Frank de Sebastiano war bei seinen Freunden von der LCN, der Cosa Nostra, in Miami in Ungnade gefallen und im Rahmen des FBI-Zeugenschutzprogramms zu seiner Sicherheit nach England geschickt worden. Ich hatte zu dem Team gehört, das den Auftrag gehabt hatte, sich in dem Vierteljahr, das er in Abergavenny verbrachte, bevor er in die USA zurückkehrte, um ihn zu kümmern. Ich hatte Frankie als höchstens einsfünfundsechzig groß und irgendwie schmuddelig in Erinnerung; sein fettiges tiefschwarzes Haar schien wie das eines Footballspielers aus den achtziger Jahren dauergewellt zu sein. Der Rest seiner rundlichen Person sah wie der Football selbst aus.

Bei Ermittlungen gegen die LCN in Südflorida hatte das FBI entdeckt, daß Sabatino, ein vierunddreißigjähriger Computerfreak, der für einen der großen Bosse arbeitete, Hunderttausende von Dollar aus Drogengeschäften in die eigenen Taschen geleitet hatte. Die FBI-Agenten hatten Sabatino dazu gezwungen, ihnen Belastungsmaterial zu liefern; ihm war nichts anderes übriggeblieben, sonst wäre er verhaftet worden und die LCN hätte einen anonymen Hinweis auf seine Unterschlagungen bekommen. Den Rest hätten LCN- Angehörige im Gefängnis erledigt. Pat hatte sich so gut mit ihm verstanden, daß wir später scherzhaft vermutet hatten, das sei der Grund für sein Ausscheiden gleich nach Sabatinos Rückkehr in die USA gewesen. Wie ich jetzt wußte, hatte Pat eine unglückliche Vorliebe für die

von der LCN geschmuggelten Drogen gehabt.

Obwohl Frankie daran gelegen sein mußte, möglichst wenig aufzufallen, war seine Art, sich zu kleiden, weiß Gott, nicht unauffällig; darunter verstand er beispielsweise ein orangerotes Hemd, das sich über seinen Fettwülsten spannte, zu einer purpurroten Hose und Cowboystiefeln aus Alligatorleder. Soviel ich wußte, hatte er nach dem Prozeß eine neue Identität erhalten und sich überraschend dafür entschieden, nicht nur in den USA, sondern ausgerechnet in Florida zu bleiben. Wahrscheinlich wäre sein Geschmack in Sachen Hemden überall anders zu auffällig gewesen.

Ich überlegte wieder, ob ich Euan anrufen sollte, aber was hätte er im Augenblick für mich tun können? Nein, es war besser, nicht alle Ressourcen auf einmal zu verbrauchen. Frankie konnte das PIRA-Material für mich entschlüsseln; Euan konnte mir dann helfen, wenn ich wieder in England war.

Kurz vor 14 Uhr kamen wir in De Land an, wo schon ein Bus bereitstand, um uns zur Küste zu bringen. Nach stundenlanger Fahrt in einem klimatisierten Zug schlug uns die nachmittägliche Hitze Floridas entgegen, als hätte jemand eine Backofentür geöffnet. Kelly und ich blinzelten benommen, als wir unter wolkenlosem Himmel zwischen sonnengebräunten Menschen in Sommerkleidung standen. Das elektronische Thermometer an der Außenwand des Bahnhofs zeigte 25 Grad Celsius. Wir stiegen in den heißen Bus, setzten uns und warteten darauf, daß das PVC auf der Fahrt zum Busbahnhof Daytona an unserem Rücken festklebte.

Nach zweistündiger Fahrt rollten wir über die Kanalbrücke ins Stadtzentrum von Daytona. Wir lösten uns mit einiger Mühe von den Sitzen, und ich holte unsere Reisetasche aus dem Gepäckabteil. Als erstes kaufte ich uns zwei Gläser frisch gepreßten Orangensaft. Als wir aus dem Schatten des Busbahnhofs traten, fühlte ich die Sonne durch mein Hemd brennen.

Am Taxistand bat ich den Fahrer, uns zu einem gewöhnlichen Hotel zu bringen.

»Wie gewöhnlich?« fragte er.

»Billig«, präzisierte ich.

Der Fahrer war ein Latino. Aus dem Autoradio plärrte Gloria Estefan, auf dem Instrumentenbrett war eine kleine Madonnenstatue festgeklebt, am Rückspiegel hing ein Photo seiner Familie, und er trug ein grellbuntes Hawaiihemd, um das Sabatino ihn heftig beneidet hätte. Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ mir die warme Brise ins Gesicht wehen. Als wir auf die Atlantic Avenue abbogen, kam ein breiter, scheinbar unendlich langer, schneeweißer Sandstrand in Sicht. Unsere Fahrt führte an Schnellrestaurants, Sportgeschäften, Bikershops,

Chinarestaurants, Austernhäusern, 7-Elevens,

Parkplätzen, drittklassigen Hotels und noch mehr Schnellrestaurants, Motels und Sportgeschäften vorbei.

Hier sollte alles Urlauber anlocken. Wohin ich auch blickte, sah ich Hotels mit grellbunten Wandgemälden. Fast jedes warb mit dem Schild Studenten willkommen. In einem fand sogar ein Treffen von CheerleaderGruppen statt; ich sah Dutzende von leichtbekleideten Mädchen auf einem Spielfeld vor dem Tagungszentrum die Beine werfen. Vielleicht hockte Frankie dort irgendwo in der Ecke und glotzte sie an.

»Sind wir nicht bald da?« fragte Kelly.

»Noch zwei Blocks, dann links«, sagte der Fahrer.

Ich sah die Häuser der üblichen Hotelketten, dann unseres: das Hotel Castaway.

Als wir auf dem Gehsteig standen und Glorias Stimme in der Ferne verhallen hörten, nickte ich Kelly zu und sagte: »Yeah, ich weiß ... Schiet.«

Sie grinste. »Dreifach Schiet mit Käse.«

Schon möglich, aber das Castaway schien für unsere Zwecke bestens geeignet zu sein. Außerdem kostete das Doppelzimmer nur vierundzwanzig Dollar pro Nacht, obwohl ich der Bruchbude schon von außen ansah, daß es nicht einmal das wert war.

Ich erzählte meine bewährte alte Geschichte - diesmal jedoch mit der Variante, wir seien trotz allem fest entschlossen, unseren Disney-Urlaub zu genießen. Die Frau an der Rezeption glaubte mir vermutlich kein Wort, aber ihr war egal, was ich erzählte, solange ich bares Geld auf die Theke legte, das gleich in der Vordertasche ihrer schmutzigen schwarzen Jeans verschwand.

Auf dem langen Balkon, der zu unserem Zimmer führte, lungerten junge Männer herum, die nicht wie Collegematerial in den Semesterferien aussahen. Vielleicht waren sie in Daytona, weil sie von den Cheerleadern gehört hatten.

Unser Zimmer war ein Loch mit einem schmutzigen Fenster, das sich nicht hochschieben ließ. Den Fußboden bedeckte eine Staubschicht, die sich über Monate hinweg angesammelt haben mußte, und die von den Zimmerwänden abgestrahlte Hitze erinnerte an das Black Hole in Kalkutta.

»Läuft die Klimaanlage erst mal, halten wir’s schon aus«, sagte ich.

»Welche Klimaanlage?« fragte Kelly mit Blick auf die kahlen Wände.

Sie ließ sich aufs Bett fallen, und ich glaubte bestimmt, tausend Flöhe und Wanzen aufschreien gehört zu haben. »Können wir an den Strand gehen?«

Daran hatte ich auch schon gedacht, aber erst kam wie immer die Ausrüstung.

»Wir gehen bald. Willst du mir vorher bei etwas helfen?«

Sie nickte bereitwillig. Ich gab ihr die Magazine Kaliber 45, die ich von Luther & Co. erbeutet hatte. »Kannst du diese Patronen herausdrücken und dort hineinstecken?« Ich zeigte auf die Außentasche der Reisetasche. Die Magazine paßten nicht in meine Sig, aber die Patronen waren identisch.

»Klar.« Dieser Auftrag schien ihr zu gefallen.

Ich zeigte ihr absichtlich nicht, wie sie’s anfangen mußte, denn sie sollte eine Weile beschäftigt sein. Als erstes versteckte ich die Sicherungsdiskette in der Matratze, deren Überzug ich mit einem Schraubenzieher ein kleines Stück aufschlitzte. Dann holte ich den Waschbeutel heraus, duschte ausgiebig und rasierte mich. Die Bißwunden auf meiner Stirn und unter dem rechten Auge waren jetzt dunkel und hart verschorft. Ich zog meine neuen Jeans und ein graues T-Shirt an. Dann sorgte ich dafür, daß auch Kelly duschte und sich frische Sachen anzog.

Inzwischen war es 16 Uhr 30. Kelly war noch dabei, schwarze Jeans und ein grünes Sweatshirt anzuziehen, als ich mich über ihr Bett beugte, um das Telefonbuch aus dem Nachttisch zwischen den Betten zu ziehen.

»Wie heißt die Serie?« fragte ich und wies mit dem Daumen auf den Fernseher.

»The Big BadBeetleborgs

»Hä?«

Sie erklärte mir, worum es darin ging, aber ich hörte gar nicht richtig zu, sondern nickte nur, während ich in dem Telefonbuch blätterte.

Ich suchte den Nachnamen De Niro. Diesen verrückten neuen Namen hatte Frankie sich selbst ausgesucht: Al De Niro. Kein idealer Name für jemanden, der in Zukunft möglichst unauffällig leben sollte, aber Frankie war Als und Bobs größter Fan. Ins Drogengeschäft war er überhaupt erst eingestiegen, nachdem er Al Pacino in Scarface gesehen hatte. Frankie verbrachte sein ganzes Leben in einer Scheinwelt. Er kannte sämtliche Dialoge aus allen ihren Filmen und hatte uns in Abergavenny sogar mit ganz brauchbaren Imitationen unterhalten. Traurig, aber wahr.

Natürlich gab es unter A. De Niro keinen Eintrag. Ich rief die Auskunft an, die mir aber auch nicht weiterhelfen konnte. Mein nächster Schritt würde darin bestehen, in ganz Florida herumzutelefonieren oder mit irgendeiner erfundenen Story einen Privatdetektiv anzuheuern - aber das würde viel Zeit und Geld kosten.

Ich stand auf, trat ans Fenster, kratzte mich am Hintern, bis ich merkte, daß Kelly mich beobachtete, und zog die Vorhänge auf. Verrenkte ich meinen Hals weit nach links, konnte ich den Meerblick erhaschen, für den ich fünf Dollar extra bezahlt hatte. Überall am Strand lagen Urlauber; ich sah ein junges Paar, das die Hände nicht voneinander lassen konnte, und Familien, teils sonnengebräunt, teils noch lilienweiß wie wir. Vielleicht waren sie mit demselben Zug angekommen.

Ich drehte mich nach Kelly um. Sie wirkte zufrieden, weil die Beetleborgs wieder mal die Welt gerettet hatten, schien sich aber zu langweilen. »Was machen wir jetzt?« erkundigte sie sich.

»Ich müßte meinen Freund finden, weiß aber nicht genau, wo er wohnt. Ich überlege gerade, wie ich’s anstellen soll, ihn zu finden.«

»Den Computerfreak, von dem du mir erzählt hast?«

Ich nickte.

»Warum versuchst du’s nicht im Netz?« fragte sie ganz nonchalant. Sie sah mich dabei nicht mal an, sondern hatte nur Augen für den Scheiß auf dem Bildschirm. Natürlich! Der Kerl ist ein Computerfreak; selbstverständlich hat er einen Internetanschluß und surft wahrscheinlich auf den Pornoseiten, um Aktphotos von Teenagern zu finden. Das war bestimmt ein guter Ausgangspunkt. Jedenfalls viel besser als meine Idee mit dem Privatdetektiv.

Ich ging zu meiner Reisetasche hinüber. »Du kennst dich im Netz aus, nicht wahr?«

»Natürlich. Das üben wir vor der Schule.«

»Vor der Schule?«

»Vor Schulbeginn, wenn wir schon in der Schule sind, damit unsere Eltern in die Arbeit fahren können. Und wir sind jeden Morgen im Netz unterwegs; wir bekommen genau gezeigt, wie man das macht.«

Das Mädchen war ein Genie! Ich war eben dabei, meinen Laptop herauszuholen, als die Ernüchterung einsetzte. Auch wenn das Gerät über ein eingebautes Modem und die benötigte Internet-Software verfügte, würde es mir nichts nutzen. Ich hatte keine Kreditkarten, um mich im Netz anmelden zu können, und konnte keine gestohlenen verwenden, weil ich eine Rechnungsanschrift angeben mußte. Ich legte den Laptop aufs Bett.

»Gute Idee«, sagte ich, »aber mit diesem Gerät geht’s leider nicht.«

Kelly starrte weiter auf den Bildschirm. Sie trank jetzt ein lauwarmes Milk Maid aus der Reisetasche, das sie mit beiden Händen ansetzte, um nicht nach unten sehen zu müssen und dabei womöglich etwas zu verpassen. »Wir gehen einfach in ein Cyber-Cafe«, schlug sie vor. »Als bei Melissa wochenlang das Telefon nicht funktioniert hat, ist ihre Mommy immer ins Cyber-Cafe gegangen, um ihre E-Mails abzuholen.«

»Ach, tatsächlich?«

Das Cybercino war ein Coffee Shop, in dem es nicht nur Donuts, Croissants und Sandwiches, sondern auch durch halbhohe Trennwände unterteilte PC-Arbeitsplätze gab. Auf jedem stand ein PC mit einer kleinen Mulde für

Speisen und Getränke. An den Trennwänden hingen Anschläge über Benutzungsdauer und Minutenpreise, Gebrauchsanweisungen fürs Internet und zahlreiche Geschäftskarten, die zum Besuch verschiedener Homepages aufforderten.

Ich brachte Kaffee, dänische Pasteten und Cola mit und versuchte mich einzuloggen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen überließ ich die Tastatur schließlich einer geübteren Nutzerin. Kelly fand sich im Cyberspace so mühelos zurecht wie in ihrem eigenen Hinterhof.

»Ist er bei AOL, MSN, CompuServe oder wo?« fragte sie.

Ich hatte keine Ahnung.

Sie zuckte mit den Schultern. »Macht nichts, wir benutzen eine Suchmaschine.«

Keine Minute später waren wir bereits bei InfoSpace angemeldet. Als Kelly das E-Mail-Icon anklickte, erschien eine Dialogbox.

»Nachname?«

Ich buchstabierte ihr De Niro.

»Vorname?«

»Al.«

»Stadt?«

»Die lassen wir lieber aus. Schreib einfach Florida. Unter Umständen ist er umgezogen.«

Sie klickte Suche an, und im nächsten Augenblick erschien die E-Mail-Adresse auf dem Bildschirm. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Es gab sogar ein Icon Mail schicken, das Kelly jetzt anklickte.

Ich schickte ihm eine Nachricht, die besagte, daß ich Verbindung zu Al De Niro suchte - oder zu jemandem, der ein Fan von Pacino und De Niro war und »Nicky Two« aus England kannte. Das war der Spitzname, den Sabatino mir gegeben hatte. In unserem Team hatte es insgesamt drei Nicks gegeben, und mich hatte er als zweiten kennengelernt. Bei jeder Begegnung hatte er den Paten gespielt, indem er die Arme ausgebreitet und »Heyyy, Nicky Two!« gesagt hatte, um mich dann zu umarmen und abzuküssen. Zum Glück hatte er das auch mit den beiden anderen gemacht.

Das Café hatte morgens ab zehn Uhr geöffnet. Mit der Nutzergebühr war auch die Verwendung der Cybercino- Adresse abgegolten, deshalb fügte ich ergänzend hinzu, ich würde mich morgen um 10 Uhr 15 einloggen, um etwaige Nachrichten zu empfangen. Das Risiko, daß seine E-Mail von jemandem mitgelesen wurde, war gering, und daß jemand mich als »Nicky Two« identifizieren würde, war noch unwahrscheinlicher.

Inzwischen war ich allmählich hungrig, und auch Kelly hatte Appetit auf etwas Handfesteres als Kleingebäck. Wir gingen in Richtung Atlantic Avenue zurück und kehrten in unserem Lieblingsrestaurant ein. Wir bestellten die Big Macs zum Mitnehmen und aßen sie im Gehen auf der Straße. Sogar abends war es hier noch über zwanzig Grad warm.

»Wollen wir nicht Minigolf spielen?« schlug Kelly vor und deutete auf etwas, das an eine Mischung aus Disneyland und Gleneagles erinnerte: Bäume,

Wasserfälle und ein Piratenschiff wie auf einer von

Scheinwerfern angestrahlten Schatzinsel.

Das machte mir tatsächlich Spaß. Im Augenblick drohte uns keine Gefahr, und ich genoß das Gefühl, einmal nicht so stark unter Druck zu stehen, auch wenn Kelly schummelte. Ich machte mich bereit, am elften Loch zu putten. Hinter uns spuckte ein Drache Wasser statt Feuer aus seiner Höhle.

»Nick?«

»Was?« Ich versuchte rauszukriegen, wie ich den Ball spielen mußte, um ihn mit einem Neunziggradwinkel einzulochen.

»Lerne ich deinen Freund mal kennen . du weißt schon, David?«

»Vielleicht irgendwann.« Mein Schlag ging daneben; der Ball lag jetzt im Wasser.

»Hast du eigentlich Geschwister?«

Ich kam mir vor, als spielten wir Zwanzig Fragen. »Ja.«

»Wie viele?«

Ich notierte mir sechs Schläge für dieses Loch - drei über Par.

»Drei Brüder.« Ich hatte diese Ausfragerei satt. »Sie heißen ... John, Joe und Jim.«

»Oh. Wie alt sind sie?«

Eine gute Frage. Ich wußte nicht einmal, wo sie wohnten, und hatte erst recht keine Ahnung, wie alt sie waren. »Weiß ich nicht genau.«

»Warum nicht?«

Das war schlecht zu erklären, weil ich die Antwort selbst nicht wußte.

»Darum.« Ich legte Kelly ihren Ball hin. »Los, sonst halten wir alle auf!«

Auf dem Rückweg ins Hotel fühlte ich mich ihr seltsam nahe, was mich beunruhigte. Obwohl wir erst sechs Tage zusammen waren, schien sie mich als Elternersatz zu akzeptieren. Aber ich konnte unmöglich an Kevs und Marshas Stelle treten, selbst wenn ich das gewollt hätte. Diese Aufgabe war zu beängstigend.

Nachdem es zum Frühstück Eiscreme gegeben hatte, loggten wir uns um 10 Uhr 15 ein. Eine Nachricht forderte uns auf, einen Chat-Raum zu besuchen. Kellys Finger flogen über die Tasten, und schon waren wir dort, wo uns Sabatino erwartete - zumindest jemand, der sich Big Al nannte. Eine Dialogbox lud uns zu einem Gespräch unter vier Augen in einen Privatraum ein; zum Glück hatte ich Kelly, die mich überall hinbrachte.

Ich kam sofort zur Sache. »Ich brauche deine Hilfe«, tippte Kelly.

»In welcher Beziehung?«

»Ich habe hier etwas, das übersetzt oder entziffert werden muß. Ich kann nicht genau sagen, worum es sich handelt, aber ich weiß, daß du’s kannst.«

»Etwas Dienstliches?«

Ich wußte, daß ich ihn irgendwie ködern mußte. Die Unterschlagungen hatte er auch deshalb verübt, weil ihm das einen Nervenkitzel verschafft hatte - einen »Kick«, wie Pat gesagt hätte. Big Al hatte es Spaß gemacht, die großen Bosse reinzulegen; er hatte immer das Bedürfnis, irgendwo mitzumischen, und ich wußte, daß er herkommen und mich besuchen würde, wenn ich den richtigen Köder auslegte.

Ich diktierte, und Kelly schrieb: »Das verrate ich nicht! Aber die Sache ist gut, das kannst du mir glauben. Willst du sie dir ansehen, mußt du mich hier besuchen. Ich bin in Daytona.« Und nun begann ich zu lügen. »Andere Leute behaupten, es sei unmöglich. Deshalb habe ich an dich gedacht.«

Er biß sofort an. »Welches Format?« erkundigte er sich.

Ich nannte ihm alle Einzelheiten.

»Ich kann erst heute abend um neun Uhr. Vor dem Boot Hill Saloon in der Main Street?«

»Okay, ich bin da.«

»Yeehah! Yeehah!« verabschiedete er sich.

Big Al hatte sich offenbar nicht im geringsten verändert. Kelly meldete sich ab, und wir zahlten die zwölf Dollar. Ungefähr ein Hundertstel von dem, was ein Privatdetektiv gekostet hätte.

Jetzt konnten wir für den Rest dieses Tages faulenzen. Nachdem wir uns Sonnenbrillen gekauft hatten, bekam Kelly modische Shorts, ein T-Shirt und Sandalen. Ich mußte so bleiben, wie ich war, und mein Hemd über den Jeans tragen, um die Pistole zu verbergen. Eine kleine Verbesserung war ein Stirnband, das die verschorfte Bißwunde verdeckte. Eine verchromte Pilotenbrille tarnte die andere unter dem Auge.

Wir machten einen langen Strandspaziergang und ließen uns den Wind um die Nase wehen. Um diese

Tageszeit füllten sich die Restaurants bereits mit Leuten, die früh zu Mittag essen wollten.

Als wir wieder im Hotel waren, führte ich einige Telefongespräche, um mich nach Auslandsflügen zu erkundigen. Falls das Zeug, das Big Al für mich entschlüsseln sollte, Simmonds zufriedenstellen würde, wollte ich mit Kelly aus den Staaten verschwinden. Ich wußte, daß Big Al die nötigen Verbindungen besaß, um uns Reisepässe beschaffen zu können, und uns

wahrscheinlich auch mit Geld aushelfen würde.

Nach einem späten Lunch und anschließendem Mittagsschlaf folgten achtzehn Löcher bei den Piraten, wo ich Kelly wieder gewinnen ließ. Dann wurde es auch schon Zeit, mich auf den Treff vorzubereiten.

Gegen 19 Uhr 30 begann die Sonne unterzugehen, und an den Straßen flammten die Leuchtreklamen auf.

Plötzlich bot sich ein ganz anderes Bild: Aus den Geschäften drang laute Musik, und die Kids fuhren die Atlantic Avenue jetzt mit wesentlich mehr als den

zulässigen zehn Meilen in der Stunde hinauf und

hinunter.

Aus irgendwelchen Gründen, vielleicht war das Wetter daran schuld, hatte ich Mühe, mir unserer schwierigen Lage bewußt zu bleiben. Kelly und ich schlenderten auf einem ausgedehnten Schaufensterbummel Eis essend durch die Straßen. Sie verhielt sich wie jede andere Siebenjährige und blieb manchmal vor einer Auslage stehen, um irgend etwas so nachdrücklich zu bewundern, daß ich wie ein Erziehungsberechtigter antwortete: »Nein, für heute ist’s genug, glaube ich.«

Kelly machte mir allerdings Sorgen. Ich hatte das Gefühl, es sei falsch, daß sie alles so klaglos wegsteckte. Vielleicht hatte sie nicht verstanden, was ich ihr über ihre Familie erzählt hatte; vielleicht verhinderte ihr Unterbewußtsein, daß sie die Tatsachen wirklich an sich heranließ. Im Augenblick war sie jedoch genau das, was ich zur Tarnung brauchte: ein Kind, das normal aussah und sich normal benahm.

Wir standen vor einem Spielwarengeschäft. Sie wollte einen im Schaufenster liegenden Ring, der nachts leuchtete. Ich behauptete, kein Geld bei mir zu haben, was gelogen war.

»Kannst du ihn nicht für mich klauen?« fragte sie.

Daraufhin führten wir ein ernsthaftes Gespräch über Recht und Unrecht. Kelly hatte sich allzu rasch an unser Leben auf der Flucht gewöhnt.

Inzwischen war es 20 Uhr 30. Wir hatten eine Pizza gegessen, und im Urlaub ist um diese Zeit nach dem Abendessen immer ein Häagen Dazs fällig. Nach dem Eiskauf machten wir uns auf den Weg zu unserem Treff mit Big Al. Unterwegs mußten wir uns an rudelweise geparkten Motorrädern vorbei durch eine die Gehsteige füllende Menge aus jungen Leuten mit Biker-Slogans auf den T-Shirts drängen.

Ich fand einen Standort, von dem aus ich den einzigen Eingang des Boot Hill Saloon beobachten konnte: auf dem alten Friedhof gegenüber. Er war alles, was von der ursprünglichen Stadt aus den zwanziger Jahren übriggeblieben war - die einzige Fläche, die nicht planiert und mit Hotels bebaut werden konnte. Stellten

Biker ihre Maschinen ab und verschwanden im Saloon, dröhnte jedesmal lauter Rock ’n’ Roll auf die Straße. Dort kollidierte er mit Salsa- und Rapmusik aus den mit zahlreichen Lautsprechern bestückten Geländewagen und Pickups, mit denen Studentengruppen die Straße hinauf- und hinunterfuhren. Manche hatten sogar blaue Neonröhren unter ihrem Wagen montiert, so daß sie im Vorbeifahren wie schwebende Raumschiffe aussahen, die Musik vom Mars spielten.

Kelly und ich warteten, schleckten unser Eis und saßen dabei auf einer Bank neben Mrs. J. Mostyn, Gott hab’ sie selig, die am 16. Juli 1924 in den Frieden des Herrn eingegangen war.

32

Die Main Street ist nicht wirklich die hiesige Hauptstraße, sondern eine Straße, die vom Meer zu einer Kanalbrücke führt. Daytona veranstaltet jedes Jahr eine Bike-Woche, und dies war die Straße, in die Tausende von Bikern einfielen. Hier gab es nur ein Thema: Harleys. Überall zwischen den Bike-Bars gab es Geschäfte, die Ersatzteile, Sturzhelme und Lederkleidung verkauften. Und selbst außerhalb dieser Woche standen immer Dutzende von Bikes mit Helmen auf den Sitzen vor Bars mit Namen wie Boot Hill Saloon, Dirty Harry’s oder Froggie’s, wo sogar ein Motorrad aus staubigen Knochen im Fenster stand.

Ich sah Big Al schon aus großer Entfernung, als er von

der Brücke her auf uns zuwatschelte. Zu einer blaßrosa Hose trug er ein blau-rot-grün-gelbes Hawaiihemd und war noch fetter, als ich ihn in Erinnerung hatte; weiße Schuhe und seine zottige Mähne vervollständigten eine Aufmachung, in der er wie ein arbeitsloser Komparse aus Miami Vice aussah. In seiner linken Hand trug er einen Aktenkoffer, was ein gutes Zeichen war; er hatte sein Handwerkszeug mitgebracht. Ich beobachtete, wie er den Main Street Cigar Store betrat und eine dicke Corona paffend wieder herauskam.

Er blieb, von Harleys umgeben, vor dem Saloon stehen, stellte seine Aktentasche zwischen die Füße und paffte behaglich, als gehöre ihm die Bar. Ein riesiges Wandgemälde hinter ihm, das eine ganze Wand des Saloons einnahm, zeigte einen Biker am Strand. Neben dem Eingang verkündete ein Schild: Kein Zutritt mit Farben, Clubaufnähern oder Abzeichen.

Ich stieß Kelly an. »Siehst du den Mann dort drüben?«

»Welchen?«

»Den mit dem knallbunten Hemd, den großen Dicken.«

»Du meinst den Fettsack?«

»Stimmt«, bestätigte ich grinsend. »Das ist der Mann, mit dem wir uns hier treffen wollen.«

Ein Metrobus fuhr an uns vorbei. Auf seiner Seite machte er Werbung für SeaWorld - mit einem riesigen Schwertwal, der aus dem Meerwasserbecken sprang. Kelly und ich betrachteten die Werbung, wechselten einen Blick und brachen in schallendes Gelächter aus.

»Warum haben wir nicht drüben auf ihn gewartet?«

erkundigte sie sich.

»Nein, nein, man bleibt irgendwo im Hintergrund und beobachtet die Umgebung. Siehst du, was ich mache? Ich suche die Straße ab, um sicherzugehen, daß kein böser Kerl hinter ihm her ist. Dann weiß ich, daß wir uns ungefährdet treffen können. Was hältst du davon? Glaubst du, daß alles okay ist?«

Plötzlich hatte Kelly eine wichtige Aufgabe. Sie sah nach beiden Seiten die Straße entlang und sagte: »Alles klar.« Natürlich hatte sie keinen blassen Schimmer, worauf sie hätte achten müssen.

»Also, dann komm. Gib mir deine Hand. Bei so starkem Verkehr müssen wir vorsichtig sein.«

Wir verließen Mrs. Mostyn und blieben am Randstein stehen. »Wenn wir uns treffen, muß ich Dinge tun, die dir vielleicht schrecklich vorkommen«, sagte ich, »aber in Wirklichkeit ganz normal sind. So etwas machen wir dauernd; er hat Verständnis dafür.«

»Okay«, antwortete sie, während wir uns durch den Verkehr schlängelten. Nach allem, was sie bisher durchgemacht hatte, würde das Kindergartenkram sein.

Als wir näher kamen, stellte ich fest, daß Big Al merklich gealtert war. Er erkannte mich aus zwanzig Metern Entfernung und spielte plötzlich wieder die Hauptrolle in Der Pate. Mit der Zigarre in der linken Hand breitete er die Arme aus, legte den Kopf schief und knurrte: »Aaaggghhh! Wieder mal Nicky Two!« Dabei grinste Big Al über sein ganzes breites Gesicht; dieses Leben in ständiger Angst vor der Rache der Cosa Nostra war vermutlich beschissen, und nun hatte er endlich

jemanden, mit dem er unbesorgt quatschen konnte.

Big Al klemmte sich seine Corona wieder zwischen die Zähne, griff mit der rechten Hand nach dem Aktenkoffer und watschelte auf uns zu. »Hey, wie geht’s so?« fragte er grinsend, während er mir die Hand schüttelte und dabei Kelly begutachtete. Er stank nach einem gräßlich stark duftenden Rasierwasser.

»Ah, und wer ist diese hübsche junge Dame?« Ich beobachtete leicht mißtrauisch, wie er sich zu ihr hinunterbeugte, um sie zu begrüßen. Vielleicht war sein Charme sogar echt, aber aus irgendeinem Grund stieß er mich ab.

»Das ist Kelly, die Tochter eines Freundes, und ich passe eine Zeitlang auf sie auf«, sagte ich.

Ich bezweifelte, daß er wußte, was in Washington passiert war. Kev hatte er jedenfalls nicht gekannt.

Er stand noch immer gebeugt da, schüttelte Kelly etwas zu lange die Hand und sagte: »Hier ist’s wundervoll - wir haben SeaWorld, DisneyWorld, einfach alles, um junge Damen glücklich zu machen. Dies ist der Sonnenscheinstaat!«

Er richtete sich wieder auf und fragte leicht außer Atem: »Wohin gehen wir?« Er deutete hoffnungsvoll die Straße entlang. »Main Street Pier? Shrimps?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, wir gehen in unser Hotel. Das Zeug, das du dir ansehen sollst, liegt dort. Komm!«

Ich hielt Kellys Hand in meiner Linken und ließ ihn rechts neben mir gehen. Unterwegs versicherten wir uns gegenseitig, wie wundervoll es sei, sich mal wiederzusehen, aber er wußte nur allzu gut, daß dies kein belangloses Treffen unter alten Freunden war - und das gefiel ihm. Genau wie Al und Bob genoß er solche Situationen.

Wir bogen erst rechts und dann wieder links ab, um auf den Parkplatz hinter einigen Läden zu gelangen. Ich nickte Kelly zu, damit sie wußte, daß alles in Ordnung war, und ließ ihre Hand los. Big Al laberte unverdrossen weiter. Ich packte ihn mit beiden Händen am linken Arm und nutzte seine eigene Bewegungsenergie, um ihn gegen die nächste Mauer zu rammen. Er knallte schwungvoll dagegen. Ich stieß ihn in den Notausgang eines Restaurants.

»Alles cool, ich bin cool.« Big Al sprach nur halblaut. Er kannte das Verfahren.

Ich sah auf einen Blick, daß er nichts unter der Kleidung verborgen haben konnte, so straff gespannt umgab sie seinen massigen Leib. Aber ich fuhr dennoch mit einer Hand über sein Kreuz; in dieser natürlichen Höhlung läßt sich wunderbar alles mögliche verbergen, und Big Al hatte ein außergewöhnlich breites Kreuz. Dann tastete ich ihn weiter ab.

Er sah auf Kelly hinab, die alles aufmerksam beobachtete, und blinzelte ihr zu. »Du hast wohl schon oft zugesehen, wie er das macht?«

»Im Himmel macht mein Daddy das auch.«

»Ah, okay, cleveres Mädchen, cleveres Mädchen.« Er starrte sie an, während er versuchte, ihre Antwort zu enträtseln.

Ich richtete mich auf, sobald ich ihn nach Waffen abgetastet hatte. »Du weißt, daß ich mir jetzt deinen Aktenkoffer ansehen muß?«

»Yeah, klar.« Ich öffnete den Aktenkoffer. Außer zwei Aluminiumröhrchen mit Zigarren enthielt er lediglich sein Handwerkszeug: Disketten, ein externes Laufwerk, CD-ROMs, Verbindungskabel, Meßinstrumente und ähnlichen Scheiß. Ich tastete rasch Boden, Deckel und Seiten ab, um mich davon zu überzeugen, daß der Aktenkoffer kein Geheimfach enthielt.

Dann nickte ich zufrieden. »Okay, wir können gehen.«

»Sollen wir unterwegs eine Packung Eiscreme kaufen?« schlug er vor.

Wir hielten ein Taxi an. Kelly und ich stiegen hinten ein, während er sich auf den Beifahrersitz quetschte und die Zweiliterpackung Ben & Jerry’s auf seinen Aktenkoffer stellte.

Im Hotel gingen wir auf unser Zimmer. Big Al war sichtbar aufgeregt; vermutlich erinnerten die konspirativen Umstände unseres Treffs ihn an die gute alte Zeit, und dieses schäbige Zimmer machte alles nur noch aufregender. Er legte seinen Aktenkoffer auf eines der Betten, klappte ihn auf und legte sein Zeug bereit. »Und was treibst du heutzutage?« erkundigte er sich neugierig.

Ich gab keine Antwort.

Kelly und ich saßen auf dem anderen Bett und beobachteten Big Al bei seinen Vorbereitungen. Kelly wirkte sichtlich interessiert.

»Haben Sie auch Spiele?« fragte sie ihn.

Ich dachte, Sabatino würde angewidert den Kopf schütteln: Hör zu, Kleine, ich bin Techniker; mit Spielen gebe ich mich nicht ab. Zu meiner Verblüffung antwortete er jedoch: »Yeah, massenhaft! Vielleicht haben wir nachher noch Zeit, ein paar zu spielen. Welche magst du am liebsten?«

Als die beiden dann anfingen, über Quake und Third Dimension zu fachsimpeln, unterbrach ich sie, indem ich ihn fragte: »Und was treibst du heutzutage?«

»Oh, ich bringe den Leuten bei, wie man mit diesen Dingern umgeht.« Er zeigte auf den Laptop. »Und zwischendurch arbeite ich für ein paar hiesige Privatdetektive, wenn sie Auskünfte über Bankkonten und dergleichen brauchen. Lauter unspektakuläre Sachen, aber das ist in Ordnung - ich muß alles Auffällige vermeiden.«

In einer Wolke aus Kouros-Duft sitzend mochte ich mir angesichts seiner grellbunten Aufmachung nicht einmal vorstellen, wie er sich kleiden würde, um richtig aufzufallen.

Da Big Al keine Antwort auf seine ursprüngliche Frage bekommen hatte, schien er sich verpflichtet zu fühlen, keine Gesprächspause entstehen zu lassen. »Ich hab’ natürlich noch ein paar hundert Mille gebunkert!« erklärte er mir grinsend. »Von den Zinsen und meiner Abfindung lebe ich ganz gut.«

Er war dabei, verschiedene Zusatzgeräte an den Laptop anzuschließen. Ich ließ ihn ruhig weiterarbeiten. Er versuchte noch mal, mich auszuhorchen. »Wie steht’s mit dir? Immer dieselbe Arbeit?«

»Yeah, dasselbe alte Zeug. Alle möglichen Aufträge.«

Er saß jetzt so am Tisch, daß er mir den Rücken zukehrte, und konzentrierte sich auf den Laptop. »Und du arbeitest im Augenblick, stimmt’s?«

»Natürlich arbeite ich.«

Big Al lachte. »Du glaubst wohl, du kannst mich verscheißern?« Er sah zu Kelly hinüber. »Entschuldigung.« Er wandte sich wieder an mich und sagte: »Würdest du arbeiten, bräuchtest du mich nicht, sondern könntest das hier bei euren Leuten in Auftrag geben. Big Al läßt sich nicht verscheißern!« Er grinste zu Kelly hinüber, dann erkundigte er sich: »Bist du noch verheiratet?«

Die Microsoft-Melodie erklang, als er Windows 95 auf meinem Laptop öffnete.

»Seit gut drei Jahren geschieden«, antwortete ich. »Zuviel Arbeit und so. Ich habe seit mindestens zwei Jahren nichts mehr von ihr gehört. Sie lebt irgendwo in Schottland, glaube ich; genau weiß ich’s nicht.«

Plötzlich merkte ich, wie gespannt Kelly unsere Unterhaltung verfolgte.

Er blinzelte ihr zu. »Genau wie ich: jung, frei und ledig! Yeah!« In Wirklichkeit war Big Al eine ziemlich traurige Gestalt; ich war vermutlich der einzige Mensch, den er als eine Art Freund betrachten konnte.

Aus Zimmer drei wummerte laute Rapmusik herüber. Ich hörte die Jungs von Mädchenstimmen begleitet mitsingen. Anscheinend hatten sie die Cheerleader gefunden.

Ich gab ihm die Sicherungsdiskette, die er in sein externes Laufwerk schob. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis ich mehr über meine erbeuteten Daten erfuhr. Inzwischen füllte dichter Zigarrenqualm das obere Viertel unseres Zimmers. Dieser Qualm, der Kouros-Duft und die fehlende Klimaanlage machten das Zimmer fast unbewohnbar. Daher war es nur gut, daß wir es räumen würden, sobald Big Al gegangen war.

Nachdem ich durch einen Vorhangspalt hinausgesehen hatte, öffnete ich das Fenster. Die Jungs waren groß in Fahrt, hatten massenhaft leere Bierdosen verstreut und amüsierten sich mit einer Gruppe Mädchen, die bewundernd zu ihnen aufsahen. Vielleicht hätte sich Big Al eine Armbandtätowierung und abgeschnittene Jeans zulegen sollen.

Auf dem Laptop-Bildschirm erschienen die ersten Dokumente, und ich sah über Big Als Schulter, während er im Halbdunkel tippte. Ich deutete auf eines der Dokumente. »Das sind Unterlagen, mit denen ich nicht zurechtkomme. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Irgendwelche Ideen?«

»Ich kann dir sagen, was wir hier haben.« Sein Blick blieb starr auf den Bildschirm gerichtet. »Lieferscheine und Rechnungen, aber ich weiß vorläufig nicht, wofür.« Als er darauf zeigte, berührte sein Finger den Bildschirm und drückte die Flüssigkeit auseinander. »Nie den Bildschirm berühren!« sagte er vorwurfsvoll, als spreche er mit einem seiner Schüler. Diese Sache gefiel ihm; er ging völlig darin auf.

»Siehst du die hier?« Aus seinem Tonfall sprach plötzlich nicht mehr Niedergeschlagenheit, sondern die Autorität eines Mannes, der seine Sache versteht.

Ich sah mir die langen Kolonnen mit Kennbuchstaben wie UM, JC und PJS an. »Die betreffen Lieferungen«, erklärte mir Big Al. »Hier steht, was an wen gegangen ist.«

Er machte sich daran, weitere Seiten zu überprüfen, um eine Bestätigung dafür zu bekommen. Schließlich nickte er nachdrücklich. »Das sind eindeutig Lieferscheine und Rechnungen. Wie bist du überhaupt an dieses Zeug rangekommen? Du bist bei Gott nicht der größte Computerspezialist, und diese Unterlagen sind bestimmt durch Kennwörter geschützt gewesen.«

»Ich habe ein Schnüfflerprogramm benutzt.«

»Tatsächlich? Welches denn?« Der Computerfreak kam wieder an die Oberfläche.

»Mexy Twenty-one«, log ich.

»Das ist Scheiße! Entschuldigung, Mist! Heute gibt’s Programme, die dreimal schneller laufen.« Er sah zu Kelly hinüber. »Das ist das Problem mit den Briten: Sie leben noch in der Computersteinzeit.«

»Mit anderen Dateien habe ich auch Schwierigkeiten«, sagte ich. »Glaubst du, daß du sie entschlüsseln kannst?«

»Das verstehe ich nicht«, antwortete Big Al. »Mit welchen kommst du nicht zurecht?«

»Nun, sie scheinen kodiert zu sein - lauter zufällig angeordnete Buchstaben und Ziffern. Aber vielleicht kannst du sie entschlüsseln?« Ich kam mir wie ein Dreijähriger vor, der einen Erwachsenen bitten muß, ihm die Schnürsenkel zu binden.

Er suchte die Dateinamen ab. »Du meinst diese GIFs?« fragte er. »Das sind Graphikdateien, sonst nichts. Um sie lesen zu können, braucht man bloß ein Graphikprogramm.«

Big Al tippte einige kurze Befehle ein, fand das Gesuchte und öffnete eine der Dateien. »Das sind eingescannte Photos«, erklärte er mir.

Er beugte sich über den Tisch, zog den Deckel der Eiscremeschale ab, nahm sich einen Plastiklöffel und fing gierig an zu essen. Er warf auch Kelly einen Löffel zu und sagte dabei: »Halt dich lieber ran, bevor Onkel Al alles aufißt.«

Dann erschien das erste Photo auf dem Bildschirm: ein körniges Schwarzweißphoto zweier Männer auf einer breiten Treppe, die zu einem großen alten Gebäude hinaufführte. Ich erkannte die beiden Männer sofort. Seamus Macauley und Liam Fernahan waren »Geschäftsleute«, die als Strohmänner bei vielen raffiniert eingefädelten Projekten als Geldbeschaffer und Spendensammler für die PIRA fungierten. Die beiden verstanden ihre Sache so ausgezeichnet, daß sie einmal sogar Mittel aus dem staatlichen Förderprogramm für den Wiederaufbau nordirischer Städte ergaunert hatten.

Zweifellos hatten sich die Finanzierungsmethoden der PIRA seit der guten alten Zeit mit scheppernden Sammelbüchsen in Belfast, Kilburn und Boston entscheidend verändert. Sogar so sehr, daß zu ihrer Bekämpfung schon 1988 im britischen North Ireland Office eine Arbeitsgruppe Terroristenfinanzierung gebildet worden war, der Wirtschaftsprüfer, Juristen, Steuerfachleute und Computerexperten angehörten. Euan und ich hatten viel mit ihr zusammengearbeitet.

Danach holte Big Al mehrere Photos auf den Bildschirm, auf denen Macauley und Fernahan zwei andere Männer mit Handschlag begrüßten, bevor sie mit ihnen die Treppe hinuntergingen und in einen Mercedes stiegen. Einer der beiden war der verstorbene Mr. Morgan McGear in einem eleganten Anzug, den ich wiederzuerkennen glaubte. Ich sah rasch zu Kelly hinüber, aber sein Gesicht sagte ihr offenbar nichts. Wer der vierte Mann war, wußte ich nicht. Im Augenblick spielte das jedoch keine allzu große Rolle.

Die Aufnahmen waren heimlich gemacht worden. Dunkle Bildränder zeigten, daß ein Teleobjektiv mit nicht ganz korrekter Blende benützt worden war. Aber an den Autos war zu erkennen, daß die vier sich irgendwo in Europa befanden.

»Bitte weiter«, sagte ich knapp.

Sabatino wußte, daß ich etwas oder jemanden erkannt hatte; er starrte mich verlangend an und lechzte danach, eingeweiht zu werden. Er war fünf Jahre lang nicht mehr im Geschäft gewesen, aber dies war seine Chance für ein Comeback.

Ich hatte natürlich nicht vor, ihm irgend etwas zu verraten. »Bitte weiter«, wiederholte ich.

Mit der nächsten Photoserie, die er auf den Bildschirm holte, konnte ich überhaupt nichts anfangen.

Big Al betrachtete die Aufnahmen ebenfalls. Auf seinem Gesicht war ein breites Grinsen zu sehen. »Jetzt weiß ich, wofür die Lieferscheine und Rechnungen sind.«

»Wofür denn?«

»Está es la coca, señor! Hey, diesen Kerl kenne ich.

Der arbeitet fürs Drogenkartell.«

Auf dem Bildschirm sah ich einen wirklich sehr eleganten Lateinamerikaner, Anfang Vierzig, aus einer Limousine steigen. Der Hintergrund zeigte, daß er sich in den USA befand. »Das ist Raoul Martinez«, erklärte Big Al. »Er ist Mitglied der kolumbianischen Handelsdelegation.«

Die Sache wurde mit jeder Minute interessanter. Auch wenn die PIRA stets bestritten hatte, in den Drogenhandel verwickelt zu sein, waren die dadurch erzielbaren Gewinne so hoch, daß sie sie unmöglich ignorieren konnte. Was ich auf diesem Bildschirm sah, waren praktisch vor Gericht verwertbare Beweise für ihre direkte Zusammenarbeit mit dem Drogenkartell. Aber damit war mein Problem noch immer nicht gelöst.

Big Al blätterte weiter in den Bildern. »Gleich sehen wir Raoul mit jemandem, den ich kenne, dafür garantiere ich.« Er suchte weiter. »Ah, da haben wir schon einen - den großen bösen Sal.«

Dieser andere Kerl war etwa gleich alt, aber viel größer; er war früher vermutlich Gewichtheber gewesen und hatte sich dann mindestens hundertzwanzig Kilo angefressen. Sal war ein Hüne, dessen Kopf kahl wie eine Billardkugel war.

»Er begleitet Martinez überallhin«, erklärte Sabatino. »Früher haben wir jede Menge Geschäfte mit ihm gemacht. Ein netter Mann, ein guter Familienvater. Wir haben Kokain entlang der gesamten Ostküste bis hinauf zur kanadischen Grenze vertrieben. Dazu haben wir Leute gebraucht, die alle Hindernisse aus dem Weg

geräumt haben; das haben die beiden getan, und alle haben gut dabei verdient. Yeah, diese Jungs sind in Ordnung gewesen.«

Auf weiteren Photos dieser Datei sahen wir die beiden mit einem dritten Mann, einem Weißen, in einem Restaurant sitzen und essen.

»Keine Ahnung, wer das ist«, sagte Big Al.

Ich blickte über seine Schulter und war nur auf den Bildschirm konzentriert.

Kelly stieß mich an. »Nick?«

»Gleich.« Ich sah wieder Big Al an. »Absolut keine Idee?«

»Nicht die geringste.«

»Nick?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Kelly.«

Aber sie ließ nicht locker. »Nick, Nick!«

»Geh noch mal ...«

»Nick, Nick! Ich weiß, wer dieser Mann ist.«

Ich starrte sie an. »Welcher Mann?«

»Der Mann auf dem Photo.« Sie grinste triumphierend. »Ihr habt gesagt, daß ihr ihn nicht kennt, aber ich weiß, wer er ist.«

»Du meinst den da?« Ich zeigte auf Martinez.

»Nein, der auf dem Bild davor.«

Big Al rief das vorige Photo auf. »Den meine ich!«

Sie zeigte auf den Weißen, der mit Raoul und Sal in einem Restaurant saß.

»Bestimmt?« fragte ich.

»Ja.«

»Wer ist er also?« Nach meinen Erfahrungen mit dem

Videofilm erwartete ich, daß sie Clint Eastwood oder Brad Pitt entdeckt hatte.

»Er ist Daddys Boß.«

Darauf folgte ein langes, fast mit den Händen greifbares Schweigen, während ich mich bemühte, diese Information zu verarbeiten. Big Al sog geräuschvoll die Luft durch seine Zähne ein. »Was meinst du mit Daddys Boß?«

»Er ist mal mit einer Dame bei uns zum Abendessen eingeladen gewesen.«

»Kannst du dich an seinen Namen erinnern?«

»Nein, ich bin runtergegangen, um einen Schluck Wasser zu trinken, und die beiden haben mit Mommy und Daddy gegessen. Daddy hat mich hallo sagen lassen und dabei gesagt: >Hübsch lächeln, Kelly, das ist mein Boß! <« Das war eine gute Imitation von Kev, und ich sah, daß sie Kelly traurig machte.

Big Al mischte sich in seiner tolpatschigen Art in unsere Unterhaltung ein. »Hey, hört euch das an, Leute! Wer ist also dein Daddy?«

Ich fuhr herum. »Halt die Klappe!«

Dann schob ich ihn vom Stuhl, setzte mich selbst vor den Laptop und nahm Kelly auf die Knie, damit sie den Bildschirm besser sehen konnte. »Weißt du bestimmt, daß das Daddys Boß ist?«

»Ja, ich weiß, daß er es ist; Daddy hat’s mir selbst gesagt. Am nächsten Tag haben Mommy und ich Witze über seinen Schnurrbart gemacht, weil er wie ein Cowboy ausgesehen hat.«

Das stimmte; der Mann sah tatsächlich aus wie einer

Marlboro-Werbung entstiegen. Als Kelly auf ihn zeigte, berührte ihr Finger den Bildschirm, so daß Daddys Boß verschwamm. Mit ihr auf den Knien und angesichts des Kerls, der vermutlich an Kevs Tod mitschuldig war, erwachte in mir der Wunsch, es mit ihm ebenso zu machen.

Ich nickte Big Al zu. »Komm, wir sehen uns die Photos noch mal von vorn an.«

Draußen auf dem Balkon war die Party in vollem Gang. Sabatino nahm wieder Platz und fing mit den Bildern an, die Macauley und Fernahan mit McGear zeigten. »Kennst du diese Leute?« Kelly verneinte, aber ich hörte kaum richtig zu, sondern konzentrierte mich ganz auf das Photo. Im Hintergrund standen zwei weitere Autos geparkt. Als es mir gelang, die Kennzeichen zu lesen, wußte ich plötzlich, wo diese Aufnahmen gemacht worden waren.

»Gibraltar«, sagte ich unwillkürlich laut.

Big Al zeigte auf Macauley & Co. »Sind das irische Terroristen?«

»Gewissermaßen.«

Dann wieder eine Pause, während ich eine Erklärung zu finden versuchte.

»Für mich ist klar, was da läuft«, behauptete Big Al.

»Was denn?«

»Ich weiß, daß die irischen Terroristen Kokain von den Kolumbianern gekauft haben. Es ist auf der gewöhnlichen Route über die Florida Keys, die Karibik und Nordafrika transportiert worden. Dann haben sie Gibraltar als Verteilerzentrum für ganz Europa benutzt.

Sie haben damit Millionen verdient, und wir haben einen Anteil dafür bekommen, daß wir ihnen gestattet haben, den Stoff durch Südflorida zu transportieren. Aber gegen Ende 1987 haben sie die Transporte über Gibraltar plötzlich eingestellt.«

»Wieso?« Ich hatte Mühe, äußerlich unbewegt zu bleiben.

Er zuckte mit den Schultern. »Mit den Einheimischen hat’s Streit gegeben, glaub’ ich. Soviel ich weiß, transportieren sie den Stoff jetzt über Südafrika zur spanischen Westküste. Dort drüben stecken sie mit anderen Terroristen unter einer Decke.«

»ETA?«

»Keine Ahnung. Irgendwelche einheimischen Terroristen oder Freiheitskämpfer. Nenn sie, wie du willst - für mich sind sie alle nur Dealer. Jedenfalls helfen sie jetzt den Iren. Raoul ist bestimmt in die Staaten gekommen, um in Verhandlungen mit Daddys Boß zu erreichen, daß die Route nach Florida für die Iren geöffnet bleibt, denn sonst hätten die Kolumbianer sie anderweitig vergeben.«

»Hey, das klingt so, als würden Flugstrecken oder dergleichen zugeteilt.«

Big Al zuckte wieder mit den Schultern. »Natürlich. Geschäft ist Geschäft.« Er tat so, als seien das allgemein bekannte Tatsachen. Für mich war das alles neu.

Mit wem, zum Teufel, hatte die PIRA in Gibraltar gesprochen? Waren diese Leute dort gewesen, um zu versuchen, die Drogentransporte in Gang zu halten? Mir fiel plötzlich ein, daß Sir Peter Terry, der den Kampf gegen den Drogenschmuggel forciert hatte und bis Anfang 1988 Gouverneur von Gibraltar gewesen war, im September 1988 nur knapp einem Mordanschlag entgangen war. Sollte der vierte Mann auf diesem Bild vielleicht eine ähnliche Warnung erhalten? Und gab es irgendeinen Zusammenhang zwischen der plötzlichen Einstellung sämtlicher Drogentransporte und der einige Monate zurückliegenden Erschießung von PIRA- Aktivisten?

Jedenfalls bestätigte das alles, daß einige DEA- Angehörige, darunter auch Kevs Boß, sich äußerst verdächtig benommen hatten. War Kev vielleicht dahintergekommen, daß sie von der PIRA einen Gewinnanteil erhielten?

Big Al sog wieder Luft durch die Zähne ein. »Das nenne ich brisante Unterlagen, Mann! Wen willst du damit erpressen?«

»Erpressen?«

»Nicky, du hast hier einen Mann aus der DEA- Führungsspitze, der mit wichtigen Vertretern des Drogenkartells spricht, und irische Terroristen im Gespräch mit Regierungsvertretern, hohen Polizeibeamten oder sonst wem in Gibraltar. Willst du mir etwa weismachen, daß mit diesen Aufnahmen niemand erpreßt werden soll? Unsinn! Hast du nicht vor, sie zu verwenden, werden die Leute, die diese Schnappschüsse gemacht haben, sie jedenfalls dazu benutzen.«