänge ließen darauf schließen, daß das Zimmermädchen sich an das Schild Bitte nicht stören an der Tür gehalten hatte. Natürlich war ihr das scheißegal gewesen - sie hatte ein Zimmer weniger sauberzumachen

und bekam trotzdem denselben Lohn.

Viel bedeutsamer war, daß sich an der von mir umgeschlagenen Bettdecke nichts verändert hatte. Hätte ich von der Tür aus gesehen, daß sie jetzt anders lag, hätte ich sehr rasch entscheiden müssen, ob es nicht besser war, einfach davonzulaufen.

Wir gingen hinein. Ich stützte mich auf den Fernseher, um einen Blick hinter die Kommode zu werfen. Das Zündholz steckte noch zwischen Wand und Möbelstück; sein Kopf bedeckte weiter den Kugelschreiberpunkt. Selbst wenn jemand gemerkt hätte, daß das Streichholz heruntergefallen war, war es äußerst unwahrscheinlich, daß es an genau diese Stelle zurückgesteckt worden war. Bisher sah alles gut aus.

»Was machst du, Nick?«

»Ich sehe bloß nach, ob der Stecker richtig festsitzt. Mir ist’s vorgekommen, als würde er gleich rausfallen.«

Sie äußerte sich nicht dazu, sondern starrte mich nur an, als zweifle sie an meinem Geisteszustand. Ich kniete nieder, um die Schublade zu kontrollieren.

»Kann ich dir helfen, Nick?«

»Ich will nur feststellen, warum der Fernseher so blechern klingt.«

Sie setzte sich aufs Bett und fing an, eine Tüte Oreos zu futtern. Dieses Mädchen hatte wirklich einen gesegneten Appetit.

Die niedrige Kommode hatte drei Schubladen, und ich hatte die Büroklammer vorn links in den Spalt der mittleren Schublade gesteckt. Ich holte die Tischlampe herunter, schaltete, sie ein und versuchte, das metallische

Glitzern der Büroklammer zu erkennen. Als ich es sah, wußte ich, daß die Schublade nicht geöffnet worden war.

Als nächstes kümmerte ich mich um Kelly - ich zog ihr den Mantel aus, steckte ihre Schuhe in die Taschen und hängte ihn an die Tür. Danach machte ich ihr Bett sauber, sammelte alle leeren Packungen ein und wischte die Krümel auf den Fußboden.

»Bist du hungrig?« fragte ich.

Kelly betrachtete ihre halbleere Packung Oreos. »Ich weiß nicht recht. Glaubst du, daß ich hungrig bin?«

»Todsicher. Ich gehe noch mal los und hole uns was zu essen. Du bleibst hier, und ich lasse dich länger aufbleiben. Aber das darfst du nicht weitererzählen, das muß unser kleines Geheimnis bleiben!«

Sie lachte. »Keine Angst, ich sage nichts!«

Ich merkte, daß ich ebenfalls Hunger hatte. Mein Baguette im SubZone hatte Pat verschlungen.

»Du weißt, was du zu tun hast, nicht wahr?« Ich wiederholte es sicherheitshalber. »Ich hänge das Schild Bitte nicht stören an die Tür, und du machst keinem Menschen auf. Hast du verstanden?«

»Todsicher.«

Ich starrte sie an. »Willst du mich nachäffen?«

»Todsicher.«

Auf den Straßen war es ruhiger geworden, und der Regen hatte nachgelassen. Ich kaufte jede Menge Klamotten für uns beide - Pullover, Jacken, Mäntel, Jeans, Blusen und Hemden -, mit denen wir mindestens zweimal unser Aussehen verändern konnten.

Dann ging ich zur Burger-Bar hinüber. Während ich dort anstand, überlegte ich mir, wie verrückt das alles war. Gerade war ich noch zur Einsatzbesprechung in Vauxhall gewesen; im nächsten Augenblick versuchte ich schon, mich daran zu erinnern, welche Geschmacksrichtung eine Siebenjährige bei Milchshakes bevorzugte. Ich fragte mich, ob die beiden Blusen, die ich für sie gekauft hatte, ihr gefallen würden.

Auf dem Rückweg sah ich auf meine Armbanduhr. Es war 21 Uhr 20; ich war länger als erwartet unterwegs gewesen. Es wurde Zeit, das Mobiltelefon einzuschalten. Ich stellte mich in einen Ladeneingang, um vor dem Nieselregen geschützt zu sein.

Punkt halb zehn klingelte mein Telefon. Ich war gespannt, aber auch etwas nervös. Schließlich konnte der Anruf für Kev sein. Ich drückte auf das grüne Telefonsymbol. »Hallo?«

»Hi, ich bin’s. Ich hab’ was für dich.«

»Klasse. Augenblick ...« Ich hielt mir das andere Ohr zu, um besser zu hören. »Bitte weiter.«

»Die Adresse ist eins-zwo-sechs Ball Street. Im alten Teil von Crystal City am Fluß - zwischen Pentagon und Washington National Airport. Verstanden?«

»Yeah.« Ich dachte darüber nach. Im Pentagon war ich mehrmals gewesen, und den Inlandsflughafen kannte ich ebenfalls. Ich hatte also eine ungefähre Vorstellung davon, wo die Ball Street lag. »Rufst du mich morgen wieder an?«

»Wird gemacht.«

»Zur gleichen Zeit?«

»Klar. Alles Gute, Kumpel.«

»Gleichfalls.«

Am anderen Ende wurde aufgelegt. Ich schaltete mein Telefon aus und wiederholte die Adresse, um sie mir einzuprägen. Aufschreiben durfte ich sie nicht. Wurde ich geschnappt, mußte ich steril sein.

Auf dem Weg zurück ins Motel war ich in recht gehobener Stimmung. Bisher war ich ziellos herumgeirrt. Ich wußte noch nicht, was ich mit Pats Informationen anfangen würde, aber damit war ein Anfang gemacht. Ich hatte wieder mehr das Gefühl, am Steuer zu sitzen.

Wir aßen und sahen eine Weile miteinander fern, aber Kelly schien sich lieber mit mir unterhalten zu wollen.

»Siehst du daheim auch fern, Nick?«

»Manchmal.«

»Was ist deine Lieblingssendung?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht die Nachrichten. Wir haben ein anderes Programm, weißt du. Was siehst du am liebsten?«

»Clueless.«

»Was ist das - eine Kriminalserie?«

»Blödmann, Dummkopf, Volltrottel! Das ist eine Serie über ein Mädchen.« Sie imitierte sehr gekonnt ein Valley Girl.

»Was macht die den ganzen Tag?«

»Sie geht einkaufen.«

Kurz vor elf war Kelly eingeschlafen. Ich holte den Stadtplan heraus, den ich im Hotel Latham zurückzugeben vergessen hatte, und suchte die Ball

Street.

Ich folgte dem Potomac nach Süden, bis ich den Washington National Airport sah. Das Zielobjekt lag zwischen dem Flughafen und dem Pentagon auf dem Westufer des Flusses. Ich mußte unwillkürlich schmunzeln. Falls die Jungs der PIRA sich tatsächlich dort einquartiert hatten, hatten sie verdammt viel Mut; wahrscheinlich tranken sie in denselben Bars wie die Jungs vom National Security Council.

Im Augenblick konnte ich nicht viel unternehmen. Kelly lag auf dem Rücken, als imitiere sie einen Seestern. Ich deckte sie zu, räumte den ganzen Scheiß von dem anderen Bett ab und legte mich hin. Ich glaubte, die Stimme des Sergeants zu hören, der uns Rekruten vor vielen Jahren eingebleut hatte: »In jeder Gefechtspause wird geschlafen, verstanden? Ihr wißt nie, wann ihr wieder Gelegenheit dazu bekommt.« Wenigstens diesmal hielt ich mich an seine Befehle.

Als ich aufwachte, schien noch immer derselbe Zeichentrickfilm zu laufen. Ich hatte offenbar vergessen, den Fernseher auszuschalten. Ich lechzte nach einer Tasse Kaffee.

Ich stand auf, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, um halbwegs präsentabel zu sein, und sah aus dem Fenster. Draußen regnete es wieder stärker. Ich ging nach unten und holte am Frühstücksbüfett Speisen und Getränke für drei Personen - bestimmt nicht zuviel, wenn ich daran dachte, welche Mengen Kelly verdrückte.

»Aufwachen!« sagte ich.

Kelly wollte ein Seestern bleiben, aber schließlich wachte sie doch auf, gähnte, räkelte sich und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Ich ging ins Bad und ließ ihr Badewasser einlaufen.

Sie erschien in ein Handtuch gewickelt an der Tür des Badezimmers. Anscheinend begriff sie allmählich, womit ihr Tag begann.

Während sie in der Wanne planschte, saß ich auf der Bettkante und suchte die Nachrichtenkanäle ab. Von uns war nirgends die Rede. In der Mordhauptstadt der USA hatte es inzwischen so viele weitere Morde gegeben, daß der Fall Brown längst ein alter Hut war.

Kelly kam aus dem Bad, zog sich an und bürstete ihre Haare - diesmal alles selbständig. Ich riß eine Packung Cornflakes auf, die man aus der Schachtel essen konnte, und goß ihr etwas Milch hinein, bevor ich unter die Dusche ging.

Als ich geduscht und rasiert ins Zimmer zurückkam, erklärte ich ihr: »Wir müssen heute von hier weg.«

Sie lächelte erwartungsvoll. »Darf ich wieder nach Hause? Du hast gesagt, daß Pat uns hilft, damit ich wieder nach Hause kann.«

Ich nahm ihren Mantel vom Haken und half Kelly, ihre Schuhe anzuziehen. »Daddy braucht noch etwas Ruhe. Pat sagt uns, wann es soweit ist«, behauptete ich. »Aber erst haben wir noch einiges zu erledigen. Ich kann dir wirklich schlecht erklären, was im Augenblick alles läuft, Kelly, aber ich verspreche dir, daß du bald nach Hause kannst.«

»Gut, denn Jenny und Ricky haben Sehnsucht nach mir.«

Mein Herz schien für einen Moment auszusetzen. Hatte ich Mist gebaut? War noch jemand im Haus gewesen?

Sie schien meine Gedanken lesen zu können. »Das sind meine Teddybären.« Sie lachte, aber dann wurde sie gleich wieder ernst. »Ich habe Sehnsucht nach ihnen. Und ich möchte zu Melissas Party gehen.«

Ich tätschelte ihr den Kopf. Sie sah zu mir auf, als verbitte sie sich meine gönnerhafte Art. Ich wechselte rasch das Thema.

»Paß auf, ich zeige dir, wohin wir wollen.«

Ich faltete den Stadtplan auseinander. »Hier sind wir, und dort wollen wir hin - ganz in die Nähe des Flusses. Wir nehmen uns ein Taxi, finden ein nettes Hotel und fragen, ob sie Kabelfernsehen haben, damit wir Filme sehen können. Wenn du willst, können wir auch mal ins Kino gehen.«

»Vielleicht in Jungle Jungle?«

»Natürlich!«

Was für ein Scheißfilm war das wieder? Egal, wenn wir nur das Thema gewechselt hatten.

Nachdem ich an der Rezeption gezahlt und zu meinem Erstaunen einen Rabatt für mehrere Nächte erhalten hatte, ging ich wieder hinauf, um Kelly und die blaue Reisetasche zu holen. Kevs Pistole ließ ich im Spülkasten der Toilette zurück. Für diese Waffe hatte ich nur ein 9- mm-Magazin, während ich für die Sig Kaliber 45 drei volle Magazine hatte.

Wir verließen das Motel, wandten uns nach links und bogen sofort wieder links ab. Ich wollte außer Sichtweite der Rezeption sein, bevor jemand auf die Idee kam, sich zu fragen: »Wo ist seine Ehefrau?«

Wir hielten ein Taxi an, und ich nannte als Fahrtziel die Pentagon City. Der Taxifahrer, ein Asiate Mitte Sechzig, hatte einen Stadtplan auf dem Beifahrersitz liegen, machte sich aber nicht die Mühe, einen Blick hineinzuwerfen. Jedenfalls schienen wir in die richtige Richtung unterwegs zu sein. Kelly trug ihren Hut. Ich dachte daran, sie damit aufzuziehen, daß sie wie Paddington Bear aussah, aber die dann nötige Erklärung wäre zu langwierig gewesen.

Der Fahrer wollte wissen, wo genau er uns absetzen sollte.

»Bitte an der Metrostation«, verlangte ich. Ich hatte keine Ahnung, wo die Station lag, aber sie erschien mir als geeignetes Fahrtziel.

Ich bezahlte den alten Knaben, und er ratterte davon. Wir standen in einem Viertel mit neuen, luxuriösen Wohn- und Geschäftshäusern. Ganz in der Nähe gab es ein Ritz-Carlton-Hotel, und einige Minuten entfernt stand das Pentagon. Nachdem ich mich orientiert hatte, führte ich Kelly ins nächste Einkaufszentrum. Ich wollte zu einem Geldautomaten, um einen neuen Tag finanzieren zu können.

Wir kamen wieder ins Freie, überquerten den Parkplatz und gingen in Richtung Fluß weiter. Für mich war das ein seltsames Erlebnis, denn an diesem Morgen fühlte ich mich erstmals wirklich für sie verantwortlich. Ich hatte sie immer an der Hand genommen, wenn wir Straßen überquert hatten, aber jetzt erschien es mir natürlich, auch auf dem Gehsteig ihre Hand zu halten. Ich mußte zugeben, daß es schön war, sie bei mir zu haben, aber das mochte daran liegen, daß ich wußte, daß Kelly die ideale Tarnung für mich war.

Wir gingen unter einer Stahlbetonbrücke des in die Innenstadt führenden Freeways hindurch. Der über uns hinwegrauschende Verkehr klang wie gedämpfter Donner. Ich erzählte Kelly von der Szene in dem Film Cabaret, in der Sally Bowles unter eine Eisenbahnbrücke geht, um laut zu kreischen, wenn ihr alles zuviel wird. Aber ich erzählte ihr nicht, daß ich das in den letzten achtundvierzig Stunden am liebsten dauernd getan hätte.

Hinter der Brücke veränderte sich die Stadtlandschaft. Man konnte sich gut vorstellen, wie das Gebiet vor fünfzig oder sechzig Jahren ausgesehen haben mußte, denn es war noch nicht mit Neubauten vollgepflastert. Statt dessen standen hier alte Bauten, viele mit Gleisanschluß, von denen manche als Bürogebäude genutzt wurden. Aber der größte Teil des Areals war als Bauland eingezäunt oder diente vorerst als Schrottplatz.

Ich blickte nach links und sah den auf Stelzen verlaufenden Freeway in der Ferne in Richtung Innenstadt verschwinden. Neben der Betonwand, die offenbar die Stützen tarnen sollte, zog sich eine Straße entlang. Sie hatte keinen Gehsteig, nur ein mit Getränkedosen und Zigarettenpackungen übersätes Bankett, auf dem Autos geparkt waren, deren Fahrer sich die hohen Parkgebühren in der Innenstadt sparen wollten. Obwohl die meisten Gebäude alt und verfallen waren, herrschte hier noch Leben. Auf der rechten Straßenseite hatte sich in einem ehemaligen Lagerhaus ein freies Theater etabliert. Der Gleisanschluß war noch vorhanden, aber zwischen den rostigen Schienen wucherte Unkraut. Und über allem lag das ständige Brausen des Verkehrs auf der Hochstraße.

Wir kamen an einem Schrottplatz vorbei und sahen eine ehemalige Verladestelle, an der Frachtkähne angelegt hatten, um ihre Zementladung zu löschen. Dann entdeckte ich etwas, das so wenig in diese Gegend paßte, daß es fast surreal wirkte: das Hotel Calypso, ein Bau aus den sechziger Jahren, der aus unerfindlichen Gründen noch nicht abgerissen worden war. Er stand in einem Meer aus Stahl, Glas und glasierten Ziegeln, als habe sein Besitzer standhaft alle Angebote der Bauträger abgelehnt, die in diesem Sanierungsgebiet luxuriöse Neubauten errichteten.

Das Calypso war ein sehr schlichtes dreistöckiges Gebäude in Form eines offenen Vierecks; sein als Parkplatz dienender Innenhof war mit Personenwagen und Pick-ups zugestellt. Seine fensterlosen Außenwände wiesen lediglich Öffnungen für die Klimaanlagen auf. Ich bog links ab, ging an dem rechts neben mir liegenden Hotel vorbei und bewegte mich nun parallel zur Ball Street, die dahinter verlief. Kelly sagte schon längere Zeit nichts mehr. Ich befand mich jetzt ohnehin im Arbeitsmodus, und hätte ich sie nicht an der Hand gehalten, hätte ich vielleicht vergessen, daß ich sie bei mir hatte.

Als wir das Calypso erreichten, wischte ich mir den Nieselregen aus dem Gesicht und blickte nach oben. Auf dem Flachdach des Hotels stand eine riesige Satellitenantenne von mindestens drei Metern Durchmesser, die auch aufs Dach des Pentagons gepaßt hätte. Wir bogen zweimal rechts ab und erreichten die Ball Street.

Nach den Hausnummern auf dem Stadtplan mußte das Gebäude, das ich suchte, links stehen. Um einen besseren Überblick zu haben, blieb ich auf der rechten Straßenseite.

Auch hier herrschte unglaublicher Lärm; startete nicht gerade eine Maschine auf dem nahe gelegenen Flughafen, dröhnte und rauschte der Verkehr auf dem Highway 1.

»Wohin wollen wir?« Kelly mußte schreien, um sich bei diesem Lärm verständlich zu machen.

»Nur ein kleines Stück weiter.« Ich nickte die Straße entlang. »Ich will sehen, ob ich das Büro eines Freundes finden kann. Und danach suchen wir uns ein nettes Hotel, in dem wir bleiben können.«

»Warum müssen wir dauernd von einem Hotel ins andere umziehen?«

Schwierige Frage. Um ihren Blick nicht erwidern zu müssen, gab ich vor, mich auf die Hausnummern zu konzentrieren. »Äh, weil ich mich schnell langweile - vor allem, wenn das Essen nicht besonders ist. Unser letztes Motel ist Schiet gewesen, stimmt’s?«

Eine Pause, dann fragte sie: »Was heißt Schiet?«

»Es bedeutet, daß etwas nicht sehr nett ist.«

»Das Zimmer war in Ordnung.«

»Es ist schmuddelig gewesen. Wir gehen in ein anständiges Hotel, da gefällt’s dir bestimmt besser.«

»Warum bleiben wir nicht einfach bei mir?«

Ein Verkehrsflugzeug war gerade gestartet und drehte mit starker Schrägneigung scheinbar in Dachhöhe über uns hinweg ab. Wir beobachteten es eine Zeitlang wie gebannt; sogar Kelly war beeindruckt.

Als der Triebwerkslärm verhallt war, sagte ich: »Komm, wir müssen dieses Büro finden.«

Ich starrte weiter nach vorne links und versuchte zu erraten, welches Gebäude es sein würde. In der Ball Street gab es eine verwirrende Gebäudevielfalt: Zwischen alten Fabriken und Lagerhäusern befanden sich moderne einstöckige Bürogebäude mit Parkplätzen und große Abstellflächen für Lkw-Container. Zwischen manchen Gebäuden waren einige der Bäume zu sehen, die in etwa dreihundert Meter Entfernung den Potomac säumten.

Unterdessen waren wir bei Hausnummer 100 angelangt, also mußte das PIRA-Gebäude bald kommen. Wir gingen weiter bis zu einem noch ziemlich neuen einstöckigen Bürogebäude mit freiliegender Stahlkonstruktion und an der Fassade hochgezogenen

Lüftungsrohren. Drinnen brannten überall Leuchtstoffröhren. Ich versuchte die Firmenschilder zu lesen, aber der regnerische Tag war so trüb, daß ich näher hätte herangehen müssen, was ich nicht wollte. Auf einem Messingschild stand Unicom, aber die anderen konnte ich nicht lesen.

Dieses Gebäude hatte wenig Ähnlichkeit mit den SinnFein- oder PIRA-Büros, die ich kannte. In der Cable Street in Londonderry befand sich das Büro beispielsweise in zwei Ober- und Untergeschossen eines Terrassenhauses aus den zwanziger Jahren, und die Zweigstellen in West-Belfast sahen kaum anders aus. Es waren jedenfalls keine High-Tech-Bürogebäude, die ans Centre Pompidou in Paris erinnerten. Hatte Pat sich etwa getäuscht? Ich hätte jedenfalls ein verfallenes altes

Mietshaus erwartet. Vielleicht war dies nur eine

Tarnadresse - ein Bürogebäude, in dem legale Firmen ihren ebenso legalen Geschäften nachgingen.

Ich sah mir das Haus 126 Ball Street im Vorbeigehen genau an, ohne mich jedoch nach ihm umzusehen. Alle wichtigen Informationen muß man gleich auf den ersten Blick erfassen.

»Nick?«

»Was?«

»Ich hab’ nasse Füße.«

Ich sah mir ihre Schuhe an. Sie waren tatsächlich

durchgeweicht. Ich hatte mich so sehr auf meinen

Erkundungsauftrag konzentriert, daß ich nicht auf die Pfützen geachtet hatte, durch die wir gegangen waren. Ich hätte ihr in dem Einkaufszentrum ein Paar

Gummistiefel kaufen sollen.

Wir erreichten eine Querstraße. Nach links fiel die Straße leicht zum Potomac hin ab. Beide Straßenseiten waren zugeparkt und von weiteren Schrottplätzen gesäumt.

Ich sah nach rechts. Am Ende der Straße führte der Highway 1 vorbei, und unmittelbar davor ragte die Satellitenschüssel des Hotels Calypso auf. Ich war sehr mit mir zufrieden. Ich hatte das Zielobjekt besichtigt und eine Unterkunft gefunden - und das alles vor elf Uhr morgens.

16

Wir gingen über den Parkplatz des Hotels Calypso. Ich zeigte auf die Lücke zwischen einem Pick-up und einem UPS-Lieferwagen. »Du wartest unter dem Treppenaufgang; dort bleibst du trocken. Ich komme bald wieder.«

»Ich will aber mitkommen, Nick.«

Ich tat wieder so, als müßte ich einen jungen Hund erziehen. »Nein ... du ... wartest ... hier. Ich bin gleich wieder da.« Ich verschwand, bevor sie widersprechen konnte.

Die Rezeption war in einem der Zimmer im Erdgeschoß untergebracht, das als Büro diente, und das Einchecken war ebenso lässig wie die ganze Atmosphäre des Hotels. Zu meiner Erleichterung fand die Story von der bedauernswerten Touristenfamilie aus England hier

viel rascher Glauben.

Ich ging hinaus, holte Kelly ab und ging mit ihr das Gebäude entlang zu der Außentreppe, die zu unserem neuen Zimmer im ersten Stock führte. In Gedanken plante ich bereits, was ich als nächstes tun mußte. Plötzlich zog Kelly an meiner Hand. »Doppelter Schiet!«

»Was?«

»Du weißt schon - überhaupt nicht nett. Du hast das andere als Schiet bezeichnet. Das hier ist doppelter Schiet.«

Sie hatte leider recht. Ich glaubte sogar, Erbrochenes zu riechen. »Nein, nein, wart’s nur ab. Hast du die Satellitenschüssel gesehen? Damit können wir wahrscheinlich sämtliche Programme der Welt empfangen. Kannst du dir vorstellen, wie toll das wird?«

Die Einrichtung unseres Zimmers bestand aus zwei französischen Betten, einem großen Fernseher, einem Sideboard, das bessere Tage gesehen hatte, einem Kleiderschrank, der lediglich aus einer Stange mit Kleiderbügeln in einer Wandnische bestand, und einer Kofferablage.

Ich warf einen Blick ins Bad und entdeckte ein Fläschchen Shampoo. »Siehst du das?« fragte ich Kelly. »Immer ein Zeichen für ein gutes Hotel. Wir sind im Ritz, glaub ich.«

Nachdem ich das Ladegerät eingesteckt und mein Mobiltelefon hineingestellt hatte, schaltete ich den Fernseher ein und fing an, eine Kindersendung zu suchen. Dieser Ablauf hatte sich inzwischen eingespielt.

Ich zog ihr den Mantel aus, schüttelte ihn leicht aus und hängte ihn weg. Dann trat ich an die Klimaanlage und drückte auf verschiedene Tasten, denn ich wollte, daß es hier richtig heiß wurde. Während ich darauf wartete, daß das Gerät zu arbeiten begann, fragte ich: »Was läuft denn?«

»Power Rangers.«

»Wer sind die?«

Ich kannte diese Serie recht gut, aber ein Gespräch unter Freunden konnte nie schaden. Wir brauchten nicht unzertrennlich zu werden - im Gegenteil, je eher mit diesem gemeinsamen Abenteuer Schluß war, desto besser. Aber damit unsere Beziehung normal wirkte, mußte sie normal sein, und ich wollte nicht geschnappt werden, bloß weil irgendein Klugscheißer den Verdacht hatte, wir gehörten nicht zusammen.

»Welche Figur gefällt dir am besten?«

»Katherine - die in Rosa.«

»Warum, wegen der Farbe?«

»Weil sie nie langweilig, sondern echt cool ist.« Dann erzählte sie mir alles über Katherine, die noch dazu Engländerin war. »Das gefällt mir, weil Daddy aus England stammt.«

Ich sorgte dafür, daß sie Jeans und ein Sweatshirt anzog. Das dauerte ewig lange, fand ich. Zum Teufel mit jeglicher Kinderbetreuung, die war nichts für mich. Tag und Nacht keine freie Minute mehr. Wozu Kinder haben, wenn man sie ständig bedienen muß?

Endlich war sie trocken und warm angezogen. Neben dem Fernseher stand eine Kaffeemaschine mit Kaffee, Milch und Zucker, die ich jetzt in Gang brachte. Als sie zu summen und zu blubbern begann, trat ich ans Fenster. Ein Blick durch die Netzvorhänge zeigte mir auf beiden Seiten je einen grauen, quadratischen Hotelflügel; unter mir lag der Parkplatz, und vor mir hatte ich die Stadtautobahn auf Stelzen. Ich merkte, daß meine Stimmung dieser tristen Aussicht entsprach.

Es regnete noch immer. Ich sah die Wasserfahnen, die Lastwagen hinter sich herzogen. Der Regen war nicht stark, aber so dauerhaft, daß er überall eindrang. Ich merkte plötzlich, daß Kelly neben mir stand.

»Ich hasse solches Wetter«, sagte ich. »Schon immer, seit ich als junger Bursche zur Army gegangen bin. Noch jetzt mache ich mir an naßkalten, stürmischen Wintertagen einen Becher Tee, setze mich damit ans Fenster, sehe hinaus und denke an all die armen Soldaten, die irgendwo naß und frierend im Schützengraben hocken, vor Kälte schlottern und sich fragen, was sie eigentlich dort machen.«

Ich grinste schief, als die Kaffeemaschine zu blubbern aufhörte, und sah nachdenklich auf Kelly herab. Was hätte ich nicht dafür gegeben, wieder auf Salisbury Plain in einem klatschnassen Schützengraben zu hocken und nur überlegen zu müssen, was sich gegen Nässe, Kälte und Hunger tun ließ!

Ich streckte mich auf dem Bett aus, um in Ruhe über meine Möglichkeiten nachzudenken. Es waren nicht besonders viele. Warum wagte ich nicht einfach einen Fluchtversuch? Ich konnte Pässe stehlen und mein Glück auf dem Flughafen versuchen, aber die Aussichten, damit durchzukommen, waren sehr gering. Es gab jedoch auch unkonventionellere Routen zurück nach England. Von Kanada aus konnte man teils mit Fähren, teils auf dem Landweg zurückgelangen - eine bei Studenten beliebte Route. Oder ich konnte mich nach Süden, nach Belize oder Guatemala, durchschlagen. Ich hatte dort jahrelang im Dschungel gelebt und kannte die Insel San Pedro vor Belize, die Drogenschmugglern als Absprungbasis diente. Von dort aus konnte ich den nächsten mittelamerikanischen Hafen erreichen, in dem sich ein Schiff nach England finden ließ.

Noch bizarrer war eine weitere Möglichkeit: Einer meiner Regimentskameraden war mit einer einmotorigen Cessna von Kanada nach England geflogen. Außer einem Zusatztank hatte das winzige Flugzeug keinerlei Sonderausstattung an Bord gehabt. Das Funkgerät war eigentlich nicht geeignet gewesen, und er hatte die richtigen Antennenlängen ausprobieren müssen, indem er einen mit einem Ziegelstein beschwerten Draht aus der Maschine gehängt hatte. Er hatte einen Fallschirm getragen, um notfalls die Tür öffnen und abspringen zu können. Wie ich das schaffen sollte, war mir nicht klar, aber ich wußte zumindest, daß es zu schaffen war.

Aber diese Möglichkeiten waren alle viel zu riskant. Ich hatte keine Lust, den Rest meines Lebens in einem Staatsgefängnis zu verbringen, und wollte natürlich auch nicht, daß Kelly und ich bei einem Fluchtversuch umkamen. Simmonds hatte mir die beste Möglichkeit aufgezeigt. Kreuzte ich bei der Firma mit den gewünschten Informationen auf, würde ich zwar nicht mit offenen Armen, aber wenigstens in Gnaden aufgenommen werden. Ich mußte also bleiben und sie mir beschaffen.

Vorläufig ließ das Problem sich darauf reduzieren, daß ich feststellen mußte, wer in dem Gebäude in der Ball Street ein und aus ging.

»Kelly? Du weißt, was ich sagen will, nicht wahr?«

»Todsicher«, sagte sie lächelnd. Sie war mir offenbar wieder gut, weil ich ihr das Haar frottiert und sie in trockene Sachen gesteckt hatte.

»Zehn Minuten, okay?«

Ich schloß die Tür, horchte, hörte Kelly innen den Riegel vorschieben und hängte das Schild an den Türknopf. Links von mir erweiterte sich der Korridor zu einer Nische mit Automaten für Getränke und Snacks. Mit einer Coladose in der Hand ging ich an unserem Zimmer vorbei zum Lift. Rechts davon befand sich der Notausgang, der zu einem Treppenhaus aus Stahlbeton führte. Ich wußte, daß die Brandschutzvorschriften bestimmten, daß diese Treppe auch aufs Dach führen mußte; falls unten ein Brand ausbrach, sollten die Eingeschlossenen mit Hubschraubern gerettet werden können.

Ich stieg die Treppe hinauf. Eine zweiflüglige feuersichere Tür führte aufs Dach hinauf; man brauchte nur den Griff herunterzudrücken, um sie zu öffnen. An der Tür hing kein Warnschild, sie sei alarmgesichert, aber das mußte ich überprüfen. Ich suchte den Türrahmen ab, ohne einen Kontakt zu entdecken, der einen Stromkreis unterbrochen und Alarm ausgelöst hätte, drückte den Griff hinunter und stieß die Tür auf. Kein schrilles

Geklingel.

Das Flachdach war mit ziemlich grobem Kies bedeckt. Ich sammelte ein paar größere Steine ein und klemmte sie in die Tür, um sie offenzuhalten.

Auf dem Washington National Airport landete ein Flugzeug, dessen Landescheinwerfer im Nieselregen gerade noch erkennbar waren. Die Satellitenschüssel stand in der entferntesten Dachecke. Außerdem gab es hier oben ein grüngestrichenes Gehäuse aus Aluminium, das vermutlich den Elektroantrieb des Aufzugs enthielt. Die etwa einen Meter hohe Dachbrüstung machte mich vom Hotelparkplatz aus unsichtbar, aber von der Stadtautobahn mußte ich zu sehen sein.

Ich stapfte durch den Kies zu der dem Potomac zugewandten Dachseite. Aus dieser Perspektive konnte ich das Flachdach des Zielgebäudes mit seinen Lüftungsöffnungen sehen. Es war rechteckig und überraschend groß. Dahinter lag unbebautes Gelände mit eingeschlagenen Pflöcken, die darauf schließen ließen, daß es als Baugelände verkauft werden sollte. Hinter einer Baumreihe und dem Ende der Startbahn war gerade noch der Fluß zu sehen.

Auf dem Rückweg stieg ich wieder über mehrere dicke Elektrokabel hinweg und blieb vor dem Aufzuggehäuse stehen. Als nächstes brauchte ich einen Stromanschluß. Die Überwachungskamera, die ich aufstellen wollte, ließ sich auch mit Akkus betreiben, deren Betriebsdauer aber ungewiß war. Ich sah mir noch rasch die Tür des Aufzugsgehäuses an. Sie war mit einem Schloß in einfachster Ausführung gesichert, das sich mühelos würde knacken lassen.

In unserem Zimmer suchte ich mir aus den Gelben Seiten die Adressen einiger Pfandleiher heraus.

Dann ging ich ins Bad, setzte mich auf den Wannenrand und drückte die Patronen aus den Pistolenmagazinen, um die Federn zu entlasten. Das braucht man nicht jeden Tag zu tun, aber es ist gelegentlich nötig. An den meisten Ladehemmungen ist das Magazin schuld. Ich wußte nicht, wie lange es schon gefüllt war; ich konnte einen Schuß abgeben, und die nächste Patrone würde steckenbleiben, weil die Magazinfeder klemmte. Deswegen ist ein Revolver manchmal besser, der selbst dann noch funktioniert, wenn man ihn jahrelang geladen aufbewahrt. Ich entleerte die Magazine in meine Taschen, damit ich alles bei mir hatte: Munition, Magazine und Pistole.

Ich kam aus dem Bad zurück, schrieb mir eine Einkaufsliste mit den Sachen auf, die ich brauchen würde, und zählte mein Geld nach. Für heute reichte es jedenfalls. Morgen konnte ich wieder Geld abheben.

Um Kelly machte ich mir keine Sorgen. Sie hatte reichlich zu essen und schlief ohnehin schon halb. Ich drehte den Thermostat der Klimaanlage noch höher. In der Wärme würde sie noch schläfriger werden.

»Ich gehe noch mal los und kaufe dir Malbücher, Buntstifte und solche Sachen. Soll ich dir was von Micky D’s mitbringen?«

»Kann ich diesmal süßsaure Sauce zu meinen Fritten haben? Darf ich mitkommen?«

»Das Wetter ist zu scheußlich. Ich will nicht, daß du dich erkältest.«

Sie stand wortlos auf und ging zur Tür, um sie hinter mir zu verriegeln.

Ich verließ das Hotel und ging zur Metrostation.

17

Die Washingtoner Metro ist schnell und leise, sauber und effizient - praktisch alles, was eine U-Bahn sein sollte. Die Waggons sind geräumig und angenehm beleuchtet, was irgendwie dazu beiträgt, daß die Fahrgäste entspannter wirken als in London oder New York und sich manchmal sogar ansehen. Die Metro ist außerdem nahezu der einzige Ort der amerikanischen Hauptstadt, wo man nicht von siebzehn- oder siebenundsiebzigjährigen Vietnamveteranen um etwas Kleingeld angeschnorrt wird.

Nach sieben oder acht Stationen mit einmal Umsteigen auf demselben Bahnsteig war ich am Ziel. Die Adresse, zu der ich wollte, war nur wenige Straßenblocks entfernt, aber dieses Viertel gehörte ganz sicher nicht zu denen, die von Touristen besucht wurden. Ich war das Washington gewöhnt, in dem die Besitzenden wirklich alles besaßen. Dies war der Teil der Stadt, in dem die Habenichtse wirklich gar nichts hatten.

Das ebenerdige Gebäude stand etwas von der Straße zurückgesetzt und sah mit seiner mindestens fünfzig Meter langen Front eher wie ein Supermarkt als eine

Pfandleihanstalt aus. Die gesamte Fassade bestand aus Glas, das durch senkrechte Stahlstangen gesichert war. In den Schaufenstern war Pfandgut von Musikinstrumenten bis hin zu Surfbrettern und Bettzeug gestapelt. Leuchtendgelbe Poster versprachen alles von null Prozent Zins bis zum besten Goldankaufpreis der Stadt. Der Eingang wurde von drei bewaffneten Wachmännern kontrolliert, die mich beim Hereinkommen beobachteten.

Ein Blick durch einen der Gänge nach hinten zeigte mir eine lange, niedrige Glasvitrine, die zugleich als Verkaufstheke diente. Hinter dieser Theke standen über ein Dutzend Verkäufer, die alle die gleichen roten Polohemden trugen. Dort hinten schien der größte Andrang zu herrschen. Dann sah ich die vielen Handfeuerwaffen in der Glasvitrine. Ein Schild verkündete, ein Probeschießen mit jeder Waffe sei auf dem Schießstand hinter dem Gebäude möglich.

Ich ging zur Video-Abteilung weiter. In einer idealen Welt hätte ich eine Überwachungskamera gekauft, von der ein langes Kabel zu einem separaten Steuergerät führte, das auch den Videorecorder enthielt. So hätte ich die Kamera auf dem Dach aufbauen und das Steuergerät irgendwo verstecken können, zum Beispiel im Aufzugsgehäuse. Dort hätte ich leicht die Bänder austauschen können - und natürlich auch die Akkus, falls ich keinen Stromanschluß fand -, ohne die Kamera berühren zu müssen.

Leider konnte ich nichts dergleichen finden. Aber ich entdeckte etwas fast ebenso Gutes: eine Hi-8-

Videokamera, wie sie freiberufliche Fernsehjournalisten

verwendeten. Mit Teleobjektiven würde sie auch für größere Entfernungen brauchbar sein. Ich erinnerte mich daran, wie ich in Bosnien gearbeitet und dort Fernsehreporter mit solchen Kameras herumlaufen gesehen hatte. Alle hatten geglaubt, sie könnten ein Vermögen damit machen, daß sie den großen Fernsehgesellschaften »Action«-Videos verkauften.

Ich machte einen Verkäufer auf mich aufmerksam.

»Was kostet die Hi-8?« fragte ich mit meinem eher schlechten amerikanischen Akzent.

»Die ist praktisch neuwertig. Fünfhundert Dollar.«

Ich grinste nur.

»Also gut, machen Sie mir ein Angebot«, sagte er.

»Hat sie einen Zusatzakku und einen Anschluß für externe Stromversorgung?«

»Natürlich. Sie ist komplett ausgestattet - sogar die Tasche gehört dazu.«

»Kann ich sie in Betrieb sehen?«

»Natürlich, natürlich.«

»Okay, vierhundert in bar.«

Er machte, was jeder Elektriker und Installateur auf der Welt tut, wenn über Preise verhandelt wird: Er fing an, Luft durch seine Zähne einzusaugen. »Passen Sie auf, vierhundertfünfzig.«

»Abgemacht. Ich brauche auch ein Wiedergabegerät, aber dafür reicht ein einfacher Videorecorder.«

»Ich habe genau, was Sie brauchen. Kommen Sie bitte mit.«

An dem Gerät, das der junge Mann ganz hinten aus einem Regal holte, hing ein 100-Dollar-Preisschild. Und es schien ungefähr hundert Jahre alt zu sein, so verstaubt war es. »Passen Sie auf, ich mache Ihnen einen guten Preis«, sagte der Verkäufer. »Für neunzig Dollar gehört das Ding Ihnen.«

Ich nickte. »Außerdem brauche ich ein paar Objektive.«

»An welche Brennweite denken Sie?«

»Mindestens zweihundert Millimeter - für diese Kamera, am liebsten von Nikon.«

Ich rechnete mit einem Millimeter Brennweite für jeden Meter Aufnahmeentfernung. Nachdem ich über viele Jahre hinweg oft genug auf fremden Dachböden gesessen und Dachziegel herausgehoben hatte, um Zielpersonen filmen oder photographieren zu können, hatte ich aus bitterer Erfahrung gelernt, daß alle Mühe vergebens war, wenn die Aufnahmen letztlich doch keine Identifizierung ermöglichten.

Er zeigte mir ein 250-mm-0bjektiv.

»Wieviel?«

»Hundertfünfzig Dollar.« Er wartete darauf, daß ich sagen würde, das sei zu teuer.

»Okay, einverstanden - wenn Sie zwei 24-Stunden- Bänder und ein Verlängerungskabel drauflegen.«

Er wirkte fast enttäuscht, weil ich nicht versucht hatte, ihn herunterzuhandeln. »Wie lang?«

»Das längste, das Sie haben.«

»Fünf Meter?«

Ich sollte feilschen. Er sehnte sich geradezu danach.

»Abgemacht.« Jetzt war er zufrieden. Er hätte bestimmt auch ein Zehnmeterkabel gehabt.

Auf meinem Rückweg zur Metrostation kam ich an einem Walmart vorbei. Ich machte rasch einen Rundgang durch den Laden, um die Dinge zusammenzusuchen, die ich noch brauchte, um die Kamera betriebsfähig aufbauen zu können.

Während ich durch die Gänge schlenderte, machte ich etwas, das ich in aller Welt in solchen Geschäften tat: Ich sah mir Lebensmittel und Haushaltsreiniger an und stellte mir dabei vor, welche Bestandteile man zusammenmixen und aufkochen mußte, um einen Brand- oder Sprengsatz herzustellen. In zwanzig Minuten konnte man in jeder Filiale von Sainsbury’s alle Zutaten für einen Sprengsatz kaufen, der ausreichte, um ein Auto in die Luft zu jagen.

Heute brauchte ich jedoch nichts dergleichen. Ich kaufte nur eine große PET-Flasche Coca-Cola, eine Schere, eine Rolle Müllbeutel, eine kleine Maglite mit verschiedenen Filterscheiben, eine Rolle Klebeband und einen Satz Schraubenzieher und Zangen: einundzwanzig miese Teile, die mit fünf Dollar völlig überbezahlt waren; sie würden ungefähr fünf Minuten halten, aber länger brauchte ich sie auch nicht. Danach suchte ich für Kelly ein Buch mit Abenteuergeschichten, ein paar Malbücher, Buntstifte und andere Kleinigkeiten zu ihrer Unterhaltung zusammen. Und ich steckte noch ein paar Dollar in Mr. Oreos Taschen.

Ich fuhr zum Metrobahnsteig hinunter und fand einen Sitzplatz. Signalleuchten am Bahnsteigrand blinken, wenn ein Zug kommt; bis dahin lesen die meisten Einheimischen oder unterhalten sich. Da ich sonst nichts zu tun hatte, machte ich die Colaflasche auf, knabberte einen Keks, fing an, ein Punkt-zu-Punkt-Bild in einem der Malbücher nachzuziehen, und wartete auf die Lichter.

In Pentagon City regnete es nicht mehr, aber der Himmel war bleigrau, und die Straßen waren noch naß. Ich beschloß, rasch am Zielobjekt vorbeizugehen, um die Tatsache zu nutzen, daß ich ohne Kelly unterwegs war.

Ich überquerte den Parkplatz des Supermarktes, ging unter der Stadtautobahn hindurch und erreichte die Ball Street. Wenig später schlenderte ich an der Nummer 126 vorbei - diesmal auf der gleichen Straßenseite. Zwischen dichten Koniferen führten einige Betonstufen zu einer Glastür hinauf. Hinter ihr lag der Empfangsbereich mit einem weiteren Durchgang, der vermutlich in den eigentlichen Bürokomplex führte. Eine Überwachungskamera war auf den Eingang gerichtet. Die Fenster mit getönten Isolierscheiben ließen sich nicht öffnen. In den Räumen im Erdgeschoß und im ersten Stock schien es wie in allen heutigen Büros reichlich PCs und Pinnwände zu geben.

Ich konnte keine außen angebrachten Alarmanlagen oder ein Schild entdecken, das besagte, dieses Gebäude werde von einem Sicherheitsdienst überwacht. Vielleicht war die Alarmanlage auf der Rückseite des Gebäudes installiert. Sonstige vorhandene Einbruchsmelder waren vermutlich telefonisch mit der Polizei oder einem Bewachungsunternehmen verbunden.

Ich erreichte das Ende der Ball Street, bog rechts ab und ging ins Hotel zurück.

Unser Zimmer glich einer Sauna. Kellys Haare standen wirr vom Kopf ab, und sie hatte Schlaf in den Augen. Ihr Gesicht war zerknittert und mit Krümeln behaftet, als sei sie eingeschlafen, bevor sie den letzten Keks aufessen konnte.

Als ich meine Einkäufe aufs zweite Bett warf, fragte sie mißmutig: »Wo bist du gewesen?«

»Ich habe Unmengen Zeug mitgebracht.« Ich fing an, in die Tragetaschen zu greifen und die Sachen herauszuziehen. »Ich habe dir ein Buch mit Abenteuergeschichten gekauft, ein paar Malbücher, Buntstifte .«

Ich breitete die Sachen auf dem Bett aus, trat zurück und erwartete ein anerkennendes Wort. Statt dessen musterte sie mich, als sei ich übergeschnappt.

»Die hab’ ich schon ausgemalt.«

Das hatte ich nicht gewußt. Ich hatte angenommen, ein Malbuch sei ein Malbuch. Mir hatte die Aufgabe, Punkte zu einem Bild zu verbinden, richtig Spaß gemacht. »Macht nichts, ich habe Sandwiches und ein Coke mitgebracht, und du mußt jetzt möglichst viel trinken, weil ich die Flasche für etwas brauche.«

»Gehen wir nicht weg, um irgendwo was zu essen?«

»Da drin sind noch mehr Kekse . « Ich deutete auf eine der Tragetüten.

»Ich will keine Kekse mehr. Ich hab’s satt, immer hier drinnen zu sein.«

»Heute müssen wir im Hotel bleiben. Denk daran, im Augenblick suchen Leute nach uns, und ich will nicht, daß sie uns finden. Aber damit ist bald Schluß.«

Scheiße, was ist, wenn sie die Telefonnummer ihrer

Eltern kennt und zu telefonieren anfängt? dachte ich plötzlich. Während Kelly sich ein Glas Cola einschenkte, wobei sie die im Vergleich zu ihr riesige Flasche mit beiden Händen festhielt, beugte ich mich über den Nachttisch zwischen den beiden Betten und zog den Telefonstecker raus.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Gleich halb vier; noch über fünf Stunden, bis Pat sich wieder melden würde. Ich wollte meine Kamera installieren. Sie sollte ab morgen früh einsatzbereit sein; vielleicht konnte ich sie sogar anschließend noch eine Stunde arbeiten lassen, bevor es zu dunkel wurde.

Kelly stand auf und sah aus dem Fenster: ein gelangweiltes kleines Mädchen, das sich eingesperrt fühlte.

Ich goß mir ein Glas Cola ein und fragte: »Willst du noch was, bevor ich das Zeug wegkippe? Ich brauche die Flasche.«

Sie schüttelte den Kopf. Ich ging ins Bad, ließ den Inhalt der Flasche ins Waschbecken gluckern und riß das Etikett ab. Mit meiner neuen Schere schnitt ich den obersten Teil ab. Danach trennte ich den Boden ab, so daß ein Zylinder übrigblieb, den ich aufschnitt und flachdrückte. Aus diesem Material schnitt ich ein kreisrundes Stück aus, indem ich erst die Ecken des Rechtecks abrundete und dann die Kreisform herausarbeitete. Damit hatte ich mein Einbrecherwerkzeug.

Ich kam ins Zimmer zurück, überprüfte das Zuleitungskabel und machte die Kamera für Netz- oder

Akkubetrieb einsatzbereit.

»Was willst du mit der Kamera, Nick?«

Obwohl ich wider besseres Wissen gehofft hatte, daß Kelly das nicht fragen würde, hatte ich eine Lüge parat. »Ich will einen Videofilm machen, damit du hallo zu Mummy, Daddy und Aida sagen kannst, weil du gejammert hast, daß du dich langweilst. Also, sag schon hallo.«

Ich hob die Kamera ans Auge.

»Hallo, Mommy, Daddy und Aida«, sagte sie in die Kamera. »Wir sind in einem Hotel und warten darauf, daß ich wieder nach Hause darf. Hoffentlich wirst du schnell wieder gesund, Daddy.«

»Erzähl ihnen von deinen neuen Anziehsachen«, forderte ich sie auf.

»O ja!« Sie trat an die Wandnische, die als Kleiderschrank diente. »Das ist mein neuer blauer Mantel. Nick hat mir auch einen rosa Mantel gekauft. Er weiß, daß meine Lieblingsfarben Blau und Rosa sind.«

»Der Film ist gleich aus, Kelly. Du mußt dich jetzt verabschieden.«

Kelly winkte in die Kamera. »Bye, Mommy; bye, Daddy; bye, Aida. Ich liebe euch.«

Sie kam herangehüpft. »Kann ich die Aufnahme sehen?«

Noch eine Lüge. »Ich habe nicht das richtige Verbindungskabel zum Fernseher. Aber ich bin bald wieder mit Pat zusammen; vielleicht kann er mir eines besorgen.«

Sie setzte sich glücklich und zufrieden an den Tisch, auf dem noch ihr Colaglas stand. Sie griff nach den Buntstiften, schlug eines der Malbücher auf und war bald in ein Bild vertieft. Das war gut, denn es verschaffte mir Gelegenheit, unbeobachtet ein Band einzulegen.

Ich nahm zwei Kaffeebecher aus Kunststoff mit, überzeugte mich noch einmal davon, daß die Kameratasche alles enthielt, was ich brauchte, und sagte: »Tut mir leid, aber ...« Sie sah zu mir auf und zuckte mit den Schultern.

Ich stieg wieder aufs Hoteldach hinauf. Der Regen hatte aufgehört, aber der Flug- und Verkehrslärm nicht.

Als erstes mußte ich mir Zugang zu dem

Aufzugsgehäuse verschaffen, damit ich wußte, ob ich an einen Stromanschluß herankommen konnte.

Ich holte meine Kunststoffscheibe aus der

Kameratasche und schob sie in den Spalt der grünen Tür. Als ich sie mit Drehbewegungen tiefer schob, folgte sie den Unebenheiten des Türrahmens, bis sie das Schloß selbst erreichte. Die Tür diente dazu, Unbefugte fernzuhalten; da sie keine Wertgegenstände schützen sollte, war das Schloß leicht zu knacken.

Drinnen schaltete ich meine Maglite an und sah als erstes vier Steckdosen - offenbar für bei

Wartungsarbeiten verwendete Maschinenwerkzeuge.

Ich sah nach oben. Das Dach bestand aus Blechtafeln, die auf das Eisengerüst des niedrigen Schuppens geschraubt waren. Ich holte eine Kombizange heraus und lockerte zwei der Bolzen, bis ich eine Blechtafel etwas anheben konnte. Dann schob ich das Stromkabel der

Kamera von außen durch den Spalt und führte es die Wand entlang nach unten. Dort herrschte ein solcher Kabelsalat, daß ein weiteres Stromkabel gar nicht auffiel. Der Stecker paßte in eine der Steckdosen.

Die Tür blieb offen, damit ich etwas Licht hatte, während ich die Kamera vorbereitete. Ich steckte zwei Müllbeutel ineinander, schob die Hi-8 hinein und drückte ihr Teleobjektiv durch das dünne Plastikmaterial. Dann nahm ich die Plastikbecher, schnitt sie der Länge nach auf, trennte die Böden ab, steckte die Becher ineinander und schob sie als Blende über das Objektiv. Sie würden den Regen abhalten und trotzdem genügend Licht durchlassen, damit das Ding funktionierte. Zuletzt befestigte ich alles mit reichlich Klebeband.

Dann trat ich mit der Kamera aufs Dach hinaus und steckte das Stromkabel ein. Hinter einer Lücke in der Brüstung liegend sah ich durch den Sucher und wartete darauf, daß er zu leuchten begann und mir zeigte, was das Teleobjektiv erfaßte. Ich wollte eine brauchbare Nahaufnahme der zum Eingang hinaufführenden Betonstufen.

Sobald der Sucher aktiviert war, stellte ich das Objektiv scharf ein, richtete es auf den Eingang des Gebäudes und drückte die Taste Aufnahme. Ich testete die Tasten Stop, Zurückspulen und Wiedergabe. Alles funktionierte. Ich zog die Müllbeutel glatt, wobei ich sorgfältig darauf achtete, die Kamera nicht mehr zu bewegen, drückte die Aufnahmetaste und ging.