PROLOG

Gibraltar - Sonntag, 6. März 1988

Wir wußten nicht, wer von den dreien die Bombe zünden würde. Simmonds hatte uns nur sagen können, daß es eine große sein würde, die ferngezündet werden sollte.

Vorerst konnten wir jedoch nicht mehr tun, als zu warten. Der Sicherheitsdienst ließ die Grenzübergänge zum spanischen Festland von Spähern überwachen. Bis verdächtige Akteure gesichtet wurden, sollten Pat, Kev und ich dort bleiben, wo wir jetzt waren - in einem Café unweit der Main Street, wo wir Kaffee tranken, die Straße beobachteten und zuhörten, was um uns herum passierte.

Die Frühlingsluft unter einem leuchtendblauen Mittelmeerhimmel war frisch und klar, und die Morgensonne war bereits so warm, daß man in Hemdsärmeln im Freien sitzen konnte. Die Bäume, die den Platz umgaben, waren dicht mit Vögeln besetzt, die soviel Krach machten, daß sie den Verkehrslärm der ganz in der Nähe vorbeiführenden, aber nicht sichtbaren Hauptstraße übertönten.

In meinem Ohrhörer bekam ich mit, wie Euan eine Sprechprobe mit der Einsatzzentrale durchführte. Was er über Funk sagte, war alles sehr präzise, sehr deutlich, sehr ruhig. Euan war der pedantischste Mann der Welt. Saß man bei ihm auf einem Sitzkissen, schüttelte er es auf, sobald man wieder aufgestanden war. Sein Pflichtbewußtsein war unübertroffen.

Ich hörte Druckluftbremsen zischen und sah auf. Ein Reisebus war auf den Platz gefahren und hielt ungefähr zwanzig Meter von uns entfernt. Auf dem innen an der Windschutzscheibe angebrachten Schild stand Young At Heart - offenbar der Slogan einer Seniorengruppe.

Ich achtete nicht weiter auf den Bus. Ich langweilte mich, suchte irgendeine Beschäftigung. Das Schuhband eines meiner Sportschuhe war aufgegangen. Als ich mich bückte, um es neu zu binden, bekam ich den Hammer meiner 9-mm-Browning in die Rippen. Das Halfter trug ich in meinen Jeans versteckt; auf diese Weise war nur der Pistolengriff zu sehen, wenn ich meine schwarze Bomberjacke öffnete. Ich trug meine Waffe lieber vorn. Viele der Jungs trugen sie seitlich, aber daran hatte ich mich nie gewöhnen können. Hat man erst eine Position gefunden, die einem gefällt, behält man sie bei; man könnte eines Tages in die Scheiße geraten, seine Waffe ziehen wollen und danebengreifen - sie steckt eine Handbreit weiter rechts, und man ist tot.

Aus dem Griff meiner Pistole ragte ein verlängertes Magazin mit zwanzig Schuß. Außerdem hatte ich drei Standardmagazine zu je dreizehn Schuß am Gürtel, denn ich rechnete mir aus, daß ich meinen Beruf verfehlt haben mußte, wenn neunundfünfzig Schuß nicht genügten.

Die alten Leute begannen auszusteigen. Sie waren typische britische Touristen, die Männer alle fast identisch gekleidet: beige Flanellhose, zweckmäßige Schuhe und ein Pullover mit V-Ausschnitt über Hemd und Krawatte. Die meisten Frauen trugen Crimplene- Hosen mit Elastikbund und vorn eingenähter Bügelfalte. Alle hatten makellos gefönte Frisuren, die rabenschwarz, weiß oder blau getönt waren. Als sie das Café sahen, setzten sie sich wie eine Herde in Bewegung.

»Scheiße, die PIRA hat anscheinend keine Leute mehr«, murmelte Pat. Damit meinte er die Provisorische Irisch-Republikanische Armee. »Sie hat den Barry- Manilow-Fanklub hergeschickt. Freunde von dir, Grandad?«

Er grinste Kev an, der ihm wortlos den Finger zeigte. Aus dem SAS scheidet man mit vierzig aus, ob’s einem gefällt oder nicht, und Kevs Vertrag hatte nur noch eine Laufzeit von ein bis zwei Jahren.

Die im Herzen Junggebliebenen setzten sich an die Nebentische und griffen nach den Speisekarten. Sie hatten jetzt eine wichtige Entscheidung zu treffen: Sollten sie noch Kuchen oder schon Sandwiches bestellen? Um diese Zeit zwischen Elf-Uhr-Imbiß und Mittagessen wußten sie einfach nicht, wofür sie sich entscheiden sollten.

Als der Ober herauskam, fingen sie an, betont langsam und deutlich mit ihm zu reden. Er starrte sie an, als seien sie übergeschnappt.

Im Netz hörte ich: »Alle Rufzeichen, hier Alpha. Sprechprobe, kommen.« Alpha war unser Führungsoffizier. Als wir vor sechsunddreißig Stunden hier gelandet waren, hatte unser aus acht SAS-Soldaten und Fernmeldepersonal bestehendes Team in HMS

Rooke, dem britischen Marinestützpunkt im Hafen, mehrere Räume im Unterkunftsgebäude zugewiesen bekommen. Dort schlängelten sich Kabelstränge über die Fußböden, Telefone klingelten und Techniker liefen in Jogginganzügen oder Jeans herum und testeten Funkgeräte oder Satellitenverbindungen.

Kev sagte halblaut in sein verstecktes Mikrofon: »Golf.«

Pat: »Oscar.«

Ich hörte Euan: »November.«

Dann war ich an der Reihe: »Delta.«

Die britischen Senioren begannen, sich gegenseitig zu fotografieren. Dann tauschten sie ihre Kameras aus, um auf dem eigenen Film abgebildet zu sein.

Slack Pat stand auf und fragte eine der alten Damen: »Hallo, Schätzchen, soll ich euch mal alle miteinander knipsen?«

»Oh, Sie sind auch aus England, was? Ist das Wetter nicht schön?«

Slack war Anfang Dreißig, blond und blauäugig, sah blendend aus und war clever, redegewandt und witzig: er war alles, was ich haßte. Außerdem war er einsfünfundachtzig groß und gehörte zu den Leuten, die von Natur aus Muskeln wie Bodybuilder haben. Sogar sein Haar wußte, wie es sich zu benehmen hatte; ich hatte schon erlebt, daß er sorgfältig gekämmt und gescheitelt in seinen Schlafsack gekrochen und am nächsten Morgen genauso aufgewacht war. Aus meiner Sicht war das einzig Versöhnliche an Pat die Tatsache, daß er so gut wie keinen Hintern in der Hose hatte, wenn er aufstand.

Weil seine Jeans dort so schlaff waren, hatte er von uns den Spitznamen »Slack« bekommen.

Er war gerade dabei, sich als David Bailey zu betätigen, als wir im Netz das »Achtung, Achtung!« einer Späherin hörten.

»Ein Verdächtiger, ein Verdächtiger - Bravo One auf der Main Street in Richtung Stadtplatz.«

»Verstanden«, meldete Alpha sich wieder. »Delta, bestätigen Sie.«

Ich stand auf, drückte zweimal rasch nacheinander auf die in meine Jackentasche eingenähte Sprechtaste meines Funkgeräts und setzte mich in Bewegung. Es wäre zwecklos gewesen, gleich zu dritt loszumarschieren.

Familien, die ihren Sonntagsspaziergang machten, kreuzten meinen Weg von links. Touristen fotografierten Gebäude, studierten Stadtpläne und kratzten sich hinterm Ohr; Einheimische saßen auf Bänken und genossen das warme Wetter, führten ihre Hunde aus und spielten mit ihren Enkelkindern. Mir fielen zwei Männer mit gemütlich aussehenden Bierbäuchen auf: Die beiden Alten scherten sich den Teufel darum, daß sie sich totrauchten. Sie saßen in Hosen mit breiten Trägern, Oberhemden und Westen da und sogen die Märzsonne geradezu auf.

Ich fragte mich, wer von diesen Leuten die Detonation überleben würde, falls die Sprengladung zufällig genau hier hochging.

Ich war gerade dabei, ein gutes Tempo zu finden, als ein Späher aufgeregt meldete: »Achtung, Achtung! Zwei weitere Verdächtige - Bravo Two und Echo One am

oberen Ende der Main Street.«

Ich fühlte mein Herz schneller schlagen.

Ich hörte Euan die Meldung bestätigen. Bei diesem Unternehmen hatten wir beide den gleichen Auftrag: »Verdächtige« einwandfrei zu identifizieren. Ich stellte mir vor, wie auch er in die angegebene Richtung schlenderte. Er war klein, hatte das Gesicht voller Aknenarben und fuhr das größte Motorrad der Welt, das er im Stehen nur mühsam im Gleichgewicht halten konnte, weil seine Zehen kaum den Boden berührten. Es machte mir Spaß, ihn damit aufzuziehen. Ich kannte ihn wie einen Bruder - wahrscheinlich sogar besser, denn meine Angehörigen hatte ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.

Euan und ich waren in unserer Rekrutenzeit Kameraden geworden; wir hatten die SAS- Auswahlprüfung gemeinsam bestanden und arbeiteten seitdem zusammen. Der Scheißkerl war so unerschütterlich ruhig, daß ich jedesmal dachte, sein Herz schlage ständig im Leerlauf. Ich war in Hereford mit ihm zusammen gewesen, als die Polizei gekommen war, um ihm mitzuteilen, seine Schwester sei ermordet worden. Er hatte lediglich gesagt: »Dann muß ich wohl nach London, um alles zu regeln.« Nicht, daß ihm das gleichgültig gewesen wäre; er regte sich nur grundsätzlich nie auf. Solche Gelassenheit kann ansteckend sein. Mich beruhigte es immer, Kerle wie Euan in meiner Nähe zu haben.

Ich erreichte die Main Street und hatte Bravo One sofort im Visier.

Ich meldete mich über Funk: »Alpha, hier Delta. Bestätige Bravo One, braune Nadelstreifen in verblaßtem Blau.«

Er trug immer diese Anzugjacke mit braunen Nadelstreifen; er hatte sie schon so lange, daß die Taschen ausgebeult waren und das Jackett im Rücken Dauerfalten hatte, weil er es auch trug, wenn er Auto fuhr. Und dieselben alten ausgebleichten, zerschlissenen Jeans, deren Schritt auf halber Höhe zwischen Arsch und Kniekehlen hing. Er ging von mir weg - untersetzt, leicht gebeugt, kurzes Haar, lange Koteletten -, aber ich erkannte ihn an seinem Gang. Ich wußte, daß ich Sean Savage vor mir hatte.

Ich folgte ihm zu einem kleinen Platz am unteren Ende der Main Street in der Nähe der Gouverneursresidenz, auf dem die Kapelle des hier stationierten britischen Infanteriebataillons nach dem Wachwechsel wegtreten würde. Simmonds vermutete das PIRA-Team könnte seine Bombe hier zünden wollen.

Alpha, unser Führungsoffizier, der dieses Unternehmen leitete, wiederholte die Meldung, damit jeder darüber informiert war, in welche Richtung Savage unterwegs war. Ich wußte, daß Golf und Oscar - Kev und Slack Pat - bald zu mir aufschließen würden.

An der Mauer des alten Kolonialgebäudes parkten sechs bis sieben Autos, deren Fahrer den dort vorhandenen Schatten ausnützten. Ich sah, wie Bravo One seine rechte Hand in die Tasche steckte, als er sich den Wagen näherte. Eine Zehntelsekunde glaubte ich, er greife nach der Fernzündung.

Ohne sein Tempo zu verringern, konzentrierte sich Savage auf einen bestimmten Wagen und ging auf ihn zu. Ich bewegte mich etwas nach rechts, um das Nummernschild ablesen zu können.

»Alpha, hier Delta«, sagte ich. »Bravo One jetzt an einem Auto - Mike Lima eins-sieben-vier-vier-eins- zwo.«

Ich stellte mir Alpha vor seinen Bildschirmen in der Einsatzzentrale vor. »Verstanden. Mike Lima eins- sieben-vier-vier-eins-zwo«, bestätigte er. »Das ist ein weißer Renault fünf.«

»Der dritte Wagen vom Eingang aus«, meldete ich. »Der mit der Motorhaube zum Gehsteig steht.«

Unterdessen hielt Savage die Schlüssel in der Hand.

»Halt, halt, halt. Bravo One ist am Auto, er steht an dem Auto.«

Mir blieb jetzt nichts anderes übrig, als ziemlich dicht an ihm vorbeizugehen - ich konnte nicht plötzlich meine bisherige Richtung ändern. Dabei sah ich sein Gesicht im Profil; Kinn und Oberlippe waren mit Pickeln übersät, und ich wußte, was das bedeutete. Stand er unter großem Streß, brach jedesmal seine Akne aus.

Savage stand weiter neben dem Renault. Er hatte sich abgewandt, kehrte mir jetzt den Rücken zu und gab vor, seine Schlüssel zu sortieren, aber ich wußte, daß er die geheimen Kennzeichen überprüfte. Ein kleiner durchsichtiger Klebstreifen an der Türdichtung, irgendwelche Gegenstände, die im Wageninneren nach einem bestimmten System angeordnet zurückgelassen worden waren ... war irgendeine Veränderung zu

bemerken, würde Savage schnellstens verschwinden.

Kev und Slack Pat waren jetzt irgendwo hinter mir am Rand des Platzes, um notfalls eingreifen zu können. War die Zielperson auf mich aufmerksam geworden, würde einer der beiden mich ablösen; geriet ich in die Scheiße und hatte Kontakt, würden sie die Sache zu Ende bringen müssen - und wir arbeiteten alle schon so lange zusammen, daß ich genau wußte, daß nichts die beiden davon abhalten würde, ihren Auftrag zu erfüllen.

Die Gebäude warfen Schatten über den Platz. Ich spürte keine Brise, sondern nur den Temperaturunterschied, als ich aus der Sonne trat.

Ich war Savage jetzt zu nahe, um funken zu können. Im Vorbeigehen hörte ich, wie der Schlüssel hineingesteckt wurde und das Schloß klickte.

Ich steuerte eine Holzbank auf der anderen Seite des Platzes an und ließ mich darauf nieder. Im Papierkorb neben mir steckten Zeitungen; ich zog eine heraus und gab vor, sie zu lesen, während ich weiter die Zielperson beobachtete.

Als Savage eine verdächtige Bewegung machte, meldete ich mich wieder: »Alpha, hier Delta. Seine Füße sind außerhalb des Wagens, er fummelt unter dem Instrumentenbrett herum, er macht sich darunter zu schaffen. Augenblick ...« Da ich die Sprechtaste nicht losließ, blieb das Netz weiter unter meiner Kontrolle. War es möglich, daß er die letzten Verbindungen zur Bombe herstellte?

Während ich den Bauchredner spielte, kam ein alter Mann, der sein Fahrrad schob, auf mich zu. Der

Scheißkerl wollte mich offenbar in ein Gespräch verwickeln. Ich nahm den Finger von der Sprechtaste und wartete. Obwohl ich vorgab, die hiesige Zeitung zu lesen, hatte ich keine Ahnung, was drinstand. Der Alte war offenbar anderer Meinung. Ich hatte keine Lust, mit ihm übers Wetter zu schwatzen, aber ich konnte ihn nicht einfach auffordern, sich zu verpissen, weil er unter Umständen Krach schlagen und dadurch Savage auf uns aufmerksam machen würde.

Der alte Knabe blieb vor mir stehen, hielt mit einer Hand sein Fahrrad fest und gestikulierte mit der anderen. Er fragte mich etwas. Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Ich machte ein Gesicht, als sei mir unbegreiflich, was heutzutage alles passierte, zuckte mit den Schultern und sah wieder in die Zeitung. Das war anscheinend die falsche Reaktion gewesen. Er sagte etwas Zorniges, schob sein Fahrrad weiter und gestikulierte dabei, als führe er ein ärgerliches Selbstgespräch.

Ich meldete mich wieder über Funk. Ich konnte nicht genau sehen, was Savage machte, aber seine beiden Füße blieben außerhalb des Renaults. Er hockte auf dem Fahrersitz und lehnte sich unterhalb des Instrumentenbretts zur Beifahrerseite hinüber. Es sah so aus, als versuche er, etwas aus dem Handschuhfach zu holen - als habe er etwas vergessen und sei zurückgegangen, um es zu holen. Ich konnte nicht genau erkennen, was er machte, aber seine Hände griffen immer wieder in seine Taschen.

Um mich herum schien sich alles zu verengen. Ich kam mir wie ein Boxer vor: Ich konnte die Menge hören, ich hörte auf meine Sekundanten und den Ringrichter, ich horchte auf den Gong, aber in erster Linie konzentrierte ich mich auf meinen Gegner. Alles andere war unwichtig. Nur mein Gegner zählte. Die einzig wichtigen Menschen auf dieser Welt waren Bravo One und ich.

Über Funk bekam ich mit, wie Euan sich wie ein Verrückter abstrampelte, um die beiden anderen Terroristen einzuholen.

Kev und Slack Pat standen hinter mir in Reserve; die beiden anderen Männer unseres Teams waren bei Euan. Sie blieben vorläufig im Hintergrund; sie hörten den Funk ab, um auf dem laufenden zu sein, ohne von den Zielpersonen gesehen werden zu können, waren aber immer nahe genug, um uns unterstützen zu können, falls wir in die Scheiße gerieten.

Euan schloß zu Bravo Two und Echo One auf. Die beiden kamen in unsere Richtung. Jeder wußte, wo sie waren, und ging ihnen aus dem Weg, damit sie sich völlig ungehindert bewegen konnten.

Ich erkannte sie, sobald sie um die Ecke bogen.

Bravo Two war Daniel Martin McCann. Im Gegensatz zu Savage, der gebildet und ein erfahrener Bombenbauer war, war »Mad Danny« von Beruf Fleischer und seinem Wesen nach ein Schlächter. Garry Adams hatte ihn 1985 aus der Bewegung ausgeschlossen, weil McCann gedroht hatte, mit einer Mordkampagne zu beginnen, die seiner neuen politischen Strategie hätte schaden können. Das war ein bißchen so, als wäre jemand wegen Grausamkeit aus der Gestapo entlassen worden. Aber McCann hatte

Förderer, die dafür sorgten, daß er bald wieder aufgenommen wurde. Dem Ehemann und Vater zweier Kinder wurden sechsundzwanzig Morde angelastet. Loyalisten in Ulster hatten einmal versucht, ihn umzulegen - leider vergeblich. Sie hätten sich mehr Mühe geben sollen.

Echo One war Mairead Farrell. Diese einunddreißigjährige ehemalige Klosterschülerin aus einer Mittelstandsfamilie gehörte zu den einflußreichsten Frauen in der PIRA. Hätte man ihr Photo gesehen, hätte man gedacht: ah, ein Engel! Aber sie hatte wegen eines Bombenanschlags in Belfast zehn Jahre lang im Knast gesessen und sich nach ihrer Entlassung sofort wieder zum Dienst gemeldet. In letzter Zeit hatte sie allerdings Pech gehabt: Vor einigen Monaten hatte ihr Liebhaber sich aus Versehen selbst in die Luft gesprengt. Wie Simmonds bei der Einsatzbesprechung festgestellt hatte, war Echo One seither stinksauer.

Ich kannte beide gut; Euan und ich hatten seit Jahren immer wieder gegen sie gearbeitet. Ich meldete mich im Netz und bestätigte die Identifizierung.

Jeder war an seinem Platz. In der Einsatzzentrale hielten sich außer Alpha der ranghöchste hiesige Polizeibeamte, Leute aus dem Außenministerium, Leute aus dem Innenministerium und alle möglichen anderen Leute auf, von denen sich jeder an der Diskussion beteiligen wollte und seine eigenen Prioritäten hatte. Wir konnten nur hoffen, daß Simmonds unsere Interessen wahrnehmen würde. Ich hatte den Abteilungsleiter Nordirland im Secret Intelligence Service erst vor ein paar Tagen kennengelernt, aber er schien unseren Teil der Show voll im Griff zu haben. Aus seiner Stimme sprach das Selbstbewußtsein, das auf den Sportplätzen von Eton geformt wird, und er wog seine Worte so sorgfältig ab wie ein Staranwalt bei seinem Plädoyer vor Gericht.

Wir wollten, daß die Entscheidung sofort getroffen wurde. Aber ich wußte, daß in der Einsatzzentrale, in der jetzt der Zigarettenrauch vermutlich zum Schneiden dick war, hitzig debattiert wurde. Alpha, unser Verbindungsoffizier, hielt die anderen über unsere Bewegungen auf dem laufenden und bestätigte, daß das Team in Position war. Im Endeffekt entschied die Polizei, nicht wir selbst, ob und wann wir eingriffen. Wurde der Fall ans Militär abgegeben, würde Kev unser Team führen.

Die Anspannung war ungeheuer. Ich wollte diese Sache nur hinter mir haben.

Unterdessen lehnte Farrell an der Fahrertür, und die beiden Männer standen vor ihr. Hätte ich’s nicht besser gewußt, hätte ich vermutet, daß sie mit ihr anzubändeln versuchten. Ich konnte nicht hören, was sie sagten, aber ihre Gesichter verrieten keinerlei Streß, und ich konnte sie trotz des Verkehrslärms ab und zu lachen hören. Savage zog sogar Pfefferminzpastillen aus der Tasche, die er den anderen anbot.

Ich berichtete laufend weiter, was ich sah, bis Alpha sich wieder im Netz meldete. »An alle Rufzeichen, alle Rufzeichen, Zuständigkeit liegt bei mir. Golf, bestätigen.«

Kev bestätigte den Empfang dieser Mitteilung. Die Polizei hatte die Zuständigkeit an uns abgetreten; alle weiteren Entscheidungen lagen bei Kev.

Die Zielpersonen wandten sich von dem Renault ab, setzten sich wieder in Bewegung. Ich klickte meine Sprechtaste viermal.

Golf meldete sich: »Noch warten, warten!«

Also hinterher.

Ich ließ sie in Richtung Hauptplatz vorangehen, bevor ich aufstand und ihnen folgte. Ich wußte, daß wir nicht hier zugreifen würden, denn hier waren zu viele Menschen unterwegs. Man wußte nie, ob einer der Akteure beschloß, mit einem großen Feuerwerk aus dem Leben zu scheiden, und anfing, Zivilisten umzulegen, Unbeteiligte als Geiseln zu nehmen, oder sogar - noch schlimmer - in den Kamikaze-Modus verfiel und die Sprengladung zündete.

Alpha meldete sich erneut über Funk: »An alle Rufzeichen, alle Rufzeichen - Kommando zurück! Zuständigkeit liegt nicht bei mir! Kommando zurück! Golf, bestätigen.«

Ich hörte sofort Kevs weit weniger formelle Antwort: »Verdammt, was ist los? Was soll der Scheiß?«

»Augenblick . « Alpha stand offensichtlich unter Druck. Im Hintergrund waren weitere Stimmen zu hören. »Alle Rufzeichen, die Polizei braucht eine weitere Identifizierung, um ganz sicher zu sein. Golf, bestätigen.«

Was wollten sie eigentlich noch? Sollten die Verdächtigen sich vielleicht kurz vorstellen? »Hi, ich bin

Danny, Bombenleger und Mörder, ich reise gern und habe Spaß an der Arbeit mit Kindern.«

Wir riskierten, sie zu verlieren, wenn wir nicht bald eingriffen.

Dann wieder Alpha: »Alle Rufzeichen, unser

Sprengmeister überprüft jetzt den Renault. Delta, wir brauchen diese nochmalige Identifizierung.«

Ich bestätigte den Empfang. In der Einsatzzentrale schien ziemliche Aufregung zu herrschen. Die Polizei setzte dem Boß zu, und im Hintergrund war erregtes Stimmengewirr zu hören.

In ein paar Minuten würde das Terroristenteam die Grenze überqueren. Sobald es drüben war, konnte es die Sprengladung Zünden, ohne befürchten zu müssen, verfolgt zu werden.

Ich war jetzt auf der anderen Straßenseite und wollte wenigstens auf gleiche Höhe mit ihnen kommen, um ihre Gesichter nochmals sehen zu können. Ich mußte die Zielpersonen erneut identifizieren und dann in ihrer Nähe bleiben.

Weitere Aktivität im Netz. Ich hörte jetzt die Anspannung in Alphas Stimme, klingelnde Telefone, laut durcheinanderredende Leute.

Dann wieder Kev: »Zum Teufel mit der Zentrale, wir bleiben dran, bis irgendwer die beschissene Entscheidung trifft. Lima und Zulu, könnt ihr nach vorn kommen?«

Zulu, der auch für Lima sprach, meldete sich ziemlich außer Atem: »Golf, das ... das können Zulu und Lima.«

»Verstanden. Kommt nach vorn und meldet euch, wenn ihr in Position seid.«

Kev wollte sie jenseits des Gesundheitszentrums haben. Die beiden rannten, so schnell sie konnten; wer sie sah, war ihnen egal, solange die Zielpersonen nicht auf sie aufmerksam wurden. Aber die Zuständigkeit lag noch immer nicht bei uns.

Kev meldete sich über Funk: »Alpha, hier Golf. Sie müssen sich endlich entscheiden - sonst gehen sie uns durch die Lappen. Was sollen wir tun?«

»Golf, warten.«

Ich konnte weiter Hintergrundgeräusche hören - Stimmengewirr, Telefonklingeln, laut gerufene Anweisungen.

Dann herrschte für wenige Augenblicke Stille.

»Warten ... warten ...«

Außer dem Stimmengewirr im Funk hörte ich nur das Hämmern meines Pulses in meinen Ohren. Dann erklang endlich Simmonds’ Stimme: laut und deutlich, eine Stimme, der man nicht widersprechen konnte. Ich hörte, wie er Alpha aufforderte: »Sagen Sie dem Einsatzleiter, daß er weitermachen kann.«

»Alle Rufzeichen, hier Alpha. Die Zuständigkeit liegt bei mir. Golf, bestätigen.«

Kev meldete sich sofort, aber anstatt diese Mitteilung zu bestätigen, sagte er nur: »War höchste Zeit. Alle Rufzeichen, falls sie zum Flughafen wollen, schnappen wir sie uns dort. Falls nicht ... dann auf meinen Befehl, verstanden? Zulu und Lima, wo seid ihr jetzt?«

»An der Kreuzung«, antwortete Zulu schwer atmend. »Wir können übernehmen.« Die beiden standen an der Kreuzung zwischen Main Street und Smith Dorrien

Avenue, der Hauptzufahrt zum Grenzübergang nach Spanien. Die Akteure kamen genau auf sie zu.

Ich konnte mich bald abseilen. Ich hatte meinen Auftrag im Rahmen dieses Unternehmens erfüllt. Ich bereitete mich auf die Übergabe vor.

Aber dann blieben sie stehen.

Scheiße. »Halt, halt, halt!«, sagte ich über Funk. »Bravo One, Two und Echo One sind stehengeblieben.«

Wir kamen von allen Seiten auf sie zu. Los, wir schnappen sie uns hier und jetzt.

Savage trennte sich von den beiden anderen und ging in Gegenrichtung zurück - in Richtung Stadtmitte. Das war natürlich Scheiße. Wir hatten auf einmal zwei Gruppen zu überwachen und wußten nicht, wer die Fernzündung in der Tasche hatte.

Kev schloß zu mir auf, um mich unterstützen zu können. Im Netz hörte ich, wie der Rest des Teams den beiden anderen Akteuren in Richtung Grenze folgte, während ich mich beeilte, um mir Savage zu schnappen. Er bog nach links in eine schmale Gasse ab.

Ich wollte mich eben über Funk melden, als ich hinter mir eine Polizeisirene hörte. Dann fielen mehrere Schüsse.

Im nächsten Augenblick rief Euan im Netz; »Kontakt! Kontakt!«

Dann weitere Schüsse.

Kev und ich starrten uns an. Was zum Teufel war da passiert? Wir liefen um die Ecke. Auch Savage hatte die Schüsse gehört und war sofort umgekehrt. Selbst aus einiger Entfernung war zu sehen, daß er Augen groß wie

Untertassen hatte und wie besessen zuckte.

Zwischen ihm und uns befand sich eine Fußgängerin. »Halt, Sicherheitskräfte!« rief Kev laut. »Halt, stehenbleiben!«

Mit der linken Hand stieß er die Frau beiseite und gegen eine Hauswand, damit sie uns nicht in die Quere kam. Sie ging mit einer stark blutenden Kopfplatzwunde zu Boden. So würde sie wenigstens nicht aufstehen und ein Ziel abgeben.

Sie begann zu kreischen. Gleichzeitig brüllte Kev Savage an, und alle Passanten, die diese Szene miterlebten, schrien ebenfalls durcheinander. Das Chaos war unbeschreiblich.

Kev schlug sein Sportsakko rechts auf, um an das Halfter über seiner Niere heranzukommen. Wir steckten immer einen schweren Gegenstand in die Tasche - ein volles Magazin ist gut geeignet -, damit die Jacke sich schneller zurückschlagen ließ.

Aber ich beobachtete nicht wirklich Kev, sondern behielt Savage im Auge. Ich sah, wie er seine linke Hand hob, um in die rechte Innentasche seiner Jacke zu greifen. Er war kein muskelbepackter Schwachkopf, der kein Hirn hatte. Sobald er uns sah, wußte er, was die Stunde geschlagen hatte. Er mußte eine Entscheidung treffen.

Kev zog seine Pistole, riß sie hoch und drückte ab.

Nichts.

»Ladehemmung! Scheiße, Nick, Scheiße, Scheiße!«

Während Kev die Ladehemmung zu beseitigen versuchte, ließ er sich auf ein Knie nieder, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Von diesem Augenblick

an schienen alle Ereignisse wie in Zeitlupe abzulaufen.

Savage und ich standen uns Auge in Auge gegenüber. Er wußte, was ich tun würde; er hätte es verhindern können, wenn er die Hände gehoben hätte.

Eine Schußwaffe läßt sich nur schnell ziehen und benutzen, indem man den Bewegungsablauf in einzelne Stadien unterteilt. Stadium eins: Ich behielt mein Ziel im Auge. Mit der linken Hand packte ich das Vorderteil meiner Bomberjacke und riß es mit voller Kraft nach links. Der Klettverschluß öffnete sich.

Gleichzeitig zog ich den Bauch ein und streckte die Brust heraus, damit der Pistolengriff leicht zu fassen war. Man bekommt nur eine Chance.

Wir hatten noch immer Blickkontakt. Er begann etwas zu rufen, aber ich verstand kein Wort. In der Gasse um uns herum und in meinem Ohrhörer plärrten zu viele andere Stimmen durcheinander.

Stadium zwei: Die gespreizten Finger meiner rechten Hand fuhren herab und umfaßten den Pistolengriff. Machte ich dabei einen Fehler, würde ich nicht richtig zielen können. Ich würde danebenschießen und sterben. Sobald ich den Pistolengriff in der Handfläche spürte, umklammerte ich ihn mit dem Daumen und drei Fingern. Aber mein Zeigefinger lag parallel zum Lauf außen am Abzugbügel. Ich wollte nicht verfrüht abdrücken und mich selbst erschießen. Savage starrte mich noch immer an, brüllte noch immer etwas.

Seine Hand war schon fast an der Tasche.

Stadium drei: Ich zog meine Waffe, indem ich sie gleichzeitig mit dem Daumen entsicherte.

Der Blickkontakt zwischen uns riß nicht ab. Ich sah, daß Savage erkannte, daß er verloren hatte. Seine Lippen verzogen sich kaum wahrnehmbar zu einem verächtlichen Lächeln. Er wußte, daß er sterben würde.

Als meine Pistole herauskam, riß ich den Lauf sofort parallel zum Boden hoch. Ich hatte keine Zeit, meine Arme auszustrecken und eine stabile Schußposition einzunehmen.

Stadium vier: Meine linke Hand zog weiter die Jacke nach links, damit sie mich nicht behinderte, und die Pistole befand sich unmittelbar vor meiner Gürtelschnalle. Ich brauchte sie nicht anzusehen; ich wußte, wo sie war und worauf sie zielte. Ich starrte weiter das Ziel an, und Savage erwiderte meinen Blick. Ich drückte ab.

Der Knall des Schusses schien wieder alles in Echtzeit zurückzuversetzen. Mein erster Schuß traf ihn. Ich wußte nicht, wo. Das brauchte ich nicht zu wissen. Sein Blick sagte mir alles, was ich wissen wollte.

Ich schoß weiter. Einen Overkill konnte es hier nicht geben. Solange er sich bewegen konnte, konnte er auch die Bombe zünden. War ein ganzes Magazin nötig, um diese Gefahr zuverlässig zu beseitigen, würde ich eben ein ganzes Magazin verschießen. Als Savage zusammenbrach, konnte ich seine Hände nicht mehr sehen. Er lag zusammengekrümmt da und hielt sich den Unterleib. Ich trat auf ihn zu und jagte ihm zwei Kugeln durch den Kopf. Jetzt stellte er keine Gefahr mehr dar.

Kev kam herangelaufen und durchsuchte die Innentaschen von Savages Jacke.

»Nichts«, sagte er. »Keine Waffe, keine Fernzündung.«

Ich blickte auf Kev herab, während er seine blutigen Hände an Savages Jacke abwischte.

»Einer der anderen muß sie gehabt haben«, meinte er. »Ich habe keinen Wagen hochgehen gehört. Du etwa?«

Wegen all dem Krach war ich mir nicht sicher.

Ich stand vor den beiden. Kevs Mutter stammte aus Südspanien, deshalb sah er wie ein Einheimischer aus: pechschwarzes Haar, ungefähr einsfünfundsiebzig groß und dazu knallblaue Augen. Seine Frau fand, er sehe Mel Gibson täuschend ähnlich, was er vehement leugnete, obwohl es ihm in Wirklichkeit gefiel. Im Augenblick grinste er verlegen, weil er wußte, daß er mir etwas schuldig war. »Okay, so was kann passieren«, wollte ich sagen, aber irgendwie war dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Statt dessen fragte ich: »Verdammt, Brown, was erwartest du schon anderes bei deinem Namen, der die gleiche Farbe hat wie Scheiße?«

Während ich sprach, sicherten wir unsere Pistolen, bevor Kev und ich die Waffen tauschten.

»Nur gut, daß ich zu keiner Verhandlung zur Feststellung der Todesursache muß.« Ich nickte Kev grinsend zu. »Fang lieber an, deinen Scheiß zu organisieren.«

Er lächelte, während er sich über Funk meldete, um einen Lagebericht zu übermitteln. Kev und die anderen hatten keine Schwierigkeiten zu erwarten, aber Euan und ich durften eigentlich gar nicht hier sein. Wir mußten verschwinden, bevor die Polizei kam.

Die Einsatzzentrale in HMS Rooke war zu Fuß ungefähr eine Viertelstunde weit entfernt. Ich steckte Kevs Pistole in meine Jeans und ging rasch davon.

Die Stimmung an Bord der C-130-Hercules war gedämpft, als sie an diesem Abend startete.

Die spanische Polizei hatte die Autobombe der PIRA in einer Tiefgarage im fünfzig Kilometer entfernten Marbella entdeckt: fünfundsechzig Kilo Semtex-

Plastiksprengstoff und ein nicht angeschlossener Zeitzünder, der auf 11 Uhr 20 eingestellt war - auf das Ende der Wachablösung in Gibraltar, nach der die Soldaten auf dem Platz wegtraten. Der weiße Renault hatte also doch dort gestanden, um eine Parklücke freizuhalten.

Als Simmonds herüberkam, stellte Pat fest: »Unseres Wissens wollten sie eine Bombe zünden, deren Sprengkraft ausgereicht hätte, um Gibraltar vom Festland zu trennen. Sie hätten nur noch auf den Knopf zu drücken brauchen. Findet eine Verhandlung zur Feststellung der Todesursache statt, ist mir das scheißegal. Lieber von zwölfen verurteilt, als von sechzehn getragen werden.«

Euan und ich würden bei keiner Verhandlung zur Feststellung der Todesursache auftreten. Als Angehörige der Intelligence Group 14 arbeiteten wir verdeckt in Nordirland; Einsätze im Ausland waren für uns beide strikt illegal. Wäre einer von uns in Gibraltar geschnappt worden, hätte das scheißpeinliche Ermittlungen ausgelöst.

Als das Röhren der Triebwerke mich plötzlich taub machte, sah ich zu Kev, Pat und Euan hinüber - und versuchte zu vergessen, wohin ich zurückflog. Ein Haus ist kein Heim, wenn an den kahlen Wänden keine Bilder hängen.

1

Arbeitet man beim britischen Geheimdienst und wird offiziell zu einer Besprechung in die Zentrale in Vauxhall am Südufer der Themse einbestellt, gibt es drei Abstufungen solcher Gespräche. Ganz oben steht Kaffee mit Biskuits, was bedeutet, daß sie einem lobend den Kopf tätscheln wollen. In der Nahrungskette eine Stufe tiefer steht der geschäftsmäßigere Kaffee ohne Biskuits. Was bedeutet, daß man nicht gebeten, sondern angewiesen wird, Befehle auszuführen. Und auf der untersten Stufe gibt es weder Kaffee noch Biskuits, was im Prinzip bedeutet, daß man in der Scheiße sitzt.

Seit ich 1993 das SAS-Regiment verlassen hatte, um freiberuflich als K - als Spezialist für inoffizielle Unternehmen - für den Geheimdienst zu arbeiten, hatte ich schon etliche Gespräche auf allen drei Ebenen geführt und rechnete an diesem Montag nicht damit, einen leckeren, schaumigen Cappuccino serviert zu bekommen. Tatsächlich hatte ich die Hosen ziemlich voll, denn in letzter Zeit war einiges gewaltig schiefgelaufen.

Auch die Vorzeichen waren nicht gerade auf meiner Seite, als ich die U-Bahnstation Vauxhall verließ. Der Märzhimmel war grau und wolkenverhangen, als bereite er sich schon auf die Osterfeiertage vor; der direkte Weg war mir durch Straßenarbeiten versperrt, und ein

loshämmernder Preßlufthammer klang in meinen Ohren wie die Salve eines Erschießungskommandos. Vauxhall Cross, die Zentrale der Organisation, die von der Presse als MI6 bezeichnet wird, obwohl sie tatsächlich Secret Intelligence Service heißt, liegt ungefähr eine Meile stromaufwärts vom Parlament entfernt. Mit ihrer bizarren Form - eine beige-schwarze Stufenpyramide mit abgeschnittener Spitze, zwei großen Seitentürmen und einer Terrassenbar über der Themse - bräuchte sie nur noch ein paar Leuchtreklamen, um wirklich wie ein Spielkasino auszusehen. Sie würde tadellos nach Las Vegas passen.

Ich hatte manchmal Sehnsucht nach dem Century House, der alten Zentrale in der Nähe der WaterlooStation. Gewiß, es war ein häßlicher, quadratischer Bau aus den sechziger Jahren mit viel Glas, Netzvorhängen und Antennenbündeln, der nicht so verkehrsgünstig zur U-Bahn lag. Aber dafür war er viel heimeliger gewesen.

Gegenüber Vauxhall Cross, ungefähr zweihundert Meter jenseits einer Schnellstraße, verläuft die Eisenbahn auf Hochgleisen, unter deren Bögen alle möglichen Läden eingerichtet worden sind. Zwei sind zu einem riesigen Motorbike-Shop zusammengelegt worden. Ich war zu früh dran, deshalb ging ich hinein und erzählte eine Phantasiegeschichte darüber, welche Ducati ich mir kaufen würde, sobald ich eine Gehaltserhöhung bekäme - was bestimmt nicht heute sein würde. Teufel, bei meinem gegenwärtigen Glück hätte ich mir wahrscheinlich auf der Probefahrt den Hals gebrochen.

Ich hatte echt Scheiße gebaut. Ich war nach Saudi-

Arabien geschickt worden, um einige Kurden aus dem Nordirak erst dazu anzustiften und anschließend dafür auszubilden, drei führende Männer der Bath-Partei zu ermorden. Man hoffte, diese Attentate würden das Signal zu allgemeinen Unruhen geben und dazu beitragen, das Regime in Bagdad zu stürzen.

Der erste Teil meines Auftrags bestand darin, in SaudiArabien einige Waffen aus dem ehemaligen Ostblock in Empfang zu nehmen, die ins Land geschmuggelt worden waren: russische Dragunow-Scharfschützengewehre,

einige Macharow-Pistolen und zwei AK-47- Sturmgewehre - die Ausführung für Fallschirmjäger mit Klappstütze. Alle Seriennummern waren abgeschliffen worden, damit die Herkunft der Waffen sich nicht zurückverfolgen ließ.

Um das Chaos möglichst zu vergrößern, sollten die Kurden ihre drei Attentate in und um Bagdad genau gleichzeitig verüben. Eines sollte aus nächster Nähe mit den Macharow-Pistolen verübt werden. Der Plan sah vor, daß die beiden Jungs an der Tür des Wohnhauses klopften, den dort postierten Sicherheitsbeamten ausschalteten, ins Haus eindrangen, die Zielperson erschossen und dann flüchteten.

Das zweite Attentat sollten zwei Scharfschützen verüben. Der Mann, dem es galt, sah sich als großer Fitneß-Freak; er kam auf den Sportplatz und joggte seine Runde auf der Bahn - ungefähr vierhundert Meter. Er kam jeden Tag in einem flauschigen limonengrünen Jogginganzug aus seinem Haus, lief eine Runde und hatte damit sein tägliches Trainingspensum absolviert. Die

Jungs sollten ihn treffen, wenn er gerade zu schwitzen und langsamer zu werden begann, was seinem Aussehen nach zu schließen nach etwa hundert Metern der Fall sein würde.

Der dritte Mann würde auf der Fahrt ins Ministerium einem Attentat zum Opfer fallen. An einer Ampel würden zwei Motorräder neben seinem Auto halten, damit die Beifahrer ihn mit ihren AK-47 durchlöchern konnten.

Ich landete problemlos im Nordirak und begann mit der Ausbildung der Attentäter. Zu diesem Zeitpunkt wußten nicht einmal die Kurden, wer die Zielpersonen sein würden. Die Dragunow-Scharfschützengewehre waren echt Scheiße. Allerdings ist die Waffe nie so wichtig wie die Munition, die in diesem Fall noch schlechter war: indische 7,63-mm-Patronen. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich finnische Lapua-Munition genommen, die wegen ihrer Gleichmäßigkeit für Scharfschützen am besten geeignet ist, aber westliche Munition hätte alles verraten.

Mit der indischen Munition war fast jeder Treffer ein Zufallstreffer. Außerdem waren die Dragunows halbautomatische Waffen. Im Idealfall braucht man eine Waffe mit Kammerhebel, die nicht nur für solche Einsätze besser geeignet ist, sondern auch keine leere Hülse hinterläßt, weil sie in der Waffe bleibt, bis man nachlädt. Aber die drei Kerle mußten mit russischen Waffen umgelegt werden, deren Herkunft nicht nachweisbar sein durfte.

Nach den drei Attentaten wurden die Waffen in einem

Versteck abgeliefert und hätten vernichtet werden sollen. Aber das wurden sie nicht. Unter dem Ringkorn der AK- 47 ist eine Seriennummer eingefräst. Mir war mitgeteilt worden, sämtliche Seriennummern seien vom Lieferanten entfernt worden, und ich hatte diese Mitteilung für bare Münze genommen. Ich hatte nicht selbst nachgesehen - ich hatte Scheiße gebaut.

Aus der Sicht Londons gab es nur ein Mittel, dieses Versehen zu korrigieren: Die Kurdenteams, die ich ausgebildet hatte, mußten liquidiert werden. Das war Schadensbegrenzung in ihrer drastischsten Form, aber es war notwendig. Gelang es den Irakern, den Weg der Attentatswaffen zurückzuverfolgen, konnten sie die Verbindung zu Großbritannien herstellen. Nahmen sie dann die Kurden gefangen, die rein zufällig erwähnten, sie seien von einem westlichen Ausländer namens Nick Stone ausgebildet worden, brauchte man kein Genie zu sein, um herauszubekommen, aus welchem Land er stammte.

Ich war echt sauer, daß ich die Jungs umlegen mußte, denn ich hatte sie wirklich gut kennengelernt. Noch heute trug ich die Armbanduhr Marke G Shock, die einer meiner Scharfschützen mir geschenkt hatte. Wir hatten auf der Schießbahn gewettet, und er hatte verloren. Obwohl ich wußte, daß ich besser schoß als er, hatte ich vorsichtshalber geschummelt, weil ich die Uhr unbedingt haben wollte. Ich hatte diesen Jungen wirklich gern gehabt.

In London hatte es eine Untersuchung gegeben, bei der jeder die Verantwortung auf andere abgeschoben hatte.

Und weil ich ein K war, konnten alle mir die Schuld geben. Die Waffenspezialisten und Techniker im SIS behaupteten, ich sei schuld, weil ich die Waffen nicht kontrolliert hätte. Was konnte ich dagegen vorbringen? Offiziell existierte ich nicht einmal. Ich machte mich auf einen gewaltigen Anschiß gefaßt.

Ich betrat Vauxhall Cross durch eine Metalltür und ging geradewegs zum Empfang. Im Inneren hätte man das Gebäude mit jedem High-Tech-Verwaltungsgebäude in jeder Großstadt verwechseln können: sehr sauber, glatt und funktionell. Mitarbeiter des Hauses zogen ihre Ausweiskarten durch elektronische Lesegeräte, um eingelassen zu werden, aber ich mußte zur Empfangstheke. Dort saßen zwei Frauen hinter dicken Panzerglasscheiben.

Durch die Gegensprechanlage sagte ich zu einer von ihnen: »Ich habe einen Termin bei Mr. Lynn.«

»Tragen Sie sich bitte hier ein.« Sie schob das Besucherbuch durch den Schlitz unter der Scheibe hindurch.

Während ich meinen Namen eintrug und in der dafür vorgesehenen Spalte unterschrieb, nahm sie den Telefonhörer ab. »Wen soll ich Mr. Lynn melden?«

»Mein Name ist Stamford.«

Das Besucherbuch enthielt Abreißkarten. Eine Hälfte davon wurde abgetrennt und in eine Plastikhülle gesteckt, die ich am Revers tragen mußte. Auf meiner blauen Hülle stand: ZUTRITT NUR IN BEGLEITUNG.

Die Frau legte den Hörer auf und sagte: »Sie werden gleich abgeholt.«

Ein paar Minuten später erschien ein junger Angestellter. »Mr. Stamford?«

»Hey, Kumpel, wie geht’s so?« fragte ich ihn.

Der junge Mann lächelte schwach. »Würden Sie bitte mitkommen?« Im Aufzug drückte er auf einen der Knöpfe. »Wir fahren in den vierten Stock.«

Das Gebäude ist ein regelrechtes Labyrinth. Ich ging einfach mit; ich hatte keine Ahnung, wohin wir unterwegs waren. Außer dem Summen der Klimaanlage drang aus den Büros, in denen Leute Akten bearbeiteten oder an PCs saßen, kaum ein Geräusch. Am Ende eines Korridors bogen wir nach links in einen Raum ab. Alte Kartei schränke aus Stahl, ein paar zusammengestellte Schreibtische und wie in jedem anderen Büro eine Kaffeemaschine mit Tassen, Kaffeedose, Zuckertüte und Milchkännchen. Heute jedoch nicht für mich - wie ein Fallschirmspringer konnte ich nach der Öffnung meines Schirms nur abwarten, wie die Landung werden würde.

Oberstleutnant Lynns Dienstzimmer lag seitlich neben diesem größeren Raum. »Herein!« sagte eine energische Stimme sofort, als mein Begleiter anklopfte. Er drückte die Türklinke und ließ mir den Vortritt.

Lynn stand hinter seinem Schreibtisch. Obwohl er mit Anfang Vierzig nach Größe, Körperbau und Aussehen eher durchschnittlich wirkte, besaß er eine Aura, die ihn als absoluten Überflieger kennzeichnete. Das einzige, was er nicht hatte, wie ich jedesmal befriedigt feststellte, war volles Haar. Ich war seit etwa zehn Jahren gelegentlich mit ihm zusammengekommen; in den letzten zwei Jahren war er als Verbindungsoffizier zwischen

Verteidigungsministerium und SIS tätig.

Erst als ich weiter in den Raum hineinging, sah ich, daß er nicht allein war. Neben seinem Schreibtisch saß Simmonds, der bisher von der halb geöffneten Tür verdeckt gewesen war. Ihn hatte ich seit Gibraltar nicht mehr gesehen. Damals hatte er sich als hellwach erwiesen und bei der Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache sehr geschickt dafür gesorgt, daß Euan und ich praktisch nicht existierten. Bei seinem Anblick empfand ich eine Mischung aus Überraschung und Erleichterung. Simmonds hatte nichts mit dem Kurdenfiasko zu tun gehabt. Vielleicht würden wir die Kaffeemaschine doch noch anwerfen.

Simmonds stand auf. Einsachtzig groß, Ende Vierzig, sehr distinguiert aussehend, ein recht höflicher Mann, fand ich, als er mir die Hand hinstreckte. Er trug eine senfgelbe Cordsamthose und ein Hemd, das aussah, als habe er letzte Nacht darin geschlafen.

»Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Nick.«

Wir schüttelten uns die Hände, und Lynn fragte mich: »Möchten Sie einen Tee oder Kaffee, Stone?«

Das klang schon besser.

»Danke. Kaffee mit Milch, ohne Zucker.«

Wir nahmen Platz. Ich bekam den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs und sah mich rasch in dem Büro um, während Lynn auf eine Taste seiner Gegensprechanlage drückte und Kaffee bestellte. Sein Dienstzimmer lag auf der Rückseite des Gebäudes mit Blick auf die Themse. Es war ein sehr schlichter, sehr funktioneller, sehr unpersönlicher Raum - bis auf ein gerahmtes Photo auf dem Schreibtisch, das offenbar Lynns Frau mit ihren zwei Kindern zeigte. Über den Bildschirm des stummgeschalteten Fernsehers in seiner Wandhalterung liefen Ceefax-Schlagzeilen. Unter dem Fernseher hingen der für Offiziere obligate Squashschläger und sein Jackett an einem Garderobenständer.

Lynn beugte sich ohne weitere Vorreden zu mir herüber und sagte: »Wir haben einen Schnellschuß für Sie.«

Ich warf Simmonds einen fragenden Blick zu.

»Stone, Sie sitzen wegen des letzten Jobs in der Scheiße«, fuhr Lynn fort. »Das ist bedauerlich, aber Sie können einiges wiedergutmachen, indem Sie diesen annehmen. Ich behaupte nicht, daß damit alles vergessen ist, aber immerhin arbeiten Sie noch. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«

»Ich übernehme den Auftrag«, sagte ich.

Lynn hatte gewußt, was ich antworten würde. Er griff bereits nach einem Schnellhefter, der Photos und einige Blätter enthielt. Auf einem der Schriftstücke sah ich eine Randnotiz in grüner Tinte. Die mußte vom Chef der Firma stammen. Simmonds hatte noch immer kein Wort gesagt.

Lynn legte mir ein Photo hin.

»Wer sind die beiden?«

»Michael Kerr und Morgan McGear. Sie sind in diesem Augenblick nach Shannon unterwegs, um nach Heathrow und von dort aus nach Washington zu fliegen. Sie haben ihren Rückflug mit Virgin gebucht und reisen mit gefälschten südirischen Pässen. Ich möchte, daß Sie die beiden von Shannon nach Heathrow und von dort aus nach Washington begleiten. Stellen Sie fest, was sie dort machen und mit wem sie zusammentreffen.«

Ich hatte schon früher Akteure von der Republik Irland aus beschattet und erwartete keine Probleme. Trotzdem wandte ich ein: »Was ist, wenn sie sich nicht an den Plan halten? Wenn sie mit gefälschten Pässen reisen, können Sie nur so tun, als wollten sie nach Amerika, und dann ihre richtigen Pässe benutzen, um einen anderen Flug zu buchen und nach Amsterdam zu verschwinden. Das wäre nicht das erste Mal.«

Simmonds lächelte. »Ich verstehe Ihre Besorgnis und nehme sie zur Kenntnis. Aber sie fliegen nach Washington.«

Lynn legte mir einen Computerausdruck hin. »Das sind die Flugdaten. Sie haben ihren Flug gestern in Belfast gebucht.«

Der junge Mann klopfte an und brachte ein Tablett mit drei Bechern Kaffee herein. Auf einem war ein Tasmanischer Teufel abgebildet, der zweite zeigte einen Oldtimer, und der dritte war rein weiß. Ich hatte den Eindruck, Lynn und Simmonds seien bei der zweiten Runde Kaffee.

Simmonds griff nach dem weißen Becher, Lynn nahm den Oldtimer, und mir blieb der einen Hügel hinaufhetzende Tasmanische Teufel.

»Wer begleitet sie von Belfast nach Shannon?«

»Das übernimmt Euan«, antwortete Simmonds. »Er hat sie im Augenblick. Er übergibt sie Ihnen in

Shannon.«

Ich lächelte bei der Erwähnung des Namens Euan. Als K war ich nicht mehr Bestandteil des Systems, sondern wurde lediglich für Unternehmen eingesetzt, die notfalls geleugnet werden konnten. Diese Aufträge übernahm ich nur, um andere Dinge zu finanzieren, die mir Spaß machten. Um was es sich dabei handelte, wußte ich noch nicht genau; mit siebenunddreißig Jahren war ich ein Mann, der viel um die Ohren, aber nicht sehr viel im Kopf hatte. Euan dagegen fühlte sich weiter als Teil des Systems. Er besaß noch immer genug Verantwortungsgefühl, um den guten Kampf zu kämpfen - was immer das bedeutete -, und würde weitermachen, bis er eines Tages mit einem Tritt rausflog.

Simmonds gab mir einen Schnellhefter. »Zu Ihrer Information«, sagte er. »Er enthält dreizehn Seiten. Ich möchte, daß Sie jetzt dafür unterschreiben und ihn der Hubschrauberbesatzung geben, wenn Sie fertig sind. Alles Gute«, fügte er mit einem unaufrichtigen Grinsen hinzu.

»Soll ich gleich los?« fragte ich. »Ich habe meinen Reisepaß nicht bei mir - von einem Schnellschuß ist nicht die Rede gewesen.«

»Ihr Paß ist hier«, sagte Lynn. »Haben Sie Ihre sonstigen Dokumente?«

Ich sah ihn an, als habe er mich beleidigt.

Reisepaß, Führerschein und Kreditkarten sind die Grundlagen für eine glaubhafte »Legende«. Der K baut sie dann weiter aus, indem er die Kreditkarten benutzt, um Einkäufe zu bezahlen oder Zeitschriftenabonnements oder Clubbeiträge abbuchen zu lassen. Ich hatte meine Karten wie immer bei mir, nicht jedoch meinen Paß. Der Reisepaß, den Simmonds mir gab, war vermutlich erst an diesem Morgen produziert worden - in jeder Beziehung einwandfrei bis hin zu dem Visum und der dem Ausstellungsdatum entsprechenden Alterung.

Mir blieb keine Zeit, meinen Kaffee auszutrinken. Der junge Mann kam, um mich hinunterzubegleiten. Bevor ich ging, unterschrieb ich im Vorzimmer für die Schriftstücke: dreizehn Seiten mit Informationen, und ich mußte für jede einzelne unterschreiben. Zuletzt mußte ich für den Schnellhefter unterschreiben. Scheißbürokratie.

Ein Wagen stand für mich bereit. Ich stieg vorne ein. Als Jugendlicher hatte ich Leuten nachgesehen, die sich chauffieren ließen, und mir gedacht: Was, zum Teufel, bilden die sich eigentlich ein? Ich erzählte meinem Fahrer lauter Scheiß und langweilte ihn vermutlich zu Tode; er hatte keine Lust, sich zu unterhalten, aber ich fühlte mich dadurch besser.

Auf dem Heliport Battersea stand mit langsam laufendem Rotor ein ziviler Hubschrauber für mich bereit. Bevor ich an Bord ging, hatte ich noch etwas zu erledigen: Von einem Wandtelefon aus rief ich die Familie an, die ich für meine Legende brauchte: Leute, die sich für mich verbürgen würden, falls ich mal in der Klemme saß. Sie würden sich niemals für mich einsetzen, aber falls ich verhaftet wurde, konnte ich zur Polizei sagen: »Dort lebe ich - rufen Sie die Leute an, fragen Sie die Leute.«

Eine Männerstimme meldete sich.

»James, hier ist Nick. Ich habe eben die Chance bekommen, Freunde in den Staaten zu besuchen. Das kann ein bis zwei Wochen dauern. Sollte es länger dauern, rufe ich wieder an.«

»Klar«, sagte James nur. »Bei den Wilmots nebenan ist vor zwei Tagen eingebrochen worden, und wir fahren über Ostern zu Bob nach Dorset.«

Solche Dinge mußte ich wissen, denn ich hätte sie gewußt, wenn ich ständig dort gelebt hätte. Die Familie schickte sogar jede Woche ihr Lokalblatt an meine Londoner Deckadresse.

»Also bis dann, Kumpel. Falls du deinen Sohn am Wochenende siehst, kannst du ihm bestellen, daß er mir noch einen Abend schuldig ist.«

»Wird gemacht ... Schönen Urlaub.«

Auf dem Tiefflug über die Irische See schlug ich den Schnellhefter auf und blätterte das Material durch. Diese Mühe hätte ich mir sparen können. Meine Auftraggeber wußten nur, daß die beiden Jungs Flugtickets nach Washington gekauft hatten, und wollten wissen, warum. Sie wollten wissen, wen die beiden trafen und was dabei besprochen wurde. Aus Erfahrung wußte ich, daß das nur schiefgehen konnte. Wie sollte ich die Kerle beschatten, selbst wenn sie sich ans Drehbuch hielten und wirklich nach Washington flogen? Sie waren zu zweit, ich war allein; um etwaigen Verfolgern das Leben schwerzumachen, würden die beiden sich irgendwann trennen. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Die Firma saß am längeren Hebel, das stand fest.

Wie aus einem der Schriftstücke hervorging, schien wieder mal die Jahreszeit gekommen zu sein, in der alle guten PIRA-Spendensammler auf Dinnerpartys in Boston, New York und Washington unterwegs waren - sogar bis hinunter nach Tucson, Arizona, um irischamerikanische Sympathisanten abzukassieren, die in der Sonne im Ruhestand lebten. Die Beschlagnahmung von zehn Tonnen Waffen und Sprengstoff in einem Londoner Lagerhaus im September 1996 hatte anscheinend eine Finanzkrise ausgelöst. Die PIRA war zwar noch nicht zu ihrer Bank gegangen, um einen Überziehungskredit zu beantragen, aber die Zunahme ihrer legalen Sammeltätigkeit in Nordirland ließ darauf schließen, daß sie dringend Geld brauchte. Es gab allerdings auch diskretere Methoden, zusätzliche Mittel aufzutreiben. Bestimmt hatten meine neuen Freunde damit zu tun.

Ansonsten war ich ziemlich ahnungslos, was diesen Job betraf. Ich besaß keine Informationen darüber, mit welcher Legende die Akteure reisten oder wohin sie in Washington oder Umgebung wollten. Ich wußte nur, wer sie waren und wie sie aussahen. Ich las, daß Michael Kerr im South Armagh Active Service Unit aktiv gewesen war. Er hatte an vier Granatwerferüberfällen auf Stützpunkte der Special Forces teilgenommen und Dutzende Male auf Sicherheitskräfte oder Protestanten geschossen. Einmal war er sogar verwundet worden, hatte aber in den Süden fliehen können. Ein harter Bursche.

Das galt auch für Morgan McGear. Nachdem der einunddreißigjährige Maurer sich im Grenzgebiet von

South Armagh als Schütze bewährt hatte, war er ins PIRA-Sicherheitsteam aufgestiegen. Dort hatte er den Auftrag, Spitzel aufzuspüren und zu verhören. Seine bevorzugte Verhörmethode war eine Bohrmaschine der Marke Black & Decker.

2

Da der Hubschrauberdienst von einer zivilen Tarnfirma betrieben wurde, verlief meine Ankunft in Shannon nicht anders, als wenn ich ein Pferdezüchter gewesen wäre, der auf seinem Gestüt in Tipperary nach dem Rechten sehen wollte, oder als Geschäftsmann aus London herübergekommen wäre, um meinen Aktenkoffer mit EU-Subventionen zu füllen. Ich ging übers Vorfeld, betrat das Abfertigungsgebäude, passierte die Zollkontrolle und folgte den Wegweisern zum Taxistand. Erst im letzten Augenblick bog ich ins Abfluggebäude ab.

Am Aer-Lingus-Schalter holte ich mein auf den Namen Nick Stamford ausgestelltes Ticket nach Heathrow ab. Wählt man einen Decknamen, ist es immer ratsam, seinen Vornamen beizubehalten - so reagiert man ganz natürlich darauf. Vorteilhaft ist es auch, wenn der Nachname mit dem ersten Buchstaben des richtigen Namens beginnt, weil die Unterschrift dann flüssiger ausfällt. Ich hatte mich wegen der Schlacht bei Stamford Bridge für Stamford entschieden. Ich liebe mittelalterliche Geschichte.

Ich ging sofort in eines der Geschäfte, um mir eine Reisetasche zu kaufen. Jeder Fluggast hat Handgepäck; ich wäre aufgefallen, wenn ich nur mit einer Coladose in der Hand an Bord gekommen wäre. Ich reise nie mit Gepäck, das aufgegeben werden muß, denn sonst ist man den Unbekannten ausgeliefert, die beschließen, für Tokio bestimmte Koffer nach Buenos Aires zu schicken. Selbst wenn das Gepäck sicher ankommt, ist man erledigt, wenn es erst fünf Minuten nach dem Koffer der Zielperson auf dem Gepäckband liegt.

Während ich kaufte, was ich an Toilettenartikeln brauchte, hielt ich nach Euan Ausschau. Ich wußte, daß er an Kerr und McGear kleben würde, falls die beiden nicht bereits abgeflogen waren.

Im Abfluggebäude wimmelte es von irischen Familien, die zu Ostern in die Sonne entfliehen wollten, und kürzlich pensionierten Amerikanern, die herübergekommen waren, um ihre Wurzeln zu finden, und nun mit ihren brandneuen Guinness-Sweatshirts, Stockschirmen, Baseballmützen, Kobolden in Blechdosen und kleinen Blumentöpfen mit irischem Klee zum Selbstanbau herumliefen.

Jedenfalls herrschte reger Betrieb, und die Bars machten gute Geschäfte. Am anderen Ende des Terminals sah ich Euan in einem Café sitzen. Er las eine Zeitung und hatte vor sich auf dem Tisch einen großen Kaffee mit aufgeschäumter Milch stehen. »Euan«, was für ein eigenartiger Name. Ich mußte dabei an einen Kerl denken, der einen Rock trug und sein Breitschwert schwingend über die schottischen Hügel lief. Tatsächlich war er in Bedford geboren, und seine Eltern stammten aus Eastbourne. Sie mußten einen historischen Film gesehen und dabei Gefallen an diesem Namen gefunden haben.

Links neben dem Café lag eine Bar. Aus Euans Blickrichtung schloß ich, daß die Akteure sich dort aufhielten. Ich machte mir nicht die Mühe, die Bar nach ihnen abzusuchen; ich wußte, daß Euan sie mir zeigen würde. Das hatte keine Eile.

Als ich aus der Drogerie kam, sah ich zum Café hinüber und nahm Blickkontakt mit Euan auf. Ich ging mit breitem Grinsen auf ihn zu, als hätte ich soeben einen lange vermißten Kumpel entdeckt, sagte aber vorerst noch nichts. Falls er beobachtet wurde, hätte es nicht normal gewirkt, wenn ich einfach an seinen Tisch getreten wäre, mich zu ihm gesetzt und eine Unterhaltung begonnen hätte. Das Ganze mußte wie eine zufällige Begegnung aussehen, die aber nicht so lärmend sein durfte, daß sie anderen Leuten auffiel. Sie würden nicht denken: Ach, sieh mal an, da treffen sich zwei Spione - aber irgend etwas würde ihnen doch im Gedächtnis bleiben. Das brauchte im Augenblick nichts zu bedeuten, konnte einen aber später teuer zu stehen kommen.

Euan stand halb auf und erwiderte mein Lächeln. »Hey, alter Scheißer, was machst du denn hier?« Er lud mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihm zu setzen.

Wir nahmen Platz, und da Euan den Treff organisierte, erzählte er als erstes die Legende. »Ich bin aus Belfast rübergekommen, um dich zu sehen, bevor du wieder nach

London zurückfliegst. Wir sind schließlich alte Schulfreunde.« Es ist immer nützlich die gleiche Story parat zu haben.

»Wo sind sie?« fragte ich wie nach Angehörigen.

»Halblinks von mir hast du die Bar. Beide vor dem Fernseher. Beide sitzen - der eine trägt eine Jeansjacke, der andere einen schwarzen dreiviertellangen Wildledermantel. Kerr sitzt rechts. Er heißt jetzt Michael Lindsay. McGear ist Morgan Ashdown.«

»Haben sie schon eingecheckt?«

»Ja. Nur Handgepäck.«

»Für zwei Wochen in Washington?«

»Kleidersäcke.«

»Und sie sind zu keinem weiteren Check-in-Schalter gegangen?«

»Nein. Sie scheinen nach Heathrow zu fliegen.«

Ich ging zur Theke hinüber und holte zwei Tassen Kaffee.

Ich sah, daß sie die einzigen Iren in der Bar waren, weil alle anderen Guinness-Polohemden trugen und PintGläser mit dem schwarzen Zeug vor sich stehen hatten. Die beiden tranken Budweiser aus der Flasche und sahen sich die Fußballübertragung im Fernsehen an. Beide hatten Zigaretten angezündet und qualmten wie wild; hätte ich sie in einer Bar in Londonderry beobachtet, hätte ich das für ein Zeichen der Nervosität gehalten, aber bei Aer Lingus gibt es nur Nichtraucherflüge, und diese beiden Jungs taten offenbar etwas für ihren Nikotinspiegel, bevor sie an Bord gingen.

Beide sahen wie hundertprozentige Touristen aus: gut rasiert, frisch gewaschenes Haar, nicht elegant wie Geschäftsleute, nicht abgerissen wie Schmutzfinken. Im Grunde genommen waren sie so unauffällig, daß niemand sie eines zweiten Blickes würdigte, was darauf schließen ließ, daß sie clever waren - und das war ein Problem für mich. Hätten sie auffällig, selbstbewußt oder nervös gewirkt, hätte ich gewußt, daß ich es mit Spielern aus der zweiten oder dritten Liga zu tun hatte - ein einfacher Job. Aber diese Jungs waren erstklassig; sie waren weit davon entfernt, an der Bogside herumzuhängen und darauf zu warten, ob sie jemandem die Kniescheiben zertrümmern konnten.

Überall wimmelte es von Kindern, die lachend und schreiend Fangen spielten, während Mütter hinter Zweijährigen hinterherkreischten, die sich losgerissen hatten, um im Terminal auf Entdeckungsreise zu gehen. Je mehr Lärm und Trubel hier herrschte, desto besser für uns. Ich stellte die beiden Tassen auf den Tisch und setzte mich. Euan sollte mir möglichst viel über die beiden erzählen, bevor sie an Bord gingen.

»Ich beschatte McGear seit Derry«, sagte Euan. »Er ist im Sinn-Fein-Büro in der Cable Street gewesen - vermutlich, um sich seine Anweisungen zu holen - und von dort aus nach Belfast gefahren. Die Spooks haben versucht, ihn abzuhören, aber das hat nicht geklappt. Ansonsten gibt’s eigentlich nichts zu berichten. Die beiden haben in einem Flohhotel übernachtet, sind dann hierhergeflogen. Sie sind seit etwa zwei Stunden hier. Den Flug haben sie mit auf ihre Decknamen ausgestellten Kreditkarten gebucht. Ihre Tarnung ist gut. Sie haben sogar die von Virgin gestellten Anhänger für Kabinengepäck angebracht, damit nur ja nichts schiefgeht.«

»Wo wohnen sie in Washington?«

»Das weiß ich nicht. Sie haben alles erst in letzter Minute gebucht, und Ostern fällt in die Hauptreisezeit. In Washington gibt’s ungefähr zehn Hotels, die mit Virgin zusammenarbeiten. Wahrscheinlich ist’s eines von denen, aber das haben wir nicht mehr feststellen können.«

»Ist das alles?« fragte ich.

»Leider ja. Ich weiß nicht, wie sie vom Flughafen aus weiterfahren wollen, aber sie sind anscheinend tatsächlich nach Washington unterwegs, alter Junge.« Damit war das Thema aus Euans Sicht erledigt, und wir hatten Zeit, über alles mögliche zu quatschen. »Kommst du noch oft mit Kev zusammen?«

Euan trank einen Schluck Kaffee und nickte. »Yeah, er ist jetzt in Washington; er ist anscheinend ziemlich erfolgreich. Marsha und den Kindern geht’s gut. Ich habe sie vor ungefähr vier Monaten besucht. Er ist befördert worden, und sie haben sich ein Plastikhaus in einer guten Wohngegend gekauft. Ein >Landhaus<, wie’s in der Werbung heißt.«

Euan grinste und sah dabei mit dem weißen Schaumstreifen auf der Oberlippe wie der Weihnachtsmann aus. Er selbst lebte in dem aus Naturstein erbauten Haus eines Schafzüchters im einsamsten Gebiet der Black Mountains in Wales. Sein nächster Nachbar wohnte gut zwei Meilen von ihm entfernt auf der anderen Seite des Tals.

»Marsha liebt Washington - dort versucht keiner, Löcher in ihren Wagen zu schießen«, sagte ich.

Marsha, eine Amerikanerin, war Kevs zweite Frau. Nach seinem Ausscheiden aus dem Regiment war er mit ihr in die Staaten übergesiedelt und zur DEA gegangen. Er hatte drei erwachsene Kinder aus erster Ehe und zwei aus der mit Marsha: Kelly und Aida.

»Ist Slack Pat noch immer drüben?«

»Ich glaube schon, aber du weißt ja, wie Pat ist: Gerade wollte er Zimmermann werden, und im nächsten Augenblick verlegt er sich darauf, Bäume zu umarmen und Häkelarbeiten anzufertigen. Weiß der Teufel, was er jetzt macht.«

Pat hatte zwei Jahre lang als Leibwächter der Familie eines arabischen Diplomaten in Washington gearbeitet. Das war ein Klassejob gewesen - er hatte sogar ein Apartment gestellt bekommen -, aber dann waren die Kinder, um die er sich kümmern mußte, zu alt gewesen, um einen Aufpasser zu brauchen. Als sie nach SaudiArabien zurückgekehrt waren, war Pat arbeitslos gewesen und hatte angefangen, sich herumzutreiben. Aber er hatte in diesen zwei Jahren soviel verdient, daß er’s nicht eilig hatte, einen neuen Job zu finden.

Während wir lachend miteinander schwatzten, sah Euan zwischendurch immer wieder rasch zu den Zielpersonen hinüber. Die Akteure bestellten sich noch zwei Budweiser, was darauf schließen ließ, daß sie nicht so bald aufstehen würden. Wir quatschten also weiter.

»Wie läuft dein Hausbauprogramm im zehnten Jahr?« fragte ich grinsend.

»Ich habe noch immer Probleme mit dem Boiler.«

Euan hatte beschlossen, die Zentralheizung selbst einzubauen, aber bisher hatte er nur Murks produziert. Und er hatte schon doppelt soviel Geld ausgegeben, als wenn er gleich einen Fachmann geholt hätte.

»Aber sonst ist alles prima in Schuß. Du solltest mich mal besuchen. Ich kann’s kaum noch erwarten, diesen Scheißtörn zu beenden. Anschließend habe ich noch ungefähr zwei Jahre, dann bin ich draußen.«

»Was machst du dann?«

»Mir egal, wenn’s nur nicht das ist, was du machst. Vielleicht werde ich Müllmann. Ist mir eigentlich scheißegal.«

Ich lachte. »Das behauptest du jetzt! Aber ich weiß, daß du dich abstrampeln wirst, bloß um drinbleiben zu dürfen. Du machst bis an dein Lebensende weiter. Du jammerst immer darüber, aber in Wirklichkeit liebst du diese Arbeit.«

Euan beobachtete die Akteure, dann sah er wieder mich an. Ich wußte genau, was er dachte.

»Du hast recht«, bestätigte ich. »Laß die Finger von diesem Job, der ist Scheiße.«

»Was hast du seit deinem kleinen Abenteuer im Nahen Osten getrieben?«

»Urlaub gemacht, ein paar Sprünge im freien Fall gemacht, ein paar Aufträge für Tochterfirmen ausgeführt, aber nichts Wesentliches, und wenn ich ehrlich sein soll, hat mir dieses Leben gefallen. Jetzt warte ich ab, was die internen Ermittlungen ergeben. Ich sitze in der Scheiße, denke ich - außer dieser Job hilft mir wieder raus.«

Euan kniff leicht die Augen zusammen. »Sieht so aus, als wollten sie gehen.«

Die beiden Jungs in der Bar ließen offenbar erkennen, daß sie aufbrechen wollten.

»Ich rufe dich an, wenn diese Sache vorbei ist«, sagte ich noch. »Wann bist du wieder im Lande?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht in ein paar Tagen.«

»Ich melde mich, wir vereinbaren ein Treffen. Hast du endlich ’ne Frau gefunden?«

»Du bist wohl besoffen? Ich bin ’ne Zeitlang mit jemand aus dem Londoner Büro ausgegangen, aber sie wollte mich auf nett und adrett trimmen. Sie hat sogar angefangen, meine Wäsche zu waschen. Aber auf den Scheiß hab’ ich mich nicht eingelassen.«

»Du meinst, sie hat die Bügelfalten in deinen Jeans vergessen?«

Euan zuckte mit den Schultern. »Sie hat nichts so gemacht, wie ich’s mache.«

Das tat niemand. Mein Freund Euan war der größte Pedant, den man sich vorstellen konnte. Er legte seine Socken zusammen, statt sie ineinanderzukrempeln, und stapelte sein Kleingeld nach Größe auf. Seit seiner Scheidung hatte er sich in Mr. Für-mich-ist-nur-das- Beste-gut-genug verwandelt. Manche Leute nannten ihn sogar Mr. Habitat, so vorbildlich war das Innere seines alten Farmhauses renoviert.

Ich merkte, daß Euan beobachtete, wie die beiden Akteure ihr Gepäck aufnahmen und die Bar verließen.

Ich ließ mir Zeit, denn schließlich wollte ich den Kerlen nicht auf die Hacken treten. Euan würde mir sagen, wann ich ihnen folgen mußte.

»Dreh dich um«, forderte er mich auf. »Halb rechts, knapp vor dem Zeitungsstand.«

Ich stand gemächlich auf. Es war großartig gewesen, ihn mal wiederzusehen. Dieser Job konnte reine Zeitverschwendung sein, aber wenigstens hatte ich so meinen besten Kumpel wiedergetroffen. Wir gaben uns die Hand, und ich ging davon. Dann drehte ich mich um, sah halb nach rechts und machte sie sofort aus: zwei Männer mit Kleidersäcken über dem Arm.

Der Warteraum im Abfluggebäude erinnerte an eine irische Gewerbeschau. Irgendwie paßte ich dort nicht hin; ich hätte mir auch eine Guinness-Mütze kaufen sollen.

Was sollte ich machen, wenn wir in Washington ankamen? Ich wußte nicht, ob die beiden abgeholt werden würden, ob sie ein Taxi nahmen, mit dem Bus fahren oder vom Hotel abgeholt werden würden. Heiter konnte es auch werden, wenn sie anfingen, kreuz und quer durch die Stadt zu fahren. Ich kannte Washington einigermaßen, aber für solche Zwecke bei weitem nicht gut genug.

Die beiden qualmten noch immer wie Versuchshunde im Labor. Ich setzte mich auf eine Bank und griff nach der auf dem Sitz neben mir liegenden Zeitung. Während sie sich an der Bar stehend unterhielten, begann McGear, in seiner Jackentasche nach Kleingeld zu suchen. Er machte plötzlich einen entschlossenen Eindruck; ich vermutete, daß er zum Kaugummiautomaten oder zu den Telefonen gehen würde.

Dann beugte er sich mit einem Geldschein in der Hand über die Theke und bat den Barkeeper, ihm den Schein zu wechseln. Ich saß sechs bis sieben Meter von den beiden entfernt ziemlich genau hinter ihnen, so daß sie mich selbst dann nicht im peripheren Blickfeld hatten, wenn sie ihre Köpfe um fünfundvierzig Grad zur Seite drehten.

McGear war zum Kaugummiautomaten unterwegs, ging aber daran vorbei. Also wollte er telefonieren.

Ich stand auf, schlenderte zum Zeitungsstand hinüber und gab vor, mich für die davor aufgestellten Drehständer mit Taschenbüchern zu interessieren.

McGear nahm den Hörer ab, warf mehrere

Pfundmünzen ein und wählte. Die Telefonnummer las er von einem Zettel ab - folglich war es keine, die er häufig anrief. Ich sah auf meine G Shock; sie zeigte 16 Uhr 16 an. In dem kleinen Display wurde immer noch eine zweite Zeit angezeigt. Falls hier im Warteraum

irgendwelche Iraker waren, die wissen wollten, wie spät es in Bagdad war, war ich ihr Mann.

Ich zählte rasch mein Kleingeld. Ich hatte ungefähr zweieinhalb Pfund, aber für das, was ich vorhatte, würde ich mehr brauchen. Also ging ich in den Laden, kaufte eine Zeitung und zahlte mit einer Zwanzigpfundnote. Die Frau hinter der Theke war sichtlich beeindruckt.

McGear beendete sein Gespräch und ging an die Bar zurück. Kerr und er hatten offenbar nicht vor, ihren Platz zu verlassen; beide bestellten sich noch ein Bier,

schlugen ihre Zeitungen auf und zündeten sich neue

Zigaretten an.

Ich ließ mir noch ein paar Minuten Zeit, bevor ich zu dem Telefon hinüberschlenderte, das McGear zuvor benutzt hatte. Nachdem ich mehrere Pfundmünzen eingeworfen hatte, suchte ich eine Nummer auf dem Apparat. Ich konnte keine entdecken, aber das machte nichts; die Nachforschungen würden nur etwas länger dauern.

Ich wählte eine Nummer in London. »Guten Tag«, sagte eine Frauenstimme. »Ihre PIN, bitte?«

»Zwo-vier-zwo-zwo.« Diese Ziffern würde ich nie vergessen; sie waren die erste Hälfte meiner Personenkennziffer in der Army, die ich seit dem sechzehnten Lebensjahr gehabt hatte.

»Haben Sie eine Nummer?« fragte sie.

»Nein. Bitte diesen Apparat.«

»Augenblick.«

Ich hörte ein Klicken, dann nichts mehr. Ich behielt die Akteure im Auge und warf weitere Geldstücke ein. Nach ungefähr einer Minute meldete sie sich wieder.

»Für welche Zeiten interessieren Sie sich?«

»Ich möchte die Zeit von 16 Uhr 13 bis jetzt buchen.«

»Verstanden. Soll ich Sie anrufen oder rufen Sie zurück?«

»Ich rufe zurück. In zehn Minuten?«

»Verstanden. Goodbye.«

Mehr war nicht erforderlich. Man kann weltweit von jedem Ort aus anrufen und die Firma feststellen lassen, wohin von einem bestimmten Apparat aus telefoniert worden ist.

Zehn Minuten später rief ich nochmals an. Nachdem

ich erneut meine PIN angegeben hatte, sagte die Frau: »Nichts bis 16 Uhr 16. Dann eine Nummer in Washington, D.C.: null-null-eins, sieben-null-drei, sechssechs-eins, acht-zwo-drei-null. Washington Flyer Taxis.«

Ich notierte mir die Nummer, bedankte mich, hängte ein und wählte sie sofort.

»Guten Morgen. Washington Flyer Taxis, Gerry am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Hören Sie, ich müßte wissen, ob ein Mr. Ashdown oder Mr. Lindsay bei Ihnen ein Taxi bestellt hat. Ich möchte sichergehen, daß sie rechtzeitig zu einer Besprechung kommen.«

»Gewiß, Sir, die Buchung ist eben reingekommen. Ein Wagen holt sie vom Dulles Airport ab, Ankunft mit Flug Nummer .«

Ich unterbrach ihn. »Bringt er sie ins Hotel oder gleich zu mir nach Tyson’s Corner?«

»Augenblick, ich sehe mal nach, Sir . sie sind fürs Westin in der M Street gebucht.«

»Gut, das ist in Ordnung. Vielen Dank.«

Jetzt mußte ich nur noch versuchen, vor den beiden im Hotel Westin zu sein. Alles schien planmäßig abzulaufen. Oder die Scheißkerle hatten mich erkannt und inszenierten ein Täuschungsmanöver.

Der Flug nach Heathrow wurde aufgerufen. Ich beobachtete, wie sie aufstanden und sich in Bewegung setzten. Ich folgte ihnen.

Bei solchen Einsätzen fliegt man immer Club Class, damit man vorn im Flugzeug sitzt. So kann man wahlweise schon dasitzen und die an Bord Kommenden beobachten oder sie vorausgehen lassen und erst nach ihnen an Bord gehen. Nach der Landung kann man abwarten, bis die Zielperson an einem vorbeikommt, um ihr zwanglos zu folgen, oder als einer der ersten von Bord gehen, damit man die Beschattung aufnehmen kann, sobald die Zielperson das Ankunftsgebäude betritt.

Nach dem Start dachte ich an einen Drink, verzichtete aber doch darauf, weil ich nicht wußte, was mich in Heathrow erwartete. Diese beiden Jungs wirkten hellwach und professionell, so daß nicht zu erwarten war, daß sie nach dem vielen Budweiser, das sie getrunken hatten, irgend etwas unternehmen würden. Trotzdem wollte ich mir lieber keinen Drink genehmigen.

Ich machte es mir in meinem Sessel bequem und begann, über Kev und seine Familie nachzudenken. Ich war dabeigewesen, als er Marsha kennengelernt hatte, ich war bei ihrer Hochzeit der Brautführer gewesen, und ich war sogar der Taufpate ihrer zweiten Tochter Aida. Diesen Job nahm ich ernst, obwohl ich nicht recht wußte, wie ich dazu beitragen sollte, sie im christlichen Geist zu erziehen.

Ich wußte, daß ich niemals eigene Kinder haben würde; ich würde viel zu beschäftigt sein, herumrennen und beschissene Aufträge wie diesen ausfuhren. Kev und Marsha wußten das ebenfalls, deshalb bemühten sie sich wirklich, mir das Gefühl zu vermitteln, ich gehörte bei ihnen dazu. Ich hatte früher oft von einer idealen Familie geträumt, und aus meiner Sicht besaß Kev sie. Seine erste Ehe war aus nicht recht erklärlichen Gründen in die

Brüche gegangen; diese zweite schien wunderbar zu funktionieren. Sein neuer Job bei der DEA bedeutete, daß er meistens in Washington am Schreibtisch saß und so mehr Zeit für die Familie hatte. Und da Marsha sehr vernünftig und sensibel war, ergänzten die beiden sich im familiären Bereich geradezu ideal.

Obwohl in ihrem Haus in Tyson’s Corner eine gesunde, liebevolle Atmosphäre herrschte, wurde sie mir bei jedem Besuch nach drei bis vier Tagen zuviel, so daß ich abreisen mußte. Sie nahmen meine Eigenart mit gutmütigem Spott hin; sie wußten, daß ich sie liebte, es jedoch irgendwie nicht ertragen konnte, wenn Menschen sich soviel Zuneigung erwiesen. Vermutlich war mir deshalb Euans Gesellschaft schon immer am liebsten gewesen. Wir waren aus demselben Holz geschnitzt.

Und Slack Pat? Als er den Job als Leibwächter in Washington angenommen hatte, war eine Maklerin mit ihm nach Georgetown gefahren, um ihm ein Apartment in der Nähe der Universität zu zeigen. Seiner Erzählung nach sahen sie dort ein Gebäude, in dem viele Leute ein und aus gingen.

»Was ist das dort drüben?« fragte er.

»Eines der besten Restaurants der Stadt«, antwortete sie. »Jeder zweite Abgeordnete oder Senator scheint dort Stammgast zu sein.«

»Genau das richtige Lokal für mich«, meinte Pat. Ich wußte, daß er fast jeden Tag dort gegessen und alle Bedienungen mit Namen gekannt hatte. Er hatte sogar angefangen, mit einer von ihnen auszugehen. Vielleicht hatte sie ihn dazu verführt, Drogen zu nehmen. Ich hatte gerüchteweise gehört, er habe ein Drogenproblem. Das machte mich traurig. Bei unserem Einsatz in Kolumbien hatten wir alle die Folgen der Drogensucht kennengelernt. Pat hatte diese Leute als Verlierer bezeichnet; jetzt schien er selbst einer zu sein. Hoffentlich war auch das nur eine seiner Phasen.

3

Der Transfer in Heathrow hatte problemlos geklappt. Die beiden Jungs wurden bei keiner Sicherheitskontrolle aufgehalten - vermutlich weil die Flughafenpolizei informiert war -, und die Maschine nach Washington war pünktlich gestartet.

Als wir jetzt mit dem Landeanflug begannen, legte ich meinen Gurt an, stellte die Sitzlehne senkrecht und blickte aus dem Fenster auf Amerika hinunter. Dieses Bild versetzte mich wie immer in gute Stimmung. Das Gefühl von Offenheit und Weiträumigkeit, von unbegrenzten Möglichkeiten, das dieses Land vermittelt, ist geradezu ansteckend.

Ich hoffte, daß Kerr und McGear ohne Umwege ins Hotel fahren würden. Ich hoffte, daß sie brave Touristen spielen und den guten Eindruck, den sie bisher gemacht hatten, nicht dadurch verderben würden, daß sie nicht im Hotel auftauchten. Hätte ich eine Zielperson aus den Augen verloren, hätte ich überall dort nachgesehen, wo der Betreffende sein konnte: am Arbeitsplatz, im Pub, in der Schule seiner Kinder und sogar im Wettbüro. Ich mußte möglichst viel über die beiden rausbekommen, denn sobald man sich in anderer Leute Gedanken versetzen kann, weiß man auch, was sie voraussichtlich tun werden, und sogar, warum sie es tun werden. Über Kerr und McGear wußte ich bisher leider nur, daß sie gern Budweiser tranken und sich vermutlich nach einer Zigarette sehnten. Also würde ich mit dem Hotel anfangen müssen.

Ich mußte einen Vorsprung gewinnen. Das würde nicht allzu schwierig sein, denn für die Club Class verkehrt ein eigener Bus, der uns vor der großen Herde zum Terminal bringt. Aber da sie ein Taxi bestellt hatten, mußte ich zusehen, daß ich schnellstens eines bekam, wenn ich vor ihnen in der M Street sein wollte. Ich hätte bei Washington Flyer ein Taxi bestellen können, aber das hatte ich einmal unter ähnlichen Umständen in Warschau versucht, wo sich dann zwei Fahrer darum gestritten hatten, wer den ersten Wagen bekommen sollte - ich oder die Zielperson. Seit damals ging ich lieber an den Taxistand.

Ich verließ den Ankunftsbereich durch zwei große Automatiktüren und trat in ein Hufeisen aus Absperrgittern, hinter denen Angehörige und Chauffeure warteten, die Namensschilder hochhielten. Das Gedränge blieb hinter mir zurück, als ich mich nach links wandte und einer langen Rampe folgte, die in frühlingshafte Wärme und grellen Sonnenschein hinausführte.

Am Taxistand hatte sich eine Schlange gebildet. Als meine überschlägige Rechnung zeigte, daß mehr Fahrgäste warteten, als Taxis verfügbar waren, ging ich die Reihe entlang weiter und winkte dem letzten Fahrer mit einem Zwanzigdollarschein zu. Er grinste mit Verschwörermiene und ließ mich rasch einsteigen. Weitere zwanzig Dollar bewirkten, daß wir keine halbe Minute später vom Dulles Airport in Richtung Route 66 und Washington, D.C., fuhren.

Der Flughafen und seine Umgebung erinnerten mich an einen High-Tech-Gewerbepark, so grün und gepflegt war dort alles beim Verlassen des Terminals hatte ich sogar einen See gesehen. Suburbia begann etwa fünfzehn Meilen vom Flughafen entfernt - hauptsächlich in Form von Siedlungsstreifen auf beiden Seiten der Ringautobahn: weitläufige Wohngebiete mit hübschen Ziegel- und Holzhäusern, von denen viele sich noch im Bau befanden. Als an einer Ausfahrt Tyson’s Corner angezeigt war, verdrehte ich mir den Hals, um vielleicht Kevs Haus zu sehen. Ich konnte es nicht entdecken. Aber wie Euan gesagt hätte, sahen diese »Landhäuser« ohnehin alle gleich aus.

Wir überquerten den Potomac River und fuhren in die Stadt der Monumente ein.

Das Westin in der M Street war ein typisches besseres amerikanisches Hotel: zweckmäßig, modern und sauber, aber völlig ohne Charakter. Ich betrat die Hotelhalle, orientierte mich und ging nach links zu einer etwas erhöhten Coffee Lounge hinauf, von der aus die Rezeption und der einzige Ein- und Ausgang gut zu überblicken waren. Dort bestellte ich einen doppelten Espresso.

Bei der dritten Tasse kamen Kerr und McGear ganz entspannt wirkend durch die Drehtür herein. Sie gingen sofort zur Rezeption. Ich stellte meine Tasse ab, ließ einen Fünfer unter der Untertasse liegen und schlenderte in die Hotelhalle hinunter.

Es kam nur darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu wählen; an der Rezeption hatte sich eine kleine Schlange gebildet, aber das Hotel, das ebenso effizient wie seelenlos war, hatte jetzt mehr Personal hinter der Rezeption, als davor Gäste warteten.

Ich konnte nicht hören, was Kerr und McGear sagten, aber sie hatten offenbar ein Zimmer reserviert. Die Angestellte, die sie bediente, tippte auf einer Tastatur unter der Theke. Kerr gab ihr eine Kreditkarte, die sie durchs Lesegerät zog, und damit war für mich der richtige Zeitpunkt gekommen. Man hat es einfacher, wenn man sich die benötigten Informationen auf diese Weise verschafft, als wenn man versucht, Leuten zu folgen, und ich hatte keine Lust, das Risiko einzugehen, mit den beiden im Aufzug nach oben zu fahren. Ich konnte nur hoffen, daß sie ein Doppelzimmer genommen hatten.

Rechts von ihnen auf der Theke sah ich einen Ständer mit Werbematerial für alles mögliche von Restaurants bis hin zu O-Busfahrten. Dort stand ich etwa zwei Meter von den beiden entfernt und kehrte ihnen den Rücken zu. Das war nicht riskant; dies war ein großes, geschäftiges Hotel, und sie achteten nicht auf mich, sondern wollten ihren Zimmerschlüssel. Ich blätterte in den Prospekten und ließ dabei erkennen, daß ich keine Hilfe brauchte.

»Bitte sehr, Gentlemen«, sagte die Frau. »Sie haben

Zimmer vierhundertdrei. Dort drüben, links hinter den Säulen, finden Sie die Aufzüge. Schönen Tag noch!«

Jetzt brauchte ich nur noch die in ihrem Zimmer geführten Gespräche abzuhören, und um mir diese Möglichkeit zu verschaffen, ging ich an eines der Münztelefone in der Hotelhalle und rief die Firma an.

Eine Frauenstimme fragte nach meiner PIN.

»Zwo-vier-zwo-zwo.«

»Ja, bitte?«

»Ich brauche ein Zimmer. Hotel Westin in der M Street in Washington, D.C. - vierhunderteins, vierhundertfünf, dreihundertdrei oder fünfhundertdrei.«

»Haben Sie eine Telefonnummer?«

»Nein, ich rufe Sie in einer halben Stunde wieder an.«

Eine Tarnfirma würde jetzt das Hotel anrufen und eines der von mir bezeichneten Zimmer verlangen. Ob es über, neben oder unter Zimmer 403 lag, spielte keine große Rolle, solange wir dort Zutritt hatten und unsere Abhöreinrichtungen installieren konnten.

Ich kehrte in die erhöhte Coffee Lounge zurück, studierte die Faltblätter und Prospekte, die ich mitgenommen hatte, und behielt dabei den Ausgang zur M Street im Auge.

Gleichzeitig überlegte ich mir bereits, welche Abhöreinrichtungen ich anfordern würde. Die Geräte der ersten Welle würde ich selbst installieren: hochempfindliche Wandmikrofone, Telefonwanzen mit Lautsprecher- und Modemanschluß und ein Kabel zur Bildübertragung auf den Fernseher in meinem Zimmer. Sobald die Firma diese Sachen geliefert hatte, würde ich

nur etwa drei Stunden brauchen, um sie zu installieren.

Sobald Kerr und McGear ihr Zimmer einmal für längere Zeit verließen, würden Techniker aus der Botschaft die Einrichtungen der zweiten Welle installieren. Unter ihren fachkundigen Händen konnte sich ein Hotelfernseher in eine Kamera und ein Telefon in ein Mikrofon verwandeln.

Nach einer halben Stunde wählte ich erneut die Telefonnummer in London und gab meine PIN an. Nach mehrmaligem Klicken in der Leitung hörte ich etwa fünf Sekunden lang ein Streichquartett. Dann meldete die Frauenstimme sich wieder.

»Sie sollen abbrechen und sofort zurückfliegen. Bitte bestätigen Sie das.«

Ich dachte, ich hätte nicht richtig gehört. Die norwegische Handelskammer veranstaltete im Hotel Westin eine Konferenz, deren Teilnehmer in diesem Augenblick zur Kaffeepause aus dem Saal kamen.

»Würden Sie das bitte wiederholen?«

»Sie sollen abbrechen und sofort zurückfliegen. Bitte bestätigen Sie das.«

»Verstanden. Abbrechen und sofort zurückfliegen.«

Am anderen Ende wurde aufgelegt.

Ich hängte den Hörer ein. Merkwürdig. Wegen dieses dringenden Auftrags hatte es sogar eine Aktennotiz mit einer Anmerkung des SIS-Direktors in grüner Tinte gegeben. Und jetzt war alles abgeblasen worden. Es war nicht ungewöhnlich, zurückgerufen zu werden, aber normalerweise wurde ein Unternehmen nicht so schnell abgebrochen. Vielleicht hatte Simmonds den Eindruck gewonnen, diese Leute seien doch nicht so wichtig wie ursprünglich vermutet.

Und wenn schon! dachte ich. Was kümmert dich das? Du hast einen Auftrag bekommen und ihn durchgeführt, bis deine Auftraggeber sich die Sache anders überlegt haben. Ich rief die Buchungsstelle der Firma an und versuchte, einen Rückflug zu bekommen. Die früheste Möglichkeit war ein Flug mit British Airways um 21 Uhr 35. Bis dahin war noch viel Zeit. Kev und Marsha wohnten nur eine Stunde von hier entfernt in Richtung Flughafen - warum sollte ich nicht bei ihnen vorbeischauen?

Ich wählte eine andere Nummer. Kev war am Apparat. Seine Stimme klang reserviert, bis er meine erkannte. »Nick! Wie geht’s so?« Er schien sich über meinen Anruf aufrichtig zu freuen.

»Eigentlich ganz gut. Ich bin in Washington.«

»Was machst du hier? Nö, ich will’s gar nicht wissen. Besuchst du uns?«

»Wenn du nicht zu beschäftigt bist. Ich fliege schon heute abend zurück. Aber ich möchte vorher kurz bei euch vorbeischauen, okay?«

»Kannst du möglichst gleich kommen? Ich bin gerade dabei, eine neue Sache ins Rollen zu bringen, und wüßte gern, was du davon hältst. Die wird dir gefallen!«

»Kein Problem, Kumpel. Ich nehme mir hier im Hotel einen Leihwagen und fahre zu euch raus.«

»Marsha kocht bestimmt was besonders Gutes. Ich sag’s ihr, wenn sie mit den Kindern heimkommt. Du kannst mit uns essen und dann in aller Ruhe zum

Flughafen fahren. Du wirst staunen, wenn du siehst, woran ich gerade arbeite. Deine Freunde jenseits des Wassers sind fleißig gewesen.«

»Ich kann’s kaum mehr erwarten.«

»Nick, noch was anderes ...«

»Was denn, Kumpel?«

»Du schuldest Aida ein Geschenk. Du hast ihren Geburtstag wieder vergessen, Dummkopf.«

Während ich auf dem Freeway nach Westen unterwegs war, fragte ich mich, worüber Kev wohl mit mir reden wollte. Freunde jenseits des Wassers? Soviel ich wußte, hatte Kev beruflich nichts mit der PIRA zu tun. Er arbeitete bei der DEA, nicht bei der CIA oder irgendeiner Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Außerdem wußte ich, daß er heutzutage überwiegend am Schreibtisch arbeitete. Ich vermutete, daß er wahrscheinlich nur einige Hintergrundinformationen brauchte.

Dann dachte ich wieder an Slack Pat und nahm mir vor, Kev zu fragen, ob er die jetzige Adresse des Arschlosen hatte.

Ich fuhr auf der Interstate in Richtung Flughafen weiter. Tyson’s Corner hieß die Ausfahrt, die ich nehmen mußte; eigentlich war es die davor, deren Namen ich mir aber nie merken konnte. Sobald ich die Schnellstraße verließ, hätte ich irgendwo im grünen Surrey auf dem Lande sein können. Auf beiden Straßenseiten standen große Einfamilienhäuser - fast ausnahmslos mit einem siebensitzigen Van in der Einfahrt und einem

Basketballring an der Garagenwand.

Ich vertraute auf meinen Orientierungssinn und fand tatsächlich den Hunting Bear Path, die Wohnstraße, an der Kevs Haus lag. Ich fuhr ungefähr eine Viertelmeile weiter bis zu einigen Läden - hauptsächlich Lebensmittelgeschäfte, Boutiquen und ein Laden, in dem es Duftkerzen und parfümierte Seifen gab - an einem kleinen Platz mit reichlich Parkflächen. Dort kaufte ich für Aida und Kelly Pralinen, die Marsha sie nicht essen lassen würde, und ein paar weitere Geschenke.

Gegenüber den Läden lag ein bisher unerschlossenes Grundstück, das offenbar demnächst bebaut werden sollte. Zwischen den Planierraupen, die bereits den Humus abgetragen hatten, standen zwei Bürocontainer, hinter denen große Mengen Stahlträger und anderes Baumaterial lagerten.

Rechts voraus konnte ich zwischen großen Einfamilienhäusern gerade noch die Rückseite von Kevs und Marshas »Deluxe Colonial« erkennen. Als ich das Haus dann fast erreicht hatte, sah ich den Daihatsu- Kleinbus, mit dem Marsha ihre Töchter in die Schule fuhr, in der Einfahrt stehen. Innen an der Heckscheibe war ein großer, wuscheliger Garfield befestigt. Kevs Dienstwagen, ein mit Antennen gespickter Caprice Classic - ein abgrundtief häßlicher Wagen, den nur staatliche Dienststellen kauften -, war nirgends zu sehen. Aber Kev hatte ihn meistens in der Garage stehen, damit niemand auf die Idee kam, ihm die Antennen abzubrechen.

Ich freute mich darauf, die Browns wiederzusehen, obwohl ich schon jetzt wußte, daß ich abends erschöpfter sein würde als die beiden lebhaften Mädchen. Ich erreichte die Einfahrt und bog von der Straße ab.

Vor dem Haus wartete niemand. Da die Häuser ziemlich weit voneinander entfernt waren, sah ich auch keine Nachbarn, aber das wunderte mich nicht - werktags sind die von Pendlern bewohnten Außenbezirke Washingtons oft wie ausgestorben.

Ich machte mich auf den üblichen Empfang gefaßt, denn ich wußte, daß ich überfallen werden würde, sobald ich ausstieg. Die Mädchen würden aus dem Haus gestürmt kommen, während Kev und Marsha ihnen etwas langsamer folgten. Ich tat immer so, als sei mir das nicht recht, aber in Wirklichkeit genoß ich den Begrüßungsjubel. Die Mädchen würden wissen, daß ich ihnen Geschenke mitgebracht hatte. Für Aida hatte ich eine kleine Tweetie-Pie-Uhr gekauft, und Kelly sollte drei Bände mit Horrorstorys aus der Reihe Goosebumps bekommen. Daß ich Aidas Geburtstag vergessen hatte, würde ich überhaupt nicht erwähnen, denn ich hoffte, daß sie nicht mehr daran denken würde.

Ich stieg aus und ging zur Haustür. Noch immer kein Überfall. So weit, so gut.

Die Haustür stand einen Spalt weit offen. Aha, dachte ich, du sollst wie Inspektor Clouseau in die Diele treten, um dort a la Kato überfallen zu werden. Ich stieß die Haustür auf und rief laut: »Hallo? Hallo? Niemand zu Hause?«

Jetzt konnte es nur noch Sekunden dauern, bis die Mädchen sich auf mich stürzten und meine Beine

umklammerten.

Nichts.

Vielleicht hatten sie einen neuen Plan, waren alle irgendwo im Haus versteckt und mußten sich beherrschen, um ihr Kichern zu unterdrücken.

Gleich hinter der Haustür begann ein kurzer Flur, an den sich eine große rechteckige Diele anschloß, von der Türen in die einzelnen Erdgeschoßräume führten. In der rechts von mir liegenden Küche hörte ich eine Frauenstimme, die im Radio die Erkennungsmelodie eines Senders sang.

Noch immer keine Mädchen. Ich setzte mich in Bewegung und ging auf Zehenspitzen zur Küchentür. Dabei flüsterte ich laut wie auf der Bühne: »Schade, schade, ich muß wohl wieder gehen ... leider ist niemand zu Hause ... wirklich schade, weil ich Geschenke für zwei kleine Mädchen mitgebracht habe .«

Links von mir stand die Wohnzimmertür gut dreißig Zentimeter weit offen. Ich sah nicht hinein, als ich vorbeiging; trotzdem nahm ich am äußersten Rand meines Gesichtsfelds etwas wahr, das ich nicht gleich erfaßte. Oder vielleicht weigerte sich mein Gehirn im ersten Augenblick, die aufgenommenen Informationen zu verarbeiten, weil sie zu grauenhaft waren, um wahr zu sein.

Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was ich gesehen hatte. Dann wurde mein ganzer Körper stocksteif.

Ich drehte langsam meinen Kopf zur Seite und versuchte zu enträtseln, was ich vor mir hatte.

Es war Kev. Er lag auf der rechten Seite auf dem Teppich, und jemand hatte ihm mit einem Baseballschläger den Schädel eingeschlagen. Das wußte ich, weil ich das Mordwerkzeug neben ihm liegen sah. Diesen Schläger, ein handliches, leichtes AluminiumModell, hatte er mir bei meinem letzten Besuch gezeigt. Kev hatte lachend den Kopf geschüttelt, als er mir erzählt hatte, daß die hiesigen Rednecks diesen Schläger als »Alabama-Lügendetektor« bezeichneten.

Ich stand noch immer wie angenagelt.

Scheiße, er ist tot, sagte ich mir. Mit diesen Kopfverletzungen kann er unmöglich noch leben.

Was ist mit Marsha und den Kindern?

Ist der Mörder noch im Haus?

Ich brauchte eine Waffe.

Für Kev konnte ich vorläufig nichts tun. Ich dachte nicht einmal an ihn, sondern überlegte mir nur, daß ich eine seiner Pistolen brauchte. Ich wußte, wo alle fünf im Haus versteckt waren - immer außer Reichweite der Kinder, immer geladen und mit einem vollen Magazin im Griff. Marsha oder Kev brauchten nur nach einer dieser Waffen zu greifen, um jeden umlegen zu können, der es auf Kev abgesehen hatte - und von denen gab es in Dealerkreisen mehr als einen. Scheiße, dachte ich, jetzt haben sie ihn also doch erwischt.

Während ich angestrengt auf irgendein Geräusch, irgendeine Bewegung im Haus horchte, stellte ich langsam die Tragetasche mit meinen Geschenken ab.

An der linken Giebelwand des großen rechteckigen Wohnzimmers befand sich ein offener Kamin. In die

Nischen auf beiden Seiten waren Bücherregale eingebaut, und ich wußte, daß rechts im zweiten Fach von oben das größte, dickste Wörterbuch der Welt stand. Und hinten auf diesem Band lag - etwas über Augenhöhe, aber trotzdem gut erreichbar - eine großkalibrige Pistole. Sie lag so da, daß man schußbereit war, sobald man sie ergriff.

Ich rannte los. Ich versuchte nicht einmal festzustellen, ob jemand im Wohnzimmer war. Ohne Waffe wäre ich ohnehin erledigt gewesen.

Ich erreichte das Bücherregal, ergriff die Pistole, fuhr herum und ließ mich in Schießhaltung auf die Knie nieder. Die 9-mm-Pistole war eine Heckler & Koch USP, eine phantastische Waffe. Diese hier hatte sogar ein Laservisier unter dem Lauf wohin der Lichtpunkt zeigte, ging auch der Schuß.

Ich holte mehrmals tief Luft. Sobald ich einigermaßen zur Ruhe gekommen war, sah ich nach unten und überprüfte die Pistole. Als ich den Schlitten etwas zurückzog, sah ich in der Kammer eine Messingpatrone blitzen.

Was sollte ich jetzt machen? Draußen stand mein Leihwagen; wurde er gemeldet und zu mir zurückverfolgt, konnte es alle möglichen Verwicklungen geben. Ich reiste unter falschem Namen; wurde ich enttarnt, wurde auch mein Auftrag bekannt, und dann saß ich wirklich in der Scheiße.

Ich sah rasch zu Kev hinüber, ob er vielleicht doch noch atmete. Keine Chance. Sein Gehirn war aus dem Schädel gequollen, sein Gesicht war eingeschlagen. Er war tot, und der unbekannte Täter war so blasiert, daß er den Baseballschläger achtlos hingeworfen und dort zurückgelassen hatte.

Die massive Glasplatte des Couchtischs und der Teppichboden waren voller Blut. Sogar die Scheiben der Verandatür wiesen Blutspritzer auf. Aber seltsamerweise schien es hier keinen Kampf gegeben zu haben.

4

Ich mußte mich davon überzeugen, daß Marsha und die Mädchen nicht noch im Haus waren - in einem der anderen Zimmer gefesselt oder in der Gewalt irgendeines Scheißkerls, der ihnen eine Pistole an den Kopf hielt. Ich würde einen Raum nach dem anderen absuchen müssen.

Wenn das nur so einfach gewesen wäre, wie Don Johnson es in Miami Vice demonstriert: Man rennt zur Tür, schiebt sich am Türrahmen entlang vor, springt mit schußbereiter Pistole mitten in die Türöffnung und hat bereits gewonnen. Jede Türöffnung zieht Feuer an, und wer darin auftaucht, präsentiert sich als Zielscheibe. Lauert auf der anderen Seite ein Kerl mit einer Schrotflinte, ist man tot.

Der erste Raum, den ich kontrollieren mußte, war die Küche; sie war am nächsten - und aus ihr kamen Geräusche.

Ich setzte mich in Bewegung und folgte der Außenwand des Wohnzimmers in Richtung Tür. Dabei stieg ich über Kev hinweg, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die Heckler & Koch hielt ich schußbereit; ich mußte abdrücken können, sobald ich ein Ziel sah. Wohin ich blickte, zielte auch die Pistole.

In Gedanken unterteilte ich das Wohnzimmer in Abschnitte. Der erste reichte vom Sofa halb durch den Raum - eine Entfernung von ungefähr drei Metern. Ich legte sie zurück und fand hinter einer großen TV/Hi-Fi- Kombination Deckung, während ich die Tür zur Diele kontrollierte. Sie stand weiter offen.

Draußen bewegte sich nichts. Als ich in die Diele hinaustrat, schloß ich die Wohnzimmertür hinter mir. Dann bewegte ich mich auf die Küchentür zu. Der Türknopf war rechts angebracht, und die Tür ging nach innen auf. Ich blieb am linken Türrand stehen, wo sich die Angeln befanden, und horchte. Über meine schweren Atemzüge und meinen lauten Puls hinweg hörte ich einen Idioten im Radio sagen: »Am Arbeitsplatz verletzt? Lassen Sie unsere erfahrenen Anwälte eine Entschädigung erstreiten - und denken Sie daran: kein Erfolg, kein Honorar.«

Mein rechter Arm war angewinkelt, aber die Pistole befand sich weiter vor meinem Körper. Ich beugte mich zum Türgriff hinüber, drehte ihn, öffnete die Tür einen kleinen Spalt und trat gleichzeitig weiter zurück. Ich stieß sie von links noch etwas weiter auf, um zu sehen, ob aus der Küche irgendeine Reaktion kam.

Außer dem Radio hörte ich jetzt auch eine Waschmaschine, deren Trommel sich drehte, stoppte und sich dann weiterdrehte. Aber sonst passierte nichts.

Durch den schmalen Türspalt konnte ich einen kleinen

Teil der Küche überblicken. Ich streckte meine linke Hand aus und stieß die Tür ganz auf. Noch immer keine Reaktion. Ich schob mich langsam um den Türrahmen.

Als der Winkel zwischen dem Rahmen und meinem Körper sich vergrößerte, konnte ich allmählich einen immer größeren Teil der Küche überblicken. Ich ließ mir Zeit, um die aufgenommenen Informationen verarbeiten zu können. Falls ich reagieren mußte, würde die Tatsache, daß ich den Türrahmen vor mir hatte, meine Zielsicherheit nicht beeinträchtigen; wäre das der Fall gewesen, hätte ich meinen Beruf verfehlt. Mit dem rechten Daumen schaltete ich per Knopfdruck das Laservisier ein. Auf einer Küchenwand zeichnete sich ein brillantroter Leuchtpunkt ab.

Ich beugte mich nach vorn, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Falls jemand in der Küche war, würde er nur einen Teil meines Kopfes sehen und darauf reagieren müssen - nicht auf den ganzen Don Johnson.

In der Küche sah es aus wie an Bord der Marie Celeste. Auf der Arbeitsplatte lagen Gemüse und Fleisch für eine größere Mahlzeit bereit. Kev hatte gesagt, Marsha würde etwas besonders Gutes kochen. Ich schloß die Küchentür hinter mir. Aus dem Radio kam jetzt Softrock, und die Waschmaschine schleuderte. Der Tisch war halb gedeckt, was mich wie ein Stich ins Herz traf. Kev und Marsha achteten konsequent darauf, daß ihre Töchter im Haushalt mithalfen; der Anblick dieses halbgedeckten Tischs machte mich betroffen, weil er die Chancen erhöhte, daß die Mädchen tot waren oder in einem der Zimmer im Obergeschoß von irgendeinem

Schweinehund festgehalten wurden, der sie mit einer Waffe bedrohte.

Ich ging langsam durch die Küche und sperrte die Tür zur Garage ab. Ich wollte nicht das gesamte Erdgeschoß absuchen, um dann zu erleben, daß die Jungs hinter meinem Rücken hereinkamen.

Ich war jetzt verdammt nervös. Waren Marsha und die Kinder noch im Haus, oder hatten sie flüchten können? Ich konnte nicht einfach abhauen. Die Scheißkerle, die Kev das angetan hatten, waren zu allem imstande. Ich spürte, wie meine Magennerven sich verkrampften. Was zum Teufel würde ich oben vorfinden?

Ich ging wieder in die Diele hinaus. Meine Pistole zielte dabei auf die Treppe, die ich jetzt vor mir hatte. Das letzte Zimmer im Erdgeschoß, das ich noch nicht abgesucht hatte, war Kevs Arbeitszimmer. Ich legte ein Ohr an die Tür, um zu horchen. Als nichts zu hören war, stieß ich langsam die Tür auf und trat über die Schwelle.

Der Raum war klein, gerade groß genug für ein paar Aktenschränke, einen Schreibtisch und einen Bürostuhl. Das Wandregal gegenüber dem Schreibtisch war voller Bücher und gerahmter Photos, die Kev bei allen möglichen Sportarten zeigten. Das alles lag jetzt auf dem Fußboden; auch sämtliche Papiere aus den Aktenschränken waren herausgerissen und auf dem Boden verstreut. Nur Kevs PC war nicht demoliert. Aber der Monitor, auf dem noch jetzt ein Bildschirmschoner der British Army lief, den ich Kev einmal aus Witz geschickt hatte, lag umgeworfen auf der Tischplatte. Drucker und Scanner standen neben dem Schreibtisch auf dem Fußboden, aber dort war schon immer ihr Platz gewesen.

Ich ging wieder hinaus, um die Treppe zu begutachten. Sie konnte schwierig werden, denn sie führte zu einem Absatz auf halber Höhe hinauf, ging in entgegengesetzter Richtung weiter und erreichte dann den ersten Stock. Das bedeutete, daß ich eine Art Schlangenmensch spielen mußte, um heil dort hinaufzukommen. Weil ich meine Bewegungen nicht ankündigen wollte, schaltete ich vorher das Laservisier aus.

Ich setzte einen Fuß auf die untere Stufe und begann meinen Aufstieg. Zum Glück war die Treppe mit einem dicken Läufer belegt, der alle Geräusche dämpfte. Trotzdem war ich bei jeder Stufe auf ein Knarren gefaßt, trat jeweils nur ganz innen auf und bewegte mich langsam und präzise.

Sobald ich den Treppenabsatz in Augenhöhe hatte, richtete ich die Pistole nach oben, stützte mich mit der linken Hand an der Wand ab und stieg, rückwärtsgehend, Schritt für Schritt weiter.

Auf jeder Stufe machte ich eine Pause, um zu horchen, bevor ich mich wieder bewegte.

Ich war ganz allein und hatte nur dreizehn Schuß zur Verfügung - bestenfalls vierzehn, wenn zur Patrone in der Kammer ein volles Magazin im Griff kam. Die anderen Jungs konnten halbautomatische Waffen haben, vielleicht sogar Maschinenpistolen. Falls sie welche hatten und mir dort oben auflauerten, war ich erledigt.

Die Waschmaschine tobte im letzten Schleudergang. Aus dem Küchenradio kam noch immer Softrock. Das waren die einzigen Geräusche.

Mein Adrenalinspiegel mußte unglaublich hoch sein. Trotz der Klimaanlage war ich in Schweiß gebadet. Die salzige Flüssigkeit lief mir in die Augen; ich mußte sie mit der linken Hand nacheinander trockenwischen.

Vor mir hatte ich das Kinderzimmer. Ich erinnerte mich an Kojenbetten und eine Pocahontas gewidmete Devotionaliensammlung: T-Shirts und Plakate,

Bettwäsche und sogar eine Puppe, die irgendwas von Farben sang, wenn man auf eine Stelle zwischen ihren Schulterblättern drückte.

Ich blieb stehen und machte mich auf das Schlimmste gefaßt.

Dann griff ich nach dem Türknopf und begann das Kinderzimmer zu inspizieren. Nichts. Niemand.

Heute war das Zimmer ausnahmsweise einmal aufgeräumt. Auf den Betten lagen Berge von Teddybären und Spielsachen. Pocahontas war offenbar noch immer die Favoritin, aber Toy Story hatte mächtig aufgeholt.

Ich ging langsam wieder auf den Flur hinaus, den ich als neuen Raum behandelte, weil ich nicht wußte, was dort in der letzten Minute passiert sein mochte.

Dann bewegte ich mich mit dem Rücken zur Wand und schußbereiter Pistole auf die nächste Schlafzimmertür zu, beobachtete nach allen Seiten und überlegte mir dabei ständig: Was ist, wenn? Was tust du, wenn sie vor dir in der Tür auftauchen? Was ist, wenn? ... Was ist, wenn?

Als ich mich Kevs und Marshas Zimmer näherte, sah ich die Tür einen Spalt weit offenstehen. Dieser Spalt war jedoch zu schmal, um viel erkennen zu können. Ich stieß die Tür zögernd etwas weiter auf, schob mich um den Rahmen und konnte nun Marsha sehen. Sie war tot. Sie kniete vor dem Doppelbett, auf dem ihr Oberkörper mit ausgebreiteten Armen ruhte. Die Tagesdecke war mit Blut getränkt.

Ich sank im Flur auf die Knie und spürte, daß ich im Begriff war, in einen Schockzustand zu verfallen. Mein Verstand weigerte sich, das Gesehene zu begreifen. Wieso war das dieser Familie zugestoßen? Warum war auch Marsha ermordet worden? Wer es auf Kev abgesehen hatte, hätte sich damit begnügen sollen, ihn umzulegen. Ich hätte am liebsten meine Pistole aus der Hand gelegt und wäre in Tränen ausgebrochen, aber ich wußte, daß die Kinder im Haus gewesen waren; sie konnten noch irgendwo sein.

Ich riß mich zusammen, kam wieder auf die Beine und setzte mich in Bewegung. Ich betrat das Zimmer und zwang mich dazu, Marsha zu ignorieren.

Der nächste Raum war das dazugehörige Bad. Ich schob mich durch die Tür, und was ich dort sah, gab mir den Rest. Ich stolperte rückwärts gegen die Wand, sackte langsam zusammen und blieb auf dem Fußboden sitzen.

Aida lag zwischen Wanne und Klosett auf den Bodenfliesen. Irgend jemand hatte der Fünfjährigen fast den Kopf vom Rumpf getrennt. Ihr Hals war bis zu den Wirbeln durchgeschnitten, die den Kopf noch hielten.

Überall war Blut. Ich bekam es aufs Hemd und an die Hände; ich saß in einer Lache, die meinen Hosenboden durchnäßte.

Als ich mich abwandte und dabei ins Schlafzimmer sah, hatte ich Marsha genau vor mir. Ich mußte mich beherrschen, um nicht entsetzt aufzuschreien. Ihr Kleid hing glatt herunter, aber ihre Strumpfhose war zerfetzt, und ihr Slip war heruntergerissen. Aus etwa fünf Metern Entfernung sah ich eine Frau, die ich sehr gern gehabt, vielleicht sogar geliebt hatte, vor dem Bett knien, das mit ihrem Blut getränkt war. Und sie war auf die gleiche Weise ermordet worden wie Aida.

Ich atmete mehrmals tief durch und fuhr mir mit dem linken Handrücken über die Augen. Ich wußte, daß ich noch zwei Räume zu kontrollieren hatte: ein weiteres Bad und den großen Anbau über der Garage. Ich durfte jetzt nicht aufgeben, weil ich sonst Gefahr lief, selbst umgelegt zu werden.

Nachdem ich festgestellt hatte, daß in den anderen Räumen niemand war, hatte ich eine Pause nötig, und ich hockte mich auf die oberste Treppenstufe. Überall auf dem Teppich konnte ich meine blutigen Schuhabdrücke sehen.

Ganz ruhig, reiß dich zusammen, denk nach.

Was noch? Kelly. Wo zum Teufel war Kelly?

Dann fiel mir das Versteck ein. Weil Kev durch seinen Beruf gefährdet war und schon mehrmals Morddrohungen erhalten hatte, wußten die beiden Mädchen, wo sie sich verstecken mußten, falls im Haus irgend etwas passierte.

Dieser Gedanke brachte mich wieder zur Besinnung. War Kelly dort, war sie vorläufig sicher. Und es war besser, sie in ihrem Versteck zu lassen, während ich

erledigte, was ich tun mußte.

Ich stand auf und ging langsam die Treppe hinunter, wobei ich darauf achtete, meine Pistole schußbereit zu halten. Wo ich gesessen und mich an die Wand gelehnt hatte, waren Blutflecken zurückgeblieben. Ich wünschte mir fast, die Angreifer würden irgendwo auftauchen. Ich wollte die Scheißkerle sehen.

Ich holte mir ein Wischtuch und einen Müllsack aus der Küche, lief durchs Haus und wischte alle Türknöpfe und sonstigen Flächen ab, an denen meine Fingerabdrücke zurückgeblieben sein könnten. Dann ging ich zur Verandatür und zog die Vorhänge zu. Ich wollte nicht, daß jemand fremde Fingerabdrücke entdeckte, bevor ich das Haus lange verlassen hatte und hoffentlich bereits im Flugzeug nach London saß.

Zwischendurch sah ich zu Kev hinüber und merkte, daß ich mich wieder gefangen hatte. Er war jetzt nur eine Leiche.

Ich ging nach oben, wusch mir im zweiten Bad das Blut von Gesicht und Händen und holte mir aus Kevs Kleiderschrank ein sauberes Hemd, eine Jeans und Sportschuhe. Seine Sachen paßten mir nicht besonders gut, aber sie würden fürs erste genügen müssen. Meine blutbefleckten Kleidungsstücke stopfte ich in den Müllsack, den ich mitgenommen hatte.

5

Kev hatte mir die »Räuberhöhle«, wie er das Versteck für

die Mädchen scherzhaft genannt hatte, einmal gezeigt: Unter der auf den Dachboden über der Garage hinaufführenden Treppe befand sich ein winziger Raum. Falls Kev oder Marsha irgendwann das Wort »Disneyland!« riefen, wußten die Kinder, daß sie weglaufen und sich dort verstecken mußten - und daß sie erst wieder herauskommen durften, wenn Mummy oder Daddy sie holten.

Ich sperrte die Verbindungstür zwischen Küche und Garage wieder auf. Als ich die Tür einen Spalt weit öffnete, sah ich rechts vor mir die Innenseite der geschlossenen Schwingtore. In der riesigen Garage hätten außer Kevs Dienstwagen leicht drei weitere Autos Platz gehabt. »Eigentlich Scheiße«, hatte Kev einmal gesagt, als wir über seinen Caprice Classic geredet hatten, »aller Luxus und technischer Fortschritt der späten Neunziger steckt in einem Wagen, der wie ein Kühlschrank aus den Sechzigern aussieht.«

Die Fahrräder der Mädchen hingen an Wandhalterungen, und die freien Flächen waren teilweise mit allem möglichen Krempel zugestellt, der sich bei allen Familien in der Garage ansammelt. Ich konnte den roten Laserpunkt an der gegenüberliegenden Wand erkennen.

Ich trat in die Garage und durchsuchte sie. Auch hier war niemand.

Zuletzt stand ich wieder seitlich vor der Treppe. Obwohl Kelly vermutlich nur herauskam, wenn sie Mommys oder Daddys Stimme hörte, rief ich halblaut: »Kelly! Ich bin’s ... Nick! Hallo, Kelly, wo bist du?«

Dabei hielt ich meine Pistole schußbereit, um auf jede Bedrohung reagieren zu können.

Ich näherte mich langsam den großen Pappkartons, mit denen der Raum unter der Treppe verstellt war. »Na gut, wenn du nicht da bist, gehe ich wieder. Aber erst sehe ich mich noch mal um, und ich wette, daß du dich in deinem Disneyland versteckt hast. Ich sehe einfach mal nach ... bestimmt bist du dort drinnen .«

Dann stand ich vor den aufgestapelten Pappkartons. Einer hatte eine Kühl-Gefrier-Kombination enthalten, in einem weiteren war die Waschmaschine geliefert worden. Kev hatte diese beiden und andere aufgestapelt, um den Eingang des Kinderverstecks unter der Treppe zu tarnen.

Ich steckte die Pistole in meinen Hosenbund. Kelly sollte keine Waffe sehen. Sie hatte wahrscheinlich schon zuviel gehört und gesehen.

Ich sprach in den kleinen Spalt zwischen den Pappkartons. »Kelly, ich bin’s - Nick. Hab’ keine Angst. Ich krieche jetzt zu dir rein. Du siehst gleich meinen Kopf auftauchen, und dann möchte ich ein frohes Lächeln sehen .«

Ich ließ mich auf Hände und Knie nieder und sprach halblaut weiter, während ich den Spalt etwas vergrößerte und hindurchkroch. Ich wollte nichts überstürzen. Schließlich wußte ich nicht, wie sie reagieren würde.

»Gleich stecke ich meinen Kopf um die Ecke, Kelly.«

Ich holte tief Luft und streckte meinen Kopf vorsichtig um die Ecke des großen Kartons - lächelnd, aber aufs Schlimmste gefaßt.

Kelly starrte mich mit vor Entsetzen geweiteten Augen an, hockte in fetaler Position zusammengekrümmt da, wiegte ihren Oberkörper langsam vor und zurück und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.

»Hallo, Kelly«, sagte ich leise.

Sie mußte mich erkannt haben, aber sie gab keine Antwort. Sie wiegte sich weiter vor und zurück und starrte mich mit großen, dunklen Augen an.

»Mummy und Daddy können gerade nicht kommen, um dich hier rauszuholen, aber du kannst mit mir kommen. Daddy hat gesagt, daß das in Ordnung ist. Kommst du mit mir, Kelly?«

Noch immer keine Antwort. Ich kroch ganz in die Höhle hinein, bis ich zusammengekauert neben Kelly hockte. Sie hatte geweint, die Strähnen ihres hellbraunen Haars klebten an ihrem Gesicht. Ich versuchte, sie mit einer Hand von ihrem Mund wegzustreichen. Ihre geschwollenen Augen waren gerötet.

»Na, du siehst ja ziemlich schlimm aus«, sagte ich. »Soll ich dir helfen, ein bißchen sauberer zu werden? Komm, wir gehen und bringen das wieder in Ordnung, ja?« Ich ergriff ihre Hand und zog sie sanft in die Garage hinaus.

Sie trug Jeans, Sportschuhe, ein Jeanshemd und darüber einen blauen Nylonblouson. Ihr glattes Haar war knapp schulterlang, etwas kürzer, als ich es in Erinnerung hatte, und sie war für eine Siebenjährige ziemlich schlaksig, mit langen, dünnen Beinen. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie an mich, während ich sie in die Küche trug. Da alle Türen geschlossen waren, würde sie

Kev nicht sehen können.

Ich setzte sie auf einen Stuhl am Küchentisch. »Mummy und Daddy haben gesagt, daß sie für einige Zeit verreisen müssen, und mich gebeten, auf dich aufzupassen, bis sie zurückkommen, okay?«

Sie zitterte so heftig, daß ich nicht wußte, ob sie nickte oder den Kopf schüttelte.

Ich öffnete den Kühlschrank in der Hoffnung, darin etwas zu finden, das Kelly trösten würde. In einem Fach lagen zwei bereits angegessene, große Ostereier. »Mmmm . möchtest du etwas Schokolade?«

Mit Kelly hatte ich mich immer gut verstanden. Ich hielt sie für ein großartiges Mädchen - und das nicht nur, weil sie die Tochter meines Kumpels war. Ich lächelte ihr herzlich zu, aber sie starrte die Tischplatte an.

Ich brach ein paar Stücke Schokolade ab und legte sie auf einen der Dessertteller, die sie vermutlich vorhin mit Aida auf den Tisch gestellt hatte. Dann machte ich das verdammte Radio aus; für heute hatte ich von entspannendem Softrock die Nase voll.

Als ich sie erneut betrachtete, wurde mir plötzlich klar, daß ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Was sollte ich mit ihr anfangen? Ich konnte sie nicht einfach zurücklassen; der Rest ihrer Familie lag tot im ganzen Haus verstreut. Und vor allem kannte sie mich. Wenn die Polizei kam, konnte sie sagen: »Nick Stone ist hier gewesen.« Die Polizei würde schnell herausbekommen, daß Nick Stone ein Freund ihres Daddys war, von dem es hier im Haus zahlreiche Photos gab. Und wenn sie den beim Grillen aufgenommenen grinsenden Besoffenen verhaftete, würde sie feststellen, daß er aus unerklärlichen Gründen gar nicht Nick Stone, sondern Mrs. Stamfords kleiner Junge war. Folglich wurde es Zeit, schleunigst zu verschwinden.

Kevs Jackett hing über einer der Stuhllehnen. »Komm, wir wickeln dich in Daddys Jacke, dann hast du’s wärmer«, schlug ich vor. So hatte sie wenigstens etwas von ihrem Vater; mit etwas Glück würde sie das aufheitern.

Ihre ganze Antwort bestand aus einem kurzen Wimmern. Sie war fast steif vor Schock, obwohl sie diesmal wenigstens den Kopf bewegt hatte, um mich anzusehen. An diesem Punkt hätte ich sie normalerweise Marsha überlassen, denn Kinderpsychologie war mir viel zu kompliziert. Aber das konnte ich heute nicht tun.

Ich wickelte Kelly in die Jacke ein und sagte dabei: »So, die hält dich schön warm. Hey, das ist Daddys Jacke! Das sagen wir ihm lieber nicht, was, hahaha!« Ich ertastete etwas Solides in einer der Jackentaschen und zog Kevs Mobiltelefon heraus. »Oh, sieh mal, damit können wir ihn später anrufen.«

Ich warf einen Blick aus dem Fenster - kein Mensch zu sehen. Ich griff nach dem Müllsack, nahm Kelly an der Hand und merkte dann, daß wir die Küche verlassen und durch die Diele mußten, um zur Haustür zu gelangen.

»Bleib einen Augenblick hier sitzen«, sagte ich. »Ich muß noch was erledigen.«

Draußen überzeugte ich mich davon, daß wirklich alle Türen geschlossen waren. Ich dachte nochmals an meine

Fingerabdrücke, aber falls ich welche übersehen hatte, war das nicht mehr zu ändern. Ich wollte nur noch weg und Kelly von der Polizei fernhalten, bis ich eine Möglichkeit gefunden hatte, aus diesem Schlamassel rauszukommen.

Ich ging zurück, holte Kelly und sah nochmals nach draußen, ohne eine Bewegung wahrzunehmen. Sie schien kaum gehen zu können. Ich mußte den Kragen von Kevs Jackett packen und sie halb zum Auto hinausschleifen.

Ich setzte sie auf den Beifahrersitz. »So, hier hast du’s schön und warm«, sagte ich lächelnd. »Paß gut auf Daddys Jacke auf, ja? Er freut sich bestimmt, wenn er sieht, wie gut du dich um sie kümmerst.«

Dann warf ich den Müllsack auf den Rücksitz, setzte mich ans Steuer, legte meinen Sicherheitsgurt an und ließ den Motor an. Wir fuhren in vernünftigem Tempo los, nicht so schnell, daß jemand auf uns aufmerksam werden konnte.

Nach ein paar hundert Metern fiel mir etwas ein; ich sah zu ihr hinüber und sagte: »Kelly, du mußt dich anschnallen. Das kannst du doch selbst, nicht wahr?«

Sie bewegte sich nicht, erwiderte nicht mal meinen Blick. Ich mußte ihr den Sicherheitsgurt anlegen.

Ich versuchte, Konversation zu machen. »Schönes Wetter heute, nicht wahr? Klar, du bleibst jetzt ’ne Zeitlang bei mir, bis alles wieder in Ordnung ist.«

Schweigen.

Ich konzentrierte mich wieder auf mein Hauptproblem. Was sollte ich tun? Unabhängig davon, wofür ich mich entschied, waren wir hier jedenfalls am falschen Ort; wir mußten irgendwo in der Menge untertauchen. Ich fuhr in Richtung Tyson’s Corner.

Ich sah wieder lächelnd zu Kelly hinüber und gab mir Mühe, den unbekümmert fröhlichen Onkel Nick zu spielen, aber das gelang mir einfach nicht. Sie starrte ängstlich aus dem Fenster, als fürchte sie, aus ihrer vertrauten Umgebung entführt zu werden und sie zum letztenmal im Leben zu sehen.

»Ist schon gut, Kelly.« Ich versuchte, ihr übers Haar zu streichen.

Sie drehte ruckartig den Kopf weg.

Scheiße, sollte sie doch machen, was sie wollte; mit etwas Glück würde ich sie mir schon bald vom Hals schaffen können.

Ich dachte wieder an Kev. Er hatte gesagt, er habe Informationen über meine »Freunde jenseits des Wassers«. War er etwa von der PIRA umgelegt worden? Warum, verdammt noch mal? Daß sie in Amerika ein Attentat dieser Art verüben ließ, war äußerst unwahrscheinlich. Sie war zu clever, um die Hand zu beißen, von der sie gefüttert wurde.

Andere Dinge waren mir rätselhaft. Warum hatte es keinen Kampf gegeben? Marsha und Kev hatten natürlich gewußt, wo die Waffen versteckt waren. Warum waren sie nicht benutzt worden? Warum hatte die Haustür offengestanden? Das konnte kein Zufall gewesen sein. In Kevs Haus spazierte man nicht einfach von der Straße aus hinein; man betrat es nur auf Einladung.

Ich fühlte Wut in mir aufsteigen. Wäre die Familie

Brown bei einem Verkehrsunfall umgekommen, wäre das Schicksal gewesen. Wären die Killer ins Haus eingedrungen und hätten sie beispielsweise erschossen, wäre ich zornig gewesen, aber ich hätte mir auch gesagt, daß jemand, der durchs Schwert lebt, damit rechnen muß, durchs Schwert umzukommen. Aber nicht auf diese Weise. Sie waren scheinbar grundlos bestialisch ermordet worden.

Ich zwang mich dazu, rational zu denken. Auf keinen Fall konnte ich die Polizei anrufen und meine Version der Ereignisse zu Protokoll geben. Trotz meiner Abberufung arbeitete ich noch in einem befreundeten Land, ohne daß die zuständigen Stellen zugestimmt hatten. Solche Dinge passierten auch in Großbritannien, aber man durfte sich unter keinen Umständen erwischen lassen. Mein hiesiger Einsatz würde als Heimtücke ausgelegt werden und die amerikanischen Kollegen mißtrauisch machen. Daß der SIS sich schützend vor mich stellen würde, brauchte ich nicht zu hoffen - wozu gab es schließlich Unternehmen, die man notfalls leugnen konnte? Ich war auf mich allein gestellt.

Ein Blick zu meiner Beifahrerin zeigte mir, daß ich ein Problem hatte. Auf der Weiterfahrt nach Tyson’s Corner wurde mir klar, was ich tun mußte. Links voraus sah ich ein Hotel der Best-Western-Kette und rechts ein Einkaufszentrum mit einzelnen Läden. Ich mußte den Leihwagen loswerden, weil er - falls ich beobachtet worden war - eine der Verbindungen zwischen mir und dem Haus war. Ich mußte ihn irgendwo abstellen, wo er nicht isoliert stand - auf einem Parkplatz ohne

Videoüberwachung. Neben dem Einkaufszentrum mit seinen weitläufigen Parkflächen gab es am Rand auch einen Burger King mit eigenem Parkplatz.

Es ist ganz einfach, einen Wagen tagsüber auf einem Parkplatz zwischen Hunderten von Autos zurückzulassen, aber nach Ladenschluß steht er vielleicht auffällig allein da und wird von der nächsten Polizeistreife kontrolliert. Ich suchte einen Parkplatz, auf dem Tag und Nacht viel Betrieb herrschte. Mehrstöckige Parkhäuser kamen nicht in Frage, weil sie zu neunzig Prozent videoüberwacht wurden, um Überfälle und Autoeinbrüche zu verhindern. Viele Parkhäuser hatten auch eine Videokamera installiert, die bei der Einfahrt den Fahrer und das Kennzeichen aufnahm. An vielen großen Kreuzungen und entlang wichtiger Straßen standen Videokameras zur Verkehrsüberwachung. Falls mein Wagen vor Kevs Haus bemerkt worden war, würde die Polizei als erstes diese Filme und die Videoaufnahmen aus Parkhäusern auswerten.

»Holen wir uns Hamburger und Milchshakes?« schlug ich vor. »Magst du Milchshakes? Paß auf, ich stelle den Wagen ab, und wir gehen vielleicht sogar einkaufen.«

Jedenfalls durften wir nicht vor dem Burger King parken, aussteigen und ein paar hundert Meter weit zum Einkaufszentrum hinübergehen - das tat kein Mensch. Irgend jemand konnte sich später wahrscheinlich daran erinnern, uns als Fußgänger gesehen zu haben, deshalb mußte ich versuchen dafür zu sorgen, daß wir möglichst normal wirkten.

»Erdbeer oder Vanille - was möchtest du?«

Keine Antwort.

»Schokolade? Komm, ich nehme auch Schokolade.«

Nichts.

Ich parkte den Wagen. Der Parkplatz war ziemlich voll. Ich umfaßte ihr Kinn mit einer Hand und drehte ihren Kopf sanft zu mir her, so daß Kelly mich freundlich lächeln sah. »Milchshake?«

Ich fühlte eine schwache Kopfbewegung, die ich zweckmäßigerweise als Nicken deutete. Das war nicht viel, aber immerhin eine Reaktion.

Ich redete weiter auf sie ein. »Gut, dann bleibst du einfach hier sitzen. Ich steige aus, sperre das Auto ab und hole die Milchshakes. Und danach, hör zu, gehen wir drüben ins Einkaufszentrum. Wie findest du das?«

Sie sah weg.

Trotzdem machte ich weiter, als habe sie allem zugestimmt. Ich stieg aus und sperrte sie im Wagen ein. In meinem Hosenbund steckte, von Kevs Jacke verdeckt, noch immer die Pistole.

Ich ging in den Burger King, kaufte zwei verschiedene Milchshakes und kam sofort zum Auto zurück.

»Also, du hast die Wahl - Schokolade oder Vanille?«

Ihre Hände blieben neben den Oberschenkeln liegen.

»Okay, dann nehme ich Vanille; ich weiß, daß du Schokolade magst.«

Ich stellte ihr den Plastikbecher in den Schoß. Sein Inhalt war für ihre Beine zu kalt, und als Kelly danach griff, sagte ich rasch: »Komm, wir gehen zu den Geschäften rüber. Den Becher kannst du mitnehmen.«

Ich ließ sie aussteigen, schloß die Tür und sperrte den

Wagen ab. Ich versuchte nicht einmal, etwas gegen unsere Fingerabdrücke zu tun; selbst wenn ich mir die größte Mühe gegeben hätte, wären nicht alle zu entfernen gewesen - wozu also damit anfangen? Ich öffnete den Kofferraum, holte die Reisetasche mit den Toilettenartikeln heraus, die ich in Shannon gekauft hatte, und stopfte den Müllsack mit meinen blutgetränkten Kleidungsstücken hinein.

Es sah nach Regen aus. Während wir über den Parkplatz zum Einkaufszentrum gingen, redete ich weiter mit Kelly, weil mir die Situation peinlich war. Was soll man schließlich anderes tun, wenn man neben einem kleinen Mädchen hergeht, das nicht zu einem gehört und nicht mit einem Zusammensein will?

Ich versuchte Kelly an der Hand zu nehmen, aber sie entzog sie mir. Da wir unter Leuten waren, konnte ich nicht einmal anfangen, mit ihr darüber zu diskutieren. Also begnügte ich mich damit, sie wieder an der Schulter von Kevs Jackett festzuhalten.

In diesem Einkaufszentrum gab es von einem Computer-Discounter bis zu einem Geschäft für ausgemusterte Militärartikel alles, was das Herz begehrte.

Wir gingen in ein Textilgeschäft, in dem ich mir Jeans und ein Hemd kaufte. Ich würde mich umziehen, sobald ich geduscht und mir Aidas Blut von Beinen und Rücken gewaschen hatte.

An einem Geldautomaten hob ich dreihundert Dollar ab - den Höchstbetrag, den ich mit meiner Kreditkarte bekommen konnte.

Dann traten wir wieder auf den Parkplatz hinaus, aber ich ging nicht zu dem Leihwagen zurück. Ich ließ meine Hand auf Kellys Schulter, während ich sie über die Straße zu dem Hotel führte.

6

Als wir näher herankamen, konnte ich sehen, daß das Best Western in Wirklichkeit durch eine lange Reihe ebenerdiger Bürogebäude von der mehrspurigen Straße getrennt war. Was wir vor uns hatten, war die Rückseite des Hotels.

Ein kurzer Blick nach beiden Seiten zeigte, daß die Kreuzungen, die zur Vorderfront des Hotels geführt hätten, meilenweit entfernt waren. Deshalb beschloß ich, den kürzesten Weg zu nehmen. Aber der Verkehr war lebhaft, und das hiesige Straßensystem war nicht für Fußgänger ausgelegt. Straßenbreite und Verkehrsaufkommen entsprachen ungefähr dem einer englischen Autobahn, aber hier gab es immerhin Verkehrsampeln, die Lücken im Autostrom entstehen ließen. Ich hielt Kelly an der Hand, als wir zum Mittelstreifen hinüberrannten und auf eine weitere Verkehrslücke warteten. Ich sah zum Himmel auf; bleigraue Wolken kündigten baldigen Regen an.

Autofahrer, die vermutlich noch nie Fußgänger gesehen hatten, hupten wütend, aber wir erreichten die andere Straßenseite, kletterten über ein niedriges Schutzgeländer und standen auf dem Gehsteig. Mehr oder weniger genau vor uns befand sich eine Lücke zwischen zwei Bürogebäuden. Wir gingen hindurch und überquerten ein schmales unbebautes Grundstück, um auf den Hotelparkplatz zu gelangen. Als wir an den dort geparkten Autos vorbeigingen, merkte ich mir die Buchstaben und Ziffern für ein Kennzeichen aus Virginia.

Das Best-Western-Hotel war ein großer rechteckiger Klotz mit drei Stockwerken in der typischen Architektur der achtziger Jahre. Es war in einem widerlichen Gelbgrün gestrichen. Als wir uns der Rezeption näherten, versuchte ich zu erkennen, ob uns jemand auffällig beobachtete. Ich wollte nicht, daß uns jemand vom Parkplatz ins Hotel kommen sah, weil es merkwürdig gewesen wäre, so weit zu Fuß zu gehen, ohne erst zu fragen, ob sie ein Zimmer für uns hatten, und anschließend unser Gepäck zu holen. Ich konnte nur hoffen, daß Kelly den Mund halten würde, solange wir in der Hotelhalle waren; ich würde uns möglichst rasch anmelden und wieder hinausgehen, als wollten wir zu Mummy, die im Auto wartete.

In der Hotelhalle ließ ich ihre Schulter los und flüsterte: »Du bleibst hier sitzen, okay? Ich besorge uns ein Zimmer.« Ich gab ihr einen Touristenprospekt, der auf einem der Sessel lag, aber sie ignorierte ihn.

In einer Ecke neben der Kaffeemaschine stand ein Großbildfernseher, in dem ein Footballspiel lief. Ich ging zu der Empfangsdame, einer Mittvierzigerin, die anscheinend glaubte, sie sei noch vierundzwanzig; sie verfolgte das Spiel und stellte sich wahrscheinlich vor, wie es wäre, einen der Quarterbacks als Freund zu haben.

»Ich bräuchte ein Familienzimmer für eine Nacht«, erklärte ich ihr lächelnd.

»Gewiß, Sir«, antwortete sie. Offenbar hatte sie die Charmeschule der Hotelkette Best Western mit Auszeichnung bestanden. »Würden Sie bitte diese Karte ausfüllen?«

Während ich zu schreiben begann, fragte ich: »Wieviel kostet ein Zimmer überhaupt?«

»Vierundsechzig Dollar plus Steuern.«

Ich zog die Augenbrauen hoch, als sei das eine Menge Geld für einen Familienvater wie mich.

»Ich weiß«, sagte sie lächelnd. »Tut mir leid, aber billiger geht’s nicht.«

Sie zog meine Kreditkarte durch das Lesegerät, und ich kritzelte inzwischen allen möglichen Scheiß auf die Anmeldekarte. Darin hatte ich jahrelange Übung: Ich wirkte völlig entspannt, während ich schrieb, obwohl ich in Wirklichkeit ungefähr vier Felder weit vorauslas. Ich füllte auch eine Karte für meinen Wagen aus, gab ein erfundenes Kennzeichen aus Virginia an und trug als Anzahl der Insassen zwei Erwachsene und ein Kind ein.

Sie gab mir die Kreditkarte zurück. »Bitte sehr, Mr. Stamford - Sie haben Zimmer zwo-zwo-vier. Wo steht Ihr Wagen?«

»Gleich dort drüben.« Ich deutete vage in Richtung Hotelparkplatz.

»Okay, wenn Sie an dem Aufgang parken, an dem zwei Cola- und Eisautomaten stehen, gehen Sie die Treppe hinauf und haben Nummer zwo-zwo-vier links vor sich. Einen recht schönen Tag noch!«

Ich hätte unser Zimmer beschreiben können, noch bevor ich die Codekarte ins Schloß steckte und die Tür öffnete - Fernseher, zwei Doppelbetten, vier Sessel und die typische Vorliebe amerikanischer Hoteldesigner für dunkle Holzfurniere.

Ich wollte, daß Kelly sich hier rasch heimisch fühlte, damit ich telefonieren konnte. Ich schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung ein und suchte die Kanäle ab, weil ich hoffte, irgendwo Nickelodeon zu finden. Schließlich fand ich eine Sendung mit Zeichentrickfilmen. »Ah, den kenne ich, der ist gut - wollen wir ihn uns miteinander ansehen?«

Kelly saß auf dem Bett und starrte mich an. Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß ihr dieser Ausflug nicht sonderlich gefiel, und ich konnte ihr das nicht verübeln.

»Kelly«, sagte ich, »ich lasse dich jetzt für ein paar Minuten allein, weil ich telefonieren muß. Ich bringe auch etwas zu trinken mit. Was willst du? Cola? Mountain Dew? Oder möchtest du etwas Süßes?«

Als sie nicht reagierte, sprach ich einfach weiter. »Ich sperre die Tür ab, und du machst keinem Menschen auf, verstanden? Ich habe den Schlüssel, mit dem ich mir selbst aufschließen kann. Du bleibst hier und siehst dir den Zeichentrickfilm an. Ich bin in spätestens fünf Minuten wieder da.«

Noch immer keine Reaktion. Ich hängte das Schild Bitte nicht stören außen über den Türknopf, überzeugte mich davon, daß ich meine Codekarte für die Zimmertür eingesteckt hatte, und ging.

Ich wollte zu den Telefonzellen, die ich an der Straße gesehen hatte, weil Kelly das Gespräch, das ich führen würde, nicht mithören sollte. Ich verstand nicht viel von Kindern, aber ich wußte noch, daß mir mit sieben Jahren nichts entgangen war, was in unserem Haus passierte. Obwohl Kevs Mobiltelefon vermutlich nicht ohne PIN funktionierte, nahm ich das Telefon aus seiner Jackentasche und schaltete es ein. Als es die PIN verlangte, versuchte ich es mit der üblichen Fabrikeinstellung 0-0-0-0 und dann mit 1-2-3-4. Nichts. Mehr Versuche hatte ich nicht, denn bei vielen Telefonen brauchte man nach drei Falscheingaben eine Super-PIN, die ich erst recht nicht hatte. Ich schaltete es aus und steckte es ein. Vielleicht konnte mir Kelly später dabei helfen.

Ich ging über den Parkplatz zur Straße zurück, wo die Telefonzellen standen. Nachdem ich mir zurechtgelegt hatte, was ich sagen würde, rief ich London an.

In verschleierter Sprache sagte ich: »Ich bin eben mit der Arbeit fertig und jetzt in Washington, um einen alten Freund zu besuchen. Ich habe vor zehn Jahren mit ihm zusammengearbeitet. Er ist hier bei einer staatlichen Dienststelle.« Ich schilderte das entstandene Problem und erläuterte, daß Kelly und ich dringend Hilfe brauchten.

Verschleierte Sprache ist kein Zaubertrick; man versucht nur anzudeuten, was sich ereignet hat, ohne einem zufälligen Lauscher deutliche Hinweise zu geben. Professionelle Abhörer sind dadurch nicht zu täuschen - dafür gibt es Codes. Einmal-Schlüssel und dergleichen mehr. Aber die Firma brauchte nur zu wissen, daß ich in der Scheiße saß, Kevs Tochter hatte und schnellstens Hilfe brauchte.

»Gut, ich gebe Ihre Mitteilung weiter. Haben Sie eine Telefonnummer?«

»Nein. Ich rufe in einer Stunde wieder an.«

»Okay. Goodbye.«

Diese Frauen verblüfften mich jedesmal wieder. Sie regten sich nie über irgend etwas auf. Es mußte Schwerstarbeit sein, an einem Samstagabend ihr Ehemann zu sein.

Ich hängte den Hörer ein und fühlte mich merklich erleichtert, als ich zur benachbarten Tankstelle hinüberschlenderte. Ich wußte, daß die Firma alles in Ordnung bringen würde. Unter Umständen mußte sie in den Staaten ein paar große Gefälligkeiten einfordern, aber wozu hat man schließlich Freunde? London würde alles menschenmögliche tun - nicht so sehr, um mich loszueisen, sondern um sicherzustellen, daß mein gegenwärtiger Auftrag geheim blieb.

Ich versuchte also, die Dinge von der positiven Seite zu sehen, obwohl das Wetter nicht dazu beitrug, meine Stimmung zu heben. Das Nieseln, bei dem ich das Hotel verlassen hatte, war jetzt in einen leichten Regen übergegangen. Mit etwas Glück würde die Firma uns bereits heute abend abholen lassen. Kelly würde zu Verwandten gebracht werden, und ich würde nach London zurückfliegen, wo mich eine weitere Unterredung ohne Kaffee und Biskuits erwartete.

In der Tankstelle kaufte ich Getränke und alle möglichen Snacks, damit wir im Zimmer bleiben konnten und uns nicht in der Öffentlichkeit zeigen mußten, und etwas Lesestoff, damit Kelly sich nicht langweilte. Dann ging ich im Regen ins Hotel zurück. Am Cola-Automaten stieg ich die Außentreppe hinauf, wandte mich nach links und klopfte an die Tür.

Während ich sie öffnete, sagte ich: »Ich habe alles mögliche mitgebracht - Süßigkeiten, Sandwiches, Chips und für dich sogar ein Goosebumps-Buch.«

Ich hielt es für besser, einen Haufen Zeug zu kaufen, das sie ablenken konnte, als zu versuchen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten; dabei wäre mir selbst unbehaglich zumute gewesen.

Kelly lag noch genauso auf dem Bett, wie ich sie verlassen hatte: Sie starrte mit glanzlosem Blick in Richtung Fernseher, ohne wirklich wahrzunehmen, was über den Bildschirm lief.

Während ich die Sachen auf das andere Bett legte, sagte ich: »Okay, was du jetzt brauchst, ist ein schönes heißes Bad. Siehst du, ich habe dir sogar ein Schaumbad der Marke Buzz Lightyear mitgebracht.«

Auf diese Weise war sie beschäftigt, und ein entspannendes Bad würde vielleicht sogar dazu beitragen, ihre gegenwärtige Starre zu lösen. Außerdem würde es bei der Übergabe an die Firma beweisen, daß ich mich um die Kleine bemüht hatte, um sie gepflegt und sauber abliefern zu können. Schließlich war sie die Tochter eines Kumpels.

Ich ließ ihr Badewasser einlaufen und rief ins Zimmer hinaus: »Komm, zieh dich schon mal aus!«

Sie gab keine Antwort. Ich ging ins Zimmer zurück, setzte mich auf die Bettkante und fing an, sie auszuziehen. Ich hatte befürchtet, sie würde sich sträuben, aber sie saß untätig da, während ich ihr Jeanshemd und Unterhemd über den Kopf zog. »So, deine Jeans kannst du selbst ausziehen.« Kelly war erst sieben, aber es wäre mir peinlich gewesen, ihr dabei zu helfen. »Komm, zieh den Reißverschluß auf.« Zuletzt mußte ich es doch selbst machen, weil sie völlig untätig auf der Bettkante hockte.

Ich trug sie ins Bad. Der gute alte Buzz hatte seine Schuldigkeit getan, und der Schaum reichte halb bis zur Decke. Ich prüfte die Wassertemperatur, bevor ich Kelly in die Wanne hob. Sie setzte sich wortlos hin.

»Seife und Shampoo sind reichlich da«, sagte ich. »Soll ich dir beim Haarewaschen helfen?«

Sie saß stocksteif in der Badewanne. Ich gab ihr die Seife, die sie jedoch nur anstarrte.

Inzwischen war es fast wieder Zeit, London anzurufen. Zumindest würde ich nicht wieder zur Telefonzelle gehen müssen; in der Badewanne war Kelly außer Hörweite. Sicherheitshalber ließ ich den Fernseher eingeschaltet.

Im Fernsehen lief eine eigenartige Serie, die ich wunderbar fand - mit vier Kerlen in Jeans, halb Menschen, halb Haie, die Ausdrücke wie »Fin-tastic!« und »Shark-time!« benutzten und anderen Leuten offenbar nicht in den Hintern, sondern in ihre Rückenflossen traten. The Street Sharks. Während der Nachspann lief, rief ich London an.

Ich hörte sofort: »Ihre PIN bitte.«

Ich gab sie an. »Augenblick«, sagte die Frauenstimme.

Sekunden später wurde die Verbindung unterbrochen.

Das war seltsam. Ich gab nochmals meine PIN an und wurde erneut abgeschnitten.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Ich versuchte mir einzureden, das sei lediglich eine technische Panne gewesen. In meinem Innersten wußte ich jedoch, was wirklich geschehen war. Das mußte Absicht gewesen sein. Oder vielleicht war die Verbindung nach Übersee gestört. Es war sinnlos, lange darüber nachzudenken. Ich mußte etwas unternehmen.

Ich ging ins Bad zurück. »Das Telefon funktioniert nicht«, erklärte ich Kelly. »Ich gehe nur kurz zur Telefonzelle hinunter. Brauchen wir noch irgend etwas aus den Läden? Oder paß auf - wir gehen später gemeinsam einkaufen.«

Ihr Blick blieb starr auf die geflieste Wand am Fußende der Wanne gerichtet.

Ich hob sie heraus und wickelte sie in ein flauschiges Badetuch. »Du bist schon ein großes Mädchen. Du kannst dich bestimmt selbst abtrocknen.« Ich nahm die neue Haarbürste aus dem Waschbeutel. »Wenn du fertig bist, bürstest du dir die Haare und siehst zu, daß du trocken und angezogen bist, bis ich zurückkomme. Vielleicht müssen wir später weg. Aber du machst niemandem die Tür auf, okay?«

Kelly gab keine Antwort. Ich zog den Telefonstecker raus und ging.