Ich holte uns zwei riesige Pizzas, die wir vor dem Fernseher sitzend aßen, während das Mobiltelefon in dem eingesteckten Ladegerät stand.

Danach konnte ich nur mit Völlegefühl im Magen herumhängen, auf Pats Anruf hoffen und abwarten, bis das Vierstundenband abgelaufen war. Unterdessen war es längst dunkel, aber ich wollte die Kamera volle vier Stunden laufen lassen, um zu sehen, ob sie einwandfrei funktionierte und wie gut die Bildqualität von Nachtaufnahmen war.

Wir langweilten uns beide. Kelly hatte den Tod durch Fernsehen, den Tod durch Pizza und den Tod durch Mountain Dew und Cola erduldet. Sie griff ermattet nach dem Abenteuerbuch und fragte mich: »Kannst du mir daraus vorlesen?«

Na gut, das sind nur Abenteuergeschichten, sagte ich mir, von denen hast du schnell ein paar vorgelesen. Aber ich entdeckte sehr bald, daß das Buch eine fortlaufende Abenteuergeschichte enthielt, deren Kapitel mit Wahlmöglichkeiten endeten. Die Story handelte von drei Kindern in einem Museum. Ein kleiner Junge war auf rätselhafte Weise verlorengegangen, als die Geschichte plötzlich aufhörte. Unten auf dieser Seite hieß es: »Willst du auf Seite 16 weiterlesen und ihm durch den Zaubertunnel folgen? Oder willst du auf Seite 56 Madame Eddie besuchen, die dir vielleicht sagen kann, wo er ist? Du hast die Wahl!«

»Wohin willst du?« fragte ich Kelly.

»Durch den Tunnel.«

Also auf in den Tunnel. Nach etwa einer Dreiviertelstunde und acht Richtungswechseln glaubte ich, die Geschichte müsse bald zu Ende sein. Tatsächlich brauchten wir fast zwei Stunden, um durchzukommen. Aber wenigstens amüsierte Kelly sich dabei.

Im Zimmer war es sehr warm, und ich blieb vollständig angezogen, um jederzeit aufbrechen zu können. Ich döste immer wieder ein und schrak ungefähr jede halbe Stunde von der Musik zu den Simpsons oder Loony Tunes hoch. Einmal wachte ich auf, sah auf meine Jacke hinab und stellte fest, daß sie aufgegangen war, so daß meine Pistole sichtbar war. Ich sah besorgt zu Kelly hinüber, aber sie würdigte meine Waffe keines zweiten Blicks; wahrscheinlich war sie daran gewöhnt, da ihr Daddy ebenfalls eine trug.

Ich riß eine Dose Mountain Dew auf und sah auf meine Armbanduhr. Es war erst 20 Uhr 15; in etwa einer Viertelstunde würde ich hinaufgehen, das Band wechseln und danach auf Pats Anruf warten.

Nach einer Viertelstunde sagte ich: »Hör zu, ich gehe mal für fünf Minuten weg, um ein paar Getränke zu holen. Willst du auch irgendwas?«

Sie sah mich fragend an. »Wir haben noch massenhaft da.«

»Yeah, aber die sind warm. Ich hole uns kalte.«

Ich ging aufs Dach hinauf. Inzwischen hatte wieder Nieselregen eingesetzt. Ich öffnete die improvisierte Schutzhülle, warf die Kassette aus und ersetzte sie rasch durch eine neue für morgen früh.

Als ich dann wieder herunterkam, ging ich an unserem Zimmer vorbei und holte weitere Getränkedosen aus dem Automaten. Vermutlich hatten Coca-Cola-Aktien in letzter Zeit ungeahnte Kursgewinne erzielt.

Im Fernsehen lief jetzt Clueless, ihre Lieblingsserie. Ich staunte, als ich hörte, wie Kelly alle Schlagworte der Serie beherrschte: »Blödmann, Dummkopf, Volltrottel . was auch immer!« Jetzt wußte ich, woher viele ihrer Ausdrücke kamen.

Zuletzt waren es nur noch drei Minuten, bis Pat sich melden sollte. Ich ging mit dem Mobiltelefon ins Bad, schloß die Tür und versuchte, Clueless zu hören. Nichts.

Pünktlich auf die Minute klingelte das Telefon.

»Hallo?«

»Alles in Ordnung, Kumpel? Danke für die Baguettes!«

Wir lachten beide halblaut.

»Weißt du, in welcher Etage sie sind?«

Eine kurze Pause, dann antwortete er: »Erster Stock.«

»Okay. Wie sieht’s mit mehr Geld aus? Ich brauche ordentlich was, Kumpel.«

»Ich könnte dir etwa zehn Mille besorgen - aber erst morgen oder vielleicht übermorgen. Du kannst das Geld gern haben, bis du deine Angelegenheiten geregelt hast. Wie du hier rauskommst, weißt du hoffentlich schon?«

»Klar«, log ich. Das war besser so. Wurde Pat festgenommen, konnte er nur falsche Angaben machen, und die anderen würden anfangen, Häfen und Flughäfen zu kontrollieren statt weiter in Washington nach mir zu fahnden.

»Hör zu«, sagte ich, »ich brauche weitere

Kontaktmöglichkeiten für den Fall, daß ich etwas über

das Gebäude rauskriege und rasch handeln muß. Wie wär’s mit zwölf, achtzehn und dreiundzwanzig Uhr, okay?«

»Wird gemacht, Kumpel. Deine kleine Freundin und ihre Familie sind in letzter Zeit viel in den Medien gewesen. Sonst noch irgendwas?«

»Nein, Kumpel. Nimm dich in acht.«

»Du auch. Bis dann!«

Ich schaltete das Telefon aus, ging ins Zimmer zurück und steckte es ins Ladegerät. Ich wußte nicht, ob Kelly etwas gehört hatte, aber ihr Schweigen wirkte

unbehaglich.

Ich stellte den Videorecorder auf, schob die Kassette ein und schloß das Gerät an den Fernseher an.

Kelly beobachtete aufmerksam jeden Handgriff.

»Hast du Lust auf ein Spiel?« fragte ich sie. »Wenn nicht, spiele ich’s allein.«

»Okay.« Jedes Spiel war besser, als Wagen auf der Stadtautobahn zu zählen. »Aber du hast gesagt, daß du nicht das richtige Kabel für den Fernseher hast.«

Damit hatte sie mich erwischt. »Ich hab’ eines gekauft, als ich vorhin weggegangen bin.«

»Warum kann ich dann nicht den Videofilm für Mommy sehen?«

»Weil ich ihn schon weggeschickt habe. Sorry.«

Sie starrte mich leicht verwirrt an.

»Paß auf, wir sehen uns diesen Film von einem Gebäude an«, fuhr ich fort. »Dort gehen Leute ein oder

aus, auch ein paar berühmte Leute und Menschen, die du vielleicht kennst, weil sie Freunde von Mummy und Daddy sind; außerdem Leute, die ich kenne. Bei dem Spiel geht’s darum, wie viele Leute wir erkennen. Wer die meisten erkennt, hat gewonnen. Willst du mitspielen?«

»Yeah!«

»Du mußt aber genau aufpassen, weil ich den Film schnell ablaufen lasse. Sobald du jemanden siehst, sagst du’s mir, damit wir uns diesen Filmabschnitt noch mal langsamer ansehen können.«

Ich legte ein Blatt des Hotelbriefpapiers und einen Bleistift bereit, dann ging es los. Ich mußte die Tasten des Recorders bedienen, weil das alte Ding keine Fernbedienung hatte, und saß dazu in der Nähe des Fernsehers auf dem Fußboden. Kelly starrte den Bildschirm wie gebannt an. Ich war mit meinem Film recht zufrieden. Die Bildqualität war überraschend gut; man merkte den Unterschied zwischen der Hi-8 und einer gewöhnlichen Videokamera, und es war mir gelungen, die Abgebildeten so einzufangen, daß ihre Größe etwa zwei Drittel des Bildschirms betrug.

»Halt, halt, halt!« kreischte sie.

Ich ließ den Film zurücklaufen, und wir sahen uns die Szene an. Kelly hatte gleich bei der ersten Bewegung losgekreischt. Mehrere Leute betraten das Gebäude 126 Ball Street. Ich erkannte keinen von ihnen. Kelly behauptete jedoch, der dritte Mann gehöre zu einer Popgruppe namens Back Street Boys.

Sie fand immer mehr Spaß an diesem Spiel. Jeder schien berühmt zu sein. Ich schrieb alle auf und notierte daneben die Zahl, die das Zählwerk angab.

298: zwei Männer, langer, heller Mantel, dunkelblauer Kurzmantel.

Viele Leute glauben, daß alle Geheimdienstagenten wie James Bond leben: schöne Frauen, Sportwagen, Spielkasinos. Ich habe mir oft gewünscht, dieser Scheiß wäre wahr. In Wirklichkeit schuftet man, um an Informationen heranzukommen, die man anschließend mühsam auswerten muß. Die nackte Tatsache, daß zwei Leute ein paar Treppenstufen hinaufgehen, bedeutet noch gar nichts. Auf die Auswertung kommt es an - die Identifizierung dieser beiden Personen, die Deutung ihrer Körpersprache, die genaue Kenntnis aller bisherigen Vorgänge, die begründete Vermutung, wie es

voraussichtlich weitergehen wird. Daher muß man sich vorsichtshalber jede Kleinigkeit notieren, weil man nie weiß, was später wichtig werden kann. Da ist mir ein Sportwagen zehnmal lieber.

Das Bild wurde allmählich dunkler. Die Straßenbeleuchtung trug dazu bei, es etwas aufzuhellen, aber die nun farblosen Gesichter der Leute waren kaum noch zu erkennen. Ich konnte Geschlecht und Alter der Menschen noch unterscheiden - aber nur mit äußerster Anstrengung.

Dann ging dieser Arbeitstag zu Ende, und alles wurde nacheinander stillgelegt: Leute, die auf dem Heimweg waren, machten das Licht in ihren Büros aus, so daß die Beleuchtungsverhältnisse immer schlechter wurden. Zuletzt brannte nur noch im Eingangs- und

Empfangsbereich und auf den Fluren Licht.

Ich ließ das Band mit normaler Geschwindigkeit weiterlaufen, weil ich sehen wollte, ob ein Nachtwächter seinen Dienst antreten würde. Aber ich sah keinen.

Kelly war von dem neuen Spiel begeistert. Sie hatte vier Filmschauspieler, zwei der Spice Girls und eine ihrer Lehrerinnen erkannt. Keine schlechte Bilanz. Aber was war, wenn sie sich einbildete, tatsächlich jemanden zu erkennen? Dann konnte ich ihr nicht vorbehaltlos glauben, sondern würde ihre Aussage mit gewisser Vorsicht genießen müssen; schließlich war Kelly erst sieben. Aber ich hatte nichts zu verlieren, wenn ich ihr glaubte.

»Sollen wir morgen weiterspielen?«

»Ja, dieses Spiel gefällt mir. Ich habe viel mehr Punkte als du.«

»Stimmt. Und nachdem du so großartig gewonnen hast, solltest du dich jetzt ausruhen, finde ich.«

Falls Kelly oder ich morgen jemanden auf dem Film erkannten, war das ein Bonus für mich, mit dem ich zu Simmonds gehen und vermutete Querverbindungen beweisen konnte. Zugleich hieß das jedoch auch, daß ich das Gebäude näher erkunden mußte. Ich beschloß, es mir nochmals von außen anzusehen, damit ich meinen Einbruch planen konnte.

Gegen elf Uhr schlief Kelly fest - wie üblich vollständig angezogen. Ich zog die Steppdecke über sie, nahm die Schlüsselkarte mit und verließ das Zimmer.

Um nicht an der Rezeption vorbeigehen zu müssen, benutzte ich den Notausgang. Ich trat auf die Straße hinaus, ging nach rechts in Richtung Stadtautobahn und bog in die erste Querstraße ein. Um diese Zeit war der Verkehr bereits weniger dicht; der gedämpfte Lärm kam schubweise, nicht mehr als unaufhörliches Dröhnen. Ich bog noch einmal rechts ab und befand mich in der Ball Street.

19

Obwohl mich hauptsächlich die Rückseite des Gebäudes interessierte, wollte ich mir zuerst noch einmal die Vorderfront ansehen. Ich wollte sondieren, ob es dort einen Nachtwächter gab, und mir vor allem eine genauere Vorstellung davon verschaffen, wie das Innere des Gebäudes aussah.

Ich blieb in der Einfahrt des Grundstücks gegenüber stehen. Falls jemand wissen wollte, was ich hier zu suchen hatte, würde ich vorgeben, betrunken zu sein und pinkeln zu wollen. Von meinem Platz aus konnte ich durch die beiden Glastüren hindurch den Empfangsbereich sehen; dort drüben brannte noch Licht, dessen Widerschein die nassen Betonstufen und die Blätter der Stauden auf beiden Seiten der Treppe glänzen ließ. Ein Blick nach oben zeigte mir, daß hinter den Fenstern über dem Eingang ebenfalls Licht brannte. Das bedeutete, daß auch die Korridorbeleuchtung im ersten Stock eingeschaltet geblieben war.

Ich wartete ungefähr eine Viertelstunde auf irgendein Anzeichen für eine Bewegung. Gab es dort drüben einen

Wachmann? Saß er in einem der Räume im Erdgeschoß vor dem Fernseher? Machte er im ersten Stock seinen Kontrollgang? Ich sah niemanden. Also wurde es Zeit, die Rückseite des Gebäudes zu erkunden.

Ich kehrte um, bog diesmal jedoch nicht links ab, sondern wandte mich nach rechts in Richtung Potomac. Dort befand ich mich auf einer schmalen Seitenstraße mit schlammigen Rändern und zahlreichen Schlaglöchern, in denen öliges Wasser glitzerte. Ich hielt mich im Schatten, während ich an dem Schrottplatz vorbeiging und die zu der ehemaligen Zementverladestelle führenden Gleise überquerte. Meine Schritte waren jetzt lauter als der Verkehrslärm. Hier waren alle Grundstücke mit Maschendrahtzäunen umgeben, deren Tore mit rostigen Ketten und Vorhängeschlössern gesichert waren. Ich folgte der Straße weiter und suchte eine Stelle, an der ich abbiegen konnte, um hinter das Zielobjekt zu kommen.

Die Beleuchtung der Schnellstraße war nicht hell genug, um noch Einzelheiten zu erkennen, aber ich sah die vom Fluß heraufziehenden Nebelschwaden. Ich hatte das Ende einer Sackgasse erreicht. Ein Zaun blockierte die alte Straße, und von Autos, deren Fahrer auf der Suche nach einem Parkplatz die gleiche Entdeckung wie ich gemacht hatten, war hier ein schlammiger Wendekreis ausgefahren worden. Hinter den Bäumen am Flußufer waren die Lichter des Flughafens zu erkennen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu dem Gleis zurückzugehen, das vor vielen Jahren der Bahnanschluß der Zementverladestelle gewesen war. Ein Blick nach links zeigte mir, daß das Gleis nach etwa zweihundert

Metern an der Rückseite des Zielgebäudes vorbeiführte; links neben dem Gleis standen einige verrostete Wellblechhütten.

Ich kletterte über das Tor des Maschendrahtzauns, das unter meinem Gewicht schwankte, so daß die Stahlkette mit dem Vorhängeschloß klirrte. Nachdem ich auf der anderen Seite hinuntergesprungen war, verschwand ich im Schatten der nächsten Wellblechhütte. Ich hörte keinen Hund bellen; das einzige Geräusch war eine in weiter Ferne heulende Sirene.

Ich folgte dem alten Bahngleis; bald waren nur noch meine Schritte und Atemzüge zu hören.

Rechts neben mir hatte ich einen Schrottplatz, hinter dessen Zaun ausgediente Fahrzeuge zu siebt oder acht übereinandergestapelt waren. Nach gut hundert Metern wurde das Gelände übersichtlicher, und ich sah wieder Gebäude. Zäune machten klar, wem was gehörte. Dieses Areal war abgeräumt worden, um bebaut werden zu können. Eines der Gebäude, die jenseits der unbebauten Fläche zu sehen waren, war mein Zielgebäude; dahinter sah ich die Straßenbeleuchtung der Ball Street und der Stadtautobahn. Im Nebel wirkten die Lichter trüb und verschwommen.

Ich machte kurz halt, um mich zu orientieren, überquerte dann einen hundertfünfzig Meter breiten Streifen Baugelände und war damit bis auf fünfzig Meter ans Zielgebäude herangekommen.

In der Nähe des Zauns standen einige Büsche, zwischen denen ich mich hinkauerte, um Deckung zu haben. Verräterisch sind immer Form, Reflexion,

Schatten, Silhouette, Abstand und Bewegung. Vergißt man, auf diese Punkte zu achten, ist man unter Umständen bald ein toter Mann.

In den Büschen hockend tat ich einige Minuten lang nichts anderes, als mich umzusehen. Man muß seinen Sinnen Gelegenheit geben, sich auf eine neue Umgebung einzustellen. Nach einiger Zeit gewöhnten sich meine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse, so daß ich anfing, Einzelheiten zu erkennen. Ich stellte fest, daß die Rückseite des Gebäudes aus einer fensterlosen Mauer bestand, an der jedoch eine stählerne Feuertreppe mit vier Absätzen herunterführte. Rechts unten am Fuß der Treppe standen die Verteilerkästen für die Versorgung des Gebäudes.

Ich sah mir die auf die Feuertreppe hinausführenden Brandschutztüren näher an. Falls ich zu einem späteren Zeitpunkt in das Gebäude eindringen mußte, um herauszubekommen, was die PIRA trieb, würde ich voraussichtlich eine dieser Türen benutzen müssen. Das hing davon ab, ob sie sich von außen öffnen ließen - und das ließ sich wiederum nur aus der Nähe feststellen.

Ich suchte den zwei Meter hohen Maschendrahtzaun nach einer Lücke ab, ohne jedoch eine zu entdecken. Also packte ich den oberen Spanndraht mit beiden Händen, zog mich hoch und kletterte hinüber. Auf der anderen Seite kauerte ich mich am Fuß des Zaunes hin und blieb zunächst unbeweglich, während ich auf irgendeine Reaktion wartete.

Ich hatte keine Eile; langsame Bewegungen bedeuteten nicht nur, daß ich etwaige Geräusche und das

Entdeckungsrisiko minimierte, sondern auch meine Atmung kontrollieren und so besser hören konnte, was um mich herum vorging. Ich benutzte die Schatten, die das Gebäude und die Bäume auf dem Firmengelände warfen, um mich sprungweise von einer dunklen Fläche zur nächsten vorzuarbeiten, während ich das Zielobjekt und seine Umgebung im Auge behielt.

Sobald ich nahe genug heran war, machte ich zwischen zwei Bäumen halt und lehnte mich an einen der Stämme. Aus dieser Entfernung war an der Rückseite des Gebäudes ein Bewegungsmelder zu erkennen, der aktiviert wurde, sobald sich jemand der Feuertreppe näherte. Ich wußte nicht, was der Bewegungsmelder einschaltete - eine Sirene, einen Scheinwerfer, eine Kamera, vielleicht sogar alle drei. Ich konnte keine Kameras entdecken, aber über beiden Brandschutztüren waren Halogenscheinwerfer angebracht. Wurden sie durch den Bewegungsmelder eingeschaltet? Vermutlich, aber warum war die Feuertreppe nicht durch eine Kamera gesichert, damit der Sicherheitsdienst sah, weshalb die Scheinwerfer aufgeflammt waren? Das spielte jedoch keine Rolle; ich würde mich so verhalten, als gäbe es hier Sirenen, Scheinwerfer und Kameras.

Rechts neben dem Gebäude sah ich in Zaunnähe einen Stapel Paletten. Die konnte ich später brauchen.

Als nächstes begutachtete ich die beiden Brandschutztüren. Ihre breiten Stahlrahmen sollten verhindern, daß jemand sich an den Türschlitzen zu schaffen machte. Gesichert waren sie mit auffällig großen Zylinderschlössern, die mich aber nicht lange aufhalten

würden.

Ein rascher Blick in die Verteilerkästen zeigte, daß alle Anschlüsse für Gas, Strom, Wasser und Telefon frei zugänglich waren und beliebig manipuliert werden konnten. Das war eine beruhigende Erkenntnis.

Nur die Möglichkeit, daß das Gebäude bewacht sein könnte, machte mir noch Sorgen. Unter Umständen kann die Anwesenheit eines Wachmanns sogar vorteilhaft sein. Eventuell kann man ihn herauslocken - und ist im nächsten Augenblick im Gebäude, ohne die Alarmanlage ausgelöst zu haben. Aber ich würde auf jeden Fall heimlich eindringen müssen.

Der Firmenparkplatz war leer, was ebenfalls darauf schließen ließ, daß sich niemand in dem Gebäude aufhielt. Trotzdem mußte ich das überprüfen. Ich entschied mich dafür, einen Angetrunkenen zu spielen, der die Straße entlangwankte, und beschloß, vor das Bürogebäude zu pinkeln. Dabei konnte ich aus nächster Nähe einen Blick in die Eingangshalle werfen. Falls dort jemand Wachdienst hatte, würde er vielleicht herauskommen, um mich zu verjagen, oder ich würde ihn irgendwo im Hintergrund vor dem Fernseher sitzen sehen.

Ich kehrte auf demselben Weg zurück, auf dem ich gekommen war, und erreichte die Ball Street. Inzwischen war ich ziemlich durchnäßt; der Nieselregen und die rostigen Zäune hatten meine Kleidung stark in Mitleidenschaft gezogen.

Ich näherte mich dem Zielobjekt auf der gegenüberliegenden Straßenseite und überquerte die

Fahrbahn in einem spitzen Winkel, um das Gebäude länger beobachten zu können. Dann stolperte ich mit gesenktem Kopf - wegen der Überwachungskamera - die Stufen hinauf, machte halt, sowie ich durchs Fenster in die Eingangshalle sehen konnte, zog meinen Reißverschluß auf und begann in die Büsche zu pinkeln.

Fast im selben Augenblick gerieten die Büsche in heftige Bewegung, während eine Männerstimme losbrüllte: »Scheißkerl! Scheißkerl! Scheißkerl!« Ich fuhr vor Schreck zusammen.

Meine Hand wechselte sofort an den Griff der Sig über. Ich wollte meine Pistole schon ziehen, als mir einfiel, daß das vielleicht noch nicht nötig war. Vielleicht war es ein Wachmann. Vielleicht konnte ich mich irgendwie herausreden.

»Arschloch! Für wen hältst du dich eigentlich? Verdammter Scheißer!«

Ich konnte den Mann hören, aber noch immer nicht sehen. In den Büschen rumorte es gewaltig, dann tauchte eine gotteslästerlich fluchende Gestalt auf.

»Verdammtes Arschloch, was fällt dir ein, mich vollzupissen? Ich werd’s dir zeigen! Sieh mich an! Du hast mich vollgepißt!«

Er war Anfang Zwanzig und trug zu alten Armeestiefeln ohne Schnürsenkel verdreckte schwarze Jeans und einen schmuddeligen, zerfetzten Parka mit Löchern in den Ellbogen. Als er herankam, sah ich, daß er einen Stoppelbart hatte, einen großen Ring im linken Ohr trug und lange speckige Rastalocken hatte. Er war ziemlich durchgeweicht.

Als er mich sah, hatte er Mühe, ein erwartungsvolles Grinsen zu unterdrücken. Für ihn war ich ein verirrter Tourist: Mr. Hush Puppy, der sich im falschen Teil der Großstadt verlaufen hatte. Ich konnte fast sehen, wie sich hinter seiner Stirn die Räder drehten; der Kerl glaubte, es gut getroffen zu haben, weil er diesen harmlosen Zeitgenossen kräftig ausnehmen würde.

»Verdammter Scheißkerl, du bist mir ’nen neuen Schlafsack schuldig! Sieh dir meine Klamotten an, du hast mich von oben bis unten vollgepißt! Dafür will ich ’ne anständige Entschädigung, Mann!«

Diese Situation mußte ich ausnutzen. Ich trat ans Fenster und klopfte gegen die Scheibe. Falls im Gebäude ein Wachmann war, würde er jetzt kommen, um nachzusehen, was dieser Krach bedeutete. Ich würde einfach den Hush-Puppy-Mann spielen, der Schutz vor diesem Verrückten suchte.

Ich hämmerte mit solcher Gewalt gegen die Scheibe, daß ich glaubte, sie würde zersplittern, und achtete zugleich darauf, der Überwachungskamera den Rücken zuzukehren. Das spornte den jungen Penner erst recht an, weil er glaubte, ich sei völlig verängstigt.

Er kam jetzt die Stufen herauf. Ich blickte weiter durchs Fenster in das Gebäude hinein. In der Eingangshalle waren kein benutzter Aschenbecher, keine aufgeschlagene Zeitschrift und kein eingeschalteter Fernseher zu sehen; alle Sessel standen ordentlich um die niedrigen Glastische aufgereiht, der Stuhl der Empfangsdame war unter den Schreibtisch geschoben, und auch sonst wies nichts darauf hin, daß sich irgend

jemand in diesem Gebäude aufhielt.

»Motherfucker!« brüllte er heiser, als er mich fast erreicht hatte.

Ich drehte mich um, schlug die Jacke zurück und legte meine Hand auf den Pistolengriff.

Der Kerl blieb wie angenagelt stehen. »Ach, Scheiße! Verdammte Scheiße!« Er wich zurück und ging rückwärts die Stufen hinunter, ohne die Pistole eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Scheiß-Cops«, murmelte er dabei.

Ich mußte mich beherrschen, um nicht zu lachen.

Ich wartete darauf, daß er verschwinden würde. Eigentlich tat er mir leid. Ich überlegte mir, wie lange er wahrscheinlich gebraucht hatte, um diesen erstklassigen Schlafplatz zu finden - sicher, trocken und durch die Entlüftung der Klimaanlage angenehm beheizt. Und dann mußte irgendein Idiot vorbeikommen und ihm in den Schlafsack pinkeln.

Für den Rückweg ins Hotel brauchte ich eine Viertelstunde. Als ich leise die Zimmertür öffnete, sah ich Kelly friedlich schlafen. Sie war im Kinderhimmel, denn sie hatte nichts aufräumen müssen, sondern war von Keksen und Süßigkeiten umgeben eingeschlafen.

Ich zog mich aus, duschte, rasierte mich und steckte meine verdreckten Sachen in einen Wäschesack des Hotels. Die Reisetasche war jetzt voller schmutziger Kleidungsstücke, und ich hatte nur noch eine frische Garnitur. Ich zog mich wieder an, steckte die Pistole in meinen Hosenbund und stellte den Wecker auf halb sechs.