Während ich über den Parkplatz ging, hatte ich ein verdammt flaues Gefühl im Magen. Ich hatte nichts verbrochen - weshalb wurde ich also abgeschnitten? Wollte die Firma mich aufs Kreuz legen? Ich überlegte mir, was für verschiedene Möglichkeiten es in diesem Fall gab. Hielten sie etwa mich für den Mörder? Kappten sie jetzt alle Verbindungen zu mir, um anschließend alles leugnen zu können?

Ich betrat die Telefonzelle, wählte und wurde wie zuvor getrennt. Ich hängte langsam den Hörer ein. Dann setzte ich mich auf die zur Hoteleinfahrt gehörende niedrige Mauer, denn ich mußte jetzt angestrengt nachdenken. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, daß mir nur noch eine Möglichkeit blieb: Ich mußte die Botschaft anrufen. Damit verstieß ich gegen sämtliche Vorschriften, so daß ich mir nicht einmal die Mühe zu machen brauchte, mich an die üblichen Verfahrensregeln zu halten. Ich wählte die 411, ließ mir von der Auskunft die Nummer geben und tippte sie ein.

»Britische Botschaft, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte den VOSO sprechen.«

»Wie bitte?«

»VOSO -Verbindungsoffizier für Special Operations.«

»Tut mir leid, hier gibt es keine Nebenstelle mit dieser Bezeichnung.«

»Sagen Sie Ihrem Militärattache, daß jemand anruft, der den VOSO sprechen möchte. Die Sache ist wirklich

wichtig. Ich muß ihn sofort sprechen.«

»Augenblick, bitte.« Ein Klicken, dann war ein Streichquartett zu hören. Ich hörte zu und wartete, während meine Telefonkarte sich aufbrauchte.

Dann meldete sich eine andere Frauenstimme. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte den VOSO sprechen.«

»Tut mir leid, aber diese Funktion gibt es bei uns nicht.«

»Dann verbinden Sie mich mit dem MA.«

»Der Militärattache ist leider nicht im Haus. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein? Möchten Sie mir Ihren Namen und eine Telefonnummer geben, unter der Sie erreichbar sind?«

»Hören Sie, ich habe folgende Mitteilung für Sie«, sagte ich. »Der VOSO oder der MA sollen sie weitergeben. Ich habe mehrmals versucht, mit meiner PIN anzurufen. Meine PIN lautet zwo-vier-zwo-zwo, und am anderen Ende wird jedesmal aufgelegt. Ich sitze wirklich in der Klemme und brauche dringend Hilfe. Bestellen Sie dem VOSO oder dem MA, daß ich auspacken werde, was ich in meinem Sicherheitspaket habe, wenn sie nicht sofort mit London Verbindung aufnehmen. Ich rufe London in drei Stunden noch mal an.«

»Entschuldigung, könnten Sie das bitte wiederholen?« fragte die Frau.

»Nein - Sie haben diesen Anruf aufgezeichnet, und ich weiß, daß meine Mitteilung verstanden werden wird. Sie brauchen Sie nur an den VOSO oder den MA weiterzuleiten. Wer von den beiden sie bekommt, ist mir scheißegal. Sagen Sie ihnen, daß ich London in drei Stunden anrufen und meine PIN nennen werde.«

Ich hängte den Hörer ein. Meine Nachricht würde den Empfänger erreichen. Wahrscheinlich hatten der VOSO oder der MA ohnehin mitgehört.

Manche Unternehmungen, an denen ich beteiligt gewesen war, waren so schmutzig, daß niemand wollen würde, daß sie aufgedeckt wurden. Andererseits bedeutete das natürlich auch, daß jemand wie ich entbehrlich war, falls etwas einmal nicht so gut klappte. Mein Prinzip war immer gewesen: Wer als

Geheimdienstmann an zweifelhaften Unternehmen beteiligt war und nicht für den Tag vorsorgte, an dem sie beschlossen, einen abzuschießen, hatte nichts anderes verdient. Die Zentrale wußte, daß jeder K ein Sicherheitspaket hatte, aber alle leugneten diese Tatsache - die Betreffenden ebenso wie der SIS. Meiner Überzeugung nach wendete der SIS für seine Suche nach unseren Unterlagen, mit denen er erpreßt werden konnte, ebensoviel Mühe auf wie für seine sonstigen Unternehmen.

Mit meinem Anruf hatte ich eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen. Diese Karte konnte ich nur einmal ausspielen. Mein zukünftiges Leben würde nie wieder unbeschwert sein. Ich war meinen Job bei der Firma los und würde den Rest meines Lebens vermutlich in einem abgelegenen Bergdorf in Sri Lanka verbringen - ständig in Angst vor bezahlten Killern.

Was war, wenn die Firma beschloß, den Amerikanern gegenüber einzugestehen, daß es ein Unternehmen gegeben hatte, das sie zu erwähnen vergessen hatte? Würde sie sich erst auf die Finger klopfen lassen und danach behaupten, dieser Mann habe Kev Brown umgebracht? Nein, so funktionierte die Sache nicht. Die Firma konnte nicht wissen, ob mein Sicherheitspaket ein Bluff war oder nicht und wieviel Schaden es anrichten konnte, falls es den Medien zugespielt wurde. Sie würde es als reale Gefahr einschätzen und mir helfen müssen. Ihr blieb gar keine andere Wahl. Die Firma würde uns hier rausholen; ich würde nach England zurückgeflogen werden und mich dort unauffällig verhalten, bis Gras über die Sache gewachsen war.

Als ich zurückkam, hatte Kelly sich nicht angezogen, sondern lag in das Badetuch gewickelt auf dem Bett. Der Zeichentrickfilm im Fernsehen war durch eine Nachrichtensendung mit einer nüchtern sprechenden Reporterin abgelöst worden, auf die ich jedoch im Augenblick nicht achtete. Mich interessierte mehr, was ich tun mußte, um dieses kleine Mädchen zu normalen Reaktionen zu veranlassen. Die Zahl meiner Freunde schien beängstigend rasch abzunehmen, und obwohl sie erst sieben war, wollte ich das Gefühl haben, wenigstens Kelly stehe auf meiner Seite.

»Wir müssen noch ein bis zwei Stunden hier herumsitzen«, erklärte ich ihr, »bis jemand uns .«

Erst dann bekam ich mit, was ich gerade hörte. Die nüchterne Frauenstimme sagte: ». brutale Morde und möglicherweise eine Entführung . « Ich konzentrierte mich schnellstens auf den Fernseher.

Die schwarze Reporterin, Mitte Dreißig, blickte vor Kevs Haus, in dessen Einfahrt ich Marshas Daihatsu stehen sah, in die Kamera. Um die zwei Krankenwagen herum, die mit eingeschalteten Blinklichtern vor dem Haus parkten, wimmelte es von Polizeibeamten.

Ich griff hastig nach der Fernbedienung und drückte auf den Ausschaltknopf. »Kelly, du böses kleines Mädchen«, sagte ich grinsend, »du hast dir den Hals nicht gewaschen. Du gehst sofort ins Bad und wäschst ihn dir!«

Ich stieß sie fast mit Gewalt ins Bad. »So, du bleibst drin, bis ich dir sage, daß du rauskommen kannst!«

Ich schaltete den Fernseher wieder ein und ließ den Ton ganz leise.

Die Reporterin sagte: »... und die Nachbarn haben einen Weißen, Ende Dreißig, beobachtet, der als etwa einsachtzig groß mit mittlerer Statur und kurzem, braunem Haar beschrieben wird. Er soll heute gegen vierzehn Uhr fünfundvierzig mit einem in Virginia zugelassenen weißen Dodge vorgefahren sein. Mein Interviewpartner ist jetzt Lieutenant Davies vom Fairfax County Police Department .«

Neben ihr stand nun ein Kriminalbeamter mit Stirnglatze. »Wir können bestätigen, daß ein Mann, auf den diese Beschreibung paßt, in der Umgebung des Hauses gesehen worden ist. Wir möchten weitere Zeugen bitten, sich zu melden. Vor allem interessiert uns der gegenwärtige Aufenthaltsort der siebenjährigen Kelly, der älteren Tochter des Ehepaars Brown.«

Auf dem Bildschirm erschien ein Photo, das sie mit

Aida im Garten stehend zeigte, während eine Stimme aus dem Off ihre Personenbeschreibung verlas. Dann wechselte die Szene ins Studio, in dem ein Moderator mit einem Gast darüber sprach, daß die Familie anscheinend das Opfer eines Racheakts im Drogenmilieu geworden sei. Dabei wurde ein Familienphoto gezeigt. »Kevin Brown war bei der Drug Enforcement Administration tätig ...« Der Moderator erweiterte das ursprüngliche Thema zu einer Diskussion über die Drogenproblematik im Großraum Washington.

Aus dem Bad drang kein Geräusch plätschernden Wassers. Kelly konnte jeden Augenblick wieder herauskommen. Ich suchte einen Kanal nach dem anderen ab. Auf keinem wurde über den Mordfall Brown berichtet. Ich schaltete wieder aufs Kinderfernsehen um und ging ins Bad.

Ich hatte kein Wasserplätschern gehört, weil Kelly nicht in der Wanne saß. Statt dessen hockte sie in derselben fetalen Haltung wie in ihrem Versteck im Elternhaus unter dem Waschbecken und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, um die Schreckensnachricht, die sie vorhin im Fernsehen gehört hatte, abzublocken.

Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet. Das Dumme war nur, daß ich mich nicht darauf verstand. Deshalb gab ich lieber vor, ihren Zustand gar nicht zu bemerken. »Hallo, Kelly«, sagte ich lächelnd, »was machst du da unten?«

Sie hielt die Augen so fest zusammengekniffen, daß ihr ganzes Gesicht Falten bildete. Ich nahm sie auf die

Arme und trug sie ins Zimmer zurück. »Hey, du siehst müde aus. Möchtest du fernsehen oder lieber ein bißchen schlafen?« Das klang ziemlich bescheuert, aber ich wußte einfach nicht, was ich sagen sollte. Am besten tat ich so, als sei nichts passiert.

Ich wickelte Kelly aus dem Badetuch, um sie anziehen zu können. Unterdessen war sie durch die eigene Körperwärme trocken geworden. »Los, komm schon, wir müssen dich anziehen und dir die Haare kämmen.« Ich suchte förmlich nach Worten.

Sie saß einfach nur da. Aber als ich anfing, ihr das Unterhemd anzuziehen, fragte sie ruhig: »Mommy und Daddy sind tot, nicht wahr?«

Die Aufgabe, ihre Arme in die Ärmellöcher des Unterhemds zu stecken, wurde plötzlich sehr interessant. »Wie kommst du darauf? Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich nur eine Zeitlang um dich kümmern soll.«

»Ich werde Mommy und Daddy also wiedersehen?«

Ich fand nicht die richtigen Worte und hatte nicht den Mut, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ja, natürlich siehst du sie wieder. Sie haben nur ganz schnell verreisen müssen. Ich habe dir doch gesagt, wie’s gewesen ist: Es ist zu spät gewesen, dich abzuholen, aber sie haben mich gebeten, mich um dich zu kümmern. Sobald sie zurückkommen, bringe ich dich wieder zu Mommy und Daddy und Aida. Ich habe nicht gewußt, daß das so lange dauern würde; ich habe geglaubt, sie würden nur ein paar Stunden wegbleiben, aber sie kommen bald zurück.«

Nun entstand eine kurze Pause, während Kelly sich die Sache durch den Kopf gehen ließ. Ich holte ihre

Unterhose, steckte ihre Füße in die Beinlöcher und zog sie hoch.

»Warum haben sie mich nicht mitnehmen wollen, Nick?« fragte sie traurig.

Ich trat an den Sessel und griff nach ihren Jeans und ihrer Bluse. Kelly sollte meinen Blick nicht sehen. »Es liegt nicht daran, daß sie dich nicht mitnehmen wollten, aber da ist ein Fehler passiert, deshalb haben sie mich gebeten, mich um dich zu kümmern.«

»Genau wie in Kevin allein zu Haus!«

Ich drehte mich um und sah sie lächeln. Das hätte mir auch einfallen können. »Yeah, richtig, genau wie in Kevin allein zu Haus. Du bist versehentlich zurückgelassen worden.« Ich erinnerte mich daran, den Film auf einem Flug gesehen zu haben. Scheißfilm, aber manchmal auch ganz witzig. Ich beschäftigte mich wieder mit ihren Jeans.

»Wann sehe ich sie also wieder?«

Ich konnte nicht den ganzen Tag damit verbringen, zwei Kleidungsstücke zu holen. Ich ging mit den Sachen in der Hand zu ihr zurück.

»Nicht so bald, fürchte ich, aber als ich vorhin mit ihnen gesprochen habe, haben sie mir aufgetragen, dir zu sagen, daß sie dich lieben, daß du ihnen sehr fehlst und daß du ein braves Mädchen sein und alles tun sollst, was ich dir sage.«

Kelly lächelte strahlend. Sie glaubte mir anscheinend jedes Wort, und ich wünschte mir, ich hätte den Mut, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Kelly, du mußt tun, was ich dir sage, ist das klar?«

fragte ich.

»Ja, natürlich.«

Sie nickte eifrig, und ich sah ein kleines Mädchen, das Zuneigung brauchte.

Ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen. »Also, denk daran, daß ich jetzt eine Weile für dich verantwortlich bin.« Ich sah ihr in die Augen. »Los, komm, wir sehen uns die Power Rangers an!«

Während wir beide mit einer Dose Mountain Dew vor dem Fernseher saßen, ging mir die Nachrichtensendung nicht mehr aus dem Kopf. Kellys Photo war im Fernsehen gezeigt worden. Die Empfangsdame, die Textilverkäuferin, alle möglichen Leute konnten sich an sie erinnern. Inzwischen hatte die Botschaft bestimmt längst mit London telefoniert; was passiert war, wußte jeder, der die Fernsehnachrichten gesehen hatte. Folglich brauchte ich nicht drei Stunden zu warten, bevor ich London erneut anrief.

Ich würde wieder aus der Telefonzelle anrufen müssen, weil Kelly dieses Gespräch nicht mitbekommen sollte. Ich zog Kevs Jacke an, steckte unauffällig die Fernbedienung ein, erklärte Kelly, wohin ich wollte, und ging.

Als ich die Außentreppe beim Cola-Automaten erreichte, sah ich nach unten. Vor dem Hoteleingang standen zwei Limousinen. Beide waren unbesetzt, aber die Autotüren standen noch offen, als seien die Insassen in größter Eile ausgestiegen.

Ich sah genauer hin. Außer den üblichen Radioantennen hatten beide Wagen je eine lange

Funkantenne oberhalb der Heckscheibe montiert. Einer war ein weißer Ford Taunus, der andere ein blauer Caprice.

Mir blieb keine Zeit für lange Überlegungen; ich konnte nur auf dem Absatz kehrtmachen und wie ein Besessener zur Feuertreppe auf der Rückseite des Gebäudes rennen.

8

Ich hatte keine Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, wie sie uns gefunden hatten. Während ich den Gang entlanghastete, überlegte ich mir, welche Möglichkeiten sich mir boten. Die einfachste Lösung wäre natürlich gewesen, Kelly im Zimmer zu lassen, damit sie abgeholt wurde. Sie hing mir wie ein Mühlstein am Hals. Ohne sie hatte ich eine gute Chance, den Verfolgern zu entkommen.

Warum blieb ich also stehen? Das wußte ich selbst nicht so recht, aber mein Instinkt sagte mir, sie müsse mitkommen.

Ich rannte zurück und stürmte ins Zimmer. »Kelly, wir müssen weg! Los, los, aufstehen!«

Sie war eben dabei gewesen einzunicken. Auf ihrem Gesicht erschien ein erschrockener Ausdruck, weil mein Tonfall sich so verändert hatte.

»Komm, wir müssen weg!«

Ich griff nach ihrer Jacke, nahm Kelly auf den Arm und hastete mit ihr zur Tür. Unterwegs hob ich ihre

Schuhe auf und stopfte sie in meine Tasche. Kelly stieß einen halb ängstlichen, halb protestierenden Laut aus.

»Gut festhalten!« forderte ich sie auf. Ihre Beine umklammerten meine Taille. Ich trat auf den Gang hinaus. Als ich die Tür hinter mir zuzog, wurde sie automatisch verriegelt. Wer in unser Zimmer eindringen wollte, würde sie aufbrechen müssen. Ein rascher Blick den Flur entlang zeigte mir, daß noch niemand heraufgekommen war. Ich machte mir nicht die Mühe, von der Treppe aus nach unten zu sehen. Falls die Verfolger mir auf den Fersen waren, würde ich das früh genug merken.

Ich wandte mich nach links, rannte bis zum Ende des Korridors, bog wieder links ab und hatte den Notausgang vor mir. Ich drückte den Griff herunter und stieß die Tür auf. Vor uns an der Rückseite des Hotels befand sich ein offenes Treppenhaus aus Stahlbeton, von dem aus in etwa einer Viertelmeile Entfernung das Einkaufszentrum zu sehen war.

Kelly begann zu weinen. Ich hatte keine Zeit, ihr gut zuzureden. Statt dessen griff ich mit einer Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu meinem hoch. »Eben sind Leute gekommen, die dich mir wegnehmen wollen, verstehst du?« Ich wußte, daß sie das ängstigen und wahrscheinlich noch mehr verwirren würde, aber das war mir im Augenblick gleichgültig. »Ich versuche bloß, dich zu retten. Halt die Klappe und tu, was ich dir sage.«

Meine Hand umfaßte ihr Kinn noch fester und schüttelte ihren Kopf. »Hast du verstanden, Kelly? Halt die Klappe und laß ja nicht los.«

Ich preßte ihren Kopf gegen meine Schulter, stürmte die Betontreppe hinunter und hielt nach einem Fluchtweg Ausschau.

Vor uns lagen ein etwa vierzig Meter breiter Streifen unbebautes Gelände und ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun, der alt und rostig aussah. Jenseits des Zauns standen die ebenerdigen Bürogebäude, durch die das Hotel von der Schnellstraße getrennt war. Diese teils aus Klinker, teils mit verputztem Mauerwerk erbauten Gebäude waren in den vergangenen drei Jahrzehnten in allen möglichen Stilen errichtet worden. Hinter ihnen hatten sich um die Müllcontainer herum alle möglichen Abfälle angesammelt.

Vor uns führte ein Trampelpfad durch das unbebaute Gelände auf eine Stelle zu, an der ein ganzes Feld des Maschendrahtzauns eingefallen oder heruntergerissen worden war. Vielleicht benutzten Hotel- und Büroangestellte diesen Fußweg als Abkürzung.

Kelly wie bisher zu tragen, war ungefähr so, als trüge man einen Bergen-Rucksack vor dem Körper. Das war schlecht, falls ich schnell laufen mußte, deshalb schob ich sie nach hinten auf meinen Rücken und faltete meine Hände unter ihrem Gesäß, so daß ich sie jetzt huckepack trug. Am Fuß der Treppe blieb ich stehen, um zu horchen. Hinter uns waren noch keine Rufe oder Geräusche zu hören, die erkennen ließen, daß unsere Zimmertür aufgebrochen wurde. Logischerweise verspürte ich den Drang, zu der Lücke im Zaun hinüberzulaufen, aber es kam entscheidend darauf an, die Sache überlegt anzugehen.

Ohne Kelly, die sich auf meinem Rücken

festklammerte, lange zu erklären, was ich vorhatte, ließ ich mich auf alle viere nieder und sah in Bodennähe vorsichtig um die nächste Ecke des Gebäudes. Sobald ich wußte, was sich dort ereignete, würde ich unter Umständen eine andere Fluchtroute wählen.

Die beiden Autos standen jetzt am Fuß der Außentreppe neben dem Cola-Automaten. Die

Scheißkerle waren offenbar oben. Ich wußte nur nicht, wie viele es waren.

Bei näherer Überlegung wurde mir klar, daß die anderen von oben aus nur einen kleinen Teil des unbebauten Geländes überblicken konnten. Also rannte ich los. Der Regen war leicht, aber beständig gewesen, und der Boden war ziemlich schlammig. Zum Glück lag hier außer alten Zeitungen, leeren Getränkedosen und einzelnen Hamburger-Schachteln nicht allzuviel Müll herum. Ich hielt weiter auf die Lücke in dem alten Maschendrahtzaun zu.

Kelly behinderte mich. Ich machte schnelle

Trippelschritte, ohne meine Knie allzusehr zu beugen - nur genug, um ihr Gewicht abzufedern -, und lief mit nach vorn geneigtem Oberkörper, als hätte ich einen Rucksack zu schleppen. Sie stieß im Gleichtakt mit meinen Laufbewegungen unwillkürlich Grunzlaute aus, weil ihr durch die Stöße die Luft aus der Lunge getrieben wurde.

Wir erreichten den heruntergerissenen Abschnitt des Maschendrahtzauns, der im Schlamm vergraben lag. Ich hörte erst Autoreifen quietschen, danach die Geräusche von Stoßdämpfern und einer sich verbiegenden Karosserie. Aber ich sah mich nicht einmal um; ich stapfte energischer als bisher weiter und verlängerte meine Schritte.

Sobald wir die Lücke passiert hatten, lagen die Rückseiten der Bürogebäude vor uns. Da ich den schmalen Durchgang, den wir schon einmal benutzt hatten, nicht erkennen konnte, wandte ich mich auf gut Glück nach links. Irgendwo mußte es einen weiteren Durchgang zur Schnellstraße geben.

Auf Asphalt kam ich schneller voran, aber jetzt begann Kelly abzurutschen. »Festhalten!« rief ich und spürte, wie ihre Arme sich verkrampften. »Fester, Kelly, fester!«

Aber das funktionierte nicht. Ich packte mit meiner linken Hand ihre Handgelenke und zog sie vor meinem Körper nach unten. So lag sie schön leicht auf meinem Rücken, und ich konnte die rechte Hand dazu benutzen, um mich bei jedem Schritt nach vorn zu pumpen. Mir kam es im Augenblick darauf an, schnell zu sein und einen guten Vorsprung herauszuholen. Dazu brauchte ich dringend einen Durchgang zur nächsten Straße.

Merkwürdig ist immer das Verhalten nicht speziell ausgebildeter Menschen, die verfolgt werden. Sie versuchen unbewußt, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und ihre Verfolger zu bringen, und glauben, das sei in ländlicher oder städtischer Umgebung eine gerade Linie. Tatsächlich kommt es jedoch darauf an, wie ein verfolgter Hase möglichst viele Haken zu schlagen - erst recht in einer Groß- oder Kleinstadt. Ich würde den Hasen spielen. Sobald ich das Ende eines

Durchgangs erreichte, würde ich einen Haken nach links oder rechts schlagen - ich wußte noch nicht einmal, wohin - und möglichst schnell weiterrennen, bis sich andere Möglichkeiten boten.

Ich fand den Durchgang. Nicht lange darüber nachdenken, was die richtige Entscheidung wäre, sondern einfach eine treffen. Ungefähr hundert bis hundertfünfzig Meter hinter mir hörte ich lautes Rufen. Aber es galt nicht mir. Dafür waren meine Verfolger zu erfahren. Sie wußten, daß Geschrei mich nicht aufhalten würde. Ich hörte ihre Autos wenden. Sie würden versuchen mich auf der Straße abzufangen. Ich rannte weiter.

Mit einer Siebenjährigen auf dem Rücken geriet ich langsam außer Atem. Mein Mund war trocken, und mir brach der Schweiß aus. Ihr Gesicht schlug immer wieder gegen meinen Hinterkopf, und ich hielt sie so fest, daß ihr Kinn sich in meinen Nacken grub; das begann ihr weh zu tun, und sie fing an zu weinen.

»Halt, halt, Nick!«

Ich hörte nicht auf sie. Ich erreichte das Ende des Durchgangs und stürmte in eine völlig andere Welt hinaus.

Vor mir hatte ich die schmale Zufahrtsstraße, die zu der Bürogebäuden führte, und dahinter fiel das mit Gras bewachsene Bankett zur Schnellstraße hin ab. Jenseits dieser mehrspurigen Straße lagen die Parkplätze und das Einkaufszentrum Der Verkehrslärm übertönte Kellys Weinen. Obwohl die Fahrbahn naß war, herrschte in beiden Richtungen reger, schneller Verkehr. Die meisten Fahrer fuhren mit Abblendlicht und ließen ihre

Scheibenwischer im Intervallbetrieb laufen.

Wir mußten ein merkwürdiges Bild abgeben: ein Mann, der ein Kind ohne Schuhe auf dem Rücken trug und mit ihm die grasbewachsene Böschung hinunterkeuchte, ohne darauf zu achten, daß die Kleine weinte, weil ihr Kopf bei jedem Schritt an seinen Hinterkopf schlug. Ich kletterte über das niedrige Geländer zur Straße und stürzte mich blindlings in den Washingtoner Verkehr. Autofahrer hupten wild, während sie scharf bremsten, um uns nicht zu überfahren. Ich hatte den Eindruck mein neuer Name sei Scheißkerl, Idiot oder Volltrottel. Aber ich achtete nicht auf die Fahrer, die uns durch scharfes Bremsen das Leben retteten; ich rannte einfach nur weiter.

Kelly kreischte entsetzt. Der Verkehr erschreckte sie mindestens so sehr wie mein Gerenne. Sie war in ihrem jungen Leben vermutlich immer wieder davor gewarnt worden, am Straßenrand zu spielen, und jetzt befand sie sich auf dem Rücken eines Erwachsenen mitten auf einer Schnellstraße zwischen hupenden Autos und Lastwagen.

Als ich auf der anderen Straßenseite übers Geländer kletterte, bekam ich allmählich weiche Knie. Kelly behindert mich, das stand fest, und ich hatte noch ziemlich weit zu laufen, bevor ich in Sicherheit war. Ich lief hakenschlagend über den Parkplatz und benutzte hohe Fahrzeuge wie Pick-ups und Vans, um dahinter Deckung zu finden.

In der äußersten rechten Ecke des Einkaufszentrums lag der riesige Computerladen CompUSA, in den ich wollte. Große Eckgeschäfte haben meistens mehr als einen Ausgang. Ich rechnete damit, daß es auf der anderen Seite und vielleicht im rückwärtigen Teil mindestens zwei weitere Ausgänge gab, so daß die Verfolger Schwierigkeiten haben würden, selbst wenn sie mich hineinlaufen sahen.

Ich wußte, daß dieser große Laden sie vor Probleme stellen würde, weil ich in Nordirland ähnliche Aufgaben zu bewältigen gehabt hatte. Verschwand ein Akteur in einem Einkaufszentrum, schickten wir einen Mann mit ihm hinein und beeilten uns, alle Ausgänge zu sperren. Das war schwierig genug, wenn wir die Zielperson kannten, und nahezu unmöglich, wenn sie erst aufgespürt und identifiziert werden mußte. Wer sich einer Überwachung entziehen wollte, konnte mit einem Aufzug in den ersten Stock fahren, die Treppe hinuntergehen, einen Ausgang benutzen, durch einen anderen ins Gebäude zurückkommen, mit dem Aufzug in den zweiten Stock fahren, eine Etage hinunterfahren und auf den Parkplatz hinausgehen, um zu verschwinden. Waren diese Jungs auf Draht, würden sie die Ausgänge sperren, sobald sie sahen, wohin ich verschwunden war. Also mußte ich verdammt schnell sein.

Wir benutzten die breite automatische Tür. Drinnen erwartete uns ein Einkaufsparadies für Computerfreaks mit endlos langen Reihen voller Hard- und Software. Ich hastete - noch immer mit Kelly auf dem Rücken - an den Kassen vorbei, ohne mir einen Einkaufswagen zu nehmen. Der Laden war gerammelt voll. Ich stand in Schweiß gebadet und nach Atem ringend da, während ich mich zu orientieren versuchte, und Kelly weinte herzzerreißend. Einige Kunden starrten uns an und tuschelten miteinander.

»Ich will jetzt runter«, schluchzte Kelly.

»Nein, wir müssen hier wieder raus.«

Ich sah mich kurz um und beobachtete zwei Männer, die über den Parkplatz liefen. In ihren Anzügen sahen sie wie Kriminalbeamte aus, und sie rannten zielsicher auf den Computerladen zu. Bestimmt waren sie hierher unterwegs, um die Ausgänge abzuriegeln. Höchste Zeit, ein paar Haken zu schlagen, um die Verfolger zu verwirren.

Ich hastete zwischen Regalen mit Computerspielen auf CD-ROM weiter, bog nach rechts ab und suchte entlang der Außenmauer einen Ausgang. Scheiße, dort gab es keinen. Der ganze riesige Laden schien nur einen einzigen Ein- und Ausgang zu haben. Den durfte ich nicht wieder benutzen - aber wenn ich keinen anderen Ausgang fand, war ich dazu verdammt, für den Rest des Tages hier im Kreis herumzuirren.

Eine junge Verkäuferin starrte mich an, wandte sich ab und trabte durch den Gang davon - offenbar auf der Suche nach dem Geschäftsführer oder einem Wachmann. Wenige Sekunden später kamen zwei Männer in Hemdsärmeln und mit Namensschildern an den Brusttaschen auf uns zu. »Entschuldigung? Können wir Ihnen behilflich sein?« Das klang alles sehr höflich, aber in Wirklichkeit meinten sie: »Was, zum Teufel, haben Sie in unserem Laden zu suchen?«

Aber ich ließ mich auf keine Diskussion ein, sondern rannte zur Rückseite des Geschäfts weiter und suchte dort nach Ladebuchten, Notausgängen, offenen Fenstern oder dergleichen. Endlich entdeckte ich das Zeichen, das ich zu sehen gehofft hatte: Notausgang. Ich stürmte darauf zu, stieß die Tür auf und hörte die Alarmanlage schrillen.

Wir waren im Freien auf einer Lieferrampe, an der Lastwagen entladen werden konnten.

Ich lief vier bis fünf Metallstufen hinunter und erreichte den Asphalt. Während ich nach links weiterrannte, forderte ich Kelly auf, sich gut festzuhalten.

Hier auf der menschenleeren Rückseite des Einkaufszentrums gab es nur Ladebuchten, Abfallcontainer, Chemietoiletten und einen anscheinend unbenutzten Bürocontainer. Dazwischen türmten sich Berge von Pappkartons und prallvolle Müllsäcke, die darauf warteten, abgeholt zu werden. Jenseits dieser asphaltierten Fläche umgab ein schätzungsweise fünf Meter hoher Maschendrahtzaun das gesamte Areal. Dahinter kam unbebautes Gelände mit Bäumen und Unterholz. Und noch weiter dahinter lagen vermutlich wieder Parkplätze und noch mehr Geschäfte.

Ich kam mir wie eine in der Falle sitzende Ratte vor. Meine einzigen Fluchtwege waren jetzt die Zufahrtsstraßen auf beiden Seiten der langen Rückfront des Einkaufszentrums.

9

Mit Kelly auf dem Rücken konnte ich nicht über den Zaun klettern, und wenn ich versuchte sie hinüberzuwerfen, würde sie sich die Beine brechen. Ich lief nach links weiter und trabte an der Rückseite der Geschäfte entlang, um die Zufahrtsstraße zu erreichen. Aber ich wußte, daß das zwecklos war. Die anderen hatten zuviel Zeit gehabt; die Straße würde abgeriegelt sein.

Ich mußte rasch eine Entscheidung treffen. Ich lief zu einem Müllcontainer, um den herum Pappkartons und Müllsäcke aufgestapelt waren.

Ich ließ Kelly von meinem Rücken gleiten, setzte sie an den Container gelehnt ab und fing an, sie mit Pappkartons zuzudecken.

Sie sah zu mir auf und begann wieder zu schluchzen.

»Disneyland, Kelly!« sagte ich. »Disneyland!«

Sie starrte mich weiter an, während ihr dicke Tränen übers Gesicht liefen. Ich warf noch einige Kartons auf den Stapel, bis sie ganz verschwunden war.

»Ich komme zurück, Ehrenwort!«

Während ich weiterlief, begutachtete ich den Bürocontainer, der unmittelbar am Zaun stand. Der Riesenkasten war beinahe so hoch wie ein Lastwagen. Ohne die fünfzig Pfund eines kleinen Mädchens auf dem Rücken schien ich zu schweben, als ich darauf zurannte. Endlich wieder unbehindert! Mir kam es vor, als hätte mir jemand Kette und Fußkugel eines Sträflings abgenommen.

Ich spurtete wie ein Verrückter weiter und nutzte dabei jede Deckung aus, die Abfallberge und Müllcontainer mir boten. Plötzlich sah ich aus einer der Ladebuchten ein Autoheck ragen. Dieser mindestens zehn Jahre alte

Wagen gehörte nicht zu den Fahrzeugen, die mich verfolgt hatten. Ich wollte nachsehen, ob der Zündschlüssel steckte; hatte ich Pech, würde ich quer über die freie Fläche zu dem Bürocontainer hinüberspurten müssen.

Um zu der Ladebucht zu gelangen, mußte ich an einem geparkten Lastwagen vorbeilaufen. Als ich ihn mit voller Geschwindigkeit passierte, kam mir ein Mann entgegen, der kaum langsamer war als ich. Wir prallten mit den Köpfen zusammen und gingen beide zu Boden.

»Scheiße!« Ich starrte den Kerl benommen an. Er trug einen Anzug. Da ich nichts riskieren wollte, rappelte ich mich auf, stürmte mit gesenktem Kopf auf ihn zu und drängte ihn gegen den geparkten Wagen. Der Kerl versuchte seinerseits, mich in den Schwitzkasten zu nehmen.

Während ich ihn mit dem Kopf rammte, spürte ich, wie massiv sein Oberkörper sich anfühlte. Der Scheißkerl trug eine schußsichere Weste.

Ich stieß ihn gegen den Wagen, trat einen Schritt zurück, zog meine Pistole und schaltete durch Daumendruck das Laservisier ein.

Dann sank ich benommen auf die Knie. Ich sah bunte Sterne, und vor meinen Augen drehte sich alles. Dem Unbekannten ging es vermutlich nicht besser. Er starrte mich benommen an, während er versuchte, einen Entschluß zu fassen. Ich richtete das Laservisier auf sein Gesicht.

»Tun Sie’s nicht«, sagte ich warnend. »Werfen Sie Ihr Leben nicht für diese Sache weg; sie ist es nicht wert.

Hände hoch - sofort!«

Als er seine Hände hob, sah ich, daß er einen Ehering trug. »Denken Sie an Ihre Familie. Es lohnt sich nicht, wegen dieser Sache zu sterben. Erstens irren Sie sich: Ich bin’s nicht gewesen. Zweitens lege ich Sie um, wenn Sie Dummheiten machen. Los, Hände auf den Kopf!«

Allmählich konnte ich wieder klarer denken. Was, zum Teufel, sollte ich mit ihm anfangen? Ihre Autos konnten jeden Augenblick auftauchen.

»Auf den Knien bleiben«, wies ich ihn an. »Nach rechts drehen. Hinter den Wagen rutschen.«

Ich rappelte mich auf und torkelte hinter ihm her. Meine Augen brannten noch immer, als habe er Tränengas gesprüht.

Wir befanden uns jetzt zwischen Auto und Ladebucht. Er wußte, was Sache war, und dachte hoffentlich an Frau und Kinder. Ich nahm meine Pistole in die linke Hand, trat einen Schritt auf ihn zu, rammte ihm die Pistolenmündung unter eine Achsel und bohrte sie in den Stoff seines Jacketts. Ich spürte, wie sein Körper sich verkrampfte, und hörte ein halblautes Grunzen.

»Passen Sie auf, ich erkläre Ihnen jetzt ein paar Tatsachen«, sagte ich. »Diese Waffe hängt in Ihrem Jackett fest. Ich habe den Finger am Abzug, und die Waffe ist entsichert. Machen Sie irgendwelchen Scheiß, sind Sie tot. Kapiert?«

Er reagierte nicht.

»Kommen Sie, das ist doch nicht schwierig«, sagte ich. »Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Legen Sie Ihre Hände auf den Kopf.«

Ich nahm ihm mit der rechten Hand die Waffe ab. Meine hatte nur ein Magazin. Er trug eine Sig Kaliber 45 in einem flachen Halfter über seiner rechten Niere und hatte drei Magazine am Gürtel. Die Sig ist eine offizielle FBI-Dienstwaffe.

Er war Mitte Dreißig und hätte jederzeit bei Baywatch mitspielen können: blond, sonnengebräunt,

durchtrainiert, gutaussehend, energisches Kinn. Ich bildete mir ein, deutlich Babyöl zu riechen. Dieser Junge wollte seine Haut geschmeidig halten. Oder vielleicht hatte er ein Baby. Aber wen kümmerte das? Wenn er sich bewegte, war er tot.

Hinter seinem rechten Ohr führte eine weiße Litze zu einem Ohrhörer hinauf.

»Wer sind Sie?« fragte ich ihn, obwohl es mir egal sein konnte, ob er FBI-Agent oder Kriminalbeamter war.

Keine Antwort.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie glauben, aber ich habe die Familie Brown nicht ermordet. Ich habe Sie nicht ermordet. Haben Sie verstanden?«

Nichts. Ich wußte, daß ich’s nicht schaffen würde, den Mann von Baywatch zum Reden zu bringen. Außerdem durfte ich meine Zeit nicht mit ihm vergeuden.

Ich nahm ihm sein Funkgerät und die Scheine aus der Geldbörse ab. Ohne die Pistole aus seiner Achsel zu nehmen, flüsterte ich laut über meine Schulter hinweg: »Bleib, wo du bist, Kelly! Keine Angst, ich komme gleich!« Ich packte ihn fester. »Kelly, wir verschwinden, sobald ich mit ihm fertig bin.« Wenn sie glaubten, Kelly sei nach wie vor bei mir, würden sie vielleicht andere Gebiete absuchen.

Ich wandte mich wieder an ihn. »Ich nehme jetzt die Pistole weg«, sagte ich. »Machen Sie keinen Scheiß; das ist diese Sache nicht wert.« Ich zog allmählich die Waffe zurück, blieb aber ständig schußbereit. Dann stand ich hinter ihm und hielt meine Pistole auf seinen Kopf gerichtet. Das wußte er.

»Sie wissen, was ich als nächstes tun muß?« fragte ich.

Ein leichtes, schicksalsergebenes Nicken.

Ich zog ein Winkeleisen von einem Stapel ausgemusterter Regalteile, holte aus und traf ihn damit im Genick. Das genügte, um ihn bewußtlos nach vorn kippen zu lassen. Sicherheitshalber verpaßte ich ihm noch ein paar Tritte an den Kopf und in den Unterleib. Wegen dieser Fußtritte würde er auch nicht zorniger auf mich aufwachen; vermutlich wollte er mich ohnehin schon umbringen. Aber ich mußte verhindern, daß er seine Kollegen alarmierte. Ein Profi wie dieser Junge erwartete gar nichts anderes; wären unsere Rollen vertauscht gewesen, hätte er mich flachgelegt. So war er für etwa zehn Minuten außer Gefecht, und mehr Zeit brauchte ich nicht.

Ich kam hinter dem Auto hervor und sah mich um. Kein Mensch in Sicht. Ich rannte zu dem Bürocontainer, neben dem ein großer Müllbehälter stand, den ich als Sprungbrett benutzen konnte. Ich sprang, warf meine Arme hoch und bekam die Oberkante des Containers zu fassen. Dann zog ich mich hinauf. Von dort aus konnte ich den Fünfmeterzaun leicht überklettern.

Ein Wegweiser zeigte zum Maylords Boardwalk. Ich lief nach links, rannte das grasbewachsene Bankett entlang und erreichte einen weiteren Parkplatz. Dort steuerte ich sofort auf den Boardwalk zu, weil er Deckung versprach. Ich suchte eine Toilette, und mit etwas Glück würde sich zeigen, daß die Passage einen zweiten Ausgang hatte.

Der Boardwalk schien eine auf Schuhe und Glückwunschkarten spezialisierte Einkaufspassage zu sein. Ihren Toilettenblock fand ich im ersten Drittel der Passage neben dem Coffee Shop. Ein Blick nach vorn zeigte mir, daß die Passage einen zweiten Ausgang hatte. Ich verschwand auf der Herrentoilette.

Zwei Männer, die auf der Toilette gewesen waren, wuschen sich gerade die Hände. Ich betrat eine der Kabinen und setzte mich aufs Klo, während ich darauf wartete, daß meine Atmung sich wieder beruhigte.

Dabei steckte ich mir den Ohrhörer ins Ohr und schaltete das Funkgerät ein. Ich hörte nur unverständliche Laute, aber das brauchte nichts zu bedeuten. Vermutlich war hier die Empfangslage schlecht.

Mit Klopapier wischte ich mir das Blut und den Schmutz von Hosen und Schuhen und säuberte mich so gut wie möglich. Als feststand, daß die beiden anderen gegangen waren, ging ich zu den Waschbecken hinaus, um mir Hände und Gesicht zu waschen. Aus dem Ohrhörer kamen noch immer nur unverständliche Laute.

Ich ging in den Coffee Shop, holte mir einen Cappuccino und setzte mich an einen Tisch in der dritten Reihe. Von dort konnte ich beide Ausgänge der

Einkaufspassage im Auge behalten. Mit der zu meinem Ohr führenden Litze fiel ich zum Glück nicht auf, weil auch viele Wachmänner und Ladendetektive solche Ohrhörer trugen.

Im Netz herrschte plötzlich Hochbetrieb. Alle redeten Klartext, ohne Codes zu benutzen, als sei ihr Funkverkehr abhörsicher. Ich sah mir das Handfunkgerät näher an und entdeckte eine Buchse für das Schlüsselgerät, mit dem festgelegte Codes eingegeben werden konnten, um das Mithören Unbefugter zu verhindern. War diese Funktion aktiviert, konnten Außenstehende nur ein Rauschen hören.

Ich verfolgte, wie einige von ihnen die Rückseite des Einkaufszentrums absuchten, wo sie demnächst ihren Kollegen finden würden, während andere sich von Orten meldeten, die ich nicht identifizieren konnte. Nicht empfangen konnte ich eine Leitstelle, eine Zentrale zur Koordinierung der Fahndung. Das erschien mir seltsam. Dann fragte ich mich: Warum sind im Hotel statt uniformierter Polizei diese Kerle aufgetaucht? Ich sollte ein Mörder und Entführer sein; in solchen Fällen erwartete man eigentlich, schwerbewaffnete SWAT- Teams aus Einsatzfahrzeugen springen zu sehen. Ich merkte, daß diese Tatsache mich ganz instinktiv dazu veranlaßt hatte, zurückzulaufen und Kelly zu holen. Ich hätte nachsehen sollen, ob der Kerl, den ich niedergeschlagen hatte, einen Dienstausweis in der Tasche hatte. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Wie hatten sie mich im Best Western so schnell aufgespürt? War mein Anruf in London zu unserem

Zimmer zurückverfolgt worden? Unmöglich; viel zu schnell. Hatte meine Kreditkarte mich verraten? Noch unwahrscheinlicher. Außerhalb der Firma kannte niemand Einzelheiten meiner falschen Papiere - und London hätte sie aus Angst, die Amerikaner könnten hinter meinen Auftrag kommen, nie preisgegeben. Also mußte es die Frau an der Rezeption gewesen sein. Sie mußte die Fernsehnachrichten gesehen und Kelly auf dem Photo wiedererkannt haben. Trotzdem paßte das alles nicht recht zusammen. Mir war allmählich sehr unbehaglich zumute.

Diese Jungs waren kein Mickymaus-Klub. Als ich vorhin mit dem Baywatch-Mann zusammengeprallt war, hatte er einen Zweireiher mit offener Jacke getragen. Aber erst als ich jetzt darüber nachdachte, wurde mir klar, daß seine Jacke nicht von Anfang an offen gewesen war. Sie hatte einen Klettverschluß.

Der Funkverkehr wurde aufgeregter. Sie hatten ihn gefunden. Der Baywatch-Mann hieß Luther; aber dem Einsatzleiter war Luthers Zustand ziemlich egal. Ihn interessierte nur, ob Luther reden konnte.

»Yeah, er ist soweit in Ordnung.«

»Ist er allein?«

»Yeah, er ist allein.«

»Hat er die Zielperson gesehen?«

»Nein, er sagt, daß er die Zielperson nicht gesehen hat - aber die beiden sind weiter zusammen.«

»Weiß er, in welche Richtung sie abgehauen sind?«

Darauf entstand eine Pause.

»Nein.«

Ich stellte mir vor, wie Luther auf dem Asphalt saß, seinen Kopf an den Wagen lehnte, während er verarztet wurde, und verdammt sauer auf mich war. Im Hintergrund hörte ich ihn Antworten murmeln. Er sprach fast wie besoffen.

»Nein, keine Ahnung, wohin sie abgehauen sind«, meldete Luthers Kollege. »Und noch etwas - er ist bewaffnet. Er hat eine Pistole gehabt und auch Luthers mitgenommen ... Moment!«

Ich hörte ein Klicken; danach berichtete der Mann, der bei Luther war, höchst aufgeregt: »Wir haben ein Problem - er hat das Funkgerät! Er hat das Funkgerät!«

Der Boß reagierte augenblicklich: »Scheiße! An alle, sofort die Funkgeräte ausschalten! Alles ausschalten! Ende.«

Die Stimmen in meinem Ohrhörer verstummten. Alle würden ihre Funkgeräte ausschalten und erst mit einem neuen Code wieder in Betrieb nehmen. Nun war Luthers Funkgerät wertlos. Was hätte ich jetzt für ein Verschlüsselungsgerät gegeben!

10

Luther hatte ausgesagt, er habe die Zielperson nicht gesehen - folglich waren sie hinter Kelly her, nicht hinter mir. Mein Gesicht brannte vor Zorn. Das waren die Leute, die Kev ermordet hatten; sie mußten es gewesen sein. Diese Verfolgungsjagd hatte nichts mit der Fahndung nach einem flüchtigen Verdächtigen zu tun, sondern wurde von Leuten veranstaltet, die ihren Auftrag zu Ende bringen wollten. Wahrscheinlich fürchteten sie, Kelly habe sie gesehen.

Inzwischen hatte ich den Cappuccino ausgetrunken, und eine Serviererin hatte meine Tasse mitgenommen. Ich wurde hier lästig, weil andere Leute schon auf meinen Tisch warteten. Also ging ich in die Toilette zurück. In meiner Tasche steckte noch die Fernbedienung des Hotelfernsehers. Sie wanderte mit dem nutzlosen Funkgerät in den Abfallbehälter.

Was war mit Kelly? Was hatte ich zu gewinnen, wenn ich zurückging? Was war, wenn die anderen sie gefunden und umgelegt hatten und mir auflauerten, falls ich zurückkam, um sie abzuholen? Das hätte ich an ihrer Stelle getan. Mir fielen viele Gründe ein, die dafür sprachen, nicht zurückzugehen.

Bockmist.

Ich ging zum Ausgang der Einkaufspassage zurück. Ein Blick nach links ließ mich jenseits des unbebauten Geländes gerade noch das Dach von CompUSA erkennen. Der Parkplatz war so voll wie zuvor, und es regnete jetzt stärker. Ich schlug den Kragen von Kevs Jacke hoch und sah zur Schnellstraße hinüber. Mitten auf dem Parkplatz stand ein Wendy’s - wie eine Insel in einem Meer aus Autos. Es war wieder mal Kaffeezeit. Ich suchte den Weg vor mir nach meinen neuen Freunden ab und benutzte erneut große Fahrzeuge als Deckung.

Ich setzte mich mit dem Kaffeebecher und meiner Hamburgerschachtel an einen Tisch am Fenster. Von dort aus konnte ich zwar nicht die Rückfront des

Einkaufszentrums, aber die nähere der beiden Zufahrtsstraßen sehen, zu der ich unterwegs gewesen war, als ich mit Luther zusammengeprallt war. Immerhin besser als nichts. Das Wendy’s hatte eine Spielstation, die eine hervorragende Tarnung war; Kinder tobten in einer riesigen Wanne mit farbigen Tennisbällen herum, während ihre Eltern wie ich an den Tischen saßen.

Ich saß da und starrte durchs Fenster in den Regen hinaus. Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleiner Junge manchmal unartig gewesen war, worauf mein Stiefvater mich nach einer Tracht Prügel über Nacht in den Holzschuppen gesperrt hatte. Ich wußte noch gut, wie ich Angst vor dem Regen gehabt hatte, der aufs Dach aus gewelltem durchsichtigem Kunststoffmaterial geprasselt war; ich hatte zusammengekauert in der Ecke gehockt und mir gesagt, wenn der Regen mich erreichen könne, könne das auch der Schwarze Mann.

Als Soldat und später als K war ich öfters beschossen, mißhandelt, eingesperrt worden; ich hatte jedesmal Angst gehabt - aber nie wieder so stark wie damals als kleiner Junge. Ich dachte an Kelly, die mutterseelenallein in ihrem provisorischen Versteck hockte, während der Regen auf die Pappkartons prasselte. Dann verdrängte ich sie aus meinen Gedanken. Sie würde darüber hinwegkommen. Ich durfte mich nicht von Sentimentalitäten beeinflussen lassen; ich hatte schon schlimmere Dinge getan.

Von meinem Fensterplatz aus sah ich, wie der weiße Taurus von der Rückseite des Einkaufszentrums kommend die Zufahrtsstraße entlangfuhr, an der

Einmündung hielt und sich dann in den Verkehrsfluß einordnete. Der Ford schien mit vier Mann - alle in Anzügen - besetzt zu sein, obwohl das im Regen nicht genau zu erkennen war. Die Besetzung mit vier Personen ließ darauf schließen, daß sie die Suche aufgaben; hätten sie Luther ins Krankenhaus gebracht, wären sie höchstens zu dritt gewesen: ein Mann als Fahrer und einer, der sich um den Verletzten kümmerte. Die anderen wären zurückgeblieben, um weiterzusuchen. Ich merkte, daß ich dabei war, einen Entschluß zu fassen.

Ich würde meine äußere Erscheinung verändern müssen, ohne dafür viel Geld ausgeben zu können - ich besaß ungefähr fünfhundert Dollar, die bis zum letzten Cent draufgehen würden.

Ich trank meinen Kaffee aus und trat wieder auf den Boardwalk hinaus. In einem Textilgeschäft kaufte ich einen dünnen schwarzen Nylonregenmantel, der sich handtuchgroß zusammenfalten ließ, und eine dunkelrote Baseballmütze ohne auffälligen Werbeaufdruck.

Daneben ging ich zu einer Filiale von Hour Eyes und kaufte mir eine dickrandige Hornbrille mit Gläsern aus Klarglas. Eine Brille verändert jedes Gesicht erstaunlich. Hatte ich im Dienst einmal meine Erscheinung verändern müssen, hatten ein Kurzhaarschnitt und eine Brille jedesmal genügt. Die Mindestanforderungen waren erfüllt, wenn man andere Farben trug und die Umrisse seines Gesichts veränderte.

Ich verschwand wieder auf die Toilette, um meine Verwandlung in Angriff zu nehmen. Als erstes riß ich mit den Zähnen die Taschen meines Regenmantels heraus.

Meine neue Sig Kaliber 45 steckte vorn im Hosenbund meiner Jeans; die dazugehörigen Magazine hatte ich in den Jeanstaschen. Notfalls konnte ich die Pistole ziehen und durch den Regenmantel hindurch schießen.

Ich wollte die restliche Dreiviertelstunde Tageslicht dazu nutzen, den Lieferbereich hinter dem Einkaufszentrum zu erkunden; der Abzug konnte ein Trick gewesen sein, und ich mußte mich vergewissern, daß mir dort niemand auflauerte. Bevor ich einen Rundgang ums Zielgebiet machte, wollte ich noch mal am Hotel vorbeigehen; ich wollte sehen, ob dort Polizeifahrzeuge standen, um beurteilen zu können, ob diese Fahndung ein amtliches Unternehmen war. Falls Luther und seine Freunde einen Mörder suchten, mußte die Polizei jetzt im Hotel sein, um Fingerabdrücke sicherzustellen und Zeugen zu vernehmen.

Ich setzte Mütze und Brille auf und begutachtete das Spiegelbild des heißesten Typs in ganz Washington - nun ja, beinahe. Sah jemand genauer hin, würde er mich für den ältesten Swinger der Stadt halten. Ich drehte den Schirm meiner Baseballmütze nach vorn und machte mich auf den Weg. Ich ging über den Parkplatz, überquerte die Schnellstraße an der Kreuzung und folgte der schmalen Parallelstraße zurück zum Best Western. Dort wirkte alles völlig normal; nirgends war ein Polizeifahrzeug zu sehen.

Auf dem Rückweg dachte ich darüber nach, wie Kev, Marsha und Aida zugerichtet worden waren. Wozu sie in Stücke hacken? Luther und seine Freunde waren nicht drogensüchtig; sie waren Profis, die nichts ohne bestimmten Grund taten. Sie hatten es offensichtlich darauf angelegt, Täter aus der Drogenszene zu imitieren. Nachdem auf Kev schon mehrere Attentate verübt worden waren, konnte die Polizei logischerweise annehmen, dieser Versuch habe schließlich Erfolg gehabt, und die Täter seien daraufhin ausgeflippt und hätten die ganze Familie als Warnung für andere massakriert.

Aber ich wußte, daß das nicht der wirkliche Grund war. Sie hatten Marsha umgebracht, weil sie annehmen mußten, Kev habe ihr von seinen Fahndungsergebnissen erzählt, und danach hatten sie Aida ermorden müssen, weil keine Augenzeugen am Leben bleiben sollten. Daß Kelly überlebt hatte, verdankte sie der Tatsache, daß die Kerle sie nicht gesehen hatten. Vermutlich hatten sie erst durch die Berichterstattung im Fernsehen gemerkt, daß sie ihren Auftrag unvollständig ausgeführt hatten, daß es möglicherweise doch eine Augenzeugin gab ...

Inzwischen hatte der abendliche Berufsverkehr bei beginnender Dunkelheit voll eingesetzt. Die Geschäfte waren noch geöffnet, und überall wimmelte es von Menschen. Für mich waren das ideale Verhältnisse, denn so konnte ich in der Menge untertauchen.

Ich ging mit gesenktem Kopf durch den Regen und erreichte den Parkplatz mit dem Wendy’s in der Mitte. Diesmal war ich dem Zaun näher; indem ich beim Näherkommen meine Brille häufig abwischte, konnte ich die Rückseite des Einkaufszentrums überblicken.

Als ein Sattelschlepper rückwärts an eine Ladebucht heranfuhr, hörte ich das laute Zischen von

Druckluftbremsen. Drei weitere Lastwagen standen jetzt neben dem Auto, in dessen Nähe ich mit Luther zusammengeprallt war. Aber auch hier waren keine Polizeibeamten zu sehen, die wegen des Überfalls ermittelten. Vielleicht war ihnen das Wetter zu schlecht.

Nur die benutzten Ladebuchten waren beleuchtet. Die Müllbehälter, bei denen ich Kelly zurückgelassen hatte, lagen ziemlich im Schatten. Einer wurde eben mit den alten Regalteilen befüllt, von denen ich eines benutzt hatte, um Luther niederzuschlagen. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich das laute Krachen und Scheppern hören. Kelly mußte in ihrem Versteck Todesängste ausstehen.

Ein vollständiger Rundgang war nicht nötig; ich hatte genug gesehen. Während ich mich umblickte und überlegte, wohin ich als nächstes gehen sollte, sah ich einen Bus an einem Bushäuschen halten, Fahrgäste aufnehmen und weiterfahren. Vielleicht war das eine Fluchtmöglichkeit für uns.

Aber wohin sollte ich flüchten, falls sie Kelly aufgespürt und sich in den Hinterhalt gelegt hatten? Ich mußte mir eine Fluchtroute zurechtlegen. Auf belebten Parkplätzen kam eine Autoentführung nicht in Frage - sie hätte zuviel Aufsehen erregt. Da war es besser, in der Menge unterzutauchen und sich aufs Hakenschlagen zu verlegen. Ich entschied mich für drei mögliche Routen.

Je länger ich mich hier herumtrieb, desto größer war die Gefahr, erkannt zu werden, deshalb beschloß ich, die Parkplätze eine Zeitlang zu meiden. Ich ging zu den Geschäften weiter. Vielleicht konnte ich ein paar Sachen für Kelly kaufen, denn sie mußte ihr Aussehen ebenfalls verändern. Sie war in den Nachrichten gewesen; sie war jetzt berühmt.

Als erstes kaufte ich ihr einen hübschen Samthut mit weicher Krempe. Ich wollte ihr Haar darunterstopfen und gleichzeitig ihr Gesicht so gut wie möglich verbergen. Dann kaufte ich einen dünn gefutterten, dreiviertellangen rosa Mantel, um ihre mageren Beine zu tarnen, und eine komplette Ausstattung für eine Neunjährige. Kelly war für ihr Alter ziemlich groß, deshalb nahm ich lieber etwas größere Kleidungsstücke. Dann fiel mir ein, daß ich ebenfalls neue Sachen brauchte, und ich kaufte mir neue Jeans und ein T-Shirt.

Mit mehreren Tragetüten in der Hand ging ich wieder den Zaun entlang. Als ich mich von den Geschäften entfernte, spiegelten ihre Lichter sich auf dem nassen Asphalt. Der Verkehr auf der Schnellstraße kam nur stockend voran, aber alle Scheibenwischer arbeiteten mit höchster Geschwindigkeit.

Als ich den Zaun erreichte, sah ich nach links. Dort hatte sich nichts verändert.

Ich ging weiter. Auf Höhe des Einkaufszentrums stieg die Zufahrtsstraße leicht an, und der Zaun hörte auf. Ich bog nach links ab, überquerte die rutschige grasbewachsene Böschung und erreichte die Zufahrt, die zur Rückseite der Läden führte. Hier folgte ich wieder dem Zaun, der die Begrenzung zu dem unbebauten Gelände hinter dem Einkaufszentrum bildete.

Der Regen hatte den staubigen Boden in Schlamm verwandelt. Ich hatte jetzt den Zaun links und die

Ladebuchten rechts von mir. Ich ging weiter und kämpfte gegen die Versuchung an, zu Kelly zu laufen, sie aus ihrem Versteck zu holen und mit ihr wegzurennen. Dabei konnte man allzuleicht gefangengenommen oder umgelegt werden.

Meine Augen sahen wahrscheinlich aus, als stünde ich unter Strom. Sie waren ständig in Bewegung, um meinem Gehirn möglichst viele Informationen zuzuführen. Ich wollte einen etwaigen Hinterhalt erkennen, bevor ich hineingeriet. Für mich gab es jetzt kein Zurück mehr. Aber falls es zu einer Schießerei kam, wollte ich unbedingt als erster schießen.

Was war, wenn Kelly nicht mehr da war? Dann würde ich 911 wählen und behaupten, ich hätte das Mädchen aus den Fernsehnachrichten hier herumirren sehen. Falls sie nicht schon geschnappt worden war, würde die Polizei sie hoffentlich finden, bevor Luthers Kumpel sie aufspürten. Das setzte natürlich voraus, daß Kelly noch in Freiheit war. Danach würde ich mich meiner Haut wehren müssen, wenn die Jagd auf Nick Stone begann. Wer Kelly hatte, würde auch meinen Namen erfahren.

Inzwischen war ich bis auf zwanzig Meter an die Müllbehälter herangekommen, ohne mein gleichmäßiges Tempo zu verringern. Ich sah mich unterwegs nicht einmal um, weil das Zeit und Mühe gekostet hätte.

Dann erreichte ich die Müllbehälter und machte mich daran, die Pappkartons wegzuräumen. »Kelly, ich bin’s! Kelly! Siehst du, ich hab’ dir gesagt, daß ich zurückkommen würde.«

Die oberen Kartons waren klatschnaß und lösten sich unter meinen Händen auf. Als ich die letzten beiseite räumte, zeigte sich, daß Kelly, die auf einem trockenen Stück Pappe saß, ihre Haltung in dieser langen Zeit praktisch nicht verändert hatte. Ich mußte unwillkürlich daran denken, wie sie ausgesehen hatte, als ich sie in ihrem Versteck in der Garage gefunden hatte. Aber immerhin wiegte sie sich nicht vor und zurück, hielt sich nicht die Ohren zu. Und sie war wider Erwarten nicht naß; vielleicht hatte der Schwarze Mann sie heimgesucht, aber der Regen war draußen geblieben.

Ich zog die Kleine hoch und legte ihr den neuen Mantel um die Schultern. »Hoffentlich magst du Rosa«, sagte ich dabei. »Den habe ich auch für dich gekauft.« Ich setzte ihr den Hut auf, damit sie keine nassen Haare bekam und dadurch noch mehr auskühlte.

Sie schlang ihre Arme um mich. Das hatte ich nicht erwartet, und ich wußte gar nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich redete einfach weiter mit ihr. Sie drückte mich noch fester an sich.

Ich zog ihren Hut zurecht. »So, jetzt hast du’s warm und gemütlich. Was hältst du davon, wenn wir losgehen und dir ein heißes Bad und etwas zu essen besorgen?«

Ich trug die Tüten im linken Arm, und Kelly hielt sich an meinem Ärmel fest, als wir davongingen. Das war etwas umständlich, aber ich mußte die rechte Hand frei haben, um meine Pistole ziehen zu können.