Bis zu Pats Mittagsanruf war noch über eine Stunde Zeit. Wir setzten uns gemeinsam hin, um die neuesten Filmaufnahmen zu begutachten.

»Was wir hier machen, ist wirklich wichtig, weil wir vielleicht jemanden sehen, den wir kennen. Dann geben wir den Film Daddy, und er kann rauskriegen, wer die Männer sind, die ihn angebrüllt haben. Sobald du jemanden siehst, der dir irgendwie bekannt vorkommt - wie Melissas Dad oder der Mann im Lebensmittelgeschäft oder sogar einer der Männer, die bei Daddy gewesen sind -, sagst du’s mir, und wir sehen ihn uns näher an. Okay?«

Ich stellte auf Schnellvorlauf und hielt den Videofilm jeweils an, wenn jemand das Gebäude betrat oder verließ. Dann notierte ich, was für Leute das waren: Mann, Frau, weiß, schwarz, gelb; und was sie trugen: Schwarz auf Blau, Rot auf Blau ...

Diesmal machte unser Spiel Kelly sichtlich weniger Spaß.

»Was ist mit dem?« fragte ich drängend.

»Nein.«

»Und mit der Frau?«

»Nein.«

»Weißt du bestimmt, daß du diesen Mann nie gesehen hast?«

»Niemals!«

Schließlich entdeckte sie einen Mann, den sie kannte. Ich spulte das Band zurück. »Wer ist das?«

»Mr. Mooner aus den Fox Kids

»Okay, das schreibe ich mir auf.«

Ein weiterer Mann ging die Stufen zum Eingang hinauf. Ich hielt den Film an und spulte ihn zurück. »Kennst du den?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nun, ich kenne jemanden, der genau wie er aussieht«, sagte ich. »Ich habe früher mal mit einem Mann zusammengearbeitet, der sich nie merken konnte, wo er seine Sachen hingelegt hatte, und eines Tages haben wir ihm sein Gebiß versteckt, und er mußte die ganze Woche Suppe essen.« Darüber mußte sie lachen, und sie konnte wieder eine Zeitlang weitermachen.

Um 11 Uhr 45 waren wir noch immer dabei, den Film durchzusehen, und ich machte mir weiter Notizen. Ich hielt das Band bei zwei Männern an, die das Gebäude gemeinsam betraten.

»Kennst du diese beiden? Ich kenne sie nämlich nicht, und mir fällt auch niemand ein, dem sie ähnlich sehen.« Ich zermarterte mir den Kopf, um mir eine weitere Geschichte auszudenken, die ihr Interesse wachhalten konnte.

»Nein, ich kenne sie nicht.«

»Also gut. Nur noch ein paar, dann machen wir was anderes.« Ich stellte auf Schnellvorlauf um, sah einen Mann aus dem Gebäude kommen, spulte zurück und ließ den Film mit normaler Geschwindigkeit ablaufen.

Sie rutschte bis an die Bettkante vor. »Diesen Mann kenne ich«, behauptete sie.

Ich betätigte die Standbildtaste. Auf dem Bildschirm

war ein Schwarzer, Mitte Dreißig, zu sehen.

»Wer ist das?«

»Er ist mit den anderen Männern bei Daddy gewesen.«

Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen. »Wie heißt er? Kennst du die Namen der anderen Männer?«

»Darf ich jetzt heim und Mommy sehen? Du hast gesagt, daß ich morgen nach Hause darf, und jetzt ist morgen.«

»Erst müssen wir diese Sache klären, Kelly. Daddy muß ihre Namen wissen. Er kann sich nicht an sie erinnern.«

Ich versuchte mich als Psychologe, aber ich verstand jetzt mehr vom Fliegenfischen als von Kinderpsychologie.

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber Daddy hat sie gekannt, nicht wahr?«

»Ja, er hat sie gekannt. Sie sind gekommen, um Daddy zu besuchen.«

»Kannst du dich an irgendwas erinnern, das mit ihnen zusammenhängt? Haben sie geraucht?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht.«

»Hat einer von ihnen eine Brille getragen.«

»Ja - dieser Mann.«

Ich sah genauer hin. Tatsächlich trug der Unbekannte eine randlose Brille.

»Okay, haben sie Ringe oder sonst was getragen?«

»Das weiß ich nicht.«

Ich versuchte es mit der Farbe ihres Autos, ihrer Schuhe, ihrer Mäntel. Hatten sie sich mit Namen angesprochen? Waren sie Amerikaner gewesen?

Sie geriet sichtlich durcheinander, aber ich mußte weiterfragen.

»Kelly, weißt du bestimmt, daß dieser Mann an dem Tag, an dem ich dich gefunden habe, bei Daddy gewesen ist?«

In ihren Augen standen Tränen. Ich war zu weit gegangen.

»Nicht weinen.« Ich legte ihr einen Arm um die Schultern. »Schon gut, Kelly. Dieser Mann ist mit den anderen gekommen, nicht wahr?«

Ich spürte, daß sie nickte.

»Das ist sehr gut, denn ich kann diese Information an Daddy weitergeben, wenn ich ihn sehe, und dann sind sie leichter zu erwischen. Siehst du, jetzt hast du ihm geholfen!«

Sie sah zu mir auf und lächelte unter Tränen.

Falls sie recht hatte, kam hier einer der Männer, die Kev ermordet hatten, aus einem Gebäude, in dem eine PIRA-Tarnfirma ihre Geschäftsräume hatte.

Der Videofilm war noch nicht zu Ende. Ich bemühte mich um einen munteren Tonfall. »Schön, dann sehen wir uns jetzt den Rest an und versuchen, die übrigen Männer zu finden. Sie sind auch schwarz gewesen, nicht wahr?«

»Nein, weiß.«

»Ja, natürlich.«

Wir machten bis zum Ende weiter. Ich entdeckte einen Doppelgänger von Nelson Mandela, und Kelly glaubte, Michael Jackson zu erkennen. Aber das waren die einzigen Erfolge.

»Können wir jetzt heimfahren und Daddy diesen Film zeigen? Ihm geht’s bestimmt wieder besser. Du hast versprochen, daß wir heimfahren, wenn wir jemanden erkennen.«

Ich verstrickte mich immer tiefer. »Nein, noch nicht. Ich muß erst feststellen, ob er wirklich der Mann ist, der Daddy besucht hat. Aber das dauert nicht mehr lange.«

Ich lag auf dem Bett und gab vor, das Anglermagazin zu lesen. Mein Herz schlug laut und langsam. Ich versuchte mich an meinen Plan zu halten, aber es gelang mir nicht, mich auf die gegenwärtig wichtigen Probleme zu konzentrieren. Warum war Kev von Männern ermordet worden, die er kannte? Gehörten Luther und Konsorten zu dieser Gruppe? Sie mußten dazugehören. Was hatte Kev gewußt - oder worin war er verwickelt gewesen? Hätte Kev mir von seinem Problem erzählt, wenn er korrupt gewesen wäre? Hatte die DEA wegen der Drogengeschäfte der PIRA ermittelt? War Kev von der PIRA oder den Drogenhändlern ermordet worden, weil er etwas getan hatte oder tun wollte? Aber woher hatten sie ihn gekannt?

Vermutungen halfen mir nicht weiter. Damit vergeudete ich nur Zeit und Mühe. Kelly lag neben mir auf dem Bett und sah mit in die Zeitschrift. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihren Kopf an meiner Schulter zu spüren. Ich schob meinen Arm unter ihr hindurch, um auf meine Uhr sehen zu können. Kelly verstand meine Bewegung falsch und glaubte, ich wolle sie an mich drücken.

Pat mußte gleich anrufen. Ich stand auf, um das

Mobiltelefon einzuschalten. Dann blickte ich am Fenster stehend in den Regen hinaus und versuchte mir Klarheit über meine nächsten Schritte zu verschaffen. Und ich dachte über einen geeigneten Ort für einen Treff nach. Das Einkaufszentrum, in dem wir uns schon einmal getroffen hatten, erschien mir nicht mehr sicher genug.

Pünktlich um zwölf klingelte das Telefon.

»Hallo?«

»Hallo, Kumpel.« Verkehrsgeräusche im Hintergrund zeigten, daß Pat aus einer Telefonzelle anrief.

»Hier hat sich einiges ergeben«, sagte ich. »Wir müssen uns treffen.«

»In zwei Stunden, okay?«

»Gut, in zwei Stunden. In der Union Station?«

»Äh ... Union Station ... klar, kein Problem.« Pat schien zugekifft zu sein.

Ich kannte den Bahnhof von einigen Reisen und konnte mich an seinen Grundriß erinnern. »Du kommst durch den Haupteingang rein«, erklärte ich Pat. »Auf der Galerie findest du gegenüber der Treppe einen Coffee Shop. Dort wartest du bei einer Tasse Kaffee, bis ich dich abhole, okay?«

Eine lange, beunruhigende Pause. »Hast du verstanden, Pat?«

»Okay, ich bin da. Bis später.« Am anderen Ende wurde eingehängt.

Die Union Station ist der Amtra-Hauptbahnhof in Washington, D.C. Sie ist so großartig und elegant, daß sie in Paris stehen sollte - nicht hier in der Heimat des Hohlblocksteins und der dunklen Holzfurniere. Auf den meisten Bahnhöfen der Welt verkehrt ein eher schäbiges Publikum, aber in dieser Beziehung bildet die Union Station eine Ausnahme. Ihre Fahrkarten- und Gepäckschalter könnten auf jedem modernen Flughafen stehen. Dort gibt es sogar einen Salon für die Erste Klasse. Züge sind keine zu sehen, weil die Bahnsteige hinter Trennwänden liegen, aber man wäre ohnehin viel zu sehr durch die Einkaufspassage, die Cafés und Restaurants und sogar ein Kinozentrum mit fünf Kinos abgelenkt. Für mich war jedoch entscheidend, daß dort immer reger Betrieb herrschte; wegen der Osterferien würde es von Reisenden von auswärts wimmeln, die nichts von den Ereignissen am Hunting Bear Path wußten.

Ein Taxi brachte uns frühzeitig zur Union Station. Wir hatten knapp eine Stunde Zeit, die ich dafür nutzte, die meisten Dinge zu kaufen, die ich für meine Erkundung des PIRA-Büros brauchen würde. Seit Kelly den Schwarzen eindeutig identifiziert hatte, war mir klar, daß ich mich dort umsehen mußte.

Ich kaufte eine Polaroid-Kamera mit einem halben Dutzend Filmen, einen Wegwerfoverall, weitere Rollen Gewebe- und Klebeband, eine solide Schere, mit der man angeblich Geldstücke durchschneiden konnte, ein Leatherman’s Tool - ein vielseitiges Mehrzweckwerkzeug -, dünne Gummihandschuhe, Batterien, eine Rolle Schrumpffolie, eine Plastikflasche Orangensaft mit Schraubverschluß, eine Schachtel Zeichennadeln, einen Zwölferkarton Eier und eine

Küchenuhr. mit gut zwanzig Zentimeter Durchmesser. Kelly begutachtete meine Einkäufe mit hochgezogenen Augenbrauen, stellte aber keine Fragen.

Bis 13 Uhr 40 hatte ich zwei große Tragetaschen mit meinen Einkäufen und einigen Büchern und Spielen für Kelly gefüllt.

Der prächtige Mosaikfußboden der Haupthalle war mir im Gedächtnis geblieben, aber ich hatte die an eine Kathedrale erinnernden Gewölbedecken vergessen. In der Mitte des zentralen Kuppelsaals waren ein Zeitschriftenstand und mehrere Gruppen von Tischen aufgebaut. Auf der Plattform darüber befand sich ein über eine Treppe erreichbares Restaurant, das für meine Zwecke geradezu ideal war.

Oben wurden wir von einer Bedienung empfangen.

Ich lächelte. »Bitte einen Tisch für zwei Personen.«

»Raucher oder Nichtraucher?«

Ich zeigte auf einen freien Tisch ganz hinten. »Können wir den haben?«

Wir nahmen Platz, und ich stellte meine Tragetaschen unter den Tisch. Der Haupteingang war von hier aus nicht zu sehen, aber ich würde Pat beobachten können, wenn er auf den Coffee Shop zuging, der sich auf einer Galerie im rückwärtigen Teil der Haupthalle befand.

Die Bedienung kam, um unsere Getränkebestellung aufzunehmen. Ich bestellte zwei Cola und fügte hinzu: »Kann ich auch gleich das Essen bestellen? Zwei mittelgroße Pizzas, bitte.«

Kelly sah auf. »Meine bitte mit einer Extraportion Pilzen?«

Ich nickte der Bedienung zu, und sie ging.

Kelly lächelte. »Ich bin genau wie meine Mommy. Wir mögen beide eine Extraportion Pilze. Daddy sagt, daß wir von Waldelfen abstammen müssen.« Sie lächelte nochmals, als erwarte sie eine Reaktion.

»Das ist nett«, sagte ich. Auf solche Gespräche durfte ich mich gar nicht erst einlassen.

Kelly nahm einen Schluck von ihrer Cola und sah sich neugierig um. Sie hatte offensichtlich Spaß daran, zur Abwechslung einmal richtige Menschen beobachten zu können.

Pat kam frühzeitig und trug dieselben Sachen wie bei unserem ersten Treff, um leichter erkennbar zu sein. Oder der Scheißkerl hatte sich seither nicht umgezogen. Als er unter mir vorbei durch die Haupthalle ging, schien irgend etwas mit ihm nicht ganz in Ordnung zu sein. Er schwankte leicht, aber ich wußte, daß das nicht von zuviel Bier kam. Ich befürchtete das Schlimmste.

Ich überzeugte mich davon, daß er nicht beschattet wurde; indem ich ihm den Rücken freihielt, sorgte ich für meine eigene Sicherheit.

Nach ungefähr fünf Minuten stand ich auf und sagte zu Kelly: »Ich muß auf die Toilette. Bin gleich wieder da.« Im Vorbeigehen bat ich die Bedienung, auf Kelly und unsere Tragetaschen zu achten.

Durch Schwingtüren gelangte ich in die Haupthalle mit den Fahrkartenschaltern. Der Betrieb dort war hektisch, als verreise jeder zweite Amerikaner über Ostern. Selbst die Klimaanlage kam nicht mehr mit; die feuchte Wärme der vielen Menschen verwandelte die große

Bahnhofshalle in ein Treibhaus. Ich schloß mich der Menge an, die sich langsam zu der Galerie hinaufschob.

Pat stand im Coffee Shop an der Selbstbedienungstheke und hatte drei oder vier Leute vor sich. Ich spielte den freudig Überraschten, als ich ihm grinsend auf die Schulter schlug.

»Pat! Was zum Teufel machst du hier?«

Er grinste ebenfalls breit. »Ich muß hier jemanden abholen.«

Seine Pupillen waren groß wie Untertassen.

»Ich auch. Hast du Zeit für ’nen Micky D’s?«

»Yeah, klar, warum nicht?«

Wir verließen den Coffee Shop, gingen die Galerie entlang, folgten den Hinweisschildern zum Ausgang durch eine Automatiktür und fuhren mit der Rolltreppe zum Parkhaus hinauf.

Pat, der zwei Stufen über mir stand, sah fragend auf mich herab. »Was, zum Teufel, ist ein Micky D’s?«

»McDonald’s«, sagte ich, als müßte er das eigentlich wissen. Andererseits war Pat nicht Tag und Nacht mit einer Siebenjährigen zusammen. »Hey, Kumpel, das weiß doch jeder!«

Er führte einen Moondance á la Michael Jackson auf.

Unterdessen hatten wir schon fast die Ebene erreicht, auf der die Busse abfuhren. »Falls es Schwierigkeiten gibt«, erklärte ich ihm, »verschwinde ich durch den Busbahnhof nach rechts zum nächsten Ausgang.«

»Gut. Kein Problem!« Seine Stimme klang ganz normal, aber er sah beschissen aus.

Die Parkplätze befanden sich auf den beiden

nächsthöheren Ebenen. Wir gingen die kahle Betontreppe hinauf, blieben auf der ersten Ebene stehen und stellten uns so hin, daß wir die Treppe unter uns im Auge behalten konnten.

Ich kam sofort zur Sache. »Mir geht’s um zwei Dinge, Kumpel. Hier drinnen steht eine Liste, die ich dir nicht am Telefon vorlesen wollte.« Ich gab ihm ein kleines Notizbuch. »Ich brauche alles, was ich dir aufgeschrieben habe. Und wie sieht’s mit dem Geld aus?«

Pat studierte bereits die Liste in dem Notizbuch, das ich ihm in die Hand gedrückt hatte. Entweder verblüffte ihn der Inhalt - oder er sah alles nur verschwommen. Ohne den Kopf zu heben, murmelte er: »Ich wollte dir heute etwas Geld geben. Aber das meiste geht bestimmt für diesen Scheiß drauf. Mehr Geld kann ich dir morgen, vielleicht erst übermorgen beschaffen. Verdammt«, sagte er kopfschüttelnd, »bis wann brauchst du diesen ganzen Krempel?« Dann begann er zu kichern, als sei ihm etwas sehr Lustiges eingefallen, das er mir jedoch nicht erzählen wollte.

»Schon heute abend, Kumpel. Glaubst du, daß du’s bis dahin schaffst?« Ich trat einen halben Schritt näher an Pat heran, um ihm in die Augen zu sehen.

Sein Kichern wurde zu einem Lachen, bis er merkte, daß ich ihn prüfend musterte, ohne eine Miene zu verziehen. Er räusperte sich und wurde schlagartig wieder ernst. »Ich tue mein Bestes, Kumpel. Ich weiß nur nicht, ob ich alles kriege, was auf deiner Liste steht.«

»Damit tust du mir einen verdammt großen Gefallen«, versicherte ich ihm. »Laß mich nicht im Stich, Pat. Ich bin echt auf deine Hilfe angewiesen.« Ich konnte nur hoffen, daß mein ernster Tonfall Wirkung zeigte. Während ich mit ihm sprach, behielt ich weiter die Treppe im Auge. »Hier hinten . «, ich schlug die Notizbuchseite auf, die ich meinte, ». habe ich dir aufgeschrieben und skizziert, wo ich die Lieferung übernehmen will. Das muß heute abend um dreiundzwanzig Uhr passieren.«

Pat studierte jetzt meine Anweisungen für den nächtlichen Treff. Ich ging leicht in die Knie, um ihm trotzdem in die Augen sehen zu können. »Heute abend, dreiundzwanzig Uhr, Kumpel. Dreiundzwanzig Uhr, okay?«

Ich kannte Pat gut genug, um zu merken, daß er begriff, daß es mir ernst war. Er wußte, daß er zugekifft war, und strengte sich an, trotzdem alles zu begreifen.

Ich war froh, daß ich ihm alles genau aufgeschrieben hatte. Pat machte nicht den Eindruck, als könnte er sich in seinem Zustand die Beschreibung eines Treffs merken.

»Was für einen Wagen fährst du?« fragte ich.

»Einen roten Mustang.« Pat kam mit seinem Gesicht näher an meines heran. »Röter als ein Feuerwehrauto!« Diese Beschreibung gefiel ihm so gut, daß er wieder lachen mußte.

»Du gehst zur H Street raus.« Ich zeigte in die Richtung, die ich meinte.

Ich wartete, überzeugte mich davon, daß ihm niemand folgte, und ging dann weiter die Betontreppe hinauf, als sei ich zu meinem Wagen unterwegs. Von der oberen Ebene fuhr ich mit dem Lift zur Galerie mit dem Coffee

Shop hinunter.

Vor dem Restaurant machte ich einen Augenblick halt, um zu sehen, ob die Luft rein war. Kelly kämpfte noch immer mit ihrer Pizza.

»Du hast dir aber Zeit gelassen!« sagte sie mit dem Mund voller Pilze.

»Ja, auf der Toilette hat’s kein Klopapier gegeben«, sagte ich lachend, während ich mich zu ihr setzte.

Sie überlegte kurz, dann lachte sie mit.

22

Als wir zurückkamen, stellte ich für Kelly den Fernseher an und leerte die Tragetaschen auf meinem Bett aus. Sie wollte wissen, wozu ich das ganze Zeug brauchte.

»Ich muß nur Pat helfen. Er hat mich gebeten, etwas für ihn zu erledigen. Wenn du willst, kannst du jetzt fernsehen. Bist du hungrig?«

»Nein.« Sie hatte recht; nach einer Pizza von der Größe einer Panzermine war das eine dämliche Frage.

Ich setzte mich mit der großen Küchenuhr mit dem rotweißen Rahmen in meinen Sessel am Fenster. Dann fing ich an, den Rahmen Stück für Stück abzubrechen, bis ich nur noch das Zifferblatt mit den Zeigern und dem dahinter montierten Quarzuhrwerk auf den Knien liegen hatte. Als nächstes machte ich mich daran, das Zifferblatt aus Kunststoff in kleinen Stücken abzubrechen. Als es schließlich kaum noch größer als das Uhrwerk war, brach ich auch die Stunden- und Sekundenzeiger ab. Jetzt war nur noch der Minutenzeiger übrig. Ins Uhrwerk setzte ich eine neue Batterie ein.

Kelly sah mir interessiert zu.

»Das ist ein Zauberkunststück. Ich zeig’s dir, sobald ich fertig bin, okay?«

»Gut.« Sie wandte sich dem Fernseher zu, behielt mich aber weiter im Auge.

Ich ging mit dem Eierkarton zum Papierkorb und leerte seinen Inhalt aus. Dann riß ich ihn der Länge nach auseinander, so daß zwei Hälften mit je sechs Einbuchtungen übrigblieben. Aus Klebeband formte ich eine kleine Röhre, die am Rand des halbierten Eierkartons festgeklebt wurde und gerade groß genug war, um den Minutenzeiger aufzunehmen. Dann fragte ich Kelly, die den Titelsong einer Seifenoper mitsang: »Willst du sehen, was man damit machen kann?«

Sie beobachtete gespannt, wie ich den halbierten Eierkarton auf den Minutenzeiger steckte.

Das Sideboard befand sich knapp zehn Zentimeter unter der Schalterleiste des Fernsehers. Ich legte das Uhrwerk genau unter den Infrarotsensor des Geräts und fixierte es dort mit Gewebeband.

Kelly verfolgte meine Vorbereitungen mit wachsendem Interesse. »Was machst du da?«

»Hast du die Fernbedienung? Stell den Fernseher damit etwas lauter.«

Sie tat, was ich sagte.

»Jetzt wieder leiser. Okay, ich wette mit dir, daß du ihn in einer Viertelstunde nicht mehr lauter stellen kannst.« Ich setzte mich neben sie aufs Bett. »Aber wir müssen beide hier sitzen und dürfen uns nicht bewegen, okay?«

»Okay.« Sie glaubte offenbar, ich würde mich an der Fernbedienung zu schaffen machen, und versteckte sie lächelnd unter ihrem Kopfkissen.

Es wäre eigentlich ganz nett gewesen, in dieser Ruhepause mit Kelly fernzusehen, wenn sie nicht dauernd gefragt hätte. »Ist die Viertelstunde schon vorbei?«

»Nein, erst sieben Minuten.« Der auf den Minutenzeiger gesteckte halbe Eierkarton befand sich inzwischen auf seinem Weg nach oben.

Sobald der Eierkarton den Sensor verdeckte, forderte ich Kelly auf: »Also los, versuch mal, den Ton lauter zu stellen.«

Sie drückte auf die entsprechende Taste, aber nichts passierte.

»Vielleicht liegt’s an der Batterie?« neckte ich sie.

Wir legten eine neue Batterie ein. Trotzdem funktionierte die Fernbedienung nicht. Kelly kam nicht dahinter, woran es lag, und ich verriet ihr meinen Trick nicht.

»Zauberei!« behauptete ich grinsend.

Ich sortierte meine restlichen Einkäufe, trank einen Teil des Orangensafts, spülte die Plastikflasche aus und kontrollierte dann, daß die Geräte frische Batterien enthielten, bevor ich alles bereitlegte, was ich einpacken wollte.

Es war 22 Uhr 20, und Kelly schlief bereits. Ich würde sie wecken müssen, um ihr zu sagen, daß ich weggehen würde, denn ich wollte nicht, daß sie allein aufwachte und in Panik geriet. Manchmal war sie einfach nur lästig, aber ich empfand das starke Bedürfnis, sie zu beschützen. Sie sah so unschuldig aus, wenn sie wieder einmal Seestern spielte. Ich fragte mich, was später aus ihr werden würde - falls sie aus dieser Sache heil herauskam.

Ich kontrollierte alles noch einmal, zog das Mobiltelefon aus dem Ladegerät, steckte es ein, überprüfte meine Pistole und sah nach, ob ich meine Geldbörse eingesteckt hatte. Als Marschverpflegung nahm ich eine halbleere Packung Kekse mit. Dann beugte ich mich über die Schlafende und sagte leise: »Kelly!«

Da sie nicht reagierte, rüttelte ich sie sanft wach. »Ich lasse den Fernseher leise angestellt, damit du Unterhaltung hast, falls du willst«, sagte ich. »Ich muß nur noch mal für einige Zeit weg.«

»Yeah.«

Ich wußte nicht, ob sie tatsächlich alles verstanden hatte, aber ich wollte sie lieber nicht ganz wecken.

»Diesmal verriegelst du die Tür bitte nicht, weil ich den Schlüssel mitnehme. Ich will dich nicht wieder wecken müssen, wenn ich zurückkomme, okay?«

Ich verließ das Zimmer, fuhr mit dem Aufzug hinunter und trat auf die Straße. Über mir hörte ich das brausende Dröhnen des Verkehrs auf der Stadtautobahn. Immerhin regnete es nicht, aber die Luft roch feucht und war so kühl, daß ich meinen Atem sehen konnte.

Ich wandte mich nach links und marschierte entgegen der gewohnten Richtung weiter, um mir das Zielobjekt ein letztes Mal anzusehen. Während ich daran vorbeiging, knabberte ich trockene Kekse. Das Bürogebäude war wie letzte Nacht beleuchtet; auch sonst schien sich nichts verändert zu haben. Ich fragte mich, ob der Obdachlose wieder seinen Schlafplatz bezogen hatte - und mit einer Machete auf jemanden lauerte, der ihn anpinkeln wollte. Dann ging ich rasch weiter, um vor Pat am vereinbarten Treffpunkt zu sein. Vor der Stadtautobahn bog ich rechts ab und folgte der Parallelstraße, während über mir der Verkehrsstrom in Richtung Washington brauste.

Als die Straße eine Rechtskurve machte, blieb die Stadtautobahn hinter mir zurück. Auf beiden Seiten lagen ehemalige Industriegrundstücke, die größtenteils abgeräumt waren, und der Verkehrslärm verebbte allmählich. Bald konnte ich meine Schritte wieder hören. Rechts der Straße lag ein weitläufiger Abstellplatz für von der Polizei abgeschleppte Autos von Falschparkern. Wie konnten die städtischen Finanzen Washingtons ruiniert sein, wenn die Stadt mit diesen abgeschleppten Fahrzeugen ein Vermögen verdienen mußte? Links von mir standen die Zweckbauten eines hier entstehenden Gewerbegebiets. Ich erreichte das erste Gebäude, trat von der Straße in den Schatten und wartete.

Es war bizarr, hier nur wenige hundert Meter vom Pentagon entfernt und vermutlich dicht vor der Nase eben der Leute zu sein, die es auf mich abgesehen hatten. Aber diese Situation war zugleich auch spannend. An meiner Arbeit hatte mich unter anderem schon immer der

Nervenkitzel gereizt.

Ich hörte ein Auto näher kommen. Ein Blick um die Ecke des Gebäudes zeigte mir ein einzelnes Scheinwerferpaar. Das mußte Pat sein. Ich zog meine Pistole.

Der rote Mustang fuhr vor. Ich stand halb geduckt in Feuerstellung und hielt meine Sig auf den Fahrer gerichtet, bis der Wagen hielt. Der Mann am Steuer war Pat. Selbst im schwachen Lichtschein der Instrumentenbeleuchtung war sein Profil mit der markanten Adlernase unverkennbar.

Mit meiner Pistole in der Hand trat ich an die Beifahrertür und öffnete sie. Die Innenbeleuchtung flammte nicht auf. Ich stieg ein und zog meine Tür fast geräuschlos zu, bis ich das Schloß klicken hörte.

Pat hatte die Handbremse angezogen, die er jetzt löste, um langsam anzufahren. Aus größerer Entfernung ist schwer feststellbar, ob ein Fahrzeug hält, wenn man keine Bremslichter sieht - deshalb hatte Pat die Handbremse benutzt. Und da keine Innenbeleuchtung aufgeflammt und kein Türenschlagen zu hören gewesen war, war mein Einsteigen hoffentlich unbemerkt geblieben.

Nach einem Blick auf die Straße hinter uns sagte ich: »An der nächsten Kreuzung rechts.«

Wir hatten keine Zeit zu verlieren, das wußten wir beide. »Ich habe alles«, erklärte Pat mir. »Die Sachen sind in der Sporttasche auf dem Rücksitz.« Er schien von seinem Trip runtergekommen zu sein und wirkte sichtlich verlegen.

Ich beugte mich über die Sitzlehne und zog den Laptop aus der Sporttasche. »Ist der Ton abgeschaltet?« fragte ich, denn ich wollte nicht, daß die Microsoft-Melodie erklang, wenn ich Windows 95 startete.

Er machte ein Gesicht, das mir zeigte, daß er mich für einen Idioten hielt, weil ich überhaupt danach gefragt hatte. Wir mußten beide lachen; damit war das Eis gebrochen.

Wir fuhren die Betonmauer entlang. Als wir an meinem Hotel vorbeikamen, achtete ich darauf, nicht zum Eingang hinüberzusehen. Dann bogen wir unter der Stadtautobahn nach rechts ab und hielten an der Ampel dahinter.

»Geradeaus weiter, an der Pennsylvania Avenue rechts ab«, verlangte ich.

»Kein Problem.«

Wir fuhren jetzt durch beidseitig bebaute und gut beleuchtete Straßen. Pat sah immer wieder in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, daß wir nicht verfolgt wurden. Um mich nicht umdrehen zu müssen, behielt ich unterwegs den rechten Seitenspiegel im Auge; keiner von uns wollte den Eindruck erwecken, als achte er auf etwaige Verfolger.

Wir hatten einige Fahrzeuge hinter uns, die jedoch aus anderen Straßen gekommen waren. Trotzdem war das keine Garantie dafür, daß wir nicht verfolgt wurden.

Ich sah zu Pat hinüber. Er hatte seine 9-mm-Pistole unter den rechten Oberschenkel gesteckt, und im Fußraum vor seinem Sitz lag eine 9-mm-MP5K- wegen ihrer kompakten Größe und hohen Feuergeschwindigkeit eine ausgezeichnete Waffe für Einsätze aus fahrenden Autos heraus, aber für diesen Job eigentlich fast zu aufwendig. Er hatte ein Doppelmagazin mit sechzig Schuß angesteckt.

»Wieso, zum Teufel, hast du diese Flak mitgebracht?« fragte ich.

Pat zuckte mit den Schultern. »Mir hat nicht gefallen, was du über deinen neuen Freund Luther erzählt hast. Ich möchte nicht, daß er und seine Kumpels mich zu einem kleinen Schwatz einladen.«

»Du solltest auf die rechte Fahrspur wechseln und trotzdem links abbiegen«, schlug ich vor. »Mal sehen, ob wir doch unerwünschte Begleiter haben.«

Hinter uns fuhren drei Wagen. Form und Anordnung von Autoscheinwerfern tragen viel dazu bei, ein Fahrzeug zu identifizieren, sobald es nahe genug heran ist. Hat man nach mehrmaligem Abbiegen noch immer dieselben Fahrzeugumrisse hinter sich, wird’s allmählich Zeit, sich Sorgen zu machen.

Pat setzte den Blinker und ordnete sich rechts ein. Die anderen Wagen schienen geradeaus weiterfahren oder wie wir rechts abbiegen zu wollen; die linke Abbiegespur blieb leer. Im letzten Augenblick blinkte Pat links und wechselte dabei die Fahrspur - kein hektisches Manöver, das aggressiv wirken und bei den anderen Fahrern einen Wutanfall auslösen konnte, sondern nur ein plötzlicher Sinneswandel.

Wir mußten alle an der Ampel halten. Dabei sah ich mir die Insassen der anderen Wagen genauer an. Auf den ersten Blick nur Paare oder junge Leute, die ohne bestimmtes Ziel unterwegs zu sein schienen. Aber das würde sich zeigen, falls wir sie wiedersahen.

Als die Ampel auf Grün schaltete, bogen wir links ab. Keiner der anderen Wagen folgte uns.

Pat mußte anscheinend etwas loswerden. »Deine Anweisungen sind Scheiße gewesen. Du hast gesagt, daß da drei Gebäude stehen, aber in Wirklichkeit sind’s vier. Bloß gut, daß ich aufgepaßt habe.« Er erwartete ein Lob von mir.

»Ich habe selbst nicht gewußt, wie viele es genau sind. Das Taxi ist zu schnell gefahren. Und du weißt, wie schlecht ich zählen kann.«

Wir fuhren die Straße entlang, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. »Hör zu, ich hab’ mir die Sache überlegt«, sagte Pat. »Soll ich als deine Nummer zwei mitkommen?«

Das wäre gut gewesen. Zu zweit ließ sich die Sache schneller erledigen, und falls wir in die Scheiße gerieten, hätten wir einander mit doppelter Feuerkraft Rückendeckung geben können. Aber ich entschied mich gegen sein Angebot. Pat verkörperte gegenwärtig meine einzige Verbindung zur Außenwelt.

»Kommt nicht in Frage. Ich weiß noch zu gut, was letztesmal passiert ist.«

Wir lachten beide. »Du meinst die Sache mit der gestohlenen Autobombe?« fragte er.

Die PIRA hatte in einem Versteck eine gebrauchsfertige Autobombe liegen, die in zwei Tagen eingesetzt werden sollte. Sie bestand aus zwei Kilogramm Plastiksprengstoff mit einem Parkuhr-Alarm als Zeitzünder. Diese am Schlüssselring getragenen Wecker, die Autofahrer an ihre abgelaufene Parkuhr erinnern sollten, waren das PIRA-Spielzeug des Monats.

Pat und ich fuhren in die Sozialsiedlung Shantello, eine Hochburg der Nationalisten in Derry, und drangen dort in eines der kleinen Reihenhäuser ein. Das Bombenversteck war ein abgedecktes Loch im Küchenfußboden, über dem der Gasherd stand. Wir klauten die Sprengladung, und Pat transportierte sie in einer alten Sporttasche ab.

Unser Wagen stand vor dem kleinen Einkaufs- und Sozialzentrum. Wir brauchten nur noch dorthin zurückzugehen, quer durch die Stadt zu fahren und die Bombe im Wohngebiet Creggan unter dem Auto eines führenden INLA-Manns anzubringen. Sie würde entdeckt und als PIRA-Bombe identifiziert werden - dafür würden wir sorgen -, was erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppierungen auslösen würde. Großartig. Dann konnten INLA und PIRA sich befehden, anstatt gegen die Sicherheitskräfte zu kämpfen und die einheimische Bevölkerung zu terrorisieren.

Ich sah zu Pat hinüber. Auch er schien in Erinnerungen zu schwelgen. »Ist der Wagen jemals gefunden worden?«

»Weiß ich nicht. Ist mir auch egal.«

Wir waren um die Ecke gebogen, hatten den Parkplatz überquert und dann feststellen müssen, daß unser Auto verschwunden war. Irgendein Arschloch hatte es geklaut. Trotzdem mußten wir die Sprengladung noch in dieser Nacht anbringen. Die gesamte INLA-Führungsspitze war von der Polizei zur Vernehmung abgeholt worden, damit sicher war, daß das Zielfahrzeug dort sein würde, aber diese Männer konnten nicht unbegrenzt lange festgehalten werden. Uns beiden blieb nur eine Möglichkeit: Wir trabten los.

Nach einem weiterer Kontrollblick in den Außenspiegel sah ich zu Pat hinüber, dessen Schultern rollten, während er innerlich lachte. Auch ich grinste bei der Erinnerung daran, wie wir zwei Gruppen britischer Soldaten begegnet waren und uns irgendwie durchgemogelt hatten. Es wäre sehr schwierig gewesen, vor acht durchnäßen und schlechtgelaunten Soldaten, von denen jeder den Ehrgeiz hatte, einen Terroristen zu erschießen, um den dafür ausgesetzten Sonderurlaub zu bekommen, die zwei Kilogramm Plastiksprengstoff in Pats Sporttasche zu erklären.

Es war großartig, in dieser kritischen Lage wieder einmal grinsen zu können. Noch erfreulicher war jedoch, daß Pat offensichtlich wieder normal ansprechbar war.

»Setzt du mich an der Metrostation Pentagon City ab, Kumpel?« schlug ich vor.

Ich bereitete mich aufs Aussteigen vor. Pat setzte seinen Blinker, machte alles ganz vorschriftsmäßig, wurde langsamer und hielt dann am Randsteil vor der Metrostation. Ich stieg aus und streckte meinen Kopf durchs offene rechte Fenster in den Wagen. »Vielen Dank, Kumpel, bis demnächst!« Wer uns beobachtete, mußte glauben, Hier verabschiedeten sich Freunde, die abends Softball gespielt und anschließend noch bei einem Drink zusammengesessen hatten.

Ich schlug mit der flachen Hand leicht aufs Autodach, und Pat fuhr davon. Plötzlich fühlte ich mich sehr allein. Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen, als ich sein Angebot, heute nacht zur Verstärkung mitzukommen, abgelehnt hatte? Aber das war nicht mehr zu ändern. Ich atmete tief durch und marschierte los. Als ich nach größeren Umwegen das Hotel erreichte, war es fast Mitternacht.

Im Zimmer sortierte und kontrollierte ich rasch das Zeug, das Pat mir beschafft hatte, und packte alles, was ich brauchen würde, in die Reisetasche. Ich vergewisserte mich, daß ich nichts eingesteckt hatte, das klappern oder herausfallen konnte. Dann schnitt ich noch das untere Drittel eines Müllbeutels ab, wickelte Geldbörse und Reisepaß hinein und steckte das kleine Päckchen in die Innentasche meiner Jacke.

Zuletzt sprang ich mehrmals auf und ab, um mich davon zu überzeugen, daß wirklich nichts klapperte, griff nach meiner Reisetasche und schüttelte auch sie. »Hör zu, Kelly, ich muß noch einmal weg, aber ich bin bald wieder da. Du kommst doch allein zurecht?«

Sie murmelte schlaftrunken etwas, das ich nicht verstand. Ich verließ das Hotel und ging in Richtung Zielobjekt davon.

23

Meine Reisetasche hatte zwei Tragegriffe und einen Gurt, an dem ich sie über der Schulter trug, als ich auf derselben Route wie gestern abend in Richtung Potomac ging. Der endlose Regen hatte längst aufgehört, und ich konnte einige Sterne und meine Atemwolken sehen. Ansonsten war alles unverändert, nur der Lichtschein von der Stadtautobahn war heller, weil er nicht durch den Nebel gedämpft wurde.

An dem Tor, das die Bahngleise absperrte, benutzte ich die Tragegriffe der Reisetasche, um sie wie einen Rucksack auf den Rücken zu nehmen. Dort würde sie vorerst bleiben; stellte sich mir jemand entgegen, konnte ich flüchten, ohne meine Ausrüstung einzubüßen - oder mir notfalls den Weg mit meiner Sig freischießen.

Bald befand ich mich auf gleicher Höhe mit dem Zielgebäude und hatte nur noch das unbebaute Gelände und den Maschendrahtzaun zu überwinden. Der Verkehrslärm war hier zu einem leisen Brausen abgeklungen. Ich suchte mir vorsichtig einen Weg über das unbebaute Gelände. Der schlammige Erdboden war glitschig, und ich wollte nicht ausrutschen und Lärm machen, weil mein Freund in den Büschen vielleicht nicht der einzige Obdachlose war, der hier irgendwo nächtigte.

Dann erreichte ich den Zaun in der Nähe des PIRA- Gebäudes. Im Schutz einer Buschgruppe ließ ich die Reisetasche zu Boden gleiten und setzte mich darauf. Die erste Etappe war geschafft; jetzt wurde es Zeit, eine Pause einzulegen, zu horchen, zu beobachten und alles in mich aufzunehmen. Ich mußte besonders vorsichtig sein, weil ich allein war. An sich wäre dies ein Job für zwei Leute gewesen, die sich gegenseitig sicherten. Ich verbrachte ein paar Minuten damit, mich in meine

Umgebung einzufühlen. Die Sicht war in dieser sternenklaren Nacht etwas besser. Links von mir war der Parkplatz des Gebäudes wieder leer; rechts von mir waren noch immer Paletten aufgestapelt.

Ich zog den Müllbeutel, der meine Dokumente schützte, aus der Jacke, grub mit bloßen Händen unter einem der Büsche ein Loch, legte das Päckchen hinein und bedeckte es mit Erde. Das war mein Versteck für den Notfall. Wurde ich geschnappt, war ich steril; konnte ich flüchten, würde ich irgendwann zurückkommen, um meine Papiere zu holen.

Ich wischte meine schmutzigen Hände an einem nassen Grasbüschel ab und bereitete mich auf die nächsten Aufgaben vor. Dazu zog ich lautlos den Reißverschluß der Reisetasche auf, holte meinen häßlichen blauen Wegwerfoverall heraus - wahrscheinlich die gleiche Ausführung, die Kevs Freunde getragen hatten - und schlüpfte hinein.

Damit war ich für den nächsten Sprung bereit, selbst wenn »Sprung« nicht ganz das richtige Wort war. Das Problem beim Überklettern eines hohen Zauns mit zwanzig Kilogramm Gepäck auf dem Rücken besteht darin, daß man eventuell mehr Zeit damit verbringt, festzusitzen und Lärm zu machen, als man dann tatsächlich braucht, um ihn zu überwinden.

Als erstes zog ich die Taillenkordel aus meiner Jacke und nahm sie zwischen die Zähne. Dann arbeitete ich mich an den nächsten Zaunpfosten heran, ohne meine Deckung zu verlassen, und hob die Reisetasche in Schulterhöhe. Dort klemmte ich sie mit den Schultern fest, während ich die Tragegriffe mit einem Slipknoten so hoch wie irgend möglich festband, bevor ich das freie Ende der Kordel über den Zaun warf.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß meine Pistole gesichert war, griff ich mit beiden Händen in die Drahtmaschen und begann zu klettern. Drüben machte ich erneut eine Pause, um zu horchen und zu beobachten; erst dann kletterte ich zurück, um meine Tasche über den Zaun zu heben. Ich kletterte wieder hinunter, packte das freie Ende der Kordel und zog kräftig daran. Als der Slipknoten sich löste, nahm ich meine Tasche unten in Empfang. Dann kauerte ich wieder am Zaun, um zu horchen und zu beobachten.

Schließlich stand ich auf, nahm den Gurt der Tasche über die linke Schulter und öffnete den Klettverschluß des Overalls ein Stück weit, damit ich notfalls an meine Waffe herankam. Ich ließ mir Zeit, während ich mich zur linken Seite des Gebäudes vorarbeitete.

Bevor ich dort einzudringen versuchte, mußte ich den Bewegungsmelder überlisten. Ich stand links von ihm mit dem Rücken zur Wand, nahm meine Tasche in die linke Hand und näherte mich Schritt für Schritt dem Sensor hoch über mir. Als ich so nahe herangekommen war, daß er mich bald erfassen mußte, stellte ich die Tasche ab. Was ich ab jetzt tat, würde diesseits meiner Reisetasche passieren.

Mit Bewegungsmeldern gekoppelte Strahler machen Leuten wie mir das Leben erheblich schwerer - wenn sie eine ganze Gebäudefront beleuchteten. Ich fand es merkwürdig, daß hier nur ein Bewegungsmelder angebracht war, wo ich zwei oder drei erwartet hätte, die sich überlappten, um tote Winkel auszuschalten. Deshalb rechnete ich jeden Augenblick damit, von einem Sensor entdeckt zu werden, den ich übersehen hatte. Aber wer diese Alarmanlage installiert hatte, war offenbar von der Annahme ausgegangen, lediglich die untere Brandschutztür, nicht jedoch ihre Zugänge sichern zu müssen.

Inzwischen war es fast ein Uhr morgens, so daß mir nur etwas mehr als fünf Stunden bis zur Morgendämmerung blieben. Die Zeit arbeitete gegen mich, aber ich ließ mich nicht unter Druck setzen. Ich machte einen weiten Umweg, um eine der Paletten zu holen. Ich schob beide Hände zwischen ihre Bretter, hielt die Palette in Brusthöhe und ging langsam mit ihr zurück. Als ich das Gebäude erreicht hatte, lehnte ich die Palette auf meiner Seite der abgestellten Reisetasche an die Mauer, bevor ich die nächste holte.

Ich stellte die beiden Paletten übereinander an die Wand, so daß sie eine Leiter bildeten. Dann machte ich eine Pause, um erneut zu horchen und zu beobachten. Die Palettenschlepperei war anstrengend gewesen, aber ich hörte nichts als meine trocken keuchenden Atemzüge.

Ich kletterte auf die erste Palette, die nicht im geringsten wackelte. Von dort aus stieg ich auf die zweite Palette, die ebenfalls stabil wirkte. Aber als ich zwei Querstreben höher kletterte, geriet meine ganze Konstruktion ins Wanken und brach zusammen. Ich stürzte zu Boden, und die Paletten fielen laut scheppernd und krachend übereinander. Scheiße. Scheiße. Scheiße.

Ich lag schwer atmend auf dem Rücken und hatte eine Palette quer über meinen Beinen. Aber kein Wachmann kam angerannt, um nachzusehen, was dieser Krach bedeutete, kein Hund begann zu kläffen, kein Scheinwerfer flammte auf. Ich hörte nur das ferne Brausen des Verkehrs und das mehrfache laute Schlucken, mit dem ich meine ausgedörrte Kehle zu befeuchten versuchte.

Zum Glück war alles auf meiner Seite der abgestellten Tasche passiert. Ich stemmte die Palette hoch und kroch lautlos fluchend darunter hervor. Diese Methode taugte nichts. Aber was hätte ich sonst tun sollen - eine Leiter kaufen und sie nachts durch die Straßen zum Zielobjekt schleppen? Ich arbeitete mich zu einer Ecke des Gebäudes vor, ließ mich auf Finger- und Zehenspitzen nieder, als wollte ich Liegestütze machen, und streckte meinen Kopf weit vor, um in Richtung Ball Street schauen zu können.

Ich ärgerte mich noch immer über mich selbst. Jetzt mußte ich womöglich die ganze Nacht improvisieren, um in eine Position zu gelangen, in der ich an den Bewegungsmelder herankam. Vielleicht wäre die Idee mit der Leiter doch nicht so dumm gewesen; ich hätte eine kaufen und irgendwo auf dem angrenzenden Gelände verstecken sollen, um sie nachts mitzunehmen. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Ich blieb an die Wand gelehnt stehen und dachte nach. Ich beschloß, »nach den Erfordernissen der Situation zu handeln«, was die beliebteste Fluchtklausel der Firma war. Sie bedeutete, daß kein Mensch wußte, was zu tun

war. In dieser Lage befand ich mich jetzt.

Scheiße, ich würde Kelly holen! Sie brauchte sich nur gegen die Paletten zu lehnen; sie brauchte mir nur eine Viertelstunde zu helfen, dann war ich fertig. Danach konnte sie bei mir bleiben, oder ich würde sie im Hotel absetzen. Diese Entscheidung konnte ich später treffen.

Ich nahm meine Tasche mit, ging zum Zaun zurück und deponierte Overall und Reisetasche auf der Zielseite des Zauns. Dann folgte ich dem Maschendrahtzaun und suchte einen Durchgang zur Ball Street, denn ich hatte nicht die Zeit, zweimal den großen Umweg zu machen. Schließlich fand ich eine schmale Durchfahrt zwischen zwei Gebäuden, die als Bauten für einen Film über die Mafia im New York der fünfziger Jahre hätten dienen können. Ich folgte ihr auf die Straße hinaus und erreichte keine zwei Minuten später das Hotel. Erst dann wurde mir klar, daß ich keinen Zimmerschlüssel hatte, weil ich ihn mit meinen Papieren vergraben hatte. Also würde ich Kelly wecken müssen.

Ich klopfte erst nur leicht, dann zunehmend energischer. Als ich in Panik zu geraten drohte, hörte ich Kellys Stimme »Hi, Nick!« sagen. Im nächsten Augenblick wurde die Zimmertür geöffnet.

Ich musterte Kelly sorgenvoll. »Woher hast du gewußt, daß ich draußen bin? Du hättest warten sollen, bis ich antworte.« Dann sah ich den Sessel und die Schleifspuren auf dem Teppichboden. Ich tätschelte ihr lächelnd den Kopf. »Du hast durch den Spion gesehen, stimmt’s? Hey, weil du so clever bist, habe ich einen Job für dich. Ich brauche wirklich ganz dringend deine Hilfe.

Möchtest du mir helfen?«

Sie wirkte verschlafen. »Was soll ich machen?«

»Das zeige ich dir, wenn wir dort sind. Kommst du mit?«

»Wenn’s sein muß.«

Ich hatte eine glänzende Idee. »Willst du machen, was Daddy tut? Was wir machen, tut Daddy nämlich auch immer. Hilfst du mir jetzt, kannst du ihm bald alles erzählen.«

Ihre Miene hellte sich auf. Sie war wieder ein glückliches kleines Mädchen.

Sie mußte fast rennen, um mit mir Schritt zu halten. Wir erreichten die Durchfahrt und hatten das unbebaute Gelände vor uns. Hier war es dunkel, und sie bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Sie wollte nicht mehr recht mit. »Wohin gehen wir, Nick?«

»Du willst doch Spion spielen, nicht wahr?« fragte ich aufgeregt flüsternd. »Stell dir vor, du bist als Power Ranger mit einem Geheimauftrag unterwegs.«

Wir überquerten das unbebaute Gelände und erreichten den Maschendrahtzaun. Ich behielt ihre Hand in meiner, und Kelly hielt tapfer Schritt; wahrscheinlich fand sie langsam Spaß an ihrer neuen Rolle.

Wir kamen zu meiner Reisetasche. Ich griff nach dem Overall und sagte: »Den muß ich anziehen, weil er ein spezieller Overall für Spione ist.« Kellys Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie den blauen Overall sah. Mir wurde schlagartig klar, daß sie eine Verbindung zu den Männern hergestellt haben mußte, die bei Kev gewesen waren. »Daddy trägt sie auch. Und du mußt auch wie eine Spionin aussehen. Komm, zieh deinen Mantel aus.« Ich kehrte das dunkle Futter nach außen und forderte sie auf, ihn so anzuziehen. Das gefiel ihr.

Ich hob die Tasche auf und hängte sie mir über die Schulter. Ich zeigte auf das Gebäude. »So, wir gehen jetzt langsam dort hinüber.«

Wir erreichten die Paletten, und ich stellte meine Tasche wieder dort ab, wo sie zuvor gestanden hatte. »Okay?« fragte ich mit hochgerecktem Daumen.

»Okay.« Auch Kelly reckte einen Daumen hoch.

»Siehst du das Ding dort oben? Wenn es dich sieht, heult eine Sirene los, und gleichzeitig leuchten Scheinwerfer auf, und dann sind wir verloren. Deshalb darfst du auf keinen Fall auf die andere Seite der Tasche gehen, okay?« Ich zeigte auf die abgestellte Reisetasche.

»Okay.« Noch mal ein hochgereckter Daumen.

Ich lehnte die Palette wieder an die Außenwand des Gebäudes und zeigte ihr, was sie tun sollte. Ich hörte, wie sie dabei kleine Grunzlaute ausstieß. Sie stemmte sich wie gezeigt gegen die Paletten und glaubte vermutlich, Geräusche von sich geben zu müssen, wenn sie schon körperlich arbeitete.

Ich zog den Reißverschluß der Tasche auf, holte das Uhrwerk und den halben Eierkarton heraus und steckte den Minutenzeiger in die Hülse aus Klebstreifen. Ich drückte sie leicht zusammen, damit er festsaß.

Kelly stemmte sich noch immer gegen die Paletten, und ich forderte sie auf, sich eine Pause zu gönnen.

Wenigstens war sie eifrig bei der Sache. Sie beobachtete mich, als ich mein improvisiertes Gerät auf den Boden legte und zwei Gummibänder über mein Handgelenk streifte.

»Paß auf, jetzt kommt ein Zaubertrick!«

Sie nickte, als überlegte sie gerade wieder, wie ich’s geschafft hatte, die Fernbedienung des Fernsehers unwirksam zu machen.

»Kann’s losgehen, Kelly?«

»Fertig.«

»Gut, dann los!«

Ich stieg langsam über die Paletten hinauf und versuchte mein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verlagern, damit Kelly nicht viel zu halten brauchte.

Auf dem oberen Rand der zweiten Palette stehend hatte ich den Bewegungsmelder in Reichweite. Ich preßte das Uhrwerk mit dem Eierkarton an die rauhe Außenwand des Gebäudes und führte es langsam nach rechts, bis es sich ungefähr fünfzehn Zentimeter vor und unter dem Sensor befand. Dort hielt ich meine Konstruktion fest. In dieser Haltung würde ich einige Minuten lang verharren müssen.

Ich wartete jetzt darauf, daß der Minutenzeiger den Eierkarton ganz langsam vor den Sensor des Bewegungsmelders hob. Das mußte so unmerklich geschehen, daß der Sensor nicht darauf reagierte - sonst hätte er bei jedem Käfer angesprochen, der über seine Oberfläche krabbelte. Ich konnte nur hoffen, daß Kelly nicht schlappmachte. Aber das würde sich bald herausstellen.

Gelegentlich sah ich zu ihr hinunter und blinzelte ihr zu. »Gut, was?« Sie reagierte mit einem strahlenden Lächeln. Das vermutete ich zumindest, denn eigentlich konnte ich nur einen gewendeten Mantel, eine hochgeschlagene Kapuze und eine Atemwolke sehen.

Während wir darauf warteten, daß der Minutenzeiger in die Senkrechte gelangte, war plötzlich das einzelne Uii-uii! einer sofort wieder ausgeschalteten Polizeisirene zu hören.

Scheiße! Scheiße!

Der Sirenenton war aus Richtung der Ball Street gekommen. Trotzdem konnte er nichts mit uns zu tun haben. Wozu sonst nur ein Fahrzeug, wozu überhaupt die Sirene benutzen?

Ich durfte meinen Platz nicht verlassen. Damit hätte ich den Bewegungsmelder ausgelöst - und wofür? Ich hatte bisher noch nicht mal eine Taschenlampe gesehen.

»Nick, Nick, hast du das gehört?«

»Alles in Ordnung, Kelly. Halt weiter fest. Schon gut, ich hab’s gehört.«

Was hätte ich anderes tun sollen? Ich ermahnte mich, nicht in Panik zu geraten, sondern abzuwarten und ruhig nachzudenken.

Dann hallte eine laute Stimme über den Parkplatz. Sie kam aus der Ball Street, aber aus einiger Entfernung. Andere Stimmen fielen mit ein. Offenbar gab es dort Streit. Was gesprochen wurde, war nicht zu verstehen, aber nach kurzem Wortwechsel wurde eine Autotür zugeknallt. Dann sprang ein Motor an. Ich konnte mir nur vorstellen, daß ein Pärchen in dieser einsamen Gegend geparkt hatte, während ich Kelly geholt hatte, und nun von der Polizei auf dem Rücksitz seines Wagens erwischt worden war. Das klang plausibel; ich zwang mich einfach dazu, es zu glauben.

Der Eierkarton stand inzwischen fast senkrecht. Ich hielt den Atem an. Für mein Vorhaben gab es keine Erfolgsgarantie; die Chancen, daß es wie vorgesehen klappte, standen bestenfalls fifty-fifty. Falls der Bewegungsmelder ansprach, würden wir Hals über Kopf flüchten müssen.

Schließlich verdeckte der Eierkarton den Sensor. Als kein Scheinwerfer aufflammte, holte ich tief Luft und zog mit den Zähnen die beiden dünnen Gummibänder von meinem Handgelenk. Ich streifte das erste über Karton und Sensor, zog es straff und schlang es verdreht nochmals über beide. Mit dem zweiten Gummiband fixierte ich den Karton noch fester. Damit war der Bewegungsmelder außer Betrieb gesetzt.

Ich zog das Uhrwerk von dem Karton ab und verstaute es in einer der tiefen Brusttaschen meines Overalls. Dann stieg ich vorsichtig von den Paletten herunter und klopfte Kelly anerkennend auf die Schulter. »Gut gemacht!«

Kelly lächelte strahlend. Ich merkte, daß sie nicht recht wußte, was das alles bedeutete. Aber, hey, das war schließlich das, was Daddy machte.

24

Als nächstes mußte ich die Alarmanlage stillegen, was

voraussetzte, daß ich die Telefonleitungen des Gebäudes neutralisierte. Zu den Dingen, die Pat besorgt hatte, gehörte ein Telefonunterbrecher: ein etwa fünfzehn mal zwanzig Zentimeter großer schwarzer Computerkasten, aus dem sechs verschiedenfarbige Kabel mit Krokodilklemmen herauskamen, die ich an die Telefonleitungen klemmen würde. Sprach die Alarmanlage an, wurde theoretisch die Polizei oder das Bewachungsunternehmen alarmiert; die Alarmmeldung würde jedoch nicht ankommen, weil ich alle Telefonleitungen blockiert hatte.

Ich beugte mich zu Kelly hinunter und sagte halblaut: »Du kannst mir jetzt noch mehr helfen.« Ich legte das Uhrwerk in die Reisetasche zurück, faßte sie an den Griffen und ging damit an der Brandschutztür vorbei zu den Verteilerkästen.

Aus der Tasche zog ich einen weiteren Gegenstand, der auf Pats Einkaufsliste gestanden hatte: ein zwei mal zwei Meter großes schwarzes Tuch, wie es Photographen benutzten.

Ich blinzelte Kelly mit Verschwörermiene zu. »Jetzt kommt der nächste Zaubertrick«, sagte ich, »und du mußte mir sagen, ob er funktioniert.« Statt zu flüstern, sprach ich nur sehr leise; Flüstertöne sind nachts manchmal fast so weit zu hören wie normales Sprechen. Ich brachte meine Lippen dicht an ihr Ohr heran. »Aber wir müssen ganz leise sein, okay? Willst du mit mir reden, klopfst du mir auf die Schulter. Dann sehe ich dich an, und du kannst in mein Ohr sprechen. Hast du verstanden?«

Sie sprach in mein Ohr. »Ja.«

»Großartig, denn so machen’s Spione.« Ich zog meine Latexhandschuhe an.

Sie stand mit ernster Miene neben mir, sah dabei aber mit ihrem gewendeten Mantel und der hochgeschlagenen Kapuze eher komisch aus.

»Siehst du irgendwo Licht rauskommen, klopfst du mir auch auf die Schulter, okay?«

»Yeah.«

»Gut, dann stell dich hier an die Wand.« Ich stellte sie so auf, daß sie den Zaun und die Büsche dahinter im Auge behalten konnte.

»Ich möchte, daß du ganz still stehst. Aber falls du etwas hörst oder siehst, klopfst du mir auf die Schulter, okay?«

»Klar.«

»Wenn auch nur ein bißchen Licht zu sehen ist, klopfst du mir ebenfalls auf die Schulter, okay?«

»Yeah.«

Ich trat an den Telefonverteilerkasten, öffnete ihn mit einem Dreikantschlüssel, zog mir das schwarze Tuch über Kopf und Schultern, schaltete die Maglite mit Rotfilter ein und machte mich an die Arbeit.

Telefonunterbrecher hatte ich schon oft benutzt. Ich hielt meine Taschenlampe zwischen den Zähnen fest, während ich die Krokodilklemmen an verschiedene Stellen des Telefonkabels anlegte. Dabei leuchteten jeweils Kontrollämpchen auf, und ich mußte versuchen, alle sechs roten Lämpchen nebeneinander zum Leuchten zu bringen. Sobald sie aufleuchteten, waren sämtliche

Leitungen belegt. Das Ganze dauerte nur zehn Minuten.

Den schwarzen Kasten ließ ich im Verteilerschrank liegen. Ich konnte nur hoffen, daß die Alarmanlage nicht auch mit einer Sirene für akustischen Alarm gekoppelt war. Aber das bezweifelte ich, seit ich gesehen hatte, daß die Rückseite des Gebäudes offenbar aus Sparsamkeitsgründen nur mit einem einzigen Bewegungsmelder gesichert war.

Ich streifte das schwarze Tuch ab, legte es lose zusammen und drückte es Kelly in die Hand. »Du mußt es für mich halten, weil ich’s gleich wieder brauche. Das macht Spaß, nicht wahr?«

»Ja. Aber mir ist kalt.«

»Wir sind gleich drin, und da ist’s schön warm. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

Ich blieb stehen, um zu lauschen, bevor ich an die Brandschutztür trat. Als nächstes mußte ich das Türschloß knacken.

Die Amerikaner haben eine Vorliebe für Sicherheitsschlösser, die sich mit drei Methoden knacken lassen. Die erste ist die einfachste: Man beschafft sich einen Zweitschlüssel. Bei der nächsten benutzt man einen Titanschlüssel in der entsprechenden Größe, den man mit Hammerschlägen ins Schloß treibt. Der Titanschlüssel verkeilt sich darin, und mit einem außen anzuschraubenden Hebel kann man das ganze Zylinderschloß herausreißen. Aber diese Methode kam heute nicht in Frage, weil niemand merken sollte, daß ich hier eingedrungen war. Folglich würde ich die dritte benutzen müssen.

Ein Mehrzweckdietrich ist ein handliches kleines Gerät in Pistolenform, das für alle handelsüblichen Schlösser geeignet ist. Sein »Abzug« ist federbelastet; durch rasche Betätigung erreicht man, daß der Dietrich im Schloß nach oben schnellt und die Zylinderstifte entriegelt. Sind sie dann in der richtigen Position, benutzt man einen kleinen Drehmomentschlüssel, um den Schloßzylinder zu drehen. Eine betrübliche Nachricht für Besitzer von Sicherheitsschlössern: Mit einem

Mehrzweckdietrich lassen sich die meisten in weniger als einer Minute öffnen.

Ich zog mir wieder das schwarze Tuch über Kopf und Schultern, knipste die Maglite mit Rotfilter an und nahm sie zwischen die Zähne, als ich mich an die Arbeit machte. Als ich den Abzug mehrmals rasch nacheinander betätigte, konnte ich deutlich das Klicken der Zylinderstifte hören. Dabei drehte ich den schon angesetzten Drehmomentschlüssel nach links und drückte die Tür gegen den Rahmen, um nicht zuviel Kraft aufwenden zu müssen. Noch ein kurzer Ruck, dann fühlte ich, wie die Stahltür nachgab.

Ich öffnete sie nur einen Spalt und rechnete fast damit, daß ein Alarmsignal losschrillen würde. Ich grinste zu Kelly hinüber, die dicht neben mir an der Wand stand und mich aufgeregt beobachtete. Ich schloß die Brandschutztür wieder, damit kein Licht ins Freie drang. »Drinnen darfst du nur anfassen, was ich dir sage, okay?« Sie nickte wortlos.

Ich streifte den Overall ab, kehrte seine Innenseite nach außen und legte ihn in die Reisetasche. Als nächstes zog ich die Schuhe aus, die zu dem Overall in die Tasche kamen. Dann schlüpfte ich in Sportschuhe; damit konnte ich mich nicht nur rasch und lautlos bewegen, sondern hinterließ vor allem keine verräterischen Schmutzspuren auf den Teppichböden. Danach kümmerte ich mich um Kelly: Ich half ihr aus dem Mantel, wendete ihn, bevor sie ihn wieder anzog, und ließ sie ihre Schuhe in die Reisetasche legen.

Zuletzt noch ein Blick in die Runde, um mich zu vergewissern, daß nichts liegengeblieben war. »Wir gehen jetzt rein, Kelly. Dies ist bestimmt das erste Mal, daß ein kleines Mädchen so spioniert - das allererste Mal. Aber du mußt tun, was ich sage, okay?«

Sie nickte nachdrücklich.

Ich hängte mir die Reisetasche über die Schulter und trat links neben die Tür. »Wenn ich sie jetzt aufmache, gehst du schnell ein paar Schritte rein und läßt mir genug Platz, damit ich nachkommen kann, okay?«

»Okay.«

Ich wollte ihr nicht sagen, was sie tun sollte, falls etwas schiefging, denn sie sollte sich nicht ängstigen. Statt dessen sollte alles so klingen, als würde diese Sache selbstverständlich klappen.

»Auf drei . eins, zwei, drei!« Ich zog die Tür etwa halb auf, und Kelly war blitzschnell hindurch. Ich folgte ihr nur wenig langsamer und zog dann die Tür hinter mir ins Schloß. Geschafft! Wir waren drinnen.

Wir folgten dem Korridor auf der Suche nach der Treppe in den ersten Stock. Ich trug meine Reisetasche weiter über der linken Schulter. Durch zwei Glastüren am

Ende des Korridors konnte ich den vorderen Teil des Gebäudes sehen. Dort lag ein Großraumbüro mit allem, was man von einem Arbeitsraum dieser Art erwartete: Schreibtische, Aktenschränke, Gummibäume mit Namensschildern. Links und rechts von uns lagen weitere Büros und ein Photokopierraum. Die Klimaanlage arbeitete offenbar auch nachts.

Die Treppe lag hinter einer nicht abgesperrten Schwingtür. Ich zog einen der Flügel langsam auf, damit er nicht knarrte, und ließ Kelly vorausgehen. Das Treppenhaus war unbeleuchtet. Ich schaltete die Maglite an und richtete den Lichtstrahl auf die Stufen. Wir stiegen langsam die Treppe hinauf.

Obwohl wir uns möglichst leise bewegten, war das Treppenhaus eine Echokammer, und für Kelly mußte das rote Licht alles noch unheimlicher erscheinen lassen. »Nick, das gefällt mir nicht!« sagte sie leise.

»Psst! Keine Angst, alles in Ordnung, Daddy und ich haben das schon oft gemacht.« Ich ergriff ihre Hand, und wir stiegen weiter die Treppe hinauf.

Oben standen wir vor der nächsten Tür. Sie würde nach außen aufgehen, weil dies ein Notausgang war. Ich stellte meine Tasche ab, beugte mich zu Kelly hinunter, machte nochmals »Psst!« und bemühte mich, alles aufregend klingen zu lassen.

Dann zog ich die Tür langsam einen Spalt weit auf und sah in den Korridor hinaus. Alles wie unten: Das Licht brannte, und die Büroräume schienen menschenleer zu sein. Ich horchte, dann öffnete ich die Tür etwas weiter, um Kelly hindurchzulassen, und zeigte ihr, wo sie stehenbleiben sollte. Sie war sichtbar erleichtert, weil es hier wieder hell war.

Ich stellte die Tasche neben ihr ab. »Du wartest einen Augenblick hier, okay?« Ich ging nach rechts an den Toiletten und einem Raum mit Kaffee- und Getränkeautomaten vorbei. Danach kam ein Photokopierraum. Ich erreichte die zur Feuertreppe hinausführende Brandschutztür und überzeugte mich davon, daß sie sich geräuschlos öffnen ließ. Daß es auf der Treppe keine Hindernisse gab, wußte ich bereits - schließlich hatte ich mich lange genug unter ihr herumgetrieben. So hatten wir für den Notfall einen Fluchtweg.

Ich hängte mir die Tasche wieder über die linke Schulter, und wir gingen den Korridor entlang zur Vorderseite des Gebäudes. Wir erreichten eine zweiflüglige Glastür, die wie unten in ein Großraumbüro führte. Entlang der Seitenwände waren kleine Glaskästen als Büros eingerichtet. Die Chefs legten offenbar Wert darauf, ihre Mitarbeiter gut im Auge behalten zu können.

Die Fenster zur Straße waren ungefähr fünfzehn Meter entfernt. Das Licht aus dem Korridor und der reflektierte Lichtschein der Straßenbeleuchtung tauchten das Großraumbüro in ungewisses Dämmerlicht. Rechts sah ich eine weitere Glastür, die in einen zweiten Korridor führte.

Ich wußte, was ich suchte, aber ich wußte nicht, wo es zu finden war; ich wußte nur, daß ich es bestimmt nicht in diesem Teil des Gebäudes finden würde.

Ich sah zu Kelly hinunter und lächelte ihr zu. Sie war so glücklich und zufrieden, wie ihr Daddy es in dieser Situation gewesen wäre. Wir hielten reichlich Abstand von den Fenstern, als wir nun den Raum durchquerten, um zu der zweiten Glastür mit dunkel getönten Scheiben zu gelangen.

Wir gingen durch diese Glastür. Der Korridor dahinter war ungefähr drei Meter breit und auffällig kahl: weißgestrichene Wände, nirgends ein Poster oder eine Topfpflanze, nur ein großer Feuerlöscher gleich neben der Tür. Die Deckenbeleuchtung war so schmerzhaft hell, daß ich kurz die Augen schloß. Hier gab es keine weiteren Türen, aber nach etwa zehn Metern verzweigte der Gang sich T-förmig. Dort gab es wieder Büros. Ich stellte die Tasche ab und bedeutete Kelly, sie sollte bei ihr bleiben. »Und denk daran - nichts anfassen!«

In alle Bürotüren des Quergangs war ein großer Metallknopf mit Zylinderschloß eingelassen. Ich versuchte, eine nach der anderen zu öffnen, indem ich den Knopf ergriff und geräuschlos zu drehen versuchte. Alle sieben Büros auf diesem Korridor waren abgesperrt. Das war an sich nichts Außergewöhnliches; es bedeutete nur, daß ich jede einzelne Tür mit meinem Dietrich würde öffnen müssen.

Ich ging zu meiner Tasche zurück. Kelly, die sie bewachte, sehnte sich sichtlich nach einem neuen Auftrag. »Paß auf, du mußt mir jetzt wirklich helfen«, sagte ich. »Ich möchte, daß du dich hinstellst, wo ich’s dir sage, und mir sofort sagst, wenn jemand kommt, okay? Ich muß wieder tun, was ich draußen getan habe, und dabei brauche ich deine Hilfe. Okay?«

Sie nickte bei jedem Satz eifrig. »Das ist wirklich wichtig«, fuhr ich fort, »das ist für heute nacht dein wichtigster Auftrag. Und wir müssen schrecklich leise sein, okay?«

Wieder ein Nicken. Ich stellte sie in Position. »Außerdem mußt du auf die Tasche aufpassen, weil darin lauter wichtige Sachen liegen. Wenn du irgendwas siehst, klopfst du mir wie vorhin auf die Schulter.«

Kelly nickte erneut, und ich holte den Mehrzweckdietrich aus der Tasche.

Ich stand vor der ersten Bürotür und betätigte den Abzug. Als ich das Schloß mit dem Drehmomentschlüssel geöffnet hatte, streckte ich meinen Kopf durch die Tür und überzeugte mich davon, daß der Raum fensterlos war, bevor ich Licht machte. Hinter der Tür lag ein geräumiges Büro, etwa fünfmal sechs Meter groß, mit mehreren Telefonen, einem gerahmten Familienphoto auf dem Schreibtisch, einigen Aktenschränken, eher spartanisch möbliert. Nichts ließ darauf schließen, daß ich hier finden würde, was ich suchte. Für den Inhalt der Aktenschränke interessierte ich mich noch nicht; der erste Blick soll nur einen Gesamteindruck vermitteln; man will sich nicht endlos lange in einem Raum aufhalten, nur um später feststellen zu müssen, daß alles, was man sucht, im Büro nebenan auf dem Schreibtisch liegt.

Für den Fall, daß ich diesen Raum später nochmals betreten mußte, sperrte ich die Tür nicht wieder ab. Ich ließ die Tür offen und sah beim Hinausgehen zu Kelly hinüber, die wachsam auf ihrem Posten stand. Kelly grinste, als sie meinen hochgereckten Daumen sah. Sie war sich ihrer verantwortungsvollen Aufgabe bewußt.

Ich sperrte Büro Nummer zwei auf. Auch dort nur der übliche Scheiß: ein Jahresplaner mit verschiedenfarbigen Markierungen, ein Nichtraucherplakat und ein Tablett mit verschiedenen Kaffeebechern. Büros spiegeln die Persönlichkeit ihrer Besitzer wider; deshalb mußte ich darauf achten, hier nichts zu verändern. Das wäre sofort aufgefallen.

Ich ging den Korridor entlang zur Nummer drei. Wieder das gleiche. Vier: auch nicht anders. Ich hatte langsam den Verdacht, Pats Tip könnte sich als Pleite erweisen.

Jetzt zu den restlichen drei Büros. Als ich auf die andere Seite der T-förmigen Einmündung ging, bemühte sich Kelly, noch wachsamer auszusehen. Ich reckte nochmals meinen Daumen hoch und nahm mir Nummer fünf vor.

Dieses Büro war merklich größer als die anderen. Hier gab es eine Sitzgruppe mit zwei Sofas und einem Couchtisch, auf dem einige Zeitschriften lagen, einen Spiegelschrank mit Barfach, elegante Büromöbel und alle möglichen gerahmten Urkunden an den Wänden. Aber nichts, das wie die Dinge aussah, die ich suchte.

Hinter dem großen Schreibtisch mit dem Ledersessel befand sich jedoch eine weitere Tür. Ich sperrte sie mit meinem Dietrich auf und betrat einen weiteren Raum mit Aktenschränken, einem phantastisch teuer aussehenden Schreibtisch mit lederbespannter Platte und einem Drehsessel. Auf dem Schreibtisch stand ein PC ohne sichtbare Verbindung zum Computernetz der übrigen Büros. Hier gab es nicht einmal ein Telefon. Alles wies darauf hin, daß dies die Zentrale sein könnte. Ein rascher Blick in die beiden letzten Büros bestätigte, daß es richtig war, sich auf diesen Raum zu konzentrieren.

Ich ging zu meiner Tasche zurück, um die Polaroidkamera zu holen. Kelly paßte noch immer auf wie ein Luchs. Ich lächelte ihr zu. »Ich glaube, ich hab’s, Kelly!«

Sie erwiderte mein Lächeln, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon ich redete.

Als erstes machte ich Photos des luxuriösen großen Büros - wie es auf der Schreibtischplatte aussah, ein paar Gesamtaufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die Sitzgruppe mit dem Couchtisch und den ausliegenden Zeitschriften, Insgesamt machte ich acht Aufnahmen. Nun wußte ich genau, wie es hier ausgesehen hatte, und konnte den Raum später so zurücklassen, wie ich ihn vorgefunden hatte.

Ich legte die Polaroidbilder neben der Tür in einer Reihe auf den Fußboden. Die Filmabfälle steckte ich sorgfältig ein.

Während ich darauf wartete, daß die Motive deutlicher hervortraten, öffnete ich die Bürotür und warf einen Blick in den Flur, um nach Kelly zu sehen.

Ich ging hinaus, holte meine Tasche und nahm Kelly mit in das große Büro. »Ich möchte, daß du mir sagst, wenn die Bilder fertig sind«, sagte ich. »Du darfst hier nichts anfassen, aber ich muß wissen, wann die Bilder fertig sind. Das ist immer Daddys Aufgabe gewesen.«

»Wirklich?«

Ich schloß die Tür hinter uns und blockierte sie mit zwei Türstoppern. Dann ging ich nach nebenan, um weitere Aufnahmen zu machen. Hier hatte keine Putzfrau gearbeitet. In den anderen Büros waren die Papierkörbe leer gewesen; hier waren sie halb voll und wurden offenbar selbst geleert - aber nicht jeden Tag. Auch das deutete darauf hin, daß dies ein Sicherheitsbereich war. Und der in dem kleineren Büro aufgestellte Aktenvernichter bestätigte meine Annahme. Trotzdem wußte ich noch immer nicht, was hier geheimhaltungsbedürftig war. Ich legte die zweite Serie Polaroidbilder auf den Fußboden neben der Tür und ging wieder in das große Büro hinüber.

Ich sah Kelly über die Schulter. »Wie werden die Bilder?«

»Sieh nur, eines ist schon fast fertig!«

»Klasse. Daddy sammelt dann auch die anderen Bilder ein«, sagte ich und zeigte auf die Photos im Raum nebenan. »Eines nach dem anderen, um sie hier in einer schönen Reihe an der Wand aufzustellen.« Ich zeigte ihr, wo ich sie haben wollte. »Kannst du das auch?«

»Natürlich!«

Ich ging wieder nach nebenan und warf einen Blick auf den PC. Er war betriebsbereit, aber der Bildschirm war vorläufig noch dunkel. Hinter mir ging Kelly ein und aus; sie trug jedesmal ein Polaroidbild, als sei es eine Bombe.

Ich drückte die Return-Taste, um die Maus, deren Position genau bestimmt sein konnte, nicht anfassen zu müssen. Auf dem Bildschirm erschien Windows 95; gleichzeitig erklang die Microsoft-Melodie. Das war erfreulich, denn mit jedem anderen Betriebssystem hätte ich Schwierigkeiten gehabt.

Ich ging zu Kelly zurück, die nebenan die Photos beobachtete.

»Sieh nur«, sagte sie, »schon wieder welche fertig!«

Ich nickte, während ich in der Reisetasche nach der CD-ROM mit dem Schnüfflerprogramm wühlte. Ich war nicht so gut wie die sechzehnjährigen Londoner Hacker, die ins Computersystem der US-Luftwaffe eingedrungen waren, aber ich wußte, wie man mit diesen Dingern umging. Man braucht sie nur ins Laufwerk einzulegen, damit sie von selbst Kennwörter ermitteln und Dateien durchsuchen. Nichts ist vor ihnen sicher.

Ich richtete mich auf und ging zurück nach nebenan. »Dauert nicht lange«, sagte ich lächelnd. »Du kannst rüberkommen und mir sagen, wenn alle fertig sind.«

Sie nickte wortlos, ohne die Bilder aus den Augen zu lassen. Als ich zurückging, sah ich die Spuren, die wir in dem hochflorigen Teppichboden hinterlassen hatten. Die würde ich beseitigen, bevor wir gingen.

Ich legte die CD-ROM ein und startete sie. Das wundervolle an diesem speziellen Programm war, daß man sich immer nur zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden mußte. Ich hörte ein Wup! und sah bereits die erste Frage auf dem Bildschirm.

»Wollen Sie mit X1222 fortfahren? Ja - J. Nein - N.«

Ich drückte die Taste J. Das Laufwerk begann zu arbeiten. Die Anzeige signalisierte mir, daß dieses

Stadium einige Minuten dauern würde.

Während das Schnüfflerprogramm lief, holte ich einen Satz kleinerer Dietriche aus der Reisetasche und nahm mir die Aktenschränke vor. Die Standardschlösser waren leicht zu knacken, aber mit dem Inhalt der Aktenordner - Geschäftskorrespondenz und Rechnungen - konnte ich nichts anfangen.

Ich sah wieder zum Bildschirm hinüber. Das Programm hatte seine Suche fast abgeschlossen.

Wup! Die Anzeige hatte hundert Prozent erreicht. Im nächsten Augenblick erschien ein Kästchen mit dem Text: Kennwort: SoO-Ss1time! Immerhin ein originelles Kennwort; normalerweise wurde etwas Einfallsloses wie der Kosename des Ehegatten, das Geburtsdatum eines Familienmitglieds oder ein Autokennzeichen verwendet. Dann erschien wieder die Frage: »Wollen Sie fortfahren? Ja - J. Nein - N.«

Klar wollte ich! Ein Druck auf die Taste J, und schon war ich eingeloggt. Ich griff wieder in die Reisetasche und holte das externe Laufwerk mit den Anschlußkabeln und eine Handvoll HD-Disketten heraus.

Dann ging ich um den PC herum und sah mir die Kabelführung gründlich an. Ich schloß das externe Laufwerk an und steckte sein Stromkabel in die Steckerleiste. Ich würde alles kopieren: Programme, Dokumente, Einstellungen, einfach alles.

Jetzt mußte ich die Maus doch bewegen. Ich machte ein Polaroidbild von ihrer Position auf dem Mousepad und prägte sie mir genau ein, bevor ich die Maus anfaßte.

Ich klickte das Dialogfeld für Sicherungskopien aller

Dateien an, und das externe Laufwerk begann zu surren, während die Informationen auf meine Disketten übertragen wurden. Ich trat wieder an die Aktenschränke und blätterte die Ordner erneut durch, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Ich konnte nur hoffen, durch Zufall auf irgend etwas zu stoßen, das mir bekannt vorkam.

Wup! Ein Dialogfeld zeigte an, daß die SchnüfflerSoftware neue Anweisungen brauchte. Sie hatte ein weiteres Kennwort ermittelt und fragte nun, ob ich fortfahren wollte.

Ich drückte die Taste J.

Die Maschinen surrten weiter. Ich sah wieder zu Kelly hinüber. Sie stand noch bei den Photos, spielte jetzt aber anscheinend ein Spiel mit einem imaginären Spielgefährten. Genau wie ihr Dad ... auch bei der Arbeit in Gedanken ständig woanders.

»Kommst du bitte mit, Kelly? Falls dieser Computer wieder etwas von mir wissen will, sehe ich seine Frage vielleicht nicht - paßt du bitte für mich auf?«

»Okay.« Der neue Job war offenbar nicht so aufregend, wie sie gehofft hatte.

Als Kelly mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem Boden hockte, sah sie zur mir auf und sagte: »Nick, ich muß mal.«

»Okay, Augenblick, ich bin fast fertig.« Ein paar Minuten würde sie noch durchhalten können. »Gleich kannst du auf die Toilette.«

Wup! Ich drückte die Taste J.

»Nick, ich muß wirklich«, sagte Kelly. »Ganz

dringend!«

Was sagte man in diesem Fall zu einer Siebenjährigen? Zuletzt fragte ich sie: »Mußt du groß oder klein?«

Sie starrte mich verständnislos an. Was sollte ich machen? Um sich nicht durch das Rauschen der Wasserspülung zu verraten, vermied man bei Einsätzen dieser Art normalerweise jegliche WC-Benutzung. Deshalb hatte ich die Orangensaftflasche mitgebracht, um hineinpinkeln zu können - und eine Schrumpffolie für alles andere. Aber ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie das bei Kelly funktionieren sollte.

»Ich muß aber, ich muß aber!« drängte Kelly. Sie rutschte unruhig herum und schlug die Beine übereinander. Dann sprang sie auf und fing an, um mich herumzutanzen.

»Okay, wir gehen«, entschied ich. »Los, komm mit!«

Ich faßte sie an der Hand. Nachdem ich die Türstopper entfernt hatte, öffnete ich die äußere Bürotür einen Spalt und sah in den Korridor hinaus.

Wir gingen durch das Großraumbüro, die zweiflüglige Glastür und den zur Feuertreppe führenden Korridor. Wir betraten die Toilette, und ich machte Licht. Die arme Kleine hatte es wirklich verdammt eilig.

Hier vergeudete ich kostbare Zeit. Ich konnte nicht beurteilen, wie lange sie brauchen würde, und mußte dringend an den Computer zurück. »Du bleibst hier, wenn du fertig bist, okay?« sagte ich von der Tür zum Korridor. »Ich muß nur schnell nach dem Computer sehen. Aber ich komme gleich wieder und hole dich ab.«

In diesem Augenblick war es ihr egal, wohin ich ging und was ich tat. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Wup! Ich hastete lautlos den Korridor entlang und beeilte mich, an den Computer zurückzukommen. Dann drückte ich die Taste J.

In diesem Augenblick hörte ich einen gellenden Schrei.

Ich zog instinktiv meine Pistole, entsicherte sie mit einem Daumendruck und blieb an die Wand neben der Tür gepreßt stehen.

Ich spürte mein Herz jagen und hatte das vertraute Gefühl, sekundenschnell in kalten Schweiß gebadet zu sein. Mein Körper machte sich zum Kampf oder zur Flucht bereit. Der Schrei war aus dem Bereich der Feuertreppe gekommen, die mein einziger Fluchtweg war. Also würde ich vermutlich kämpfen müssen.

25

Mein Herz hämmerte wie rasend, als wolle es meinen Brustkorb sprengen. Ich wußte längst, daß Angst etwas Gutes sein kann. Wer keine hat, lügt - oder ist geistig labil. Jeder von uns hat Angst, aber als Profi setzt man Ausbildung, Erfahrung und Wissen ein, um diese Empfindung zu blockieren und sogar zur Lösung des Problems zu nutzen.

Ich war noch dabei, mir einen Aktionsplan zurechtzulegen, als ich einen längeren, erbärmlicheren Schrei hörte: »Nick! Hilf mir!« Ihr Hilferuf traf mich mitten ins Herz. Vor meinem inneren Auge erschienen Bilder, wie ich sie in ihrem Versteck zusammengekauert gefunden, ihr die Haare gebürstet und mit ihr das dumme Videofilmspiel gespielt hatte ...

Ich war jetzt an der äußeren Tür zum Korridor.

Dann hörte ich eine Männerstimme rufen: »Ich hab’ sie! Ich bring sie um! Denken Sie gut darüber nach. Zwingen Sie mich nicht dazu, es zu tun!«

Das war keine amerikanische Stimme. Trotzdem erkannte ich sofort, woher dieser Mann stammte: WestBelfast.

Er schien jetzt mit ihr in dem Großraumbüro zu sein. Während sie weiterkreischte, fing er an, neue Drohungen in meine Richtung zu brüllen. Ich verstand nicht jedes Wort, aber das war gar nicht nötig. Ich verstand auch so, was er meinte.

»Okay, okay! Sie sehen mich gleich.« Meine Stimme hallte durchs Halbdunkel.

»Halt! Erst Ihre Waffe auf den Gang werfen! Los, los!«

Dann hörte ich, wie er Kelly anbrüllte: »Halt’s Maul! Halt endlich die Klappe!«

Ich verließ das Büro und blieb kurz vor der Einmündung des anderen Korridors stehen. Ich schob meine Pistole mit einem Fuß auf den Hauptflur hinaus.

»Hände auf den Kopf und langsam auf den Korridor raustreten. Bloß keine Tricks, sonst ist die Kleine tot - haben Sie verstanden?«

Die Stimme klang beherrscht; sie klang nicht wie die eines Verrückten.

»Gut, ich komme mit den Händen auf dem Kopf raus«, stimmte ich zu. »Wann soll ich kommen?«

»Jetzt, Arschloch!«

Kellys Schreie waren selbst durch die Glastür hindurch ohrenbetäubend laut.

Ich setzte mich in Bewegung. Vier kurze Schritte brachten mich mitten in die Einmündung des Hauptkorridors. Ich wußte, daß ich die beiden durch die Glastür hätte sehen können, wenn ich meinen Kopf nach links gedreht hätte, aber dafür war es noch zu früh. Ich wollte keinen vorzeitigen Blickkontakt, der eine Überreaktion auslösen konnte.

»Halt, so stehenbleiben, Arschloch!«

Ich blieb stehen. Kellys Schreie wurden leiser und gingen in ein Wimmern über. Ich stand schweigend da, ohne den Kopf zu drehen.

In Filmen wird immer gezeigt, wie der Held der Geisel gut zuredet. Im richtigen Leben läuft die Sache anders ab: Man hält einfach den Mund und tut, was einem befohlen wird.

»Nach links drehen«, forderte er mich auf.

Jetzt konnte ich die beiden im Halbdunkel sehen. Kelly kehrte mir den Rücken zu, während er sie mit einer zwischen ihre Schultern gedrückten Waffe auf mich zuschleifte. Er stieß die Glastür mit dem Fuß auf und kam in den beleuchteten Korridor heraus.

Sobald ich ihn sah, hörte mein Herz zu jagen auf und hämmerte langsam weiter. Ich hatte das Gefühl, auf meinen Schultern liege plötzlich eine zentnerschwere Last.

Der Mann war Morgan McGear.

In einem dunkelblauen Zweireiher mit weißem Hemd und Krawatte wirkte er sehr elegant; sogar seine Schuhe sahen teuer aus. Seine Aufmachung unterschied sich erheblich von der in der Falls Road üblichen Uniform aus Jeans, Bomberjacke und Sportschuhen. Ich konnte nicht genau sehen, mit welcher Waffe er Kelly bedrohte; jedenfalls war es irgendeine Pistole.

Er beobachtete mich und versuchte mich einzuschätzen. Was tat ich hier in Begleitung eines kleinen Mädchens? Er wußte, daß er ganz Herr der Lage war, daß wir ihm hilflos ausgeliefert waren. Er hielt Kelly mit der linken Hand an den Haaren gepackt - nur schade, daß ich sie ihr nicht noch kürzer geschnitten hatte -, während er die Mündung seiner Waffe gegen ihren Hals preßte. Das war keine leere Drohung; McGear war ohne weiteres imstande, sie zu erschießen.

Kein Wunder, daß die arme Kleine vor Angst offensichtlich hysterisch war.

»Herkommen, aber langsam!« befahl er mir laut. »Los, los, wird’s bald? Mach bloß keine Dummheiten, Scheißkerl!«

Die kahlen Korridorwände schienen jedes Geräusch zehnfach verstärkt zurückzuwerfen. McGear brüllte mich mit Schaum vor dem Mund an, und Kelly begann wieder zu kreischen. Das ganze Gebäude hallte von diesem Lärm wider.

Ich gehorchte und ging langsam auf ihn zu. Als ich näherkam, versuchte ich, Kellys Blick auf mich zu lenken, um sie irgendwie zu beruhigen, aber das klappte nicht. Sie weinte hemmungslos weiter, und ihr tränennasses Gesicht war rot und geschwollen. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, ihre Jeans richtig zuzumachen.

Er ließ mich bis auf etwa drei Meter an sich herankommen. Als ich ihm jetzt in die Augen sah, merkte ich, daß er sich seiner Machtposition bewußt, aber trotzdem nervös war. Seine Stimme mochte selbstsicher klingen, aber sein Blick verriet, wie ihm wirklich zumute war. Falls er den Auftrag hatte, uns zu liquidieren, mußte er jetzt handeln. Mein Blick forderte ihn auf, diese Sache hinter sich zu bringen. Es gibt Situationen, in denen man - nachdem Plan A, B und C fehlgeschlagen sind - akzeptieren muß, daß man in der Scheiße sitzt.

»Halt!« blaffte er. Der Widerhall im Korridor schien seinen drohenden Tonfall noch zu verstärken.

Ich starrte weiter Kelly an, um ihr durch meinen Blick zu sagen: »Alles okay, alles in Ordnung. Du hast um Hilfe gerufen, und ich bin hier.«

Als er mir befahl, mich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen, wußte ich, daß ich vermutlich nicht mehr lange zu leben hatte.

»Auf die Knie, Scheißer«, verlangte er.

Ich ließ mich mit dem Rücken zu ihm auf meine Hacken nieder; falls sich doch eine gute Chance zur Gegenwehr ergab, hatte ich so wenigstens eine Art Sprungbrett.

»Auf!« brüllte er. »Aufrichten, sieh zu, daß du den Arsch hochkriegst!« Er wußte genau, was ich tat; dieser Junge verstand seine Sache. »Du sollst dich aufrecht hinknien. Höher! Jetzt so bleiben. Du hältst dich

bestimmt für ’nen verdammt harten Burschen ...«

Er kam hinter mir näher, ohne Kelly loszulassen. Ich hörte sie weiter kreischen, aber außer den Bewegungen der beiden und Kellys Jammern war jetzt noch ein weiteres Geräusch zu hören. Ich konnte es nicht deuten, sondern wußte nur, daß bald etwas Ungesundes passieren würde. Ich konnte nur die Augen schließen, die Zähne zusammenbeißen und darauf warten.

McGear machte ein paar schwerfällige Schritte auf mich zu. Ich hörte auch Kelly näher kommen; also schleppte er sie weiter mit.

»Nicht umsehen, sonst passiert der Kleinen was«, sagte er warnend. »Keine Tricks, sonst .«

Er brachte den Satz nicht zu Ende - oder ich bekam nichts mehr mit. Ein Schlag gegen Hinterkopf, Nacken und Schultern ließ mich kraftlos nach vorn fallen.

Ich blieb halb bewußtlos liegen. Ich konnte noch einigermaßen klar denken, aber ich wußte, daß ich erledigt war. Ich glich einem Boxer, der sich nach einem Schlag aufzurappeln und dem Ringrichter zu zeigen versucht, daß ihm nichts fehlt, obwohl er sich in Wirklichkeit nicht mal auf den Beinen halten kann.

Ich fühlte mich auf dem Boden festgenagelt; als ich jetzt aufsah, konnte ich nicht erkennen, was mich getroffen hatte. Seine Pistole war es nicht gewesen. Man braucht etwas ziemlich Schweres, um einen Menschen so niederzuschlagen. Jedenfalls hatte er mich voll getroffen.

Seltsam war nur, daß ich zwar wußte, was mit mir geschah, aber nichts dagegen tun konnte. Ich merkte, daß er mich auf den Rücken wälzte und sich rittlings auf meine Brust setzte; ich spürte, wie kaltes Metall mein Gesicht berührte und dann in meinen Mund gesteckt wurde. Langsam begriff ich, daß es seine Pistole war, und verstand nun auch, was McGear wie ein Verrückter kreischte. »Dir werd ich’s zeigen! Dir werd ich’s zeigen! Dir werd ich’s zeigen!« Er schien völlig übergeschnappt zu sein.

Dann merkte ich, warum. McGear war angetrunken; der ganze Kerl stank nach Alkohol, Rasierwasser und Zigaretten.

Er hockte rittlings auf meiner Brust, nagelte meine Schultern mit den Knien fest und hatte den Lauf seiner Pistole in meinen Mund gesteckt. Kelly, in deren Haar seine linke Hand noch immer verkrampft war, hatte er mit sich zu Boden gerissen; dort schüttelte er sie wie eine Stoffpuppe - aus reiner Bösartigkeit oder vielleicht auch, damit sie weiterkreischte und mich gefügiger machte.

Mir gellten die Ohren von diesem unaufhörlichen Schreien, Schreien, Schreien. »Dir werd ich’s zeigen! Dir werd ich’s zeigen! Du hältst dich für ’nen verdammt harten Kerl, nicht wahr, für ’nen verdammt harten Kerl, was?«

Nicht gut. Ich wußte, was die PIRA-Leute mit »harten Kerlen« machten. In einem Apartment im Neubaugebiet Divis hatte McGear einmal einen Polizeispitzel verhört; seine Männer und er hatten die Kniescheiben des armen Kerls mit einer Bohrmaschine durchbohrt, ihm mit einem Heizlüfter Brandwunden zugefügt und ihn in der Badewanne unter Strom gesetzt. Er hatte es geschafft, nackt aus dem Fenster zu springen, aber er hatte sich dabei das Rückgrat gebrochen. Die PIRA-Leute hatten ihn ins Haus zurückgeschleift und im Lift erschossen.

Ich kam mir wie betrunken vor. Ich merkte, was mit mir geschah, aber es dauerte viel zu lange, bis die Meldungen mein Gehirn erreichten.

Die Software begann wieder zu funktionieren. Ich versuchte zu erkennen, ob der Hammer der Pistole zurückgezogen war, aber ich sah nur rote und weiße Leuchtkugeln vor meinen Augen. Gleichzeitig hörte ich ihn wie einen Verrückten weiter schreien und toben: »Du verdammtes Schwein! Dir werd ich’s zeigen! Wer bist du?« Und Kelly kreischte mit unverminderter Lautstärke weiter. Totales Chaos.

Ich versuchte nochmals, mich auf die Waffe zu konzentrieren, und diesmal klappte es - ich konnte die Hammerstellung erkennen.

Der Hammer war zurückgezogen. Die Waffe war eine 9-mm-Pistole. Aber der Sicherungsknopf? Die Pistole war entsichert.

In dieser Lage war ich hilflos. McGear hatte seinen Zeigefinger am Abzug; sobald ich mich wehrte, war ich absichtlich oder unabsichtlich tot.

»Du hältst dich für ’nen verdammt harten Kerl?« fragte er schreiend. »Für ’nen ganz harten Kerl, was? Aber wir werden ja sehen, wer hier der harte Mann ist.«

Um die Verwirrung noch zu vergrößern, kreischte Kelly vor Angst und Schmerzen weiter mit voller Lautstärke. Ich hatte keine Ahnung, was von mir erwartet wurde; ich wußte nur, daß ich einen Pistolenlauf zwischen den Zähnen hatte und diesem Kerl hilflos

ausgeliefert war.

Allmählich gewann McGear seine Fassung wieder. Die Pistole blieb in meinen Mund gerammt, aber er begann jetzt aufzustehen. Dabei stützte er sich schwer auf die rechte Hand mit der Pistole, deren Korn sich mir schmerzhaft in Zahnfleisch, Gaumen und Zunge bohrte. Und während er aufstand, riß er Kelly noch brutaler an den Haaren, so daß sie vor Schmerz gellend aufschrie.

McGear trat von mir zurück, ließ aber die Pistole auf meine Brust gerichtet.

»Los, wieder auf die Knie!«

»Schon gut, Kumpel, okay. Ich mach ja alles ...«

Als ich mich aufsetzte, sah ich den Feuerlöscher, mit dem er mich niedergeschlagen hatte. Am Hinterkopf hatte ich eine große Platzwunde, aus der Blut in mein Haar sickerte und mir ins Genick lief. Aber dagegen konnte ich jetzt nichts machen; solche Blutungen sind nicht leicht zu stoppen.

Dann kniete ich wieder, achtete diesmal sorgfältig darauf, daß mein Hintern hoch über meinen Hacken blieb, und starrte McGear an, während ich versuchte, zur Besinnung zu kommen. Er bewegte sich rückwärts in Richtung Großraumbüro und bedrohte mich dabei weiter mit seiner Pistole.

»Los, mitkommen, harter Mann, auf den Knien!«

Ich begriff, daß ich ihm folgen sollte.

Inzwischen befand sich Kelly in einem schrecklichen Zustand. Auf dem Boden zeichnete sich eine von mir stammende dünne Blutspur ab. Kelly mußte in einer Blutlache gekniet haben, bevor sie weggeschleppt wurde.

Um wenigstens etwas Halt zu finden, umklammerte sie sein Handgelenk mit beiden Händen. Trotzdem kippte sie auf beiden Knien rutschend immer wieder seitlich weg, wurde erneut weitergerissen und konnte sowenig auf die Beine kommen, als würde sie hinter einem Pferd hergeschleppt. Ihn interessierte nur, daß er mich rückwärtsgehend mit seiner Waffe bedrohen konnte.

»Bleib, wo du bist!« befahl er mir und schlurfte rückwärts an der offenen Tür des größeren Büros vorbei, aus dem ich zuvor gestürmt war.

Ich bemühte mich, meine Kräfte zu sammeln, denn ich wußte, daß ich nicht mehr lange zu leben hatte, wenn ich nicht bald etwas unternahm.

»Dort rein!«

Ich rutschte auf den Knien weiter.

»Gehen! Mit dem Rücken zu mir.«

Ich stand auf, betrat den Raum und kehrte McGear dabei wie angewiesen den Rücken zu. Als ich seitlich um den Couchtisch herumgehen wollte, befahl er mir: »Halt! Umdrehen!«

Ich gehorchte. Dieser Befehl war ungewöhnlich, denn normalerweise will man, daß ein Mann, den man mit der Waffe bedroht, einem den Rücken zukehrt, damit er nicht weiß, was hinter ihm vorgeht. Auf Dinge, die man nicht sieht, kann man schlecht reagieren.

Als ich mich langsam umdrehte, sah ich Kelly in dem Ledersessel sitzen, den McGear herausgezogen und links neben den Schreibtisch gerückt hatte. Er stand hinter ihr, hielt sie mit der linken Hand weiter an den Haaren fest, zog sie daran zurück und bedrohte mich gleichzeitig mit

seiner Waffe.

Das bewegliche Oberteil einer Pistole, auf dem die Kimme montiert ist, wird als Schlitten bezeichnet. Er gleitet nach jedem Schuß zurück, um die leere Patronenhülse auszuwerfen, und nimmt dann die nächste Patrone mit. Wird er auch nur um wenige Millimeter nach unten gedrückt, läßt die Waffe sich nicht mehr abfeuern, was bedeutet, daß man eine Pistole auf diese Weise blockieren kann - solange man es schafft, ihren Schlitten mit der Hand zu umklammern und zurückgedrückt festzuhalten. Das erfordert wirklich schnelles, wirklich aggressives Zupacken, aber ich hatte nichts zu verlieren.

Im Augenblick schien nichts zu passieren; wir schienen eine Art Pattsituation erreicht zu haben. Versuchte er, zu einem Entschluß zu gelangen, was er mit uns beiden tun sollte? Diese Pause dauerte keine zwanzig Sekunden, aber mir kam sie endlos lang vor.

Kelly wimmerte und schluchzte weiter; ihre Knie waren aufgeschürft, weil McGear sie über den Fußboden geschleift hatte. Jetzt riß er Kelly an den Haaren hoch und brüllte sie an: »Halt endlich die Klappe!« Und während er das tat, brach unser Blickkontakt ab, und ich wußte, daß es Zeit war.

Ich stürzte mich auf McGear, schrie dabei laut, um ihn zu verwirren, bekam mit der rechten Hand die Pistole zu fassen und drückte ihren Schlitten mindestens einen Zentimeter weit zurück.

»Scheiße!« brüllte McGear gedehnt - halb aus Wut, halb vor Schmerz.

Ich packte mit der linken Hand sein Handgelenk, zog es zu mir her und drückte dabei mit meiner rechten Hand den Pistolenschlitten zurück. McGear wollte noch abdrücken, aber seine Reaktion kam zu spät; der Schuß löste sich nicht mehr. Für mich kam es jetzt darauf an, den Schlitten mit meiner rechten Hand eisern festzuhalten.

Gleichzeitig drängte ich McGear mit aller Kraft rückwärts gegen die Wand. Er hielt Kelly weiter an den Haaren gepackt, und sie kreischte gellend, während sie mitgeschleppt wurde. Ich zwang mich dazu, nicht an sie zu denken, achtete nur auf die Pistole und stieß McGear vor mir her. Ich spürte, wie die Luft aus seiner Lunge entwich, als ich ihn gegen die Wand knallte. Kelly geriet zwischen uns; ich trat auf sie, er trat auf sie, und sie schrie vor Schmerzen auf. McGear merkte offenbar, daß er beide Hände brauchen würde, um mich abzuwehren, denn im nächsten Augenblick rappelte Kelly sich auf und flüchtete aus dem Raum.

Ich fing an, sein Gesicht mit Kopfstößen zu bearbeiten. Ich traf es mit der Stirn, mit der Nase, mit den Schläfen. Meine Nase schmerzte und blutete wahrscheinlich so heftig wie seine, aber ich ließ nicht locker, sondern machte verbissen weiter, während ich ihn an die Wand gedrückt hielt.

»Schwein!« brüllte McGear dabei. »Schwein! Du Scheißkerl! Dich mach ich kalt!«

Und ich kreischte ebenso laut: »Scheiße! Scheißkerl! Verdammter Scheißkerl!«

Ich hielt ihn weiter an die Wand gepreßt. Bei meinen

Kopfstößen fügten seine Schneidezähne mir stark blutende Wunden auf der Stirn und knapp unter dem rechten Auge zu. Aber solange der Adrenalinspiegel hoch ist, spürt man keine Schmerzen. Ich bearbeitete sein Gesicht weiter mit Kopfstößen; damit konnte ich McGear kaum ernsthaften Schaden zufügen, aber doch schwächen, während wir um seine Pistole rangen. Während ich die Waffe gegen ihn zu richten versuchte, brüllte ich allen möglichen Scheiß, um ihn einzuschüchtern und mir selbst Mut zu machen.

Ich kämpfte nur noch nach Gefühl. Unser Blut brannte in meinen Augen. Ich nahm McGear nur noch verschwommen wahr. Ich wußte nicht, wohin Kelly geflüchtet war - und das interessierte mich im Augenblick auch nicht. Ich konnte ihr nicht helfen, bevor ich mir nicht selbst geholfen hatte.

Ich versuchte noch immer, die Pistole in seiner Hand gegen ihn selbst zu richten. Wohin der Schuß ging, war mir gleichgültig; er konnte ihn ins Bein, in den Magen treffen, das war mir scheißegal, solange ich ihn irgendwo traf.

Seine Schreie wurden lauter, als die Finger meiner linken Hand seinen am Abzug liegenden Zeigefinger umfaßten.

Ich drehte die Waffe um, ließ den Schlitten los und drückte ab.

Die beiden ersten Schüsse gingen daneben, aber ich drückte erneut ab. Mit veränderter Schußrichtung traf ich ihn in Hüfte und Oberschenkel. McGear ging zu Boden.

Der Kampflärm verstummte. Die plötzliche Stille war

geradezu ohrenbetäubend.

Nach zwei bis drei Sekunden hörte ich Kellys Geschrei von den Wänden widerhallen. Immerhin war sie noch hier im Gebäude. Sie schien einen hysterischen Anfall zu haben, denn sie kreischte höher und lauter als je zuvor. Aber ich war zu erledigt, um ihr helfen zu können. Außerdem hatte ich Wichtigeres zu tun.

Um Kelly würde ich mich später kümmern. Ich rappelte mich mühsam auf. Ich hatte überall starke Schmerzen. Mein Genick fühlte sich an, als sei es nicht mehr imstande, meinen Kopf zu tragen.

McGear wand sich blutend auf dem Boden und bettelte: »Erschieß mich nicht, Mann! Nicht schießen! Nicht schießen!«

Mit seiner Pistole in der Hand tat ich, was er vorhin bei mir gemacht hatte: Ich setzte mich rittlings auf seine Brust und rammte ihm den Pistolenlauf tief in den Mund.

So blieb ich eine halbe Minute lang sitzen und versuchte wieder zu Atem zu kommen. McGears Körper lag wahrscheinlich im Sterben, aber seine Augen waren lebendig.

»Warum habt ihr die Familie ermordet?« fragte ich und zog ihm die Pistole aus dem Mund, damit er reden konnte. »Sag’s mir, dann laß ich dich leben.«

Er starrte mich an, als wolle er etwas sagen, wisse aber nicht recht, was.

»Los, red schon! Ich muß es wissen.«

»Scheiße, ich weiß nicht mal, wovon du redest.«

Ich sah ihm in die Augen und erkannte, daß er die Wahrheit sagte.

»Was ist in dem Computer nebenan?«

Diesmal reagierte er sofort. Er grinste mit geschwollenen Lippen und sagte: »Fuck you!«

Ich rammte ihm die Pistole wieder in den Mund und forderte ihn ruhig, nachdrücklich, fast väterlich auf: »Sieh mich an! Sieh mich an!«

McGear erwiderte meinen Blick. Es war zwecklos, diese Befragung fortzusetzen. Er würde nichts sagen. Dafür war er zu gut.

Scheiße. Ich drückte ab.

26

Ich holte tief Luft und wischte mir das Blut ab, das mir von der Stirn in die Augen lief. Ich bemühte mich, irgendwie zur Ruhe zu kommen. Einige Sekunden Pause machen, mehrmals tief durchatmen und dabei überlegen, was, zum Teufel, ich als nächstes tun sollte.

Die Schüsse waren gehört und gemeldet worden - jedenfalls mußte mein Plan auf dieser Annahme basieren. Irgendwo im Gebäude hörte ich Kelly noch immer kreischen.

Als erstes mußte ich mein Zeug zusammenpacken und mitnehmen. Ich stand auf und torkelte ins kleinere Büro hinüber. Dort riß ich die Kabel aus dem PC, nahm die CD-ROM mit dem Schnüfflerprogramm aus dem Laufwerk und steckte sie ein. Dann warf ich alles andere achtlos in meine Reisetasche und ging ins große Büro zurück.

Dort blieb ich eine Sekunde neben McGear stehen. Er erinnerte mich an Kelly, wenn sie schlief - aber dieser Seestern hatte ein Gesicht wie eine Pizza und am Hinterkopf eine große Austrittswunde, aus der eine graue Masse auf den Teppichboden quoll.

Ich griff nach der Tasche, hängte sie mir über meine linke Schulter und trat in den Korridor hinaus, um meine Pistole aufzuheben. Als nächstes mußte ich Kelly finden. Einfach: Ich brauchte nur dem Kreischen zu folgen.

Sie kämpfte mit der Brandschutztür, die sich nicht öffnen lassen wollte. Das Blut auf dem Rücken ihres Mantels stammte vermutlich von mir; sie konnte gegen mich gefallen sein, als McGear mich niedergeschlagen hatte. Kelly bemühte sich verzweifelt, die Brandschutztür zu öffnen, aber in ihrem jetzigen Zustand gehorchten ihr ihre Finger nicht. Sie hüpfte von einem Bein aufs andere und hämmerte, vor Entsetzen laut kreischend, mit beiden Fäusten gegen die Tür. Ich trat von hinten auf sie zu, packte sie am Arm und schüttelte sie kräftig.

»Hör auf! Hör auf!«

Das war nicht die richtige Methode. Sie war völlig hysterisch.

Ich legte meine Hand unter ihr Kinn, hob ihren Kopf hoch, blickte in ihre verweinten Augen und sagte: »Hör zu, es gibt Leute, die dich umbringen wollen. Hast du verstanden? Willst du sterben?«

Kelly versuchte sich loszureißen. Ich bedeckte ihren Mund mit der Hand und hörte sie aufgeregt schniefend durch die Nase atmen. Ich brachte mein Gesicht sehr dicht an ihres heran. »Diese Leute wollen dich umbringen. Schluß jetzt mit der Heulerei, verstanden? Hör auf zu weinen.«

Sie verstummte, und ihr Körper wurde schlaff. Ich ließ sie los. »Gib mir deine Hand, Kelly.«

Ihre Hand lag wie leblos in meiner. »Sei jetzt ganz leise und tu, was ich dir sage«, forderte ich sie auf. »Du mußt auf mich hören, okay?« Während ich das sagte, nickte ich ihr beruhigend zu.

Sie starrte mich nur an. Tränen liefen ihr übers Gesicht, aber ich merkte, daß Kelly sie zurückzuhalten versuchte.

Ich stieß die Brandschutztür auf. Kalte, feuchte Nachtluft schlug mir entgegen. Ich sah fast nichts, als habe der Schlag mit dem Feuerlöscher mich vorübergehend nachtblind gemacht. Mit Kelly an der Hand polterte ich die Eisentreppe hinunter. Der Lärm war mir egal; wir hatten schon genug Krach gemacht.

Während wir zum Zaun rannten, rutschte ich im Schlamm aus. Sowie Kelly mich zu Boden gehen sah, schrie sie auf und brach erneut in Tränen aus. Ich schüttelte sie und befahl ihr, die Klappe zu halten.

Als wir den Zaun erreichten, heulten auf der Stadtautobahn bereits Sirenen. Ich mußte annehmen, das Sirenengeheul gelte uns. Sekunden später hörte ich eine weitere Sirene aus Richtung Parkplatz.

»Du wartest hier!«

Ich kletterte mit meiner Tasche den Maschendrahtzaun hoch, warf sie auf der anderen Seite hinüber und sprang hinterher. Die Sirenen kamen näher, aber ich sah bisher noch kein Fahrzeug. Kelly starrte mich hinter dem Zaun stehend an und hüpfte aufgeregt auf und ab, während ihre Hände die Drahtmaschen umklammerten.

»Nick ... Nick ... Bitte, ich will mit!«

Ich sah nicht einmal hin, wo ich buddelte. Mein Blick blieb auf die Lücke zwischen den zwei Gebäuden gerichtet. Die von rechts heranrasenden blauen Blinkleuchten auf der Stadtautobahn erhellten den Nachthimmel.

Kellys Wimmern verwandelte sich in ein Schluchzen.

»Keine Angst, uns passiert nichts«, sagte ich beruhigend. »Bleib einfach, wo du bist. Sieh mich an! Sieh mich an!« Sie erwiderte meinen Blick. »Du bleibst dort drüben, okay?«

Die Lichter und Sirenen erreichten jetzt die Ball Street. Ich raffte meine Dokumente zusammen und steckte sie ein.

Als die Fahrzeuge hielten, erstarb das Sirenengeheul. Nur die blauen Blinkleuchten rotierten weiter und erhellten Kellys tränennasses Gesicht.

Ich sah sie durch die Zaunmaschen hindurch an und flüsterte: »Kelly! Kelly!«

Sie war vor Angst wie gelähmt.

»Kelly, du mußt jetzt mitkommen. Hast du verstanden? Los, komm mit!«

Ich setzte mich auf meiner Zaunseite in Bewegung. Sie jammerte nach ihrer Mommy. Ihre Stimme klang immer verzweifelter. »Du mußt mitkommen, Kelly, du mußt mitkommen«, forderte ich sie auf. »Los, halt dich ran!«

Als ich das Tempo beschleunigte, rutschte sie aus und fiel in den Schlamm. Diesmal war ich nicht da, um sie aufzuheben. Sie lag schluchzend da. »Ich will heim. Ich will heim. Bitte bring mich heim.«

Unterdessen waren drei Streifenwagen am Zielobjekt vorgefahren. Wir hatten noch keine zweihundert Meter zurückgelegt. Bald würden sie ihre Suchscheinwerfer einschalten und uns entdecken.

»Steh auf, Kelly, steh auf!«

Das Zielobjekt schien jetzt von einer Aura aus blauem und rotem Licht umgeben zu sein. Im Dunkel hinter dem Bürogebäude flammten erste Taschenlampen auf.

Wir hasteten bis zur Durchfahrt weiter. Die Nacht war voller Sirenen.

Ich kletterte wieder über den Zaun. Meine Tasche verfehlte Kelly nur knapp, als ich sie fallen ließ. Ich ergriff ihre rechte Hand mit meiner linken und zog sie mit mir.

Ich mußte einen Wagen finden, der an einer dunklen Stelle geparkt und alt genug war, um keine Alarmanlage zu haben.

Wir verließen die Durchfahrt, gingen nach links und folgten einer langen Reihe geparkter Autos. Ich fand einen Chevy aus den frühen Neunzigern, stellte meine Tasche ab und wies Kelly an: »Setz dich daneben.«

Ich wühlte in der Reisetasche, bis ich den Satz Dietriche für Autoknacker gefunden hatte. Keine zwei Minuten später war die Fahrertür offen. Ich schloß die Zündung kurz und ließ so den Motor an. Auf der Digitaluhr war es 3 Uhr 33.

Ich ließ den Motor laufen und Heizung und Scheibenwischer auf höchster Stufe eingeschaltet, damit die Scheiben schnell klar wurden. Dann holte ich Kelly und meine Reisetasche und verstaute beide auf dem Rücksitz. »Du bleibst liegen, Kelly, und versuchst zu schlafen.« Das mit dem Hinlegen war ihr nur recht. Aber sie würde wahrscheinlich nicht gut schlafen können. Vielleicht ihr Leben lang nicht mehr.

Ich rangierte den Chevy aus der Parklücke und fuhr in gemäßigtem Tempo davon. Schon nach einer Viertelmeile sah ich Blinkleuchten, die mir entgegenkamen. Ich zog meine Pistole aus dem Hosenbund und schob sie unter meinen rechten Oberschenkel. Ich würde auf keinen Fall zulassen, daß die Scheißkerle uns verhafteten.

»Du bleibst unten, verstanden?« rief ich nach hinten. »Laß dich ja nicht blicken!«

Sie gab keine Antwort.

»Kelly?«

»Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme.

Mußte ich die Polizeibeamten erschießen, war das Pech für sie, aber letztlich wurden sie dafür bezahlt, daß sie solche Risiken eingingen. Mein Plan stand bereits fest. Hielten sie mich an, würde ich warten, bis einer oder beide in Schußweite waren. Die Pistole steckte dort, wo meine Hand sie blitzschnell ziehen konnte, und ich würde als erster schießen.

Die rot-blauen Blinkleuchten kamen rasch näher. Ich hielt unbeirrt weiter auf sie zu. Schließlich war ich ein Schichtarbeiter, der unterwegs war, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Lichter des Streifenwagens waren jetzt so hell, daß ich meine Augen zusammenkneifen mußte, um die Fahrbahn dahinter erkennen zu können.

Ich blieb ganz ruhig und gelassen. Wie sich die Sache entwickelte, hing nicht von mir ab. Der Streifenwagen raste mit über sechzig Meilen an uns vorbei.

Ich sah in den Rückspiegel. Als ihre Bremslichter aufleuchteten, geriet ich leicht in Panik. Ich beobachtete sie, während ich zügig weiterfuhr, um meinen Vorsprung auszubauen. Die Bremslichter erloschen. Der Fahrer hatte anscheinend nur sein Tempo verringern wollen - oder sie hatten sich die Sache anders überlegt.

Ich mußte dieses Auto vor Tagesanbruch irgendwo abstellen, denn früher würde sein Besitzer den Diebstahl wahrscheinlich nicht bemerken. Außerdem mußte ich Kelly und mich vollständig neu einkleiden und uns ein anderes Hotelzimmer besorgen.

Plötzlich meldete Kelly sich wieder. »Nick, ich will heim! Ich will heim! Ich will zu meiner ...«

»Kelly, wir fahren heim! Nur nicht jetzt gleich!« Ich mußte schreien, um mich gegen sie durchzusetzen.

Damit ich sie beobachten konnte, verstellte ich den Rückspiegel. Sie lag zusammengerollt auf der Sitzbank und hatte einen Daumen im Mund. Ich dachte an die beiden anderen Male, als ich sie so aufgefunden hatte, und fügte beruhigend hinzu: »Keine Angst, es dauert nicht mehr lange.«

Wir befanden uns auf einer Straße, die parallel zum Westufer des Potomac River zu verlaufen schien. Nach etwa einer halben Stunde fand ich einen Tag und Nacht geöffneten Supermarkt und parkte davor. Auf dem großen Parkplatz standen nur zwanzig oder dreißig Autos; frühmorgens um diese Zeit gehörten die meisten vermutlich den Angestellten.

Kelly fragte nicht, warum ich hielt. Ich drehte mich nach ihr um. »Hör zu, ich muß uns neue Sachen zum Anziehen kaufen. Willst du irgendwas Bestimmtes? Soll ich uns Coladosen und ein paar Sandwiches mitbringen?«

»Nein, geh nicht, laß mich nicht allein«, wimmerte Kelly. Sie sah aus, als sei sie heftig geohrfeigt worden. Ihr aufgedunsenes Gesicht war gerötet; außerdem hatte sie geschwollene Augen und tränenfeuchtes Haar, das an ihren Wangen klebte. Mit einer übel zugerichteten Siebenjährigen, die Blut an ihrer Kleidung hat, kann man unmöglich um kurz nach vier Uhr morgens in einem Supermarkt aufkreuzen.

Ich beugte mich über die Sitzlehne, zog den Reißverschluß meiner Tasche auf und nahm den Overall heraus. »Ich muß dich hierlassen«, erklärte ich ihr. »Ich brauche jemanden, der auf alles aufpaßt.« Ich zeigte auf die Reisetasche. »Paßt du gut darauf auf? Du bist jetzt ein großes Mädchen, eine großartige Spionin.«

Sie nickte widerstrebend.

Ich fing an, mich am Lenkrad sitzend in meinen Overall zu schlängeln.

»Nick?«

»Was?« Ich kämpfte gerade mit dem zweiten Bein.

»Ich habe Schüsse gehört. Ist der Mann tot?«

»Welchen Mann meinst du?« Ich wollte mich nicht umdrehen und ihr ins Gesicht sehen. »Nein, er ist nicht tot. Ich denke, daß er sich geirrt und uns mit jemandem verwechselt hat. Er kommt bestimmt bald wieder auf die Beine.«

Ich machte ein Hohlkreuz, um in die obere Hälfte schlüpfen zu können. »Die Polizei bringt ihn ins Krankenhaus.«

Das war genug gelogen. Ich schlug die Kapuze meines Overalls hoch, stieg rasch aus und steckte den Kopf noch einmal in den Wagen. Aber bevor ich meinen Standardspruch loswerden konnte, sagte sie rasch: »Du kommst bald wieder, nicht wahr? Ich will heim zu meiner Mommy.«

»Klar, ich komme wieder, kein Problem, und dann fahren wir bald zu Mommy.«

Ich schaltete die Innenbeleuchtung ein und verstellte den Innenspiegel, damit ich mein Gesicht begutachten konnte. Die Bißwunden von McGears Zähnen auf meiner Stirn und dicht unter dem rechten Augen waren noch feucht, aber das Blutplasma war schon dabei, sie verschorfen zu lassen. Ich spuckte auf ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach und rieb das angetrocknete Blut ab, aber mein Gesicht sah danach nicht viel besser aus. Arbeitsunfall.

Ich bedeutete Kelly, die Tür zu verriegeln und sich hinzulegen. Sie gehorchte wortlos.

Ich holte mir einen Einkaufswagen und schob ihn durch die Automatiktür. Nach einem Besuch am Geldautomaten kaufte ich für Kelly und mich neue Kleidung in zweifacher Ausfertigung, aber auch Wasch- und Rasierzeug, eine Box Kosmetiktücher und Schmerztabletten für mein Genick. Es tat jetzt wirklich verdammt weh. Ich konnte nur nach rechts oder links sehen, wenn ich den ganzen Körper bewegte, was roboterhaft wirken mußte. Ich warf noch ein paar Coladosen, Kräcker, Kekse und Schokoriegel in den Einkaufswagen.

Um diese Zeit waren nur wenige Kunden da. Meine Gesichtsverletzungen wurden zwar wahrgenommen, aber nicht weiter beachtet.

Ich ging zum Auto zurück und klopfte an die Scheibe. Kelly sah auf; die Scheiben waren inzwischen angelaufen, und sie mußte sie mit dem Ärmel abwischen, um mich erkennen zu können. Sie hatte offenbar wieder geweint, denn sie rieb sich die Augen. Als ich auf das Schloß deutete, öffnete sie mir ihre Tür.

Ich lächelte strahlend. »Hi! Na, wie geht’s?«

Kellys Antwort bestand aus einem unverständlichen Murmeln. Während ich die Tragetüten auf den Beifahrersitz legte, sagte ich: »Hier, ich hab’ dir was mitgebracht.« Ich hielt ihr einen Schokoriegel hin. Sie lächelte zögernd, griff danach und riß die Verpackung auf.

Ich warf einen Blick auf die Borduhr. Schon fast fünf. Wir fuhren in Richtung Beltway und dann nach Westen weiter.

Ich sah den Wegweiser zum Dulles International Airport und ordnete mich rechts ein, um die nächste Ausfahrt zu nehmen. Wir mußten den Chevy bald abstellen; vielleicht war sein Besitzer ein Frühaufsteher.

Kelly lag auf dem Rücksitz und starrte den Wagenhimmel an. Sie schien sich in einer Traumwelt zu befinden. Oder sie war durch alles, was sie gesehen hatte, mental und emotional geschädigt. Im Augenblick hatte ich jedoch keine Zeit, mich um sie zu kümmern.

Wir waren ungefähr acht Meilen vom Flughafen entfernt, und ich fing an, nach einem Motel Ausschau zu halten. Dann kamen wir an einem Economy Inn vorbei. Geradezu ideal - aber erst mußten wir etwas für unser Äußeres tun.

Als wir zum Flughafen weiterfuhren, sah ich die Scheinwerfer einer Maschine, die vermutlich als erstes Flugzeug dieses Tages landete. Ich folgte Wegweisern zu den Billigparkplätzen unter freiem Himmel und hielt kurz vor der Einfahrt, um Ausschau nach Überwachungskameras zu halten. Aber ich sah keine; offenbar wurden nur die Ausfahrten überwacht. Ich zog einen Parkschein aus dem Automaten und stellte den geklauten Wagen zwischen Tausenden von anderen Autos ab.

»Kelly, wir ziehen dir jetzt ein paar neue Sachen an«, erklärte ich ihr.

Ich zeigte ihr, was ich für sie gekauft hatte. Während sie sich umzog, riß ich die Box mit Kosmetiktüchern auf und tupfte ihr das Gesicht ab. »Komm, jetzt ist Schluß mit der Heulerei. Ah, da haben wir eine Haarbürste.« Ich bürstete ihr die Haare, aber ich arbeitete zu schnell und tat ihr weh. »Okay, mal sehen, wie dir dieses Sweatshirt steht. Fertig! Hey, du siehst echt gut aus. Hier hast du ein Taschentuch - putz dir die Nase.«

Während sie damit beschäftigt war, zog ich mich ebenfalls um und warf unsere abgelegten Sachen in den

Fußraum vor dem Beifahrersitz. Kelly sah noch immer blaß und elend aus, als uns der Shuttle-Bus zum Terminal brachte.

27

Wir gingen durch das Abfertigungsgebäude. Im Terminal herrschte weit mehr Betrieb, als ich so früh am Morgen vermutet hätte. Überall standen Leute vor den Abfertigungsschaltern an, stöberten in Souvenirläden herum oder saßen Zeitung lesend in den Cafés.

Ich redete nicht viel mit Kelly, sondern hielt nur ihre Hand, während ich meine Reisetasche über der linken Schulter trug. Wir wollten ins Ankunftsgebäude, vor dem sich ein Taxistand befinden würde. Hinweisschilder dirigierten uns zu einer Rolltreppe. Wir waren schon fast unten, als Kelly sagte: »Nick, ich muß mal.«

»Bestimmt?« Ich wollte möglichst schnell von hier weg.

»Doch, ich muß echt!«

»Okay.« Das vorige Mal war mir eine Lehre gewesen.

Wir folgten den Hinweisschildern zu den Toiletten und fanden sie links vor den großen Ausgängen für Ankünfte/Ausland. Man betrat sie durch einen von zwei Durchgängen, kam erst an sechs oder sieben Behindertentoiletten vorbei und hatte dann die eigentlichen Toilettentüren vor sich. Ich blieb draußen in der Ankunfthalle stehen und beobachtete die vielen Abholer, die darauf warteten, daß die Automatiktüren

sich öffneten und ihre Lieben ausspuckten.

Man spürt immer, wenn man angestarrt wird. Ich hatte noch keine zwei Minuten dagestanden, als ich fühlte, daß ich prüfend gemustert wurde. Ich blickte auf. Angestarrt wurde ich von einer alten Frau, die mir jenseits der einen Gang bildenden Absperrgitter gegenüberstand und offenbar auf jemanden wartete. Neben ihr stand ein weißhaariger Mann, aber ihr Blick blieb auf mein Gesicht gerichtet.

Sie sah weg und kehrte dem Ausgang den Rücken zu, obwohl eben wieder ganze Horden von Angekommenen mit ihren Gepäckkarren herausströmten. Alle paar Sekunden waren laute Jubelschreie zu hören, wenn lange getrennte Menschen sich in die Arme sanken. Zwischendurch flammte Blitzlicht auf.

Was hatte sie angestarrt? Meine Gesichtsverletzungen? Ich konnte nur hoffen, daß das der einzige Grund für ihre Neugier gewesen war. Ändern konnte ich nichts daran. Ich mußte mich möglichst unauffällig benehmen, sie aber trotzdem im Auge behalten.

Dann sah ich, wie sie mit ihrem Mann zu reden begann. Ihre Körpersprache verriet aufgeregtes Drängen; sie machte jedenfalls nicht nur belanglose Konversation. Nach einem flüchtigen Blick zu mir herüber zuckte er mit den Schultern, als wolle er sagen: »Was, zum Teufel, redest du da, Frau?« Sie mußte mich mit einem kleinen Mädchen an der Hand gesehen haben, bevor Kelly in die Toilette verschwunden war, und sich gefragt haben: »Woher kenne ich die beiden bloß?«

Ich blieb unbeirrt stehen. Ich wollte sehen, was sie machte. Sobald sie sich in Bewegung setzte und wegging, würde ich handeln müssen.

Ich merkte, daß sie sich weiter den Kopf zermarterte. Mein Herz begann zu jagen. Ich wich ihrem Blick aus, spürte aber trotzdem, daß sie mich anstarrte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sich an die Nachrichtensendung erinnerte, in der sie ein Photo von Kelly gesehen hatte.

Die Sekunden erschienen mir wie Minuten. Endlich kam Kelly wieder aus der Toilette und stellte sich neben mich. »Gehen wir?« fragte ich und ergriff ihre Hand, bevor sie antworten konnte.

Bevor wir uns abwandten, um zum Ausgang zu gehen, sah ich noch, wie die Frau ihren Mann am Ärmel zupfte. Aber er hatte offenbar jemanden entdeckt, den sie abholen wollten, und sah in die andere Richtung.

Sie zog drängender an seinem Arm.

Ich wäre am liebsten losgerannt, aber das hätte ihren Verdacht nur bestätigt. Also ging ich in normalem Tempo weiter und redete wie ein glücklicher Vater auf Kelly ein. »Siehst du die Lichter da drüben, sind die nicht hübsch? Das hier ist der Flughafen, auf dem ich bei jedem Besuch ankomme. Bist du schon mal hier gewesen?« Kelly brauchte auf keine dieser Fragen zu antworten.

Es war schwierig, dem Drang zu widerstehen, mich nach der Frau umzusehen. Was sollte ich tun, wenn . ? Hetzte sie mir die Polizei auf den Hals, war ich erledigt. Hier gab es keine Fluchtmöglichkeit, aber dafür wimmelte es überall von Sicherheitspersonal. Bis zum

Ausgang waren es noch dreißig bis vierzig Meter. Ich erwartete bei jedem Schritt, daß ein Cop mir »Halt! Stehenbleiben!« zurufen würde. Aber die einzigen Laute waren das allgemeine Stimmengewirr und gelegentlicher Begrüßungsjubel.

Wir erreichten den Ausgang, bogen nach links ab und folgten der breiten Fußgängerrampe zur Kurzparkzone und zum Taxistand hinunter. Sofort nach dieser Richtungsänderung ging ich schneller und riskierte sogar einen Blick über die Schulter nach hinten.

»Was ist los?« fragte Kelly.

»Komm, dort sind die Taxis«, sagte ich.

Aber wir mußten warten, bis drei oder vier Leute, die vor uns anstanden, eingestiegen und weggefahren waren. Ich fühlte mich wie ein Kind, das einen Herzenswunsch hat und nicht länger warten kann. Macht schon, macht schon!

Dann saßen wir endlich in einem Taxi, das sofort losfuhr. Ich drehte mich um und warf einen Blick durch die Heckscheibe. Nichts, keine Verfolger. Trotzdem konnte ich noch nicht aufatmen. Kelly, die meinen Streß anscheinend spürte, stellte keine weiteren Fragen mehr.

Ich versuchte, nicht mehr an diese Episode zu denken. Gib dir Mühe, dann kannst du auch der schlimmsten Situation noch etwas Positives abgewinnen - das hatte ich mir immer selbst gepredigt. Aber diesmal half mir das nicht weiter. Hatte die Alte die Verbindung doch noch hergestellt und der Polizei erzählt, wir seien zum Taxistand gegangen, würden wir bald Sirenengeheul hinter uns hören.

Ich sah zu Kelly hinüber und gähnte demonstrativ. »Ich bin echt müde«, sagte ich. »Und du?«

Sie nickte und legte ihren Kopf in meinen Schoß.

Ich nannte dem Fahrer unser Ziel. Nachdem wir den Freeway verlassen hatten, brauchte er nur noch einige Straßenblocks weit zu fahren, bevor ich ihn halten ließ. Als er davonfuhr, standen wir auf dem Parkplatz des Marriott-Hotels. Von hier aus konnten wir zu Fuß zum Economy Inn hinübergehen.

»Wir gehen jetzt in ein Motel«, erklärte ich Kelly. »Auch diesmal läuft alles wie gehabt. Ich sage lauter Sachen, die nicht wahr sind, und du brauchst nur den Mund zu halten und echt müde auszusehen, okay? Tust du genau, was ich sage, damit niemand etwas merkt, können wir bald heimfahren.« Wir gingen zum Economy Inn hinüber.

An der Rezeption saß ein junger Schwarzer, der ein dickes Lehrbuch vor sich liegen hatte. Diesmal wandelte ich meine Story ab, indem ich behauptete, bei einem Raubüberfall verletzt worden zu sein. Er reagierte sichtlich betroffen. »Hören Sie, das ist nicht typisch für unser Land«, versicherte er mir. »Amerika ist wundervoll.« Er fing an, mir vom Grand Canyon vorzuschwärmen; erst nachdem ich ihm versprochen hatte, dieses Naturdenkmal auf jeden Fall zu besichtigen, konnten wir die Rezeption verlassen.

In unserem Zimmer half ich Kelly aus dem Mantel. Als sie sich leicht zur Seite drehte, um den anderen Arm aus dem Ärmel zu ziehen, fragte sie mich ohne Vorwarnung: »Fahren wir jetzt zu Mommy und Daddy?«

»Noch nicht, wir haben noch einiges zu erledigen.«

»Ich will zu meiner Mommy, Nick. Ich will wieder heim. Du hast’s versprochen!«

»Keine Angst, wir fahren bald.«

»Weißt du bestimmt, daß Mommy und Daddy und Aida zu Hause sind, wenn ich komme?«

»Natürlich sind sie das.«

Kelly wirkte nicht überzeugt. Und ich wußte, daß der entscheidende Punkt erreicht war. Ich konnte nicht endlos weiterlügen. Falls wir aus dieser Sache mit heiler Haut herauskamen, konnte ich Kelly nicht einfach ihren Großeltern oder irgendwelchen anderen Leuten übergeben, von denen sie dann erfahren würde, daß ich ein Schweinehund war, der sie die ganze Zeit belogen hatte.

»Kelly .«

Ich setzte mich neben sie und streichelte ihren Kopf, den sie in meinen Schoß legte.

»Hör zu, Kelly, wenn du heimkommst, sind Mommy, Daddy und Aida nicht mehr da. Sie kommen nie wieder. Sie sind alle im Himmel. Weißt du, was das bedeutet?«

Das sagte ich fast nonchalant, weil ich dieses Thema möglichst nicht vertiefen wollte. Wahrscheinlich hoffte ich darauf, daß sie »Oh, ich verstehe!« sagen und mich dann fragen würde, ob sie einen Micky D’s haben könne.

Nun entstand eine Pause, während sie über alles nachdachte. Ich hörte nur das Summen der Klimaanlage.

Sie runzelte die Stirn. »Kommt das davon, daß ich unartig gewesen bin und Daddy nicht geholfen habe?«

Mir war zumute, als stoße mir jemand ein Messer ins

Herz. Aber das war keine allzu schwierige Frage; sie ließ sich ohne weiteres ehrlich beantworten. »Kelly, selbst wenn du versucht hättest, Daddy zu helfen, wären sie trotzdem alle gestorben.«

Sie drückte ihren Kopf leise schluchzend an mein Bein. Ich rieb ihr den Rücken und versuchte mir etwas Tröstliches einfallen zu lassen.

Dann hörte ich: »Sie sollen aber nicht tot sein. Ich will mit ihnen Zusammensein.«

»Aber das bist du doch.« Ich suchte nach Worten.

Sie hob den Kopf und sah mich an.

»Du bist mit ihnen zusammen. Jedesmal wenn du etwas tust, das ihr miteinander gemacht habt, seid ihr zusammen.«

Sie bemühte sich, das zu verstehen. Ich auch.

»Jedesmal wenn ich eine Pizza mit viel Pilzen esse, denke ich an deine Mommy und deinen Daddy, weil ich weiß, daß Mommy gern Pilze gegessen hat. Darum sind sie nie weit von mir entfernt - und deshalb werden Mommy, Daddy und Aida immer in deiner Nähe sein.«

Kelly sah mich an, als warte sie auf mehr. »Wie meinst du das?«

Ich suchte nach Beispielen. »Ich meine, jedesmal wenn du den Tisch deckst, ist Mommy dabei, weil sie dir gezeigt hat, wie man das macht. Jedesmal wenn du Basketball spielst, ist Daddy dabei, weil er dir das Werfen beigebracht hat. Jedesmal wenn du jemandem zeigst, wie etwas gemacht wird, ist Aida dabei - weil du ihr immer alles gezeigt hast. Siehst du, sie sind ständig bei dir!«

Ich wußte nicht, ob das gut war, aber mir fiel nichts Besseres ein. Ihr Gesicht ruhte wieder auf meinem Bein, und ich spürte die Wärme ihres Atems und ihrer Tränen.

»Aber ich will sie sehen. Wann sehe ich sie wieder, Nick?«

Ich hatte mich anscheinend nicht verständlich genug ausgedrückt. Ich wußte nicht, wem dieses Gespräch mehr zusetzte - Kelly oder mir. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals. Ich hatte mich in etwas hineinmanövriert, aus dem ich nicht wieder herauskam.

»Sie kommen nicht mehr zurück, Kelly. Sie sind alle drei tot. Aber das liegt nicht an etwas, das du getan oder nicht getan hast. Sie wollten dich nicht verlassen. Manchmal passieren Dinge, die sogar Erwachsene nicht ändern oder vermeiden können.«

Kelly lag unbeweglich da und dachte nach. Ich blickte auf sie herab. Sie starrte die Wand unseres Zimmers an. Ich hörte auf, sie zu streicheln, und legte meinen Arm um sie.

»Eines Tages bist du wieder mit ihnen zusammen, aber das dauert noch lange. Erst bekommst du Kinder - genau wie Mommy. Dann sind deine Kinder sehr traurig, wenn du stirbst, wie du jetzt traurig bist. Sie haben dich alle sehr geliebt, Kelly. Ich habe deine Mommy und deinen Daddy nur ein paar Jahre gekannt. Stell dir vor, du hast sie dein ganzes Leben lang gekannt!«

Ich beobachtete sie, wie ihre Mundwinkel sich zu einem schwachen Lächeln verzogen. Sie drängte ihren Körper fester gegen meine Beine.

»Ich will bei dir bleiben, Nick.«

»Das wäre schön, aber es würde nicht klappen. Du mußt zur Schule gehen und lernen, eine Erwachsene zu werden.«

»Du könntest mir dabei helfen.«

Wenn sie wüßte! Mir gehörte nicht mal eine Garage für ein Motorrad, ganz zu schweigen von einem Haus, in dem ein kleines Mädchen aufwachsen konnte.

Erst die Waffe, dann die Ausrüstung und zuletzt man selbst - das ist die richtige Reihenfolge. Ich wollte die Federn meines Pistolenmagazins entlasten; das war nicht unbedingt notwendig, aber ich hatte das Gefühl, es tun zu müssen, weil es das Ende einer Phase und den Anfang einer neuen bezeichnete.

Kelly schlief bereits fest.

Ich stellte mein Mobiltelefon ins Ladegerät, damit es betriebsfähig blieb. Schließlich war es die einzige Verbindung zwischen Pat und mir. Dann kippte ich den Inhalt der Reisetasche aufs Bett, um ihn zu sortieren. Alle neugekauften Kleidungsstücke wurden beiseite gelegt; die restliche Ausrüstung kam wieder in die Tasche. Ich ärgerte mich darüber, daß ich die Videokamera auf dem Hoteldach hatte zurücklassen müssen, denn sie würde gefunden werden und eindeutig beweisen, daß ich etwas mit der Schießerei in der Ball Street zu tun gehabt hatte. Außerdem war der Videofilm verloren, der für Simmonds vielleicht so wertvoll gewesen wäre, daß er mir eine Zukunft hätte sichern können.

Nachdem ich meine Ausrüstung neu gepackt hatte, legte ich mich aufs Bett und faltete meine Hände hinter dem Kopf. Während ich auf das leise Summen der Klimaanlage lauschte, begann ich, über dieses ganze beschissene Spiel nachzudenken - und darüber, daß Leute wie McGear und ich wieder und wieder ausgenutzt wurden. Aber damit hörte ich schnell auf, als ich merkte, daß ich anfing, mich selbst zu bemitleiden. McGear und ich hatten die Wahl gehabt und uns freiwillig für diese Arbeit entschieden.

Es war schwierig, den dramatischen Ereignissen der vergangenen Nacht etwas Gutes abzugewinnen. Wenigstens brauchte ich mir keine Sorgen darüber zu machen, wie ich die blutbefleckten Kleidungsstücke in der blauen Reisetasche beseitigen sollte. Die Polizei würde natürlich feststellen, daß das Blut von Browns stammte, aber das war nichts im Vergleich zu den Schwierigkeiten, in denen ich bereits steckte. Und auf der Habenseite konnte ich verbuchen, daß ich eindeutige Querverbindungen zwischen Kev, der PIRA, dem Gebäude in der Ball Street und dem von mir kopierten Speicherinhalt des dort stehenden Computers hergestellt hatte.

Ich hatte keine Lust, jetzt den Laptop rauszuholen und zu versuchen, dieses Material zu sichten. Dafür war ich zu müde. Ich würde Fehler machen und womöglich wichtige Dinge übersehen. Außerdem war mein Adrenalinspiegel so drastisch gefallen, daß die Kopf- und Nackenschmerzen jetzt stärker als zuvor waren.

Ich duschte heiß und rasierte mich sogar. McGears Bißwunden in meinem Gesicht waren bereits verschorft. Ich vertraute darauf, daß sie von selbst abheilen würden.

Ich zog Jeans, Sweatshirt und Sportschuhe an und lud meine Magazine nach. Ich brauchte Ruhe, aber ich mußte notfalls sofort einsatzbereit sein. Sobald ich ein paar Stunden geschlafen und etwas gegessen hatte, wollte ich mich hinsetzen und nachsehen, was in dem Laptop war. Aber das klappte nicht. Ich wälzte mich in meinem Bett, schlief immer nur für wenige Minuten und lag die meiste Zeit wach.

Ich schaltete den Fernseher ein und suchte die Kanäle ab, um zu sehen, ob McGear schon in den Nachrichten war. Natürlich wurde über ihn berichtet.

Die Kamera schwenkte über die Straßenfront des PIRA-Gebäudes und zeigte die obligatorischen Streifen- und Notarztwagen, bevor ein Mann vor die Kamera trat und zu quatschen begann. Ich machte mir nicht mal die Mühe, den Ton anzustellen; ich wußte ohnehin, was der Reporter sagen würde. Ich rechnete eigentlich damit, daß mein Freund, der junge Obdachlose, vor laufenden Kameras berichten würde, was er gehört und gesehen hatte.

Kelly schlief jetzt so unruhig, als träume sie schlecht - bestimmt von McGear.

Ich sah nachdenklich auf sie herab. Die Kleine hatte sich ausgezeichnet verhalten, das stand fest. Die letzten Tage waren so chaotisch für sie gewesen, daß ich angefangen hatte, mir Sorgen um sie zu machen. Siebenjährige sollten nicht mit solchem Scheiß konfrontiert werden. Sogar Erwachsene sollten davon verschont bleiben. Was würde aus ihr werden? Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich mir mehr Sorgen um sie als um mich selbst machte.

Als ich aufwachte, lief der Fernseher noch immer. Ein Blick auf meine Armbanduhr. Kurz nach halb elf. Mittags würde Pat anrufen. Ich schaltete den Fernseher aus, weil ich mich ganz auf den Laptop konzentrieren wollte. Als ich dann aufzustehen versuchte, mußte ich feststellen, daß ich mich kaum noch bewegen konnte. Ich kam mir wie ein Hundertjähriger vor, als ich mich mit völlig steifem Genick aus dem Bett hochstemmte.

Ich machte etwas Krach, als ich den Laptop aus der Reisetasche holte und mit allem Zubehör anschloß, und Kelly fing an, sich zu bewegen. Als ich das System startete, lag sie auf einen Ellbogen gestützt im Bett und sah mir zu. Ihre Haare standen wie nach einer Explosion in allen Richtungen von ihrem Kopf ab. Nachdem sie sich eine Weile angehört hatte, wie ich über den Laptop fluchte, weil er nicht mit dem externen Laufwerk arbeiten wollte, schlug sie vor: »Warum startest du ihn nicht einfach neu und siehst dir dann das Programm an?«

Ich starrte sie an, als wollte ich »Klugscheißer!« sagen, aber dann murmelte ich: »Hmmm, vielleicht.« Ich startete den Laptop neu, und diesmal funktionierte alles. Ich drehte mich um und lächelte Kelly zu, die mein Lächeln erwiderte.

Ich fing an, die Dateien zu öffnen. Statt geschäftsmäßiger Dateinamen, die ich erwartet hatte, tauchten Codewörter wie Boy, Weasel und Guru auf. Viele Dateien enthielten Bilanzen und Rechnungen, mit denen ich jedoch nichts anfangen konnte. Was mich betraf, hätten diese knapp vierhundert Seiten ebensogut in japanischen Schriftzeichen geschrieben sein können.

Dann öffnete ich eine weitere Datei mit dem Namen Dad. Sie bestand lediglich aus über den Bildschirm verteilten Punkten und Zahlen. Ich drehte mich nach Kelly um. »Was ist das da, du Schlaukopf?«

Sie sah sich das Muster an. »Weiß ich nicht. Ich bin erst sieben. Ich weiß auch nicht alles.«

Inzwischen war es fünf vor zwölf. Ich schaltete das Mobiltelefon ein, öffnete noch weitere Dateien und versuchte aus ihrem Inhalt schlau zu werden.

Es wurde zwölf, dann fünf nach zwölf.

Um Viertel nach zwölf war noch immer kein Anruf gekommen. Ich geriet allmählich in Panik. Los, Pat, ich muß nach England und zu Simmonds zurück. Ich habe genügend Informationen ... hoffentlich. Je länger ich bleibe, desto höher wird das Risiko. Pat, ich brauche dich!

Wenn Pat einen Anruftermin versäumte, mußte etwas Dramatisches passiert sein; selbst als er high gewesen war, hatte er meine Anweisungen pünktlich befolgt. Ich versuchte meine finsteren Befürchtungen zu verdrängen, indem ich mir einredete, er werde zur nächsten vereinbarten Zeit anrufen. Aber während ich unkonzentriert am Laptop weiterarbeitete, wurde mir langsam fast schlecht. Mein einziger Fluchtweg schien abgeschnitten zu sein. Ich hatte das bedrückende Gefühl, alles sei dabei, gräßlich schiefzugehen.

Um 15 Uhr 30 konnte ich diese Ungewißheit nicht mehr aushalten. Ich mußte etwas unternehmen. Ich schaltete den Laptop ab und steckte die Sicherungsdiskette ein. Kelly lag noch immer im Bett, hatte die Decke bis unters Kinn hochgezogen und sah sich im Fernsehen eine Kindersendung an.

»Du weißt, was ich gleich sagen werde, nicht wahr?« fragte ich scherzend.

Kelly sprang aus dem Bett, trat mir in den Weg und schlang ihre Arme um mich. »Nicht weggehen! Nicht weggehen! Wir können zusammen fernsehen - oder darf ich diesmal mitkommen?«

»Nein, das geht nicht. Ich will, daß du hierbleibst.«

»Bitte!«

Was sollte ich machen? Ich konnte ihr nachfühlen, daß sie Angst vor dem Alleinsein hatte. »Gut, du kannst mitkommen - aber du mußt alles tun, was ich sage.«

»Okay, okay!« Sie sprang auf, um ihren Mantel zu holen.

»Nein, nicht so schnell!« Ich deutete ins Bad. »Immer der Reihe nach. Du gehst da rein, wäschst dir die Haare, läßt sie mich trocken frottieren und ziehst deine neuen Sachen an. Dann können wir gehen, okay?«

Sie zitterte vor Aufregung wie ein Hund, der gleich Gassi gehen darf. »Yeah, okay!« Sie verschwand im Bad.

Ich setzte mich auf die Bettkante, suchte mit der Fernbedienung einen Sender, der Nachrichten brachte, und rief dabei ins Bad: »Kelly, putz dir gut die Zähne, sonst fallen sie aus, und du kannst nicht mehr kauen, wenn du älter bist!«

Ich hörte: »Yeah, yeah, okay.«

Im Fernsehen gab es nichts Neues über den Mordfall

McGear. Als Kelly aus dem Bad kam, hatte sie sich nicht nur die Haare gewaschen, sondern trug bereits ihre neuen Jeans und ein Sweatshirt. Nachdem ich ihr die Haare trockenfrottiert hatte, zog sie Sportschuhe und ihren neuen blauen Mantel an. Außerdem setzten wir beide neue Baseballmützen auf, die ich ebenfalls gekauft hatte: schwarzer Jeansstoff mit dem Schriftzug Washington, D.C.

Nun konnten wir gehen. Ich hatte vor, mich irgendwo in der Nähe von Pats Wohnung aufzuhalten, damit wir uns gleich treffen konnten, wenn er mich um achtzehn Uhr anrief.

Was sollte ich mit der Sicherungsdiskette machen? Ich beschloß, sie hier im Zimmer zu verstecken, um die Risiken zu verringern: Falls Kelly und ich geschnappt wurden, fiel ihnen wenigstens nicht gleich alles in die Hände. Das lange dunkle Sideboard mit dem Fernseher stand auf niedrigen Metallfüßen.

Ich hob es an einer Ecke hoch, befestigte meine Diskette mit Gewebeband darunter und sicherte das Versteck durch einige Merkzeichen. Nach einem letzten Blick in die Runde verließen wir das Zimmer.

Draußen nieselte es wieder einmal, und die Temperatur war seit dem frühen Morgen zurückgegangen. Kelly war selig, mich begleiten zu dürfen; ich versuchte auf ihr Geplapper einzugehen, aber innerlich machte ich mir größte Sorgen um Pat. Während wir die Abkürzungen über den Rasen nahmen, um nicht an der Rezeption vorbeigehen zu müssen, überlegte ich, ob ich Euan anrufen sollte. Aber ich verwarf diesen

Gedanken wieder. Zumindest noch nicht gleich. Vielleicht würde ich ihn später brauchen. Er war ein As, das ich im Ärmel behalten mußte.

In der näheren Umgebung standen überall Hotels. Wir gingen die Straße entlang zu einem, das ein paar hundert Meter entfernt war, und ich betrat die Hotelhalle, um ein Taxi zu bestellen. Kelly wartete solange draußen unter der Markise.

Als ich wieder ins Freie trat, sagte ich: »Wenn wir jetzt ins Taxi einsteigen, schlägst du die Kapuze hoch und lehnst dich an mich, als seist du müde. Denk daran, du hast versprochen, alles zu tun, was ich dir sage.«

Unser Taxi kam, um uns nach Georgetown zu bringen. Kelly lehnte sich an mich, und ich zog ihre Kapuze noch etwas weiter nach vorn, damit der Taxifahrer ihr Gesicht nicht sehen konnte.

Wir stiegen auf der Wisconsin Avenue aus. Unterdessen war es 16 Uhr 30, und alle Leute um uns herum wirkten aufreizend normal, während sie über die Gehsteige schlenderten, sich unterhielten und Einkäufe machten. Wir verbrachten die nächste Stunde damit, spazierenzugehen und etwas zu essen. Um 17 Uhr 30 war es in der Einkaufspassage in Georgetown, in der wir saßen, recht warm, und wir fühlten uns beide schläfrig.

Ich trank einen Cappuccino, und Kelly hatte eine Bananenmilch vor sich stehen, die sie aber nicht anrührte, weil sie voller Cola und Hamburger war. Ich sah jede halbe Minute auf meine Armbanduhr, bis es endlich 17 Uhr 55 war. Dann schaltete ich das Mobiltelefon ein. Ladezustand gut, Feldstärke gut.

Es wurde achtzehn Uhr.

Nichts.

Eine Minute nach sechs.

Zwei Minuten nach sechs.

Ich saß da und war vor Ungläubigkeit beinahe gelähmt. Kelly war zufrieden in einen Comic vertieft, den sie sich selbst ausgesucht hatte.

Vier Minuten nach sechs. Das ließ das Schlimmste befürchten. Pat hätte mich nicht im Stich gelassen, wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, mich pünktlich zu erreichen. Er wußte so gut wie ich, daß im Einsatz eine Minute Verspätung so schlimm ist wie eine Stunde oder ein Tag Verspätung, weil das Leben anderer davon abhängen kann. Unter Umständen muß ein Angriff dann ohne den dringend erforderlichen Feuerschutz beginnen.

Also mußte es ein Problem geben. Ein großes Problem.

Ich ließ mein Mobiltelefon eingeschaltet. Um 18 Uhr 20 sagte ich schließlich: »Komm, Kelly, wir besuchen Pat.«

Damit war die Normalität zu Ende. Ich saß wirklich in der Scheiße. Auf Pat durfte ich nicht mehr hoffen.

28

Wir traten aus der Einkaufspassage und hielten auf der Straße ein Taxi an.

Riverwood erwies sich als hübsches, bestimmt nicht billiges Wohnviertel, in dem Holzhäuser mit gepflegten

Rasenflächen und europäischen Wagen in den Einfahrten sich mit schicken Apartmentgebäuden mit Tiefgaragen abwechselten. Auch die Geschäfte zeigten, daß hier wohlhabende Leute wohnen mußten: gute

Buchhandlungen, teuer aussehende Modeboutiquen und kleine Galerien.

Ich ließ das Taxi an Pats Straße vorbeifahren und erst an der nächsten Kreuzung halten. Ich bezahlte den Fahrer, und er ließ uns in leichtem Regen stehen. Es wurde schon dunkel, etwas früher als sonst um diese Jahreszeit, aber die geschlossene Wolkendecke ließ alles grau in grau erscheinen. Die meisten Autos fuhren schon mit Licht.

»Hoffentlich ist Pat zu Hause«, meinte ich. »Sonst müssen wir den weiten Weg ins Hotel zurückfahren, ohne ihm auch nur hallo gesagt zu haben.«

Kelly war sichtlich aufgeregt, weil sie jetzt Pat kennenlernen sollte. Schließlich war Pat der Mann, von dem ich behauptet hatte, er werde ihr helfen, wieder nach Hause zu kommen. Ich war mir nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was ich ihr über Mommy, Daddy und Aida erzählt hatte. Ich wußte nicht einmal, ob Kinder in ihrem Alter begriffen, was der Tod war - und daß er in jedem Fall endgültig war.

Ein Blick den Hügel hinauf zeigte mir, daß Pats Straße bestes Riverwood war: breit und elegant, mit Häusern und Läden, die seit vielen Jahren dort standen. Im weiteren Verlauf der Straße schienen neuere Apartmentgebäude vorzuherrschen, aber auch sie wirkten sehr ordentlich, gepflegt und luxuriös. Ich wußte natürlich nicht, in welchem dieser Gebäude Pat wohnte, aber es war leicht zu finden, denn ich brauchte nur den Hausnummern zu folgen.

Als wir an seinem Gebäude vorbeigingen, konnte ich den dazugehörigen Parkplatz überblicken, auf dem tatsächlich Pats feuerroter Mustang stand. Inzwischen war es 19 Uhr 10 geworden. Weshalb, zum Teufel, hatte Pat mich nicht angerufen, wenn er offenbar zu Hause war?

Wir gingen in den Coffee Shop auf der anderen Straßenseite. Der würzige Duft von frischgemahlenem Kaffee und die laute Rumbamusik im La Colombina erinnerten mich sofort wieder an Bogotá; vielleicht hatte Pat sich deshalb für diese Wohngegend entschieden. Wir wollten einen Platz am Fenster, was kein Problem war. Das Fenster war innen beschlagen; ich benutzte eine Papierserviette, um eine der Scheiben trockenzuwischen. Dann setzten wir uns hin und warteten.

Kelly tat genau, was sie mir versprochen hatte: Sie hielt den Mund, solange ich nicht mit ihr redete. Außerdem schien die Zeitschrift Girl! das beste Mittel zu sein, kleine Mädchen so abzulenken, daß sie nicht das Bedürfnis hatten, sich zu unterhalten. Ich kontrollierte nochmals mein Telefon. Ladezustand gut, Feldstärke gut.

Eine Bedienung kam, um unsere Bestellung aufzunehmen. Obwohl ich nicht hungrig war, wollte ich Essen bestellen, weil die Zubereitung Zeit in Anspruch nahm und wir dann einige Zeit brauchen würden, um es zu essen. Auf diese Weise konnten wir länger hier sitzen, ohne aufzufallen.

»Ich nehme ein Club-Sandwich und einen großen Cappuccino«, sagte ich. »Und was möchtest du, Josie?«

Kelly strahlte die Bedienung an. »Machen Sie auch Shirley Temples?«

»Klar machen wir die, Schätzchen!«

Ich fand, das müsse ein Cocktail sein, aber die Bedienung dachte sich anscheinend nichts dabei, dieses Getränk für ein Kind zu bestellen. Kelly vertiefte sich wieder in ihre Zeitschrift, und ich sah weiter aus dem Fenster.

Unsere Getränke kamen. Als wir wieder allein waren, fragte ich: »Was hast du da?«

»Erdbeeren und Kirschen mit Sprite gemixt.«

»Klingt widerlich. Laß mich mal probieren.«

Das Zeug schmeckte nach Bubble Gum, fand ich, aber Kinder mochten es offenbar. Kelly trank es mit Begeisterung.

Die Bedienung brachte ein riesiges Sandwich. Ich brauchte es nicht, aber ich aß es trotzdem. In meiner Dienstzeit beim SAS-Regiment und auch später hatte ich gelernt, in bezug auf Essen zu denken, wie man als Infanterist in bezug auf Schlaf denkt. Man ißt bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Hier im La Colombina ging alles seinen gewohnten Gang; wir saßen nun schon fast eine Dreiviertelstunde am Fenster, und in einem Coffee Shop kann man nicht endlos lange sitzen, ohne aufzufallen oder in Kaffee zu ertrinken.

Kelly nahm mir die Entscheidung ab, indem sie fragte: »Was machen wir jetzt?«

Ich legte ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Knöpf den Mantel zu, dann sehen wir nach, ob Pat zu Hause ist.«

Wir traten ins Freie und gingen wieder an Pats Apartmentgebäude vorbei. Sein Mustang stand noch immer da. Ich wollte unbedingt herausbekommen, was mit Pat los war. Hatte er etwa nur keine Lust mehr, mir zu helfen? Aber das kam mir unwahrscheinlich vor, denn ich wußte, wie hilfsbereit Pat war. Also gab es ein Problem, das stand fest. Aber ich brauchte eine Bestätigung dafür; erst dann konnte ich meine Lage erneut analysieren und einen Plan machen, der ohne seine Mitwirkung auskam.

Als wir den Hügel hinab weitergingen, fragte Kelly: »Weißt du überhaupt, wo Pat wohnt?«

»Klar, aber ich weiß auch, daß er nicht zu Hause ist. Wir sind eben bei ihm vorbeigegangen, und ich habe ihn nicht gesehen.«

»Kannst du ihn nicht anrufen?«

Ich konnte meinen Freund nicht einfach anrufen; falls sein Telefon abgehört wurde, sollte niemand Pat mit mir in Verbindung bringen können. Ich hatte ihm versprochen, ihn nicht zu kompromittieren. Aber ihre Frage hatte mich trotzdem auf eine Idee gebracht.

»Hör zu, Kelly, willst du mir helfen, Pat einen Streich zu spielen.«

»Klar!«

»Okay, dann müssen wir üben, was du sagen sollst.«

Wir schlenderten weiter durch die Straßen und beschrieben dabei einen großen Kreis um Pats

Apartmentgebäude. Unterwegs übten und übten wir, bis Kelly ihren Text beherrschte. Ungefähr drei Straßenblocks von Pats Adresse entfernt fanden wir eine Telefonzelle - eigentlich nur eine Halbschale aus Plexiglas an einer Hauswand. Ich nahm den Hörer ab und hielt ihn Kelly hin. »Kann’s losgehen?«

Sie reckte einen Daumen hoch. Sie war aufgeregt; sie fand unseren Streich großartig.

Ich wählte die Notrufnummer 911. Keine drei Sekunden später kreischte Kelly ins Telefon: »Ich hab’ gerade einen Mann gesehen! Ich hab’ einen Mann im ersten Stock gesehen ... im Haus eins-eins-zwei-eins Twenty-seventh Street, und ... und er hat eine Waffe, und der andere Mann ist verletzt, und . und . und er hat eine Waffe! Hilfe!«

Ich drückte mit der anderen Hand die Gabel herunter.

»Gut gemacht! Gehen wir jetzt zurück und beobachten, was passiert?«

Für den Rückweg wählte ich eine andere Route. Diesmal näherten wir uns dem Apartmentgebäude von oben und gingen hügelabwärts daran vorbei. Inzwischen war es längst ganz dunkel, und der Regen war stärker geworden. Wir erreichten mit gesenkten Köpfen die Twenty-seventh Street, bogen rechts ab und gingen den Hügel hinunter.

Zuerst hörte ich eine Sirene, dann raste ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blinklicht an uns vorbei. Wenig später sah ich, daß vor Pats Apartmentgebäude weitere Fahrzeuge mit blauen und roten Blinklichtern vorgefahren waren.

Als wir näher kamen, zählte ich drei Streifenwagen und einen neutralen Dienstwagen, dessen Fahrer seine Blinkleuchte mit Magnefhaftfuß aufs Wagendach gesetzt hatte.

Wir gingen weiter den Hügel hinunter und blieben an einer Bushaltestelle stehen. Ich tat nicht mehr, als zu warten und zu beobachten - genau wie alle anderen in der kleinen Menge, die sich dort angesammelt hatte.

»Kommen die alle wegen Pat?« fragte Kelly.

Ich war zu deprimiert, um diese Frage gleich zu beantworten; der Anblick eines vorbeifahrenden Krankenwagens hatte mir den Rest gegeben. Ich fuhr Kelly geistesabwesend mit der Hand über den Kopf.

»Darüber reden wir gleich. Laß mich noch einen Augenblick zusehen, okay?«

Wir warteten wie alle anderen. Eine Viertelstunde verging. Inzwischen trafen die ersten Kamerateams lokaler Fernsehstationen ein. Dann sah ich sie aus dem Gebäude kommen: zwei Sanitäter mit einer fahrbaren Krankentrage, auf der ein Toter in einem Leichensack lag. Ich brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, wer der Tote war. Ich konnte nur hoffen, daß sein Ende schnell und schmerzlos gewesen war, aber wenn ich an die Ermordung der Browns dachte, hatte ich den grausigen Verdacht, daß das nicht der Fall gewesen war.

»Komm, wir gehen, Kelly«, sagte ich leise. »Pat ist heute abend nicht zu Hause.«

Mir war zumute, als sei mir eines meiner liebsten Besitztümer geraubt worden und jetzt unwiederbringlich dahin. Unsere Freundschaft war nach langen Jahren

wiederaufgelebt, und dies war der Preis, den Pat dafür bezahlt hatte. Ich fühlte mich desorientiert und verzweifelt wie ein Versprengter auf feindlichem Gebiet - ohne Karte, ohne Waffen, ohne Vorstellung davon, wohin ich mich wenden sollte. Pat war ein wahrer Freund gewesen. Auch wenn wir uns jahrelang nicht mehr gesehen hatten, würde mir der Mann ohne Arsch

verdammt fehlen.

Als Pat in den Krankenwagen geladen wurde, zwang ich mich, meine Gefühle zu unterdrücken. Ich wandte mich ab und ging mit Kelly an der Hand weiter den

Hügel hinunter. Einer der Streifenwagen fuhr mit

Sirenengeheul davon, und der Krankenwagen würde offenbar gleich folgen. Ich stellte mir vor, wie die

Spurensicherer in Pats Wohnung ihre Overalls anzogen und ihre Geräte auspackten. Dann versuchte ich wieder, mich von solchen Vorstellungen zu lösen und meine Situation logisch zu betrachten: Pat war tot; jetzt hatte ich nur noch Euan.

An der ersten Straße bogen wir links ab, um von der Hauptstraße wegzukommen, und ich hörte, wie der Fahrer des Krankenwagens seine Sirene zweimal kurz aufheulen ließ, um sich leichter in den Verkehrsstrom einordnen zu können. Wir folgten der neuen Straße. Auf beiden Seiten dieser Wohnstraße mit wenig Durchgangsverkehr standen große Häuser, zu deren Eingängen breite Steintreppen hinaufführten.

Ich hielt Kelly an der Hand, und wir gingen schweigend nebeneinander her.

Trauergefühle wegen Pat hatten im Augenblick keinen

Platz in meinen Gedanken. Entscheidend war, was die Leute, die ihn umgelegt hatten, aus ihm hätten herausholen können. Die PIRA oder Luther & Co. - wer wußte das schon? Natürlich unter der Voraussetzung, daß sein Tod mit mir zusammenhing. Der Teufel mochte wissen, was Pat noch alles getrieben hatte. Aber ich mußte von der Annahme ausgehen, daß seine Mörder versucht hatten herauszubekommen, wo wir uns aufhielten. Aber Pat hatte nur eine Telefonnummer gehabt und von meinem Plan gewußt, mich im PIRA- Gebäude umzusehen. Gewohnheitsmäßige

Geheimhaltung hatte uns vermutlich das Leben gerettet.

Ich dachte so angestrengt nach, daß ich die Stimme zuerst gar nicht richtig wahrnahm. Dann glaubte ich, Kelly habe etwas gesagt, und wollte rasch ihre Hand drücken und sie auffordern, mich in Ruhe nachdenken zu lassen. Aber dann sprach sie erneut, eine leise, energische Männerstimme, und diesmal war der Sinn des Gesagten unmißverständlich.

»Halt, stehenbleiben. Keine Bewegung, sonst erschieße ich Sie. Bleiben Sie so stehen.«

Das war kein Drogensüchtiger; das war kein nervöser junger Mann; das war jemand, der die Situation völlig unter Kontrolle hatte.

29

Ich ließ meine Hände, wo sie waren.

Kelly schlang ihre Arme um meine Taille.

»Schon gut, alles okay, keiner will dir was tun«, log ich wider besseres Wissen.

Seine Schritte kamen von links hinten näher. Er mußte aus dem Privatweg gekommen sein, der hinter den Häusern verlief, an denen wir eben vorbeigegangen waren.

»Sie haben zwei Möglichkeiten«, erklärte er mir. »Stillhalten und weiterleben. Eine Bewegung machen und erschossen werden.« Die Stimme gehörte einem Mann Ende Zwanzig, Anfang Dreißig, präzise, gut ausgebildet.

Es wäre zwecklos gewesen, meine Pistole ziehen zu wollen. Der Kerl hätte mich beim ersten Anzeichen einer Bewegung abgeknallt.

Ich entschied mich für die erste Möglichkeit.

Von der anderen Seite näherten sich weitere Schritte, und jemand zerrte Kelly von mir weg. »Nick! Nick!« rief sie verzweifelt. Aber ich konnte ihr nicht helfen, und sie war viel schwächer als die Männer. Sie wurde irgendwo nach hinten weggeschleppt. Ich konnte die Kerle, die uns geschnappt hatten, noch immer nicht sehen. Ich zwang mich dazu, Ruhe zu bewahren und mich ins Unvermeidliche zu fügen.

Die Stimme begann mir in dem gleichen nüchternen, beinahe freundlichen Tonfall Befehle zu geben. »Sie heben langsam die Hände und legen sie auf den Kopf«, sagte der Unbekannte hinter mir. »Los machen Sie schon.«

Als ich den Befehl ausgeführt hatte, verlangte er: »Jetzt drehen Sie sich um.«

Ich drehte mich langsam um und sah einen kleinen schwarzhaarigen Mann, der mich profihaft mit seiner Pistole in Schach hielt. Er stand etwa zehn Meter hinter mir am Anfang des Privatwegs hinter den Häusern. Ich sah ihn schwer atmen, vermutlich weil er auf der Suche nach uns beiden die Straßen entlanggerannt war. Er trug einen Einreiher, und als ich den Klettverschluß seines Jacketts sah, wußte ich, welche Gruppe Pat liquidiert hatte.

»Herkommen. Los, bewegen Sie sich.«

Kelly war nirgends zu sehen. Die anderen mußten sie schon auf dem Privatweg weggeschleppt haben. Jetzt hatten sie also auch Kelly erwischt. Während ich auf den Mann zuging, dachte ich an Ai das entstellten kleinen Körper.

»Halt. Drehen Sie sich nach links.« Leise, sehr ruhig und selbstbewußt. Dabei hörte ich rechts neben mir ein Auto halten und erkannte aus dem Augenwinkel heraus den Caprice, der vor unserem ersten Motel gestanden hatte.

»Geradeaus weitergehen.«

Ich betrat den Privatweg. Kelly war nirgends zu sehen.

»Hinknien«, hörte ich.

Ich kniete nieder. Sorgenvolle Gedanken über den Tod hatte ich mir nie gemacht; schließlich mußten wir alle irgendwann die Papiere abgeben. Ich hatte mir nur einen leichten, schnellen Tod gewünscht. Aber obwohl ich immer geahnt hatte, daß ich jung sterben würde, kam mir das hier doch entschieden zu früh vor.

Nichts geschah, und niemand sagte ein Wort. Dann fuhr der Caprice hinter mir auf den Privatweg, so daß seine Scheinwerfer die Rückseiten der Häuser beleuchteten. Zu jedem Haus gehörten Reihengaragen, und entlang der Zufahrt parkten weitere Wagen. Ich sah meinen knienden Schatten, der sich vor mir auf dem nassen Asphalt abzeichnete.

Der Motor lief weiter, und ich hörte, wie Autotüren geöffnet wurden. Jemand meldete sich über Funk; dieser Mann hatte einen Akzent, der besser zu einem New Yorker Hot-dog-Verkäufer gepaßt hätte. Er gab unseren Standort an. »Positiv, wir sind auf der Garagenzufahrt zwischen Dent und Avon. Wir sind auf der Südseite. Sie sehen dort unsere Lichter ... Positiv, wir haben beide.«

Ich kniete weiter mit beiden Händen auf dem Kopf im Regen, während wir auf das Eintreffen der anderen warteten. Ich biß die Zähne zusammen und schloß die Augen, weil ich mir vorstellen konnte, was nun passieren würde. Die Schritte gingen rechts an mir vorbei und blieben stehen.

Den zweiten Mann hörte ich gar nicht herankommen. Ich fühlte nur eine muskulöse Hand, die meine auf dem Kopf liegenden Hände festhielt, während die andere nach meiner Pistole tastete. Die Hand zog meine Sig heraus, und ich sah, wie der Mann sich vor meinem Gesicht davon überzeugte, daß die Waffe gesichert war. Dann ließ er meine Hände los und zog im nächsten Augenblick einen durchsichtigen Plastikbeutel aus seiner Tasche. Da er noch leicht keuchend atmete, roch ich, daß er Kaffee getrunken hatte.

Dann folgte eine kurze Pause, in der nur das Rascheln des Klarsichtbeutels hinter mir zu hören war. Rechts vor mir kam ein Mann in Sicht, der auffallend modisch gekleidet war: Er trug einen schwarzen Anzug mit einer Mandarinjacke. Scheiße, der Kerl sah aus wie Mr. Armani persönlich. Er war Ende Zwanzig, dunkler Teint, äußerst gepflegt und elegant. Vermutlich schwebte er über den Erdboden, damit seine Schuhe nie naß wurden. Er hielt mich mit seiner Waffe in Schach.

Ich hörte Kelly im Hintergrund weinen. Sie mußte in dem Wagen sein. Der Teufel mochte wissen, wie sie dort hineingekommen war, aber nun wußte ich wenigstens, wo sie war. Der Mann hinter mir setzte die Leibesvisitation fort und steckte meine Sachen in den Plastikbeutel.

Der Hot-dog-Verkäufer war richtig nett zu ihr; seine Stimme klang weder grob noch aggressiv. Vielleicht hatte er selbst Kinder. »Ja, schon gut, schon gut«, sagte er beruhigend. »Wie heißt du?«

Ihre Antwort war nicht zu verstehen, aber ich hörte ihn sagen: »Nein, junge Dame, ich glaube nicht, daß du Josie heißt. Ich glaube, daß du Kelly heißt.«

Gut gemacht, Kumpel, du hast’s immerhin versucht!

Auf der knapp hundertfünfzig Meter entfernten Hauptstraße hielt ein Auto an der Stelle, wo der Privatweg abzweigte. Dann leuchteten Rückscheinwerfer auf, die auf mich zukamen.

Inzwischen hatte der Unbekannte hinter mir meinen gesamten Tascheninhalt in seinen Klarsichtbeutel gesteckt. Ich kniete weiter mit auf den Kopf gelegten Händen da, während Mr. Armani rechts vor mir Wache

hielt.

Dann hörte ich hinter mir aufgeregte Stimmen. Ich hoffte, daß es Passanten waren, die diesen Vorfall melden würden. Aber wem? Meine Hoffnungen zerschlugen sich, als ich hörte, wie der Fahrer ausstieg und mit den Neuankömmlingen zu sprechen begann.

»Alles in Ordnung, Leute, wir haben alles unter Kontrolle. Hier gibt’s nichts zu sehen.«

Ich war verwirrt. Wie konnten sie diese Leute einfach weiterschicken - außer sie waren Kriminalbeamte? Vielleicht gab es doch noch einen Hoffnungsschimmer; vielleicht würde es mir gelingen, mich irgendwie aus dieser Sache herauszureden. Ich hatte die Sicherungsdiskette gut versteckt. Vielleicht konnte ich sie als Tauschobjekt benutzen.

Der zurückstoßende Wagen hielt ungefähr fünf Meter von mir entfernt. Dann stiegen drei Kerle aus: der Fahrer vorn links, die beiden anderen hinten. Anfangs waren sie im Schatten, so daß ich ihre Gesichter nicht sehen konnte, aber dann trat einer ins Scheinwerferlicht des anderen Wagens. Nun wußte ich, daß ich wirklich in der Scheiße steckte.

Luther sah noch immer ziemlich mitgenommen aus, und er begrüßte mich nicht gerade wie einen alten Kumpel. Im grellen Scheinwerferlicht sah er mit seinem Kopfverband wie ein verdammt wütender Teufel aus. Er trug auch diesmal einen Anzug, aber eine Krawatte würde er nicht so bald wieder tragen können. Sein Grinsen versprach mir, daß er sich ein paar besondere Tricks für mich aufgehoben hatte. Aber damit hatte ich

rechnen müssen.

Als Luther auf mich zukam, glaubte ich, er wolle mir schon mal einen Vorgeschmack geben. Ich schloß die Augen und machte mich auf einen Schlag oder Tritt gefaßt. Aber er ging geradewegs an mir vorbei. Das beunruhigte mich noch mehr.

Luther begann zu sprechen, sobald er den Wagen erreichte. »Hi, Kelly, kennst du mich noch? Ich heiße Luther!«

Ihre Antwort bestand aus einem undeutlichen Murmeln.

Auch als ich mich noch mehr anstrengte, verstand ich nur, was Luther sagte.

»Erinnerst du dich nicht an mich? Ich bin ein paarmal bei euch vorbeigekommen, um deinen Daddy in die Arbeit mitzunehmen. Du mußt jetzt mitkommen, weil er mich schickt damit ich mich um dich kümmere.«

Diesmal hörte ich Proteste aus dem Wagen.

»Nein, er ist nicht tot. Er will, daß ich dich abhole. Los komm schon, beweg dich, du kleine Hexe!«

»Nick! Nick! Ich will nicht mit!« kreischte Kelly in panischer Angst.

Luther ging mit ihr zu seinem Wagen zurück. Mit einem Arm hielt er Kelly an sich gepreßt, um zu verhindern, daß sie in ihrer Angst strampelte und nach ihm trat. Die ganze Sache war sekundenschnell vorbei. Sobald Kelly sicher auf dem Rücksitz untergebracht war, fuhren die drei Männer mit ihr davon. Ich kam mir vor, als sei ich zum zweitenmal mit dem Feuerlöscher niedergeschlagen worden.

»Aufstehen!« Meine Hände lagen noch immer auf meinem Kopf. Ich spürte, wie jemand meinen rechten Bizeps packte und mich hochzog. Dann hörte ich den Wagen hinter mir anfahren.

Ich sah nach rechts. Der kleine Schwarzhaarige hielt mich mit der linken Hand fest; in seiner rechten Hand trug er den Klarsichtbeutel mit den Sachen, die er mir abgenommen hatte: Kevs Mobiltelefon, meine Pistole, meinen Reisepaß, meine Geldbörse, Pats Geldautomatenkarte und etwas Kleingeld. Er drehte mich zu dem Auto um, das inzwischen gewendet hatte, und schob mich darauf zu. Mr. Armani gab ihm dabei Feuerschutz.

Bisher hatte ich alles geduldig über mich ergehen lassen. Aber jetzt mußte ich aus dieser Scheiße raus, bevor ich umgelegt wurde. So einfach war das. Der Motor des Wagens lief, und mir blieben noch ungefähr zehn Meter, auf denen ich etwas unternehmen konnte. Dabei würde es entscheidend auf Geschwindigkeit, Aggressivität und das Überraschungsmoment ankommen. Und das, wofür ich mich entschied, mußte beim ersten Versuch klappen, sonst war ich tot.

Der Mann, der mich festhielt, war Rechtshänder, sonst hätte er mich nicht mit der linken Hand mitgezerrt; also mußte er den Plastikbeutel fallen lassen, um die Pistole ziehen zu können, wenn ich ihn angriff. War diese Einschätzung falsch, würde ich sie mit meinem Leben bezahlen. Aber ich war ohnehin schon so gut wie tot - warum sollte ich’s also nicht riskieren?

Inzwischen waren wir bis auf drei Meter ans Auto herangekommen. Mr. Armani glitt zur hinteren Tür, um sie zu öffnen, und als er dabei nach unten auf den Türgriff sah, wußte ich, daß der entscheidende Augenblick gekommen war.

»JAAAAAAHHHHHH!!!«

Ich stieß einen wilden Schrei aus, schlug mit der rechten Hand nach unten, drehte den Oberkörper dabei etwas zur Seite und traf die linke Schulter des Schwarzhaarigen.

Ich hatte das Überraschungsmoment für mich. Die drei mußten erst erfassen, was vorging, und die Lage richtig einschätzen. Sie würden etwas über eine Sekunde brauchen, um auf ihre Lagebeurteilung hin zu reagieren.

Während ich mit der rechten Hand zuschlug, packte ich den Schwarzhaarigen mit meiner Linken und riß ihn zu mir herum. Wir brüllten jetzt beide. Seine Lagebeurteilung stand inzwischen fest. Er ließ den Plastikbeutel fallen und griff nach seiner Waffe.

Auch für ihn würde jetzt alles scheinbar im Zeitlupentempo passieren. Ich sah Speicheltropfen aus seinem Mund sprühen, als er den anderen eine Warnung zurief. Um diese beiden brauchte ich mir im Augenblick keine Sorgen zu machen; falls sie schneller reagierten als ich, hätte mir diese Erkenntnis auch nicht weitergeholfen.

Während ich den Schwarzhaarigen weiter zu mir herumdrehte, konzentrierte ich mich auf seinen Gürtel und sah den Pistolengriff langsam auf mich zukommen. Jetzt zählte nichts anderes mehr. Ich hatte nur noch Augen für seine Waffe. Ich hörte auch die beiden anderen schreien. Wir brüllten uns gegenseitig an.

Beim Colt Kaliber 45 löst der Abzug nur den gespannten Hammer aus. Um ihn zu spannen und zugleich die erste Patrone in die Kammer zu bringen, muß der Pistolenschlitten in seinen Führungsschienen energisch nach hinten gezogen und losgelassen werden. Die Pistole läßt sich durchgeladen und gesichert tragen - Hammer gespannt, Sicherung eingerastet, eine Patrone in der Kammer. Außer dem Sicherungsknopf hat sie eine Griffsicherung; auch wenn der Knopf gedrückt ist, muß die Hand des Schützen den Pistolengriff mit kräftigem Druck umfassen, sonst kann kein Schuß abgegeben werden.

Ich zog die Pistole mit der linken Hand heraus, ohne darauf zu achten, wo ich sie zu fassen bekam. Gleichzeitig bildeten der Daumen und die geschlossenen Finger meiner Rechten ein V, in das ihr Griff hineinpaßte. Mein Daumen entsicherte den Colt, und meine Finger lösten seine Griffsicherung. Ich konnte nicht sehen, ob der Hammer gespannt war, und wußte nicht, ob die Pistole durchgeladen war. Ich zog mit der Linken den Schlitten zurück, um sie zu laden. Sie war schon geladen gewesen. Eine Patrone wurde ausgeworfen und flog im Licht der Straßenlampen messingglitzernd in weitem Bogen davon. Auf eine Patrone kam es nicht an; entscheidend war, nicht nur ein Klicken zu hören, wenn man abdrückte.

Ich wußte, daß der gefährlichste Gegner Mr. Armani war. Er hielt seine Waffe bereits in der Hand.

Ich behielt meine Drehrichtung nach rechts bei, bekam ihn ins Visier und zielte tief, weil ich wußte, daß diese

Scheißkerle Kevlarwesten trugen. Armani brach zusammen. Ich konnte nicht beurteilen, ob er tot war oder nicht.

Ich drehte mich weiter, schoß den kleinen Schwarzhaarigen nieder, richtete mich auf und sah zu dem Fahrer hinüber. Er saß noch am Steuer, war aber nach vorn zusammengekrümmt und wand sich laut schreiend.

Ich rannte mit schußbereiter Waffe zu seiner Tür. »Rüberrutschen! Rüberrutschen! Rüberrutschen!«

Ich riß die Fahrertür auf, bedrohte ihn weiter mit meiner Pistole und trat mit dem rechten Fuß zu. Ich versuchte gar nicht erst, ihn aus dem Wagen zu zerren; das hätte zuviel Zeit gekostet. Ich wollte nur ans Lenkrad, um losfahren zu können. Ich hielt die Pistolenmündung an seine Backe, zog seine Waffe heraus, behielt sie und ließ meine achtlos fallen, weil ich nicht wußte, wieviel Schuß sie noch enthielt.

Der Fahrer war am linken Oberarm getroffen. Die Einschußwunde war ziemlich klein und blutete nicht allzu stark. Ich mußte ihn erwischt haben, als ich mich herumgeworfen und auf Armani geschossen hatte. Aber von seiner Hand tropfte Blut, das den Arm hinunterlief. Ein Geschoß vom Kaliber 45 ist groß und schwer und besitzt enorme Durchschlagskraft. Die riesige Austrittswunde würde die halbe Unterseite seines Arms weggerissen haben. Von diesem Mann hatte ich garantiert nichts zu befürchten.

Während ich mit durchdrehenden Reifen losfuhr, schrie ich ihn an: »Wohin fahren sie? Wohin fahren sie?«

Sein ganze Antwort bestand aus einem halb trotzigen, halb geschluchzten »Fuck you! Fuck you!« Blut färbte seinen dunkelgrauen Anzug braun.

Ich rammte ihm die Pistolenmündung in seinen Oberschenkel. »Wohin fahren sie?«

Wir rasten den schmalen Privatweg entlang. Ich fuhr beide Außenspiegel ab, während ich versuchte, meinen Beifahrer zum Reden zu bringen. Als er wieder nur »Fuck you!« sagte, drückte ich ab. Ich spürte den Druckstoß, als die heißen Treibgase den Lauf verließen, und roch Korditgestank. Der Knall des Schusses war ohrenbetäubend laut. Das Geschoß riß eine zwanzig Zentimeter lange Furche in seinen linken Oberschenkel. Der Kerl quiekte wie ein angestochenes Schwein.

Ich wußte noch immer nicht, wohin ich fahren sollte. Der Verletzte hörte bald zu schreien auf, aber er zuckte weiter krampfhaft. Dabei landete er auf den Knien liegend im Fußraum vor dem Beifahrersitz, auf dem sein Kopf ruhte. Ich fürchtete, daß er in seinem Schockzustand bald nicht mehr ansprechbar sein würde. Vermutlich wünschte er sich, er wäre tatsächlich ein New Yorker Hot-dog-Verkäufer.

»Wohin fahren sie?« wiederholte ich. Er durfte nicht ohnmächtig werden, bevor ich das wußte.

»Nach Süden«, stöhnte er. »Auf der I-95 nach Süden.«

Ich bog bereits auf das auf Stelzen verlaufende Teilstück der Stadtautobahn ab, das zur Interstate 95 führte, und trat das Gaspedal durch.

Ich sah wieder zu ihm hinüber. »Wer sind Sie?«

Er verzog schmerzhaft das Gesicht, während er asthmatisch keuchend nach Atem rang. Als er keine Antwort gab, krachte der Griff meiner Pistole an seine Schläfe. Der Mann stöhnte auf, nahm eine Hand vom Oberschenkel und griff sich benommen an den Kopf. Wir rasten am Pentagon vorbei, dann sah ich die Leuchtreklame des Hotels Calypso. Alles kam mir wie ein Alptraum vor.

»Wer sind Sie? Warum seid ihr hinter mir her? Los, los, reden Sie schon!«

Seine Antwort war fast unverständlich. Er spuckte Blut und bekam kaum noch Luft.

»Lassen Sie mich raus, Mann. Setzen Sie mich hier ab, dann sag ich’s Ihnen.«

Ich dachte nicht daran, auf diesen Trick reinzufallen.

»Sie machen’s nicht mehr lange. Sagen Sie’s mir, dann helfe ich Ihnen. Warum versucht ihr Kerle, uns umzulegen? Wer seid ihr überhaupt?«

Sein Kopf sackte kraftlos nach vorn. Er gab keine Antwort, weil er nicht mehr konnte.

Kurz vor der Ringautobahn entdeckte ich sie in der mittleren der drei Fahrspuren. Meine Scheinwerfer zeigten sie mir alle drei ganz deutlich: einer am Steuer, zwei auf dem Rücksitz.

Kelly war nicht zu sehen, aber zwischen den hinten Sitzenden war genügend Platz für eine dritte Person. Kelly war nur ein kleines Mädchen; ihr Kopf würde nicht über die hohe Rücksitzlehne hinausragen.

Hier auf der Autobahn konnte ich nichts unternehmen, deshalb wurde es Zeit, ruhig nachzudenken und den nächsten Plan auszuarbeiten. Was sollte ich tun? Jedenfalls würde bald etwas geschehen müssen, denn ich wußte nicht, wohin sie wollten, und die I-95 führte bis nach Florida hinunter. Viel näher, nur eine halbe Autostunde entfernt, lag Quantico mit der FBI- und DEA-Akademie. Langsam wurden mir einige Zusammenhänge klar. Luther und der Schwarze, die Kev gekannt hatten und zu ihm ins Haus gekommen waren, gehörten zur gleichen Gruppe wie Kev. Aber warum hatten sie ihn ermordet? Und welche Verbindungen bestanden zwischen »gewissen DEA-Kreisen« und »meinen Freunden jenseits des Wassers«? Hatte Kev beseitigt werden müssen, weil er eine Zusammenarbeit der Gruppierungen aufgedeckt hatte?

Als ich wieder an Florida dachte, hatte ich eine Idee, die ich mir für später merkte.

Ich sah auf den Fahrer hinab. Sein Zustand war beschissen schlecht; er verlor noch immer Blut. Er saß in einer Blutlache, weil die Fußmatten vor den Sitzen verhinderten, daß der Teppichboden das Blut aufsog. Ich sah sein Gesicht, wenn die Scheinwerfer entgegenkommender Wagen uns streiften. Es war aschfahl, und aus seinen blicklos ins Leere starrenden Augen wich allmählich alles Leben. Er würde bald sterben. Pech gehabt.

Ich streckte die rechte Hand aus, schlug sein Jackett zurück und zog die beiden Reservemagazine aus seinem Schulterhalfter. Er merkte nicht, was ich tat; er war jetzt in einer anderen Welt und ließ vielleicht sein Leben vor seinem inneren Auge vorbeiziehen, bevor er starb.

Ich beobachtete weiter das Fahrzeug vor mir. Die Autobahn war für meine Zwecke ideal: Ich konnte einfach im Verkehrsstrom mitschwimmen, reichlich Abstand halten und sogar zulassen, daß sich ein anderer Wagen zwischen uns schob. Vor jeder Ausfahrt schloß ich etwas dichter auf; falls der andere Fahrer abbog, brauchte ich nur den Blinker zu setzen und konnte ihm mühelos folgen.

Etwa fünf Minuten später sah ich ein Schild: Lorton 1 mile. Gleichzeitig blinkte der andere Wagen, um auf die rechte Spur zu wechseln. Also wollten sie doch nicht nach Quantico. Aber ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, sondern mußte mich auf meinen Überfall konzentrieren. Ich lenkte mit einer Hand, während ich mit der anderen überprüfte, daß die erbeutete Pistole durchgeladen war.

Erst als ich ebenfalls auf die rechte Fahrspur wechselte, registrierte ich, daß wir durch einen dichten Wald fuhren. Die Stöße zwischen den Betonplatten der Fahrbahn ließen die Reifen rhythmisch poltern.

Unterdessen war der Fahrer so im Fußraum zusammengesackt, daß er mit dem Rücken an der Beifahrertür lehnte. Diese aufrechte Haltung verdankte er nur der Kevlarweste unter seinem Hemd. Er war tot.

Ich befand mich jetzt auf der rechten Spur gut zwanzig Meter hinter dem anderen Auto - nahe genug, um ihnen im Nacken zu sitzen, aber doch so weit entfernt, daß sie nur Scheinwerfer sehen würden, falls sie sich umdrehten. Aber in dem Wagen vor mir drehte sich niemand um; sie rechneten natürlich nicht damit, verfolgt zu werden. Ich fing an, tief durchzuatmen, um mich in Kampfbereitschaft zu versetzen.

Die Ausfahrt Lorton verlief in einer leicht ansteigenden weiten Rechtskurve. Hohe Bäume auf beiden Straßenseiten erzeugten einen tunnelartigen Eindruck. Ich wollte an der ersten Kreuzung zuschlagen. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um mich in die richtige Geistesverfassung zu versetzen und meine Angst möglichst zu unterdrücken.

Als in einiger Entfernung eine Ampel sichtbar wurde, gab ich etwas mehr Gas, um den Abstand zu verringern. Der andere Fahrer bremste, dann blinkte er rechts. Auf der breiten Querstraße donnerte ein von links kommender Sattelschlepper über die Kreuzung. Der andere Wagen begann rechts abzubiegen. Ich stemmte mich in den Fahrersitz, trat das Gaspedal durch und hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert.

Ich war bestimmt fünfzig Meilen schnell und beschleunigte weiter, als ich auf gleicher Höhe mit dem anderen Wagen mein Lenkrad scharf nach rechts riß. Der rechte vordere Kotflügel rammte mit lautem Knall den linken des verfolgten Fahrzeugs. Der Airbag explodierte, während mein Wagen sich auf der Straße querstellte. Der andere geriet ins Schleudern. Ich hörte Glas splittern und überbeanspruchte Reifen quietschen.

Sobald mein Auto zum Stehen gekommen war, öffnete ich das Gurtschloß und stieß die Tür auf. Die Nachtluft kam mir eiskalt vor. Erst hörte ich nur das Zischen des geplatzten Kühlers und den Warnton, der mich darauf aufmerksam machte, daß meine Tür bei eingeschalteter

Zündung offen war; dann waren dumpfe Stimmen aus dem anderen Wagen zu hören.

Mein erstes Ziel war der Fahrer, damit der Wagen auf keinen Fall weiterfahren konnte. Er kämpfte noch mit seinem Sicherheitsgurt. Ich schoß durch die Windschutzscheibe. Wo ich ihn getroffen hatte, wußte ich nicht, aber er sackte zusammen. Als ich hinten ins Auto sah, erkannte ich Kelly - oder zumindest ihre Umrisse. Sie hockte zusammengekauert im Fußraum und hielt sich die Ohren zu.

Dann war Luther an der Reihe. Er hatte seine Tür halb aufgestoßen und ließ sich aus dem Auto fallen. Das hätte ich an seiner Stelle auch getan, denn im Wagen sitzend bot man eine zu gute Zielscheibe. Während Luther sich hinauswälzte, schoß ich weiter unter den Wagenboden. Als er aufschrie, wußte ich, daß ich ihn erwischt hatte. Ich konnte nicht beurteilen, ob ich ihn direkt oder mit einem vom Asphalt abgeprallten Querschläger getroffen hatte, aber das spielte keine Rolle. Die Wirkung war die gleiche.

Ich tauchte hinter der Motorhaube auf, um mir den dritten Mann vorzunehmen. Er war ausgestiegen, aber plötzlich überlegte er sich die Sache anders. Er riß die Hände hoch und rief laut: »Nicht schießen! Nicht schießen!« Seine Augen waren groß wie Untertassen. Ich erledigte ihn mit einem Kopfschuß.

Kelly hockte noch immer zusammengekauert im Fußraum. Dort würde sie vorerst bleiben.

Ich nahm den beiden Toten ihre Geldbörsen und Pistolenmagazine ab. Luther hob ich mir für zuletzt auf.

Er lag hinter dem Wagen auf dem Asphalt und hielt beide Hände an seine Brust gepreßt. »Helfen Sie mir . helfen Sie mir . bitte .«

Als er sich aus dem Wagen gewälzt hatte, war er unter der Achsel getroffen worden, und das Geschoß mußte ihm auch den Brustkorb aufgerissen haben. Ich dachte an Kev, Marsha und Aida und trat zu. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber er brachte nur ein dumpfes Gurgeln heraus. Er war praktisch hinüber. Gut. Hoffentlich machte er’s noch einige Zeit.

Ich rannte um das Wagenheck herum und hob Kelly aus ihrem Versteck. Ich mußte schreien, um ihr Kreischen zu übertönen. »Alles in Ordnung, Kelly. Ich bin hier, alles okay.«

Ich hielt sie fest an mich gedrückt. Ihr Kreischen machte mich fast taub.

»Jetzt ist es vorbei! Alles wieder in Ordnung!«

Aber das stimmte nicht.

Die Polizei würde bald kommen. Ich sah mich um. Wir standen auf einer Fernstraße mit jeweils zwei Fahrspuren in beiden Richtungen. Links unter mir verlief die I-95, die diese Straße auf einer Brücke überquerte, und etwa vierhundert Meter weit entfernt erkannte ich an der Gegenfahrbahn eine Texaco-Tankstelle. Hügelaufwärts ragte in gleicher Entfernung ein Haus der Hotelkette Best Western über dem Horizont auf.

Von der Ausfahrt her kam ein Paar Autoscheinwerfer auf uns zu. Luther lag leise stöhnend hinter dem Wagen. Er war noch nicht tot, aber er würde es bald sein. Die Scheinwerfer kamen näher.

Kelly war noch immer hysterisch. Ich hielt sie vor mich, um meine Pistole zu tarnen, und verschwand hinter die beiden Autos. Die Scheinwerfer befanden sich fast auf unserer Höhe. Ich trat vor und hielt den Wagen an.

Die barmherzigen Samariter fuhren einen Toyota Previa: Eltern vorn, zwei Kinder hinten. Ich spielte ein unter Schock stehendes Unfallopfer, so gut ich konnte, indem ich »Hilfe! Hilfe!« rufend zur Fahrertür lief. Die Frau saß am Steuer. »O Gott, o Gott!« Ihr Mann hatte bereits sein Mobiltelefon herausgeholt, um einen Krankenwagen zu rufen.

Ich sicherte meine Pistole und hielt sie der Frau vors Gesicht. »Alles aussteigen! Los, los, raus mit euch!« Meinen anderen Arm ließ ich wie ein Verrückter kreisen. Hoffentlich hielten sie mich für einen. »Aussteigen! Ich knall euch alle ab! Los, raus mit euch!«

Ich verstand nichts von Familien, aber ich wußte, daß ein Ehepaar niemals die eigene Brut in Gefahr bringen würde. Der Mann begann durchzudrehen. »Bitte nicht«, wimmerte er, »bitte nicht!« Dann brach er in Tränen aus.

Kelly hatte sich wieder beruhigt und verfolgte mit großen Augen meinen Auftritt.

Zum Glück bewahrte die Mutter die Nerven. »Gut, wir steigen aus. Dean, hilf mir, die Kinder rauszuholen. Los!«

Dean riß sich zusammen und tat wie ihm befohlen. »Werfen Sie Ihre Geldbörse in den Wagen!« befahl ich ihm.

Ich stieß Kelly durch die Schiebetür, knallte sie zu, lief um den Wagen zur Fahrertür, stieg ein und brauste

davon.

Ich wollte das unmittelbare Gefahrengebiet so schnell wie möglich verlassen, um dann in Ruhe über die nächsten Schritte nachdenken zu können. Die Interstate schied aus, weil die Polizei mich dort zu leicht hätte schnappen können. Ich wendete, bog an der Kreuzung nach links unter die Autobahn ab und fuhr an der Tankstelle vorbei. Vor mir lag eine um diese Zeit leere zweispurige Straße. Ich trat das Gaspedal durch.

Ich hatte keine Zeit für Erklärungen, um Kelly zu beruhigen. Sie lag auf dem Rücksitz zusammengerollt und schluchzte. Mein Adrenalinspiegel sank allmählich, aber ich hatte zittrige Hände und war in Schweiß gebadet. Ich atmete tief durch und versuchte mehr Sauerstoff aufzunehmen, damit alles sich wieder beruhigte. Ich war verdammt wütend auf mich, weil ich vorhin die Beherrschung verloren hatte. Ich hätte Luther sofort erschießen sollen, statt ihn einem langsamen Tod auszuliefern.

Dann merkte ich, daß wir nach Süden fuhren, vom Flughafen weg. Ich würde irgendwo anhalten und zur Ruhe kommen müssen, statt weiter in blinder Panik zu flüchten. Ich hielt auf dem nächsten Parkplatz und orientierte mich im Autoatlas. Kelly sah elend aus, aber ich wußte nicht recht, wie ich sie trösten sollte. »Siehst du, ich hab’ mein Versprechen gehalten und mich um dich gekümmert«, sagte ich schließlich. »Mit dir wieder alles okay?«

Sie sah zu mir auf und nickte, aber ihre zitternde Unterlippe verriet sie.

Ich faßte einen Entschluß. Scheiße, ich würde auf dem kürzesten Weg in unser Hotel fahren, die Sicherungsdiskette holen und untertauchen. Ich wendete auf der Straße und fuhr zur I-95 zurück. Ich blieb auf ihr, bis wir die Ringautobahn erreichten.

Auf der Gegenfahrbahn sah ich Fahrzeuge mit blauen Blinkleuchten. Ich zählte mindestens zehn. Aber die Polizei machte mir vorläufig keine Sorgen. Selbst wenn sie meine Personenbeschreibung hatte, mußte sie mich in der Großstadt erst einmal aufspüren.

Wir brauchten eine knappe Stunde bis zum Economy Inn. Ich fuhr geradewegs auf den Parkplatz und wies Kelly an, im Auto auf mich zu warten. Falls sie verstanden hatte, ließ sie keine Reaktion erkennen. Ich versuchte es erneut und sah diesmal ein schwaches Nicken.

Ich ging nach oben, zog die Pistole und betrat unser Zimmer. Ich stemmte das Sideboard hoch, ohne darauf zu achten, daß der Fernseher dabei gefährlich ins Rutschen geriet, und riß meine festgeklebte Diskette los. Falls Luther & Co. mit der PIRA unter einer Decke steckten, mußten sie wissen, daß ich eine Diskette hatte - sie mußten zumindest davon ausgehen. Dann griff ich nach meiner schwarzen Reisetasche, ging damit ins Bad, warf zwei Badetücher in die Wanne und drehte den Wasserhahn auf. Die nassen Badetücher und zwei Stück Hotelseife kamen in einen Plastikwäschesack aus der Schublade, den ich ebenfalls in meine Reisetasche packte. Dann verließ ich das Zimmer und hängte das Schild Bitte nicht stören draußen an den Türknopf.

Kelly lag noch immer auf dem Rücksitz zusammengerollt. Wir fuhren die Straße entlang in Richtung Marriott-Hotel.

Ich parkte in einer der langen Reihen zwischen Personenwagen und Pick-ups und ging nach hinten, um die Badetücher aus der Reisetasche zu holen. Sobald ich die Schiebetür öffnete, wurde ich von Kelly überfallen. Sie schlang die Arme um meinen Hals und klammerte sich am ganzen Leib zitternd an mich.

Ich hob ihren Kopf von meiner Schulter und flüsterte ihr tröstend ins Ohr: »Jetzt ist wieder alles in Ordnung. Kelly, wirklich. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«

Aber sie klammerte sich nur noch fester an mich. Ich spürte ihre Tränen warm und feucht an meinem Hals.

»Hör zu, ich muß uns ein anderes Auto besorgen«, erklärte ich ihr. »Ich möchte, daß du hier auf mich wartest. Ich bin gleich wieder da.«

Ich wollte sie behutsam von mir wegschieben, aber sie vergrub ihren Kopf wieder an meiner Schulter. Einen Augenblick lang hätte ich nicht sagen können, wer sich hier an wen klammerte. Die Erinnerung an alles, was uns bisher passiert war, und die Vorstellung, wer wahrscheinlich dahinterstand, konnten einem schon angst machen. Ich mußte mir von Kelly bestätigen lassen, was Luther gesagt hatte, und dieser Zeitpunkt war ebenso unpassend wie jeder andere. »Kelly, kennst du Luther? Stimmt es, daß er Daddy manchmal abgeholt hat?«

Ich spürte an meiner Schulter, daß sie langsam nickte.

»Ich lasse dich nie wieder allein, Kelly«, versicherte ich ihr. »Und jetzt machen wir uns ein bißchen sauber,

ja?«

Dann bemühte ich mich um einen ungezwungenen Tonfall, während ich ihr das Gesicht mit einem feuchten Badetuch abwischte. »Wenn du weiter mitkommen willst, mußt du einen wirklich wichtigen Auftrag übernehmen. Ich möchte, daß du auf unsere Reisetasche aufpaßt, wenn ich jetzt losgehe, um uns einen Wagen zu besorgen, okay?«

»Okay.«

Während ich Kelly das Gesicht abtrocknete, interessierte ich mich für den Inhalt der drei Geldbörsen. Insgesamt etwas über zweihundert Dollar.

Der Parkplatz umgab das gesamte Hotel und wurde nur durch Nebenlicht von der Straße erhellt. Die Blockunterteilungen, die es den Gästen erleichterten, ihr Auto wiederzufinden, bestanden aus hüfthohen Hecken und Zierstauden, und der Außenrand des Parkplatzes war mit kleinen Bäumen bepflanzt. Überall gab es reichlich Schatten.

Ich setzte Kelly mitsamt unserer Reisetasche in eine größere Staudengruppe. »Du bleibst hier versteckt, bis ich mit dem Auto halte und aussteige, um die Tasche zu holen, okay?«

»Kann ich dich die ganze Zeit sehen?« flüsterte sie, während sie ihre Kapuze hochschlug. Ihr Mantel war bereits von den Blättern naß. »Ich will dich sehen können.«

Ich hatte mich bereits für einen großen Dodge in der langen Reihe geparkter Wagen entschieden. »Siehst du den blauen Van dort drüben? Den hole ich für uns.« Ich wollte ihr nicht deutlich sagen, daß ich den Wagen stehlen würde, obwohl diese Zurückhaltung nach allem, was wir heute durchgemacht hatten, fast komisch war.

Ich brauchte etwa fünf Minuten, um das Türschloß zu knacken und den Wagen kurzzuschließen, aber der Motor sprang sofort an. Ich schaltete die Wischer ein, stellte die Scheibenheizung auf volle Leistung und wischte die Windschutzscheibe innen mit meinem Jackenärmel ab. Dann stieß ich bis zu den Stauden zurück, hielt und stieg aus. Kelly, die wieder lächeln konnte, saß diesmal vorn neben mir, und wir fuhren los. Nach wenigen Metern hielt ich wieder. »Sicherheitsgurt!«

Sie legte ihn an.

Wir fuhren auf der I-95 nach Süden. Ungefähr zwanzig Meilen vor der Ausfahrt Lorton warnten uns provisorische Hinweistafeln, die nächste Ausfahrt sei vorübergehend gesperrt. Auf der Autobahnbrücke sah ich nach rechts und konnte so den Tatort aus der Vogelschau überblicken. Überall waren Streifenwagen mit roten und blauen Blinkleuchten postiert. Im Gegensatz zu den übrigen Autofahrern fuhr ich nicht langsamer, um mir alles genau ansehen zu können.

Nach der Anzeige war der Tank dreiviertel voll, so daß wir eine ziemliche Strecke fahren konnten, bevor wir wieder tanken mußten. Ich stellte das Radio an und suchte einen Sender, der Nachrichten brachte.

Der Verkehr war ziemlich dicht, was gut war, weil wir uns so in der Menge verloren, aber die Autobahn war hypnotisierend langweilig, Abwechslung gab es nur dadurch, daß einzelne Teilstücke dreispurig ausgebaut waren, um dann wieder zweispurig zu werden. Immerhin hatte es zu regnen aufgehört.

Nach etwas über hundert Meilen war ich ziemlich erledigt, und meine Augen begannen zu brennen. Ich tankte dicht hinter der Grenze zwischen Virginia und North Carolina und fuhr nach Süden weiter. Kelly schlief jetzt auf dem Rücksitz.

Bis ein Uhr morgens hatten wir erst ungefähr hundertsiebzig Meilen zurückgelegt, aber immerhin betrug die zulässige Höchstgeschwindigkeit jetzt siebzig statt wie bisher sechzig Meilen. Am Autobahnrand sah ich immer wieder große Werbetafeln mit der Karikatur eines Mexikaners, der Reklame für einen Ort namens South of the Border machte. Dort wollte ich als nächstes halten - nach weiteren zweihundert Meilen.

Die Grenze nach South Carolina überquerten wir gegen vier Uhr morgens. South of the Border lag nur einige Meilen südlich der Grenze und erwies sich als eine Mischung aus Raststätte und Freizeitpark. Wahrscheinlich war es ein beliebter Zwischenstopp für Familien, die zu den Stränden in North und South Carolina fuhren oder von dort kamen. South of the Border bedeckte eine riesige Fläche; hier gab es Geschäfte für Bademoden und Strandkleidung, Lebensmittelläden, Drugstores und sogar eine Bar mit Tanz. Die vielen davor geparkten Autos ließen darauf schließen, daß sie noch geöffnet war.

Ich begann zu tanken. Die Luft war hier nur wenig wärmer als in Washington, aber ich konnte Grillen hören; das bewies eindeutig, daß wir nach Süden unterwegs waren. Während ich an der Zapfsäule stand und die ratternden Zahlen des Zählwerks beobachtete, fuhr ein nagelneuer Grand Cherokee in die Tankstelle ein. Dröhnend laute Rapmusik drang ins Freie, als die Türen geöffnet wurden. In dem Geländewagen saßen vier junge Weiße im Studentenalter: zwei Jungen mit zwei Mädchen.

Kelly, die bereits durch das grelle weiße Licht unter dem Tankstellendach aufgewacht war, interessierte sich jetzt für diese fahrbare Disko. Ich machte ihr ein Zeichen, um zu fragen, ob sie etwas zu trinken wolle. Sie nickte und rieb sich die Augen.

Ich betrat den Verkaufsraum, nahm ein paar Sandwiches und Getränkedosen mit und ging zur Kasse, um zu zahlen. Der Kassierer, ein Schwarzer, Ende Fünfzig, fing an, meine Einkäufe einzutippen.

Die beiden Mädchen kamen mit einem der Jungen herein. Beide hatten schulterlanges, hellblond gefärbtes Haar. Der Junge war schlaksig und pickelig und trug ein kümmerliches Ziegenbärtchen.

Der Kassierer blinzelte mir zu. »Liebe macht blind«, sagte er halblaut. Ich grinste zustimmend.

Die beiden Mädchen unterhielten sich fast schreiend laut. Wahrscheinlich waren sie von der Musik in ihrem Jeep bereits lärmtaub. Ich sah nach draußen, wo der andere Junge tankte. Alle vier trugen eine Art Einheitslook: Shorts und sackartige T-Shirts. Sie sahen aus, als kämen sie gerade vom Strand. Man merkte, daß sie Geld hatten - Daddys Geld.

Sie stellten sich hinter mir an. Eines der Mädchen wollte bezahlen. »Das war ein total cooler Tag, echt«, schrie sie. Ich merkte, daß ich Gelegenheit hatte, Mitwirkende von Clueless live kennenzulernen. Aus ihrer Unterhaltung entnahm ich, daß ihre Eltern totale Arschlöcher waren, die ihnen nie genug Geld gaben, obwohl sie stinkreich waren und sich das ohne weiteres hätten leisten können.

Der Schwarze gab mir das Wechselgeld und beugte sich über die Kassentheke zu mir hinüber. »Wie wär’s mit ’nem Job, um Geld zu verdienen?« schlug er vor.

Ich nickte grinsend und sammelte mein Zeug ein. Das Mädchen trat neben mich, um zu zahlen, und klappte seine Geldbörse auf. Clueless Two, die neben dem Jungen hinter mir stand, war sauer wegen der Bemerkung des Kassierers und auf mich, weil ich ihr zugestimmt hatte. »Seht euch bloß sein Gesicht an, Jungs!« flüsterte sie laut. »Was hat Sie gebissen, Mister?« Der Junge lachte schallend.

Daddy war offenbar recht großzügig, auch wenn sie das Gegenteil behauptete. Ich sah einen dicken Packen Dollarscheine und genügend Karten für eine Partie Whist. Die beiden anderen jungen Leute hinter mir hatten die Arme voller Bierdosen aus dem Kühlschrank und kicherten. Ich verließ den Verkaufsraum.

Unsere Wagen standen sich an den Zapfsäulen gegenüber. Am Steuer des Cherokee saß der zweite junge Mann, der mit dem Tanken fertig war und jetzt den Takt zu irgendwelchem Scheiß schlug, der von einer CD kam.

Kelly lag auf dem Rücksitz. Ich trat an ihr Fenster, duckte mich und klopfte dann an die Scheibe. Als Kelly sich aufsetzte, hielt ich ihre Coladose hoch.

Die jungen Leute kamen aus dem Verkaufsraum. Clueless Two war noch immer sauer. »Verdammtes Arschloch!« hörte ich sie kreischen, als die drei einstiegen. »Meinst du das schwarze Arschloch oder das weiße?« fragte ihre Freundin, bevor sie laut lachend die Türen zuknallten.

Ich setzte mich ans Steuer und fuhr den Dodge zur Seite, um den Reifendruck zu prüfen. Die drei erzählten ihre Story jetzt dem Fahrer, und ich sah, wie sich alle darüber aufregten. Die Jungs mußten beweisen, wie hart sie waren, und den Mädchen gefiel es nicht, daß sich jemand vor ihren Verehrern über sie amüsiert hatte. Drüben in dem Grand Cherokee war die Luft jetzt sicher hormongeschwängert.

Als der Geländewagen aus der Tankstelle fuhr, erfaßten mich die Scheinwerfer, wie ich mit Kelly schwatzte, während ich den Reifendruck prüfte. Der Fahrer nahm den Fuß vom Gas, und alle sahen zu uns herüber. Clueless One schien eine witzige Bemerkung über mein Aussehen gemacht zu haben, denn sie lachten alle, und der Junge am Steuer zeigte mir den Stinkefinger, um vor den Mädchen gut dazustehen, bevor er in die Dunkelheit davonrauschte.

Ich wartete eine Minute, bevor ich zurückstieß und hinterherfuhr.

Ich wollte es nicht auf der Interstate machen, wenn sich das vermeiden ließ. Aber vermutlich würden sie irgendwann von der Autobahn abbiegen, um ihr Bier außer Sichtweite der Verkehrspolizei trinken und vielleicht ein paar Decken auf dem Boden ausbreiten zu können.

Nach etwa fünf Meilen folgte ich dem großen Jeep auf eine mit Schlaglöchern übersäte Makadamstraße, die geradewegs ins Nichts zu führen schien.

»Kelly, siehst du den Wagen dort vorn? Ich muß ihn anhalten und die Leute etwas fragen. Du bleibst inzwischen im Auto, okay?«

»Okay.« Sie interessierte sich mehr für ihre zweite Coladose.

Ich wollte den Geländewagen nicht von der Straße abdrängen oder zu sonstigen drastischen Mitteln greifen. Für den Fall, daß ein anderes Auto vorbeikam, mußte das Ganze völlig harmlos wirken.

Wir kamen an einem Laden an der Straße vorbei, der natürlich geschlossen war, passierten einen Lkw- Parkplatz und eine Wohnwagensiedlung, fuhren wieder durch unbebautes Gelände und kamen dann an einem alleinstehenden Haus vorbei. Ich war schon kurz davor, mein Vorhaben aufzugeben, als sich endlich eine Gelegenheit bot. Als ein paar hundert Meter vor uns ein Stoppschild auftauchte, gab ich Gas, um den Jeep einzuholen.

Ich setzte mich links neben den Grand Cherokee. Dann hupte ich kurz, schwenkte mit erhobener Hand den Autoatlas und grinste dabei freundlich. Alle vier blickten zu mir herüber, und da ich meine Innenbeleuchtung eingeschaltet hatte, sahen sie erst mich und dann Kelly, die hinten döste. Ihre sorgenvollen Mienen verschwanden, als sie das weiße Arschloch erkannten. Jemand machte eine witzige Bemerkung, und sie setzten ihre rasch versteckten Bierdosen wieder an die Lippen.

Beide Wagen hielten, und ich stieg aus. Die Grillen waren hier viel lauter als an der Tankstelle. Ich lächelte weiter freundlich, als ich zu dem Jeep ging. Der Autoatlas in meiner Hand enthielt nur Karten von Washington und Umgebung, aber das konnten sie nicht wissen, und wenn sie Lunte rochen, war es längst zu spät.

Der Fahrer sagte etwas, das allgemeine Heiterkeit auslöste; vermutlich hatte er laut überlegt, ob er anfahren sollte, sobald ich die Tür erreichte.

»Hi!« sagte ich. »Können Sie mir vielleicht helfen? Ich möchte nach Raleigh.« Das war ein Ortsname, den ich in North Carolina an einer Autobahnausfahrt gelesen hatte.

Während das elektrische Fenster weiter aufging, waren von hinten flüsternde Stimmen zu hören, die den Fahrer kichernd aufforderten, mich zum Teufel zu schicken. Aber ich merkte, daß er etwas anderes vorhatte - vielleicht wollte er mich in die völlig falsche Richtung schicken. »Klar, Mann, ich zeig Ihnen, wie Sie fahren müssen.«

Ich schob den aufgeschlagenen Autoatlas durchs Fenster in seine Hände. »Ich weiß gar nicht, wo ich mich verfahren habe. Ich muß nach dem Tanken falsch abgebogen sein.«

Er brauchte den Autoatlas nicht, sondern fing gleich an, mir den Weg zu erklären, indem er die Straße entlang deutete. »Hey, Mann, Sie biegen dort vorn links ab und fahren ungefähr zwanzig Meilen weit, bis sie auf der rechten Straßenseite .« Den Mädchen gefiel das so gut, daß sie große Mühe hatten, nicht laut loszuprusten.

Ich packte ihn mit der linken Hand am Kopf, hob meine Pistole und drückte ihre Mündung an seine Backe.

»Scheiße, er hat ’ne Pistole, er hat ’ne Pistole!«

Die drei anderen schwiegen erschrocken, aber das Mundwerk des Fahrers lief auf Hochtouren weiter. »Hey, Mann, tut mir leid, ist bloß ein Scherz gewesen, echt, bloß ein Scherz. Wir sind besoffen, Mann. Die eine Schlampe auf dem Rücksitz hat mit allem angefangen. Ich hab’ nichts gegen Sie, Mann.«

Ich würdigte ihn keiner Antwort, sondern rief nach hinten: »Los, werft eure Handtaschen raus! Aber dalli!«

Mein amerikanischer Akzent klang nicht mal schlecht, fand ich. Ich konnte nur hoffen, daß ich gefährlich genug wirkte. Die beiden Mädchen warfen ihre Handtaschen aus dem hinteren Fenster. Der Fahrer zitterte am ganzen Leib, während ihm Tränen übers Gesicht liefen. Die Mädchen klammerten sich schutzsuchend aneinander.

Ich starrte den Beifahrer an. »Sie.«

Er erwiderte meinen Blick, als wisse er nicht, wer gemeint sein könnte. »Ja, Sie. Her mit Ihrer Geldbörse - hier durchs Fenster.« Er brauchte nicht länger als zwei Sekunden, um meinen Befehl auszuführen.

Zuletzt war der Fahrer dran, der den Rekord seines Freundes unterbot. Ich griff an ihm vorbei, zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn ein. Der Junge vor mir wirkte nicht mehr sehr clever. Ich sah mich erneut nach anderen Autos um. Alles klar. Die Pistolenmündung berührte noch immer seine Backe. Ich sagte ihm leise ins

Ohr: »Jetzt erschieße ich dich.«

Die anderen hatten alles mitbekommen und wollten auf einmal nichts mehr mit ihm zu tun haben. »Sag noch ein Gebet, wenn du willst, aber beeil dich damit.«

Er betete nicht, er bettelte. »Bitte nicht schießen, Mann, bitte nicht!«

Das machte mir Spaß, aber ich wußte, daß ich verschwinden mußte. Ich trat von dem Wagen zurück und sammelte alles von der Straße auf. Dann sah ich Clueless Two an. Sie machte ein Gesicht, als hätte sie eine Wespe verschluckt. »Was hat dich gebissen?« fragte ich sie.

Ich stieg in meinen Wagen, wendete auf der Straße und fuhr davon.

»Warum hast du den Leuten ihre Sachen abgenommen?« fragte Kelly hörbar verwirrt.

»Weil wir eine Menge Geld brauchen, und weil wir viel netter sind als sie, wollten sie, daß wir es bekommen.«

Ich beobachtete Kelly im Rückspiegel. Sie wußte genau, daß das gelogen war.

»Willst du einen Job?« fragte ich.

»Welchen?«

»Zähl das Geld hier.«

Kelly öffnete die Handtaschen, klappte die Geldbörsen auf und stapelte die Scheine auf ihren Knien.

»Über eine Million Dollar«, sagte sie schließlich.

»Vielleicht solltest du noch mal nachzählen.«

Einige Minuten später nannte sie eine realistischere Zahl: 336 Dollar. Die Clueless-Girls hatten unrecht

gehabt. Daddy war ein Goldschatz.

An der I-95 sahen wir jetzt erste Wegweiser nach Florence. Dort wollte ich hin. Diese Stadt war ungefähr sechzig Meilen weit entfernt, und es war inzwischen kurz nach fünf Uhr morgens. Gegen sieben würde es hell werden, und ich wollte möglichst vor Tagesanbruch in einer Stadt sein. Nachdem ich den Dodge irgendwo abgestellt hatte, würde ich eine andere Transportmöglichkeit finden. Irgendwie würden wir nach Florida kommen.

Ungefähr zehn Meilen vor Florence wurde ein Rastplatz mit Picknickplätzen, Toiletten und einem Informationskiosk angezeigt. Ich hielt dort und ließ mir einen kostenlosen Stadtplan geben. Kelly wurde gar nicht richtig wach, als wir parkten. Ich öffnete meine Tür und stieg aus. Die Vögel sangen, und im Osten war die Morgendämmerung zu ahnen. Die Luft war frisch, aber man merkte, daß ein schöner, warmer Tag bevorstand. Es war angenehm, sich richtig strecken zu können, obwohl ich mich wegen meiner Nackenschmerzen noch immer bewegte, als hätte ich ein Brett an den Rücken geschnallt.

Auf dem Stadtplan war zu sehen, daß es in Florence einen Bahnhof gab; nicht unbedingt nützlich, aber immerhin ein Anfang. Ich stieg wieder ein und sammelte die Handtaschen und Geldbörsen zusammen, um sie wegzuwerfen. Lauter teure Stücke, teilweise sogar mit Monogramm. In einer der Handtaschen fand ich ein Heroinbriefchen und einen in Alufolie verpackten kleinen Klumpen Haschisch. Die verwöhnten Jugendlichen waren offenbar Studenten gewesen, die in den Osterferien über die Stränge schlugen, bevor das neue Semester begann. Zum Teufel mit ihnen, mir tat es nicht leid, sie beraubt zu haben. Ich mußte lachen, weil ich mir denken konnte, daß der Raubüberfall ihnen zu peinlich sein würde, um ihn anzuzeigen. Vermutlich saßen sie noch immer in ihrem Grand Cherokee, machten sich gegenseitig Vorwürfe und überlegten, wie man ohne Zündschlüssel weiterfahren konnte. Ich warf den ganzen Krempel in den nächsten Abfallbehälter.

Wir fuhren zum Bahnhof weiter. Obwohl das Stadtzentrum von Florence todkrank zu sein schien, wurden große Anstrengungen unternommen, um den Patienten am Leben zu erhalten. Die historische Innenstadt war renoviert worden, aber alle Geschäfte schienen nur Duftkerzen, parfümierte Seife und Leinensäckchen mit getrockneten Blüten zu verkaufen. Für richtige Menschen mit normalen Bedürfnissen gab es hier nichts mehr.

Wir erreichten den Bahnhof von Florence, der in jeder anderen amerikanischen Kleinstadt hätte stehen können. Er war voller Obdachloser, die hier einen warmen Schlafplatz fanden. Überall roch es nach Schweiß und Verfall. Auf den Bänken schliefen Betrunkene, denen sich kein vernünftiger Mensch nähern würde, wenn er nicht riskieren wollte, daß ihm der Kopf abgerissen wurde.

Ich sah mir den Abfahrtsplan an. Offenbar konnten wir mit dem Zug nach De Land fahren, um von dort aus mit dem Bus nach Daytona weiterzufahren. Inzwischen war

es kurz vor sechs Uhr; der Zug sollte in einer guten Dreiviertelstunde fahren.

Der schon geöffnete Fahrkartenschalter erinnerte mich sofort an den koreanischen 7-Eleven in Washington: überall Maschendraht und Gitterstäbe, deren weißer Lack an vielen Stellen abgeblättert war. Dahinter war das breite schwarze Gesicht, das mich nach meinem Fahrtziel fragte, kaum zu erkennen.

Fünfundvierzig Minuten später stiegen wir in den Zug, fanden unsere Plätze und ließen uns hineinfallen. Der Großraumwagen war nur ungefähr halbvoll. Kelly schmiegte sich hundemüde an mich.

»Nick?«

»Was?«

Ich war damit beschäftigt, die anderen Fahrgäste zu beobachten. Die meisten sahen wie ich aus: übermüdete Erwachsene, die sich um Kinder kümmerten.

»Wohin fahren wir?«

»Zu einem Freund.«

»Wer ist das?« Diese Idee schien ihr zu gefallen. Vermutlich hatte sie meine Gesellschaft satt.

»Er heißt Frankie und wohnt am Strand.«

»Machen wir bei ihm Urlaub?«

»Nein, soviel Platz hat Frankie nicht.«

Ich beschloß, die Unterhaltung fortzusetzen, weil Kelly bestimmt bald einnicken würde. Die rhythmischen Bewegungen und Geräusche des Zuges würden sie bald einschlafen lassen.

»Wer ist deine beste Freundin? Melissa?«

»Ja. Wir erzählen uns Sachen und versprechen uns, sie

keinem Menschen weiterzuerzählen.« Nachdem Kelly mir versichert hatte, sie liebe Melissa unsterblich, fing sie an, mir ihre schlechten Seiten zu schildern, die größtenteils damit zusammenhingen, daß sie mit einem Mädchen spielte, das Kelly nicht leiden konnte.

»Wer ist dein bester Freund, Nick?«

Diese Frage ließ sich leicht beantworten, aber ich dachte nicht daran, seinen wahren Namen zu nennen. Falls wir irgendwann doch geschnappt wurden, sollte er nicht wegen der Erwähnung seines Namens Schwierigkeiten bekommen. Die Morgensonne begann heiß durchs Fenster zu scheinen; ich beugte mich über Kelly hinweg und zog das Rollo herunter.

»Mein bester Freund heißt ... David.« Das war der nächstbeste Name, der mir für Euan einfiel. »Wie Melissa und du erzählen wir uns Sachen, die sonst niemand weiß. Zum Beispiel hat er eine Tochter, die ungefähr in deinem Alter ist. Aber das wissen nur David und ich ... und jetzt du.«

Kelly gab keine Antwort. Sie war schon dabei einzudösen. Aber ich sprach aus nicht ganz erklärlichen Gründen trotzdem weiter. »Wir kennen uns seit unserem siebzehnten Lebensjahr und sind seitdem die besten Freunde.« Ich hätte ihr gern noch mehr erzählt, aber ich fand nicht die richtigen Worte. Euan und ich waren einfach füreinander da. So war es schon immer gewesen. Mir fehlten die sprachlichen Mittel, um diese Tatsache angemessen zu beschreiben.