Als der Wecker klingelte, war ich ohnehin schon halb wach. Ich hatte mich fast die ganze Nacht schlaflos im Bett herumgewälzt und kam jetzt kaum aus dem Bett. So mußte Leuten zumute sein, die ihren normalen Job wirklich haßten.

Ich raffte mich schließlich auf, trat ans Fenster und zog den Vorhang einen Spalt weit auf. Wir befanden uns etwa auf gleicher Höhe mit der Stadtautobahn und fast in ihrem Schatten. Aus der Dunkelheit kamen lautlos Scheinwerfer auf mich zu, während auf den Gegenfahrbahnen die Schlußleuchten wie langsame Leuchtspurgeschosse im Dunkel verschwanden. Es war noch zu früh.

Ich zog den Vorhang zu, stellte die Heizung etwas zurück, brachte die Kaffeemaschine zum Gurgeln und ging ins Bad.

Ich erschrak fast über mein Spiegelbild im Badezimmerspiegel. Ich sah wie eine Vogelscheuche aus und hatte tiefe Rillen im Gesicht, weil ich auf einigen Buntstiften gelegen hatte. Ich zog meine Jacke aus, schlug den Kragen meines Polohemds zurück und hielt mein Gesicht unters kalte Wasser.

Ich ging wieder ins Zimmer. Der Kaffee war noch nicht fertig, und ich hatte auch nach dem Zähneputzen noch einen pelzigen Geschmack im Mund. Ich griff nach einer schon aufgerissenen Dose Mountain Dew und trank ein paar Schlucke der lauwarmen, abgestandenen Flüssigkeit.

Bevor es draußen hell wurde, konnte ich nicht viel unternehmen. Daran war ich gewöhnt; ich hatte große Teile meines Lebens damit verbracht, mich erst zu beeilen, um anschließend warten zu müssen. Ich rückte mir einen Sessel ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Während ich die Stadtautobahn beobachtete, konnte ich nicht sagen, ob es tatsächlich noch regnete oder die im Scheinwerferlicht sichtbaren Spritzwasserschleier der Autos nur diese Illusion erzeugten.

Eine Viertelstunde später konnte ich allmählich die Umrisse der Fahrzeuge erkennen, deren Scheinwerfer ich sah. Kelly brauchte ich vorläufig nicht zu wecken; je mehr sie schlief, desto leichter war mein Leben. Ich überzeugte mich davon, daß ich die Schlüsselkarte eingesteckt hatte, und ging aufs Hoteldach hinauf.

Regen trommelte auf das Blechdach des Liftgehäuses. Ich kroch über das Flachdach und wurde von oben und unten naß, während ich die Hi-8-Kamera einschaltete. Ich kontrollierte, ob der Bildausschnitt noch stimmte und das Objektiv nicht beschlagen war. Es war natürlich beschlagen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich nicht daran gedacht hatte, die Kamera nachts in einen weiteren Plastikbeutel zu verpacken, damit keine Feuchtigkeit eindringen konnte.

Während ich das Objektiv vorsichtig mit meinem Jackenärmel abwischte, hatte ich plötzlich das Gefühl, mich zwischen zwei Welten zu befinden. Hinter mir röhrte der morgendliche Berufsverkehr, aber vor mir in Richtung Fluß hörte ich deutlich Vogelgezwitscher. Ich hatte beinahe Freude daran. Aber dieser Augenblick ging bald zu Ende, als das erste Flugzeug des heutigen Tages donnernd startete und in den tiefhängenden Wolken verschwand.

Sobald das Objektiv trocken war, überzeugte ich mich nochmals davon, daß die Kamera das richtige Objekt aufnahm, bevor ich sie wieder einpackte.

Inzwischen war es kurz nach sechs. Ich ging ins Zimmer zurück und mußte lächeln, als ich ein Paar mittleren Alters händchenhaltend aus dem Zimmer neben uns kommen sah. Mit den beiden stimmte irgend etwas nicht. Ich wettete mit mir selbst, daß sie mit zwei Autos wegfahren würden.

Als ich mit meinem Kaffee wieder in dem Sessel am Fenster saß, dachte ich zum hundertstenmal über mein letztes Telefongespräch mit Kev nach. Pat hatte behauptet, falls die Sache mit der PIRA zusammenhänge, müsse es Querverbindungen zu Drogen, Gibraltar und den Amerikanern geben. Die Erwähnung von Gibraltar war interessant, denn irgendwas an diesem Job war mir schon immer merkwürdig vorgekommen.

Für die PIRA war 1987 ein Schreckensjahr gewesen, und Euan und ich hatten unseren Teil dazu beigetragen, ihr in Ulster die Suppe zu versalzen. Sie hatte das Jahr mit dem Vorsatz begonnen, »im nationalen Befreiungskampf greifbare Erfolge zu erzielen«, aber daraus war nichts geworden. Im Februar hatte die PIRA bei den irischen Parlamentswahlen siebenundzwanzig Sinn-Fein-Kandidaten aufgestellt, die es jeweils auf nur etwa tausend Wählerstimmen gebracht hatten. Im Süden interessierte sich kaum jemand für die

Wiedervereinigung mit Nordirland; die wichtigsten Themen waren Arbeitslosigkeit und hohe Steuern. Das bewies, wie weit sich die PIRA von der Realität entfernt hatte und wie erfolgreich die anglo-irische Übereinkunft war. Der Durchschnittswähler glaubte wirklich, Dublin und London könnten zusammenarbeiten, um die alten Schwierigkeiten langfristig zu lösen.

Die PIRA konnte das nicht tatenlos hinnehmen und schien zu glauben, etwas für die Kampfmoral ihrer Anhänger tun zu müssen. Ihre Reaktion bestand darin, am 25. April mit Lord Justice Maurice Gibson einen der höchsten Richter Nordirlands zu ermorden. Der Erfolg dieses Unternehmens begeisterte die PIRA und ihre Sympathisanten. Damit waren sie nicht nur einen ihrer entschiedensten Gegner los, sondern hatten auch erreicht, daß Dublin und London einander mit Schuldzuweisungen überhäuften. Die anglo-irische Übereinkunft, die entscheidend dazu beigetragen hatte, den Einfluß der PIRA zu vermindern, schien jetzt gefährdet zu sein.

Aber der Siegesjubel war kaum verhallt, als die PIRA eine weitere Schlappe einstecken mußte. Zwei Wochen später geriet die East Tyrone Brigade bei dem Versuch, eine Polizeistation zu überfallen, in Loughall im County Armagh in einen Hinterhalt des Regiments. Von den rund tausend Aktivisten des Jahres 1980 war die PIRA bereits auf weniger als zweihundertfünfzig Mann geschrumpft, von denen nur etwa fünfzig wirkliche Kämpfer waren. Unser Erfolg in Loughall hatte ihre Zahl um ein Fünftel auf vierzig zusammenschrumpfen lassen. Hielten die Verluste in dieser Höhe an, würde die gesamte PIRA bald in ein einziges Taxi passen.

Auf die vernichtende Niederlage von Loughall folgte wenig später Gerry Adams’ katastrophales Abschneiden bei den britischen Parlamentswahlen. Der Stimmenanteil von Sinn Fein ging dramatisch zurück, weil die Katholiken lieber die gemäßigte SDLP wählten. Und während Sinn Fein in Dublin ihren Parteitag abhielt, brachte der französische Zoll am 31. Oktober vor der Bretagne den kleinen Frachter Eksund auf. An Bord befand sich ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk von Gaddhafi an die PIRA: Hunderte von AK-47-

Sturmgewehren, tonnenweise Semtex-Plastiksprengstoff, mehrere Fla-Raketen und soviel Munition, daß es an ein Wunder grenzte, daß das Schiff überhaupt noch schwimmfähig war.

Damit war die Demütigung der PIRA vollständig. Verständlicherweise dürsteten Gerry Adams und die PIRA nun nach Rache und wollten einen PR-Coup landen, der Leuten wie Gaddhafi und den Amerikanern irischer Abstammung, die für Noraid spendeten, ihre ungebrochene Kampfkraft demonstrieren sollte.

Am 8. November detonierte ein am Kriegerdenkmal in Enniskillen im County Fermanagh angebrachter fünfzehn Kilo schwerer Sprengsatz mit Zeitzünder. Dieser Anschlag bei einer Gedenkfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs forderte elf Tote und über sechzig Schwerverletzte. Die gesamte Welt äußerte augenblicklich Empörung über diese Greueltat. In Dublin standen Tausende von Menschen Schlange, um sich in ein Kondolenzbuch einzutragen. Sogar in Moskau, das sonst nicht für die Verurteilung vermeintlicher Freiheitskämpfer bekannt war, geißelte die Nachrichtenagentur TASS diese »barbarischen Morde«.

Am schlimmsten für die PIRA war jedoch, daß selbst die Amerikaner irischer Abstammung offenbar endgültig genug hatten. Die PIRA hatte einen entscheidenden Fehler gemacht. Sie hatte geglaubt, der Bombenanschlag werde als Sieg in ihrem Kampf gegen eine Besatzungsmacht bejubelt werden, aber tatsächlich hatte er nur gezeigt, was diese Leute in Wirklichkeit waren. Mordanschläge auf »legitime« Ziele wie Richter, Polizeibeamte und Angehörige der Sicherheitskräfte mochten noch angehen - aber die Ermordung schuldloser Zivilisten bei einer Gedenkfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs?

Deshalb war mir der in Gibraltar geplante Anschlag so rätselhaft gewesen. Ich hatte erkannt, daß Gerry Adams & Co. verzweifelt bemüht waren, ihrer abnehmenden Zahl von Sympathisanten zu demonstrieren, daß sie weiterhin aktiv waren, aber wozu eine Wiederholung der durch Enniskillen ausgelösten internationalen Ächtung riskieren? Einem Bombenanschlag in Gibraltar wären bestimmt nicht nur britische Zivilisten zum Opfer gefallen. Auf den dortigen Straßen und Plätzen waren um diese Jahreszeit Tausende von ausländischen Touristen unterwegs - viele kamen von den Kreuzfahrtschiffen, die regelmäßig Gibraltar anlaufen. Und viele von ihnen waren Amerikaner, wie die PIRA genau wissen mußte. Die Hintergründe dieses wahnwitzigen Anschlags hatte ich nie begriffen.

Plötzlich wurde mir klar, daß wir diese Sache vielleicht aus der falschen Perspektive gesehen hatten. Die PIRA-Leute waren Terroristen, aber ihre Anwesenheit hier in Washington bewies, daß sie auch Geschäftsleute waren. In Gelddingen gab es keine weltanschaulichen Differenzen, nur Raffgier und gewöhnliches Konkurrenzdenken. Ich wußte, daß sie regelmäßig mit protestantischen Aktivisten zusammenkamen, um über Einnahmequellen wie Drogenhandel, Prostitution und Erpressung zu sprechen und sogar Demarkationslinien für Taxiunternehmen und Spielsalons in Ulster festzulegen. Sie verfügten über die Infrastruktur, die Kenntnisse und die Waffen, um im Bereich der organisierten Kriminalität eine Hauptrolle zu spielen. In Zusammenarbeit mit Terrororganisationen in aller Welt ergaben sich daraus vielfältige Möglichkeiten. Traf meine Vermutung zu, war das eine schlimme Sache.

Unten auf dem Parkplatz nahm das Paar von vorhin mit einer letzten langen Umarmung voneinander Abschied. Auch das war vermutlich eine schlimme Sache. Nach einem Abschiedskuß fuhren die beiden wie erwartet mit zwei Autos davon.

Da Pat erst gegen Mittag anrufen würde und ich noch gut drei Stunden warten mußte, bis ich die Kassette der Videokamera wechseln konnte, gab es nicht viel anderes zu tun, als sich im Fernsehen Invasoren vom Mars und redende Schuhe anzusehen, die in Mülltonnen lebten. Aber die Untätigkeit ging mir auf die Nerven. Ich mußte irgend etwas tun.

Ich rüttelte Kelly wach. Sie ächzte und zog sich die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Ich sprach halblaut in ihr Ohr. »Ich gehe runter, um ein paar Sachen zu kaufen, okay?«

»Ja«, antwortete sie fast unhörbar leise. Was ich tat, war ihr offenbar egal. Mir wurde langsam klar, daß sie kein Morgenmensch war.

Ich benutzte wieder die Feuertreppe, ging unter der Stadtautobahn hindurch und erreichte einen 7-Eleven. Drinnen sah der Laden aus wie Fort Knox. Eine Wandnische war durch ein Stahlgitter abgetrennt, hinter dem mich ein koreanisches Gesicht mißtrauisch beäugte, bevor es sich wieder einem tragbaren Fernseher zuwandte. Der Laden war überheizt und stank nach Zigarettenrauch und bitterem Kaffee. Überall an den Wänden informierten große Schilder die einheimischen Ganoven: Kassenbestand nur 50 Dollar; alles andere auf der Bank.

Ich brauchte eigentlich nichts zu kaufen; wir hatten schon Unmengen von Zeug - jedenfalls mehr Kekse als Mr. Oreo. Aber ich wollte eine Zeitlang allein und nicht immer mit Kelly Zusammensein. Ich fand es ermüdend, sie um mich zu haben. Es gab immer irgend etwas, das gemacht, nachgesehen oder gewaschen werden mußte, und in der verbleibenden Zeit schien ich damit ausgelastet zu sein, sie aufzufordern, sich mit dem Anziehen zu beeilen.

Über dem Zeitungsständer mahnte ein weiteres freundliches Schild: Nicht auf den Boden spucken oder Zeitschriften lesen. Ich nahm die Washington Post und

mehrere Zeitschriften mit - teils für mich, teils für Kelly. Ohne mir den Inhalt genau anzusehen, trat ich an das Gitter und schob mein Geld durch den kleinen Zahlschlitz. Der Koreaner wirkte enttäuscht, weil er die Machete, die er bestimmt unter der Kasse liegen hatte, nicht benutzen mußte.

Im Hotel schlenderte ich ins Frühstückszimmer, um ein Tablett für drei Personen zusammenzustellen. Fast alle Tische waren besetzt. An der Wand über dem Frühstücksbüfett hing ein Fernseher, in dem ein Moderator über George Mitchell und seine Rolle im nordirischen Friedensprozeß sprach. Ich hörte mir kurze Statements von Sinn Fein und der britischen Regierung an, die beide die Aussagen der anderen Seite kritisierten und behaupteten, nur sie seien wahrhaft friedenswillig.

Dann ließ mich eine Frauenstimme zusammenzucken. Sie verlas Lokalnachrichten, und während ich einen Orangensaft für Kelly eingoß, spürte ich, wie mir ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Sie sprach über die Browns.

Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Jeden Augenblick konnte eines der Grillphotos auf dem Bildschirm erscheinen.

Die Moderatorin berichtete den Zuschauern, die Polizei habe noch keine heiße Spur, aber zur Unterstützung ihrer Großfahndung nach dem Entführer der siebenjährigen Kelly ein Phantombild des Mannes veröffentlicht, mit dem sie beim Verlassen des Hauses gesehen worden sei. Sie gab Größe, Körperbau und Haarfarbe des Verdächtigen an.

Ich konnte nicht noch mehr Kaffee oder Orangensaft eingießen, und auf den drei Papptellern lagen schon Berge von Essen. Aber ich wagte es nicht, mich jetzt umzudrehen. Ich steckte einen Bagel in den Toaster, trank einen Schluck Kaffee, während ich wartete, und hielt dabei möglichst den Kopf gesenkt. Im Frühstücksraum schien plötzlich Schweigen zu herrschen, in dem nur die Stimme der Moderatorin zu hören war. Ich flehte sie in Gedanken an, endlich das Thema zu wechseln. Der Bagel sprang aus dem Toaster. Scheiße. Ich bestrich ihn mit Butter. Ich wußte, daß die anderen Gäste mich beobachteten; sie mußten mich anstarren. Aber ich hatte nichts mehr zu tun.

Ich holte tief Luft, nahm mein Tablett in beide Hände und drehte mich um. Das Stimmengewirr im Raum setzte wieder ein. Niemand würdigte mich auch nur eines Blickes. Alle waren viel zu beschäftigt, zu frühstücken, sich zu unterhalten und die Morgenzeitungen zu lesen.

Kelly schlief noch. Um so besser. Ich ließ ihr Frühstück auf dem Sideboard stehen und machte mich über meine Cheerios her. Ich schaltete den Fernseher ein, machte den Ton aus und suchte die Kanäle nach Lokalnachrichten ab. Aber es gab keine weiteren Berichte über die Morde am Hunting Bear Path.

Ich blätterte die Zeitung durch. Wir waren berühmt ... na ja, gewissermaßen. Ein kleiner Bericht auf Seite fünf. Keine Bilder. Ein Polizeisprecher wurde mit der Äußerung zitiert, man zögere, bestimmte Theorien aufzustellen, solange die Beweislage so dürftig sei, aber man gehe von einem Mord im Drogenmilieu aus. Luther und Konsorten würden sich freuen, das zu hören. Ansonsten schien es keine neuen Hinweise zu geben. Ich war nicht der einzige, der im dunkeln tappte.

Ich mußte versuchen, alle Spekulationen auszublenden, weil sie viel zu verwirrend waren. Wie der Polizeisprecher gesagt hatte, war es ohne sichere Anhaltspunkte zwecklos, Zeit und Mühe darauf zu vergeuden, sich bestimmte Szenarien auszumalen. Ich beschloß, mich auf vier Punkte zu konzentrieren. Erstens: Kelly und mich zu schützen; zweitens: das Zielobjekt weiter zu überwachen, um herauszubekommen, ob die PIRA etwas mit Kevs Tod zu tun hatte; drittens: mir von Pat Geld zu leihen, um nach England zurückkehren zu können; viertens: mit Euan Verbindung aufzunehmen, damit er mir half, mit Simmonds klarzukommen - notfalls durch Verhandlungen, falls ich nichts für ihn hatte.

Ich sah zu Kelly hinüber. Sie lag auf dem Rücken, imitierte wieder mal einen Seestern und träumte vermutlich, sie sei Katherine, das rosa Girl. Die arme Kleine tat mir leid. Sie hatte keine Ahnung, was ihren Eltern und ihrer Schwester zugestoßen war. Irgend jemand würde es ihr eines Tages sagen müssen. Ich konnte nur hoffen, daß sie zu netten Leuten kommen würde; vielleicht zu ihren Großeltern, wer immer sie sein mochten.

Immerhin lebte sie noch. Bei den anderen Jungs herrschte bestimmt helle Panik. Sie mußten annehmen, daß Kelly sie mir beschrieben und mitbekommen hatte, worum es bei der Auseinandersetzung gegangen war. Bestimmt unternahmen sie verzweifelte Anstrengungen, uns aufzuspüren.

Ich überlegte, ob es möglich sein würde, Kelly weitere Informationen zu entlocken, gab diesen Gedanken aber rasch wieder auf. Ich war kein Psychologe, sondern bestenfalls jemand, der selbst einen brauchte.

Ich schlug eine Motorradzeitschrift auf. Bis ich sie ausgelesen hatte, war ich vom Ducati-Fan zum BMW- Fan geworden. Dann las ich in einem Anglermagazin, wie wundervoll der Lake Tahoe für Männer in hüfthohen Gummistiefeln war, und verlor mich in einer ganz neuen Welt aus Ködergrößen und Glasfaserruten, als plötzlich an unsere Zimmertür geklopft wurde.

Ich reagierte automatisch. Ich riß die Sig heraus, entsicherte sie und sah zu Kelly hinüber. Vielleicht sind wir beide bald tot, sagte ich mir.

Ich hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, während ich sie wachrüttelte. Sie wachte ängstlich auf. Ich legte eine Hand auf meine Lippen. Das war keine freundliche Ermahnung, sondern ein klarer Befehl, die Klappe zu halten und keinen Ton zu sagen.

»Augenblick, komme gleich!« rief ich nach draußen. Ich hastete ins Bad, stellte die Dusche an, kam sofort wieder heraus und fragte an der Tür: »Hallo, wer ist da?«

Eine Pause. »Zimmermädchen.«

Ein Blick durch den Türspion zeigte mir eine Schwarze Anfang Fünfzig; sie trug die Uniform eines Zimmermädchens und hatte ihren Putzwagen hinter sich stehen.

Sonst war draußen niemand zu sehen, aber falls auf beiden Seiten der Zimmertür Polizeibeamte oder Luthers Jungs lauerten, würden sie sich bestimmt nicht zeigen.

Ich musterte sie prüfend und versuchte aus ihrem Blick zu erkennen, was hier vorging. Er würde mir bestimmt verraten, ob hinter der nächsten Ecke des Flurs zehn Schwerbewaffnete mit schußsicheren Westen bereitstanden.

»Danke, heute nicht«, wehrte ich ab. »Wir wollen ausschlafen.«

Ich sah, wie sie den Kopf senkte, und hörte: »Entschuldigung, Sir, aber Ihr Schild hängt nicht draußen.«

»Oh ... schon gut.«

»Möchten Sie frische Handtücher?«

»Augenblick, ich komme gerade aus der Dusche. Ich muß mir rasch was anziehen.«

Daß wir Handtücher wollten, war nur natürlich.

Ich nahm meine Pistole in die linke Hand, entriegelte die Tür und öffnete sie einen Spalt. Die Waffe blieb auf den Spalt gerichtet; falls jemand versuchte, das schwarze Zimmermädchen wegzustoßen, um hier einzudringen, war er so gut wie erledigt.

Ich öffnete die Tür etwas weiter, stellte meinen Fuß dagegen und sah durch den Spalt nach draußen. »Oh, hi«, sagte ich lächelnd. Hinter der Tür blieb meine Pistole auf sie gerichtet. Ich streckte meine rechte Hand nicht durch den Türspalt, weil ich nicht wollte, daß jemand sie von der Seite packte. Statt dessen hob ich sie nur und sagte: »Die anderen leg ich später raus. Wir brauchen nur zwei

Badetücher, die reichen ... und haben Sie noch etwas Shampoo?«

Sie gab mir, was ich verlangte. Ich bedankte mich, und sie erwiderte mein Lächeln. Ich schloß die Tür.

Kelly lag mit offenem Mund im Bett und beobachtete sprachlos und verblüfft jede meiner Bewegungen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ärgerst du dich nicht auch, wenn Leute so was machen?«

Sie begann zu lachen, und ich stimmte ein. »Diesmal hätten sie uns beinahe erwischt!« sagte sie.

Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie schüttelte langsam den Kopf. »Aber ich weiß, daß du nicht zuläßt, daß sie mich kriegen.«

Es war 10 Uhr 30 - zwanzig Minuten vor dem nächsten Kassettenwechsel auf dem Hoteldach. Ich griff nach dem Videofilm, den wir uns gestern abend angesehen hatten, schob ihn in den Recorder und spulte ihn zurück, damit ich ihn erneut verwenden konnte.

Ich brauchte Kelly nur anzulächeln, schon sprang sie auf und ging zur Tür, um sie hinter mir zu verriegeln.

»Ich will, daß du duschst, während ich unterwegs bin. Tust du das?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn’s sein muß.«

Ich ging aufs Dach hinauf.

Das Wetter war noch immer beschissen.