Fünftes Kapitel

Cliff Haller war nach Überwindung der ersten Verblüffung schnell wieder der Mann, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Während Dr. Forster noch ungläubig den federgeschmückten und bemalten Wilden anstarrte und nicht zu begreifen schien, daß unter dieser Maske der ehemalige Missionszögling Moco steckte, ging Cliff mit ausgestreckten Händen dem Häuptling entgegen. Dr. Forster wurde von zwanzig hilfreichen Armen aus dem Boot an Land gehoben.

»Das nennt man eine Überraschung!« rief Haller. »Ich denke, Sie liegen verdaut in den Bäuchen der Piranhas?«

Dr. Forster verzog das Gesicht. Wie er sich sofort anpaßt, dachte er. Erst war Moco ein dreckiger Indio … jetzt sagt er ›Sie‹ zu ihm. Auch Moco selbst schien das zu merken … er übersah die ausgestreckte Hand Cliffs.

»Sie waren damals satt, die Fische«, sagte er abweisend.

»Der Urwald hat wirklich noch Geheimnisse!« lachte Cliff. Er sah sich um. Der Weg vom Ufer ins Dorf war ein Spalier aus Kriegern, Frauen und Kindern. Die meisten waren nackt. Gutmütig lachten sie die Weißen an, rostbraune Kinder, Überbleibsel einer Urrasse, über die die Jahrtausende hinweggerollt waren, ohne Spuren zu hinterlassen. Auf einer in den Urwald geschlagenen Lichtung standen die großen runden Hütten, balgten sich kleine schwarze Schweine und hingen hölzerne Kessel in der Glut niedergebrannter Feuer. Es roch nach gebratenem Fleisch und gekochten Kartoffeln.

»Mir gefällt das gar nicht«, sagte Cliff leise zu Dr. Forster, als sie Moco und Ellen ins Dorf nachgingen. »Für eine Weile sind wir hier sicher, gewiß … aber es gibt nichts Schwatzhafteres als einen Indio. Es wird nicht lange dauern, und man weiß an den anderen Flüssen und bei den umliegenden Stämmen, daß Moco weißen Besuch hat. Und ebenso schnell werden es unsere Verfolger wissen! Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten uns allein durchgeschlagen.«

»Eine Hilfe der urwalderfahrenen Indios kann nie schaden, denke ich.« Dr. Forster blieb stehen. Das Dorf vor ihnen war größer, als man vom Fluß aus annahm. Hütte lag neben Hütte, am Waldrand hatte man die großen Gemeinschaftsställe gebaut. »Moco war immer unser Freund … den Beweis erbringt er jetzt.«

»Warten wir es ab, Doc!« Cliff Haller ging weiter und rückte mit großen Schritten näher zu Ellen auf. »Sie wissen nicht, was in diesem verdammten Land los ist! Hier gibt es dreierlei Jagden: eine auf Kautschuk, die zweite auf Orchideen, die dritte auf Indianer. Und die letztere ist die erfolgreichste. Es macht den brasilianischen Indianerjägern nichts aus, auch den Stamm Mocos bis zum letzten Säugling auszurotten. Es wäre nichts Neues und nichts Erwähnenswertes. Im Gegenteil – in diesem Falle hätte man sogar eine Begründung, warum man diese Menschen abschießt wie wilde Affen.«

»Ihr werdet bei uns bleiben, bis Ruhe ist«, sagte Moco, als sie im Dorf waren und eine Hütte zugewiesen erhielten. Sie war sauber gefegt, mit Palmblättern und aus Lianen geflochtenen Matten belegt. Nur durch die Schlupftür fiel Licht, aber das Halbdunkel war angenehm kühl gegen die drückende Schwüle draußen in der Sonne.

»Das tut gut!« stöhnte Dr. Forster und ließ sich auf das Blätterlager fallen. Er streckte sich aus und warf die Arme zur Seite. »Hier bleibe ich liegen und rühre mich die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht mehr. Mein Gott, endlich einmal richtig schlafen können. Durchschlafen – wißt ihr überhaupt noch, wie das ist? Nur schlafen? Ellen, Cliff, ich weiß nicht, was heute noch passieren soll – ich möchte nur noch eins: schlafen!«

Moco hatte sie alleingelassen. Draußen hörten sie Schreien und Rennen … es hörte sich an, als fielen alle übereinander her und zerfleischten sich.

»Ich nehme an, es wird jetzt ein Fest geben.« Cliff setzte sich auf den Boden und schnürte seine Stiefel auf. Erst jetzt sahen Forster und Ellen, daß seine beiden Füße übersät waren von Blasen.

»Das sieht ja schrecklich aus!« rief Ellen und kniete neben Haller. Sie nahm seine Füße hoch und blickte dann Forster an. »Haben wir noch Puder, Rudolf?«

»Puder? Genug.« Dr. Forster richtete sich auf. »Cliff, damit sind Sie tagelang gelaufen? Verrückt! Sie müßten doch vor Schmerzen schreien!«

»Es läßt sich ertragen … man kann viel ertragen, Doc.«

»Wo ist der Puder?« fragte Ellen.

»Im Boot. Bei dem Gepäck. Ich hole es …«

Dr. Forster stand auf und ging zur Tür. Haller hielt ihn an der Hose fest.

»Nun müssen Sie meinetwegen aufstehen, Doc.«

»Ich bin Arzt, Cliff. Sie können Schmerzen aushalten, weil Sie ein Abenteurer sind … ich lindere die Schmerzen, wo immer ich sie finde, weil ich einen Eid abgelegt habe, jedem zu helfen, der einen Arzt braucht, ohne Rücksicht auf Ansehen und Person. Sogar Ihnen helfe ich …«

Haller wartete, bis Forster die Hütte verlassen hatte. Dann griff er nach Ellen, zog sie zu sich hinüber und küßte sie lange auf den Mund. Hinterher sagte er: »Er könnte mich umbringen, was? Eigentlich ist er ein feiner Kerl. Nur etwas zu weich für dich, Baby!« Er zog sein Hemd aus der Hose, riß unten ein paar Fetzen ab und wartete, bis Forster mit dem wenigen Gepäck zurückkam, das sie noch mitschleppten. Das wichtigste war die kleine Notapotheke. »Und wenn ich sie mir um den Hals hänge wie ein Bernhardinerhund sein Cognacfäßchen … sie ist das letzte, was ich wegwerfe!« hatte Forster gesagt. Und so war es auf dem ganzen langen Marsch durch die Grüne Hölle gewesen: Stück für Stück warfen sie weg, um leichter für den Gang durch diese grüne, dampfende Unendlichkeit zu werden. Die Apotheke blieb auf dem Rücken Forsters.

Mit Forster kamen auch sechs Mädchen in die Hütte. Sie brachten große Schüsseln aus Kürbisschalen mit warmem Wasser und begannen, die Gäste zu waschen. Man hatte jetzt keine Zeit, sich zu schämen, und vor wem sollte man das auch? Cliff, Dr. Forster und Ellen Donhoven ließen sich ausziehen, die kleinen braunen Hände drückten sie auf die Palmblätter zurück, und dann floß das Wasser über die nackten Körper und schabten die Hände den Schmutz und den Schweiß wochenlanger Qualen von der Haut.

»So etwas Ähnliches habe ich einmal in Japan erlebt«, grunzte Cliff wohlig und dehnte sich unter den kleinen, massierenden Fingern. »Hinterher ist man müde wie ein Marathonläufer, aber dann spürt man, wie frisches Leben durch alle Adern zieht. Verdammt, ich könnte vergessen, daß wir auf einer Gewehrmündung liegen …«

Auch Ellen Donhoven schloß die Augen. Ein wohliges Gefühl durchrann sie. Die flinken, kleinen Hände strichen über ihren Körper und schienen ihn zu verzaubern. Eine nie gekannte, selige Müdigkeit hob sie wie eine Feder hoch und ließ sie wegschweben. Ihre letzten Gedanken waren: Wie wunderbar ist diese Ruhe – dann schlief sie ein.

Fast gleichzeitig wachten sie auf. Trommelklang drang dumpf in die Hütte, dazwischen Gekreisch und ab und zu ein hoher, gellender Ton, sekundenlang, auf- und abschwellend wie eine Sirene. Cliff blickte auf seine Füße. Die Apotheke stand ungeöffnet an der runden, geflochtenen Wand. Statt dessen waren seine Füße mit großen Blättern umwickelt, und als er die Zehen in diesem Verband bewegte, merkte er, daß man die Füße dick mit einer Salbe eingerieben hatte.

»Moco scheint nichts von der modernen Medizin zu halten … er hat anscheinend zuviel in der Missionsstation gesehen«, sagte Haller sarkastisch. »Wetten, Doc, daß dieses Naturheilverfahren besser ist?« Er setzte sich auf und sah sich um. Die hilfreichen Hände, die sie in den Schlaf massiert hatten, mußten sie später auch wieder angezogen haben, denn sie waren nicht mehr nackt, sondern trugen wieder ihre Kleider.

»Wie fühlt ihr euch?«

»Wunderbar!« sagte Ellen und reckte sich. »So eine Stunde Schlaf wirkt Wunder.«

Ihr Erwachen schien gemeldet worden zu sein. Irgendwo saßen Beobachter und verfolgten alles, was in der Hütte geschah. Moco kam herein und lachte. Er trug nicht mehr seinen gewaltigen Paradiesvogelfederschmuck, sondern nur ein Stirnband aus Pantherfell.

»Guten Morgen, Señorita und Señores«, sagte er und blieb lachend an der Tür stehen. »Wir mußten dreimal das Essen kochen, bis Sie endlich aufwachten.«

»Guten Morgen?« Cliff fuhr sich über das Gesicht. »Moco, wie lange haben wir geschnarcht?«

»Einen und einen halben Tag …«

»Was?« Ellen sprang auf. »Ich dachte, eine Stunde!«

»Warum auf die Uhr sehen, Señorita?« Moco fuhr mit beiden Händen durch die Luft. »Wir haben die Zeit vergessen … aber leider vergißt die Zeit nicht uns.«

»Sie haben viel gelernt bei den Pastoren, Moco.«

»Und viel Falsches, Señor.« Moco senkte den Kopf, und sein Mund verkniff sich. »Ich habe gelernt: Liebet eure Feinde … kann man das wirklich? Kann man jemanden lieben, der einen Menschen jagt, nur weil er eine andere Hautfarbe hat? Wissen Sie, Señor Haller, daß man in den letzten zehn Jahren über dreißigtausend Indios getötet hat? Einfach getötet, weil es Indianer waren. Und nicht nur die Männer, auch die Frauen und Kinder! Wie auf Tiere hat man auf sie Jagd gemacht. Es gab Prämien für jeden toten Indio. Und wenn man in den Stammesgebieten Kautschuk fand oder fruchtbares Farmland, dann wurden die Stämme ausgerottet und ein weißer Großgrundbesitzer übernahm das leere, blutgetränkte Land. Aber niemand spricht darüber, in keiner Zeitung wird darüber geschrieben, kein Parlament behandelt es – man deckt die Morde mit Schweigen zu … denn es sind ja nur Indios!«

»Sie haben viel gelernt, Moco«, sagte Cliff noch einmal und stützte sich auf Ellen. Er machte ein paar Schritte in den Blätterschuhen und fand, daß seine Füße nicht mehr brannten und daß er gehen konnte, als habe er nie die Sohlen voller blutiger Blasen gehabt.

»Nur deswegen bin ich zu den Weißen gegangen.« Gaio Moco trat aus der Hütte hinaus. Draußen flammten wieder die Feuer … ein ganzes Schwein brutzelte über dem knisternden Holz. Frauen waren damit beschäftigt, aus einer unbekannten Frucht Mehl zu stampfen, während andere auf flachen, heißen Steinen dünne knusprige Fladen aus diesem graugrünen Mehl buken. Moco umfaßte mit einer weiten Armbewegung das Dorf und die Menschen. »Ich weiß«, sagte er dunkel, »daß auch wir unser Land verlieren und getötet werden, wenn die Fazendeiros erfahren, wie fruchtbar dieses Land hier ist. Darum wurde ich Missionsschüler, lernte ihre Sprache und beobachtete ihr Leben. Ich habe sie gesehen, wie sie auszogen zur Jagd auf die Indios – gleich Sportlern, die eine Medaille gewinnen wollen. Ich kenne sie alle, diese Mörder … in die Kirche kamen sie, knieten nieder und beteten, ließen sich segnen und bestiegen dann ihre Wagen, um zum Töten zu fahren. Und ich habe gelernt und gelernt, um mein Volk vor dieser Gefahr zu schützen.«

»Er hat die höchste Stufe der Zivilisation erkannt«, sagte Cliff sarkastisch. »Moco, eine Frage: Warum bringen Sie uns nicht um?«

»Sie haben mich immer als einen gleichwertigen Menschen behandelt.«

»Das sind Sie doch auch!« rief Ellen Donhoven.

»Nein.« Moco schüttelte traurig den Kopf. »Für die meisten Weißen sind wir Ungeziefer.« Er zeigte auf den Platz, um den sich die Hütten gruppierten. »Mein Volk will Sie begrüßen. Kommen Sie bitte …«

Später saßen sie auf Palmmatten, aßen das Schweinefleisch und die Fladen und tranken eine Art Bier, das süßlich schmeckte und aus dem Saft der jungen Palmsprossen gewonnen wird. Zwanzig nackte, herrlich gewachsene Mädchen tanzten vor ihnen … sie standen in einem Halbkreis, wiegten sich in den Hüften und Schultern und stampften mit ihren schlanken Beinen den Boden. Dazu rasselten einige Handtrommeln und bliesen vier Männer auf Flöten, die sie aus Bambus geschnitzt hatten. Es war alles so, wie man es sonst in bunten Kulturfilmen sieht, wo unbekannte Völker anscheinend nichts anderes zu tun haben, als Feste zu feiern und zu tanzen. Aber hier, mitten im brasilianischen Urwald, umgeben von der unerforschten Weite aus Flüssen, Sümpfen und Dschungel, lag trotz aller Fröhlichkeit etwas Trauriges in den Bewegungen der nackten, schönen Mädchen, eine Angst, eine Ahnung vom Sterben ihres Paradieses.

»Wir alle dachten, Sie seien tot, Moco«, sagte Ellen. »Sie wurden doch in den Fluß gestoßen?«

»Ja, Señorita.«

»Und wer war es?«

»Cascal.«

»Meine Ahnung!« Cliff hieb mit der Faust auf den Boden. »Er hat alles versucht, um die Expedition zur Umkehr zu zwingen. Wie sind Sie bloß aus dem Fluß wieder rausgekommen, Moco?«

»Die Piranhas greifen nur an, wenn sie Blut riechen. Ich war unverletzt … ich tauchte unter und schwamm, so schnell ich konnte, zum Ufer. Cascal glaubte, ich sei in die Tiefe gezogen worden …«

Die Mädchen vor ihnen hatten ihren Tanz beendet. Sie lächelten freundlich und verschwanden hinter den Hütten. Auch die Trommler und Flötenspieler erhoben sich und zogen sich zurück. In einem weiten Kreis umgaben die Krieger den Festplatz. Vom Landungssteg am Fluß stießen drei lange Boote ab. Lautlos glitten sie, getrieben von den Stechpaddeln, schnell davon.

»Ich schicke jeden Tag Spähtrupps aus«, sagte Moco. »Uns wird man nicht überraschen.«

Ellen Donhoven zog die Beine an und umfaßte ihre Knie. Hier sind wir wirklich sicher, dachte sie. Und eigentlich habe ich das Ziel meiner Reise erreicht. Niemand hat es mir zugetraut, alle hielten es für Wahnsinn und ein Hirngespinst, sie haben mich ausgelacht und verspottet. Aber nun sitze ich hier im unerforschten Urwald, bei einem Indio-Stamm, der noch so lebt wie die Menschen in der Steinzeit … das ist so fantastisch, daß man es kaum glauben kann. Und dann dachte sie an die Toten, die dieser Weg gekostet hatte, und sie zog schaudernd die Schultern hoch.

»Gab es da nicht ein Mädchen, Moco?« fragte sie. »Wie hieß sie? Ynama … nicht wahr?«

»Ja.« Moco sah ernst in das Feuer.

»Haben Sie sie wiedergetroffen?«

»Ja.«

»Fröhlich klingt das nicht«, meinte Dr. Forster.

»Ynama ist krank!« Mocos kupferbraunes Gesicht war wie eine Maske. »Sie liegt seit Monaten und kann sich nicht rühren.«

»Und das sagen Sie uns erst jetzt?« Forster sprang auf. »Wo ist sie? Ich möchte sie mir ansehen. Wer hat sie denn untersucht und wer behandelt sie?«

Moco hob abwehrend die Hand. »Danke, Doktor. Ein böser Geist ist in ihr …«

»Moco! Das sagen Sie als Missionsschüler? Als aufgeklärter Mensch? Böser Geist – so etwas gibt es doch nicht!«

»Nicht bei Ihnen … aber hier im Wald.«

»Dummheit! Ich möchte Ynama untersuchen, Moco.«

»Nein! Der Medizinmann ist bei ihr. Seit vier Wochen spricht er mit den Geistern. Es hilft nichts. Sie kann sich nicht bewegen. Aber sie sieht und hört alles.«

Dr. Forster blickte schnell zu Ellen. Sie verstand diesen Blick und legte Moco die Hand auf die Schulter.

»Und wenn ich Ynama untersuche?« fragte sie.

»Nein, oh nein!« Moco sprang auf und schien entsetzt zu sein. »Keine Frau darf zu ihr. Der Geist könnte sich teilen und auf sie überspringen. Jatupua weiß es genau.«

»Wer ist Jatupua?« fragte Cliff Haller.

»Der Medizinmann.«

»Immer dasselbe. Der Medizinmann mit seiner Geistermacht. Moco, draußen schießen sie Raketen zum Mond, und ihr glaubt an böse Geister!« Haller stand auf und zog Ellen vom Boden hoch. »Das ist euer Untergang, Moco. Daran werdet ihr alle einmal zerbrechen. Ihr senkt den Kopf vor den bösen Geistern, und die Weißen schlagen euch unterdessen den Schädel ein! Wo ist Ynama?«

»Jatupua wird euch nicht in die Hütte lassen.«

»Das lassen Sie unsere Sorge sein.«

»Wollt ihr Unfrieden stiften?«

»Soll Ynama bis zu ihrem Lebensende steif auf der Erde liegen?« Ellen Donhoven sah, wie es in Moco arbeitete, wie er gegen den Götterglauben kämpfte und sein zivilisiertes Wissen dagegen setzte. Drei Jahre hatte er unter den Weißen gelebt und gelernt … aber hier im Urwald war er wieder ein Indianer und eingefangen in den Mystikglauben seines Volkes.

»Versucht es …«, sagte er endlich leise. »Ihr werdet Jatupua nicht überwinden können … und die Geister auch nicht …«

Auf dem Weg zu der Zauberhütte berichtete Moco, wie Ynama von dem bösen Geist überfallen wurde. Sie hackte in dem Gemüsefeld die Erde auf, als plötzlich vor Beginn des Regens ein feuriger Strahl aus den Wolken schoß und neben Ynama in die Erde fuhr. Dann folgte ein gewaltiger Donner, Ynama warf sich herum und wollte flüchten, aber da durchzuckte sie ein stechender Schmerz, verbrannte ihren Rücken – sie fiel auf die Erde und konnte sich nicht mehr rühren.

So erzählte es jedenfalls Moco, mit tiefer Ehrfurcht in der Stimme. Natürlich wußte er, daß es ein Gewitter gewesen war, mit Blitz und Donner … aber er hatte noch nie gesehen, daß ein Gewitter einen Menschen lähmt.

Dr. Forster und Ellen sahen sich an und dachten das gleiche. Cliff Haller hatte seine eigene Ansicht.

»Ein Schock, was?« sagte er. »So etwas gibt es. Habe das schon mal gelesen.«

»Ich glaube eher an eine Bandscheibenverschiebung. Das plötzliche Hochzucken durch den Schreck, eine falsche Drehung im Rückgrat, und schon springt so ein Ding heraus und klemmt bestimmte Nerven ein. Es kann zu Versteifungen kommen und im extremen Fall zu solchen Lähmungen!«

»Das leuchtet mir ein.« Cliff blieb stehen. Moco, der ihnen vorausgelaufen war, zeigte auf eine besonders große und schön geflochtene Hütte. »Und was wollen Sie nun unternehmen? Chiropraktik? Einrenken des Wirbels?«

»So ähnlich.« Dr. Forster nickte.

»Prost Mahlzeit, Doc! Lassen Sie die Finger davon. Ellen, ich beschwöre Sie … hören Sie in diesem Fall auch auf Moco. Wenn wir diese Ynama berühren und sie schreit auf, haben wir den ganzen Stamm am Hals! Sollen sie an ihre Geister glauben.«

»Cliff, das ist unmöglich!« Ellen machte sich mit einem Ruck aus Hallers Griff los. »Ich bin Ärztin. Ich weiß, ich kann hier helfen, und ich werde helfen!«

»Auch auf die Gefahr hin, ein Schrumpfkopf zu werden?«

»Das wäre das letzte, was ich Moco zutraue.«

»Der Glauben an die Menschlichkeit und die Erziehung! Ellen, das ist doch Unsinn! Und wenn Moco zehn Jahre zivilisiert erzogen worden wäre – in dem Augenblick, wo er wieder bei seinem Stamm lebt, ist er ein Indio! Das hat er uns doch deutlich zu verstehen gegeben.«

»Und wenn ich Ynama heile, werden sie uns verehren wie die Götter … das ist die andere Seite der Logik.«

»Wenn! Bist du so sicher?«

»Das wird erst die Diagnose zeigen.«

Moco ging voran in die Hütte. Der große runde Raum war erleuchtet von einigen kleinen Tongefäßen, in denen Öl brannte. Der stinkende Rauch zog durch ein Loch in der Wand ab, aber es blieb eine die Kehle ätzende Luft zurück.

Ynama lag lang ausgestreckt auf einem Lager aus Pantherfellen. Sie war ein hübsches Mädchen, schlank und größer als die anderen Frauen des Stammes. Ihr langes, schwarzes Haar war unter ihrem Kopf ausgebreitet wie ein Tuch. Neben ihr hockte auf einem Holzklotz der Medizinmann Jatupua. Er hielt ein mit Paradiesvogelfedern beklebtes langes Holzstück in der Hand und strich damit unentwegt über den nackten Leib der Kranken. Als die Weißen eintraten, blickte er nur kurz auf und setzte dann seine stumme Geisterbeschwörung fort. Moco ging ehrfürchtig auf ihn zu, beugte sich zu ihm hinunter und sprach schnell mit ihm in einer kehligen Sprache. Jatupua schüttelte den Kopf. Moco richtete sich auf.

Da ein Kopfschütteln international ist, fiel Ellen ein, bevor Moco etwas sagen konnte: »Erklären Sie ihm, daß wir auch Medizinmänner sind. Auch wir können mit Geistern umgehen …«

Moco zögerte, dann übersetzte er es. Jatupua unterbrach das Streicheln des Körpers mit dem Federstab und antwortete.

»Er sagt«, meinte Moco bedrückt, »daß eure Geister nicht unsere Geister sind. Außerdem seid ihr weiß.«

»Aha!« Cliff lachte rauh. »Ihr seht, Freunde, das Rassenproblem ist keine Erfindung von Reinheitsfanatikern! Selbst im unbekannten Urwald geht's um die Hautfarbe!«

Ellen trat näher an Ynama heran. Mit gesenktem Kopf beobachtete Jatupua sie, und als sie die Hand ausstreckte, schlug er mit dem Stab Ellen auf den Arm. Sie zuckte zurück und sah sich um. Dr. Forster hatte die Apotheke geöffnet und suchte die vorletzte Ampulle mit dem Narkosemittel. Moco schob die Unterlippe vor und hielt Forsters Hand fest.

»Sie wollen ihr eine Spritze geben?«

»Ja. Ynama wird das Einrenken des Wirbels nicht spüren.«

»Sie hat noch nie eine Injektion bekommen. Sie wird schreien.«

»Erklären Sie ihr vorher, Moco, was geschieht. Und vor allen Dingen – entfernen Sie den Medizinmann.«

»Das ist unmöglich, Doktor. Jatupua ist mächtiger als ein Häuptling. Mir gehorchen die Menschen, ihm aber die Götter.«

»Dann sagen Sie Ynama, sie soll ihn wegschicken.«

»Er wird sie verfluchen.«

»Das wird sie überleben.«

»Und er wird euch hassen.«

»Auch das ist zu ertragen.« Dr. Forster hatte die Ampulle gefunden, köpfte sie und zog die Spritze auf. »Moco, Sie wollen doch, daß Ynama wieder laufen kann.«

»Ich habe dafür jeden Tag den Göttern geopfert.«

»Das sagen Sie als getaufter Christ?«

»Hier sind wir im Urwald, Doktor – da ist die Welt anders als in Manaus.«

Moco ging wieder zu Jatupua und sprach auf ihn ein. Dann sprach er mit Ynama, und sie rief dem Medizinmann etwas zu, was wie ein Befehl klang. Jatupua erhob sich – er war klein und dick und reichte Cliff Haller nur bis zur Brust. Aber seine Augen funkelten wie glühende Kohlen und sein breites Gesicht war nicht nur durch die wilde Bemalung eine verzerrte Fratze. Er stieß gurrende Laute aus und hob dann den Federstab hoch, umklammerte ihn mit beiden Händen und zerbrach ihn in der Luft. Ynama stieß einen hellen Schrei aus … Moco wich bis zur Wand zurück.

»Jetzt geht's los«, sagte Cliff ernst. »Ich habe euch gewarnt!«

»Er verflucht uns«, stammelte Moco. Sein Gesicht spiegelte wirkliche Angst wider. »Er hat den höchsten Gott zur Rache gerufen.«

»Dann warten wir mal auf ihn, Moco! Wie kommt er zu uns? Als Riesenschlange?« Dr. Forster kniete mit der Spritze neben Ellen.

»Spotten Sie nicht«, flüsterte Moco. »Er läßt giftige Mücken über uns herfallen …«

»Unser Doc wird ein Held!« Cliff behielt Jatupua im Auge. Der Medizinmann stand an der Tür und stieß grunzende Laute aus. Und mit jedem Laut wurde Moco kleiner, bis er auf der Erde lag, das Gesicht an den Boden gedrückt, niedergeschmettert von der herbeigerufenen Rache der Götter.

Ynama sah Dr. Forster und Ellen Donhoven mit flackernden Augen an. Aber sie stieß keinen Schrei aus, als Forster ihr die Nadel in den Oberschenkel stieß und das Betäubungsmittel injizierte. Dann lächelte sie plötzlich – es war der Augenblick, in dem sie in die Schwerelosigkeit glitt, in der sie sich wie eine Feder fühlte, um dann wegzusinken in das Vergessen.

»Führen Sie den Alten raus, Cliff!« sagte Forster. »Wenn er sieht, was wir jetzt mit Ynama machen müssen, glaubt er, wir wollten sie umbringen.«

»Ist's so schlimm?«

»Haben Sie schon mal das Einrenken eines Rückenwirbels miterlebt? Das geht nach dem Hebelgesetz. Dort, wo der Wirbel herausgesprungen ist, muß ich den Körper so biegen und gegen das Rückgrat drücken, bis er wieder einschnappt. Das sieht für einen Laien wie eine Marterung aus.«

»Ist's überhaupt die Bandscheibe?« fragte Cliff.

Ellen Donhoven hatte Ynama auf den Bauch gedreht. Sie betastete den Rücken und klopfte mit dem Mittelfinger auf eine Stelle. »Hier«, sagte sie. »Der sechste Lendenwirbel. Ganz deutlich spürbar. Wir müssen es versuchen.«

»Versuchen … das klingt schon faul!« Cliff Haller faßte den noch immer grunzenden Jatupua an den Schultern und schob ihn aus der Hütte. Der Medizinmann wehrte sich nicht … aber seine fast tierischen Laute verstärkten sich und lockten die anderen Männer heran. Bewaffnet mit Blasrohren und Pfeilen rannten sie herbei und umzingelten die Hütte. Haller ließ den Alten vor der Tür stehen und ging zurück in den runden Raum.

»Du hattest doch die verrückte Idee, indianische Pfeilgifte zu erforschen«, sagte er zu Ellen, die gerade Ynama auf die Seite drehte. »Du kannst es nachher, wenn eure Therapie schiefgelaufen ist, ausprobieren. Draußen stehen zweihundert Krieger, die euch vollpumpen mit dem unbekannten Saft.«

»Moco.« Dr. Forster richtete sich auf. »Sprechen Sie zu Ihren Leuten. Sagen Sie ihnen, daß wir Ynama helfen.«

Moco schwieg und schüttelte den Kopf. Er lag noch immer auf der Erde, mit dem Gesicht nach unten. Cliff verstand ihn … ein Häuptling ist nur so stark, wie es die Götter wollen. Erzürnt er sie, hat jeder des Volkes das Recht, ihn zu töten.

»Also los denn«, sagte Dr. Forster. Er kniete vor Ynama, drückte seine Knie gegen ihren Leib und bog den Körper wie eine Bogensehne um sich herum. Dabei drückte er mit der flachen Hand gegen den herausgesprungenen Wirbel. Ellen hielt den Kopf der betäubten Ynama hoch und holte ihr die Zunge aus dem Mund, damit sie nicht in der Narkose erstickte. Es war kein schöner Anblick, und Cliff drückte es so aus:

»Da hört man immer, wie elegant die Ärzte arbeiten. Wenn man euch zusieht, denkt man, man sitzt bei den Catchern!«

Dreimal ruckte Dr. Forster an dem gebogenen Körper Ynamas, es sah aus, als wolle er ihn brechen wie eine Gerte, dann hörte man einen deutlichen Knacks, und Forster ließ das Mädchen vorsichtig auf die Matte zurückgleiten.

»Gratuliere, Rudolf …«, sagte Ellen leise. Sie schwitzte plötzlich, und sie wußte, daß es nackte Angst war. »Hoffen wir, daß auch die Nerven wieder freiliegen.«

»Die Wirbel stehen gut.« Forster tastete noch einmal das Rückgrat ab. »Wenn sie aus der Narkose erwacht, müßte sie sich bewegen können.«

»Das wäre fabelhaft.« Cliff steckte die Hände in die Taschen. »Dann können wir machen mit den Indios, was wir wollen. Sie werden uns blindlings gehorchen.«

Sie verließen die Hütte und blieben draußen stehen. Der Ring der finsterblickenden Krieger erschreckte sie nicht mehr. Auch Jatupua schwieg jetzt. Er wartete auf die Niederlage der Weißen. Er wartete auf die Rache der Götter.

Im Inneren der Hütte war Moco neben Ynama gekrochen und hob ihren Kopf in seinen Schoß. Er streichelte ihr Haar und ihr Gesicht und sprach leise auf sie ein. Er küßte und umarmte sie und in seiner Umklammerung wachte sie auf, bewegte sich und schlug die Augen auf.

»Gaio«, flüsterte sie. »Gaio, ich war bei den Göttern.«

»Und du bist geheilt? Du kannst dich bewegen, du kannst wieder gehen?«

»Ich weiß es nicht.«

Er hob sie hoch und sie hing in seinen Armen, wenige Zentimeter über dem Boden. Ihre Augen flackerten vor Angst.

»Versuch es, Ynama …«

»Ich habe Angst, Gaio.«

Er ließ sie auf die Füße gleiten und hielt sie noch immer fest. »Spürst du den Boden?«

»Ja.«

»Bewege die Beine.«

Ynama tat es – ein Schrei wollte sich ihrer Kehle entringen – sie warf den Kopf nach hinten und breitete die Arme aus:

»Ich fühle den Boden«, stammelte sie. »Ich fühle ihn. Ich kann stehen …«

»Und gehen … Ynama … und gehen …« Moco ließ sie los und sprang drei Schritte zurück. Ynama schwankte, suchte Halt und fand keinen. Da straffte sich ihr Körper und vorsichtig, ganz langsam tastend, schob sie den einen Fuß vor den anderen. Und dann noch einmal und dann wieder … vier-, fünfmal … bis sie etwas torkelnd herumlief, immer im Kreis, an der Hüttenwand entlang; und Moco stand an der Tür, hatte die Hände gefaltet und betete zu dem weißen Gott, den keiner hier im Wald kannte und der doch stärker war als alle anderen Götter.

Dann faßte er Ynama an der Hand und ging mit ihr hinaus ins Freie. Stumm starren die Männer Ynama und Moco an. Sie beobachteten ihren Gang und sie lief vor ihnen herum, als sei sie nie gelähmt gewesen und lachte dabei und klatschte in die Hände.

Jatupua, der Zauberer, verließ mit gesenktem Kopf den Kreis und entfernte sich. Niemand beachtete ihn mehr, keiner sprach ihn an. Die Götter hatten ihn ausgestoßen, seine Macht war verflogen wie Nebel. Auch als er ein kleines Boot nahm und vom Ufer abstieß, fragte ihn keiner, wohin er wolle … allein, eingehüllt in seinen Federmantel, hockte er in dem Einbaum und ließ sich wegtreiben. Die ganze Tragödie des Erfolglosen widerfuhr ihm … hier, im Urwald, wo nur die Stärke gilt, war sein Sturz in das Dunkel doppelt schnell und tief.

Nur Moco ging hinunter zum Fluß und sah dem wegtreibenden Boot nach. Sehr nachdenklich kam er zurück zu Cliff, Dr. Forster und Ellen.

»Ynama ist gesund, aber Jatupua habt ihr die Seele genommen. Er wird sich rächen«, sagte er. »Ein besiegter Zauberer ist ein toter Mann … er muß leben wie ein Käfer. Ich werde Jatupua töten lassen.«

»Nein!« Ellen hielt Moco fest. »Das dürfen Sie nicht. Das wäre Mord.«

»Hier gibt es andere Begriffe, Señorita. Wenn wir Jatupua nicht töten, werden wir sterben. Er wird uns die Weißen auf den Hals hetzen.«

»Nur, weil er einmal blamiert wurde?« Dr. Forster lachte. »Moco, er wird doch nicht sein ganzes Volk deswegen opfern. Ich glaube, er baut sich etwas unterhalb des Dorfes eine Hütte und lebt als Einsiedler weiter.«

»Glauben Sie das, Doktor? Ich kenne meine Rasse besser. Ihm sind wir alle verhaßt, weil wir ihn ausgestoßen haben. Die Menschen hier denken wie die Tiere … friß, sonst wirst du gefressen. Es ist eine andere Moral als bei Ihnen.« Moco lächelte schwach. »Lassen Sie uns vergessen, was war. Wir wollen fröhlich sein und Ynamas neues Leben feiern.«

Eine Stunde später fuhren heimlich zwei Boote dem Einbaum Jatupuas nach. Cliff bemerkte es, aber er schwieg. Hoffentlich finden sie ihn noch, dachte er kalt. Wie leicht kann sonst aus diesem Paradies eine Hölle werden …

Am Abend saßen sie in ihrer Hütte und tranken aus Tonbechern das süße Palmenbier. Ellen lag schon auf ihrem Blätterbett und sah Cliff zu, wie er seine Taschen auspackte.

Eine Pistole. Drei Rahmen mit Munition. Lose Patronen. Die zusammengeknüllte Fotokarte. Ein Messer mit Scheide. Eine schmale, kaum fingerlange Kamera. Cliff wog sie in der Hand, warf sie spielerisch empor und fing sie wieder auf.

»Das ist das Wertvollste, was ein Mensch in den letzten Jahren bei sich trug«, sagte er nachdenklich. »Verdammt, ich muß es aus dem Wald bringen, und wenn es noch hundert Tote kostet. Was hier drin ist, Freunde, ist das Leben von einigen Millionen wert … da hört man auf, zimperlich zu sein. Versteht ihr das?«

»Nur bedingt.« Dr. Forster streckte sich aus. »Ich schlage vor, Cliff, Sie machen sich allein auf die Wanderschaft wie der arme Jatupua. Sie haben Ihren Auftrag und es ist unfair, andere hineinzuziehen.«

»Was reden Sie da, Rudolf?« Ellen Donhoven drehte sich zu Dr. Forster. »Ich bleibe bei Cliff, das wissen Sie doch.«

»Das ist das Verrückteste, was Sie sich je ausgedacht haben.«

»Es steht Ihnen immer noch frei, umzukehren«, sagte Cliff.

»Sie wissen genau, daß ich das nicht kann. Ich lasse Ellen mit Ihnen erst allein, wenn wir alle in Sicherheit sind. Vielleicht wird sie in einer anderen Umwelt vernünftiger. Sie werden immer ein Abenteurer bleiben, Cliff.«

»Irrtum. Das ist mein letzter Job.« Cliff Haller legte sich auch hin. Die Kamera steckte er in einen Lederbeutel, den er an einer Nylonkordel um den Hals trug. »Wenn ich den Film und den Bericht abgeliefert habe, werde ich den CIA verlassen und der letzten Tür einen Tritt geben, damit sie auch richtig zufällt.«

»Und was wollen Sie dann tun? Wovon wollen Sie leben?«

»Von meinem richtigen Beruf. Ich bin Lehrer.«

»Was sind Sie?«

»Professor an einem College.« Cliff hüstelte. »Ich habe neuere Geschichte unterrichtet.«

***

Drei Wochen blieben sie bei Moco und seinem Volk. Während Cliff Haller mit seinen neuen roten Freunden auf die Jagd ging und sich im Schießen mit dem Blasrohr übte, dem lautlosen Tod, der hier im Urwald hundertmal gefährlicher war als ein Maschinengewehr, das 3.000 Schuß in der Minute herunterrasselte, zeigte Moco seinen beiden anderen Gästen mit Stolz verschiedene unbekannte Gifte, mit denen die Pfeile und Speere präpariert waren.

Er demonstrierte ihre schreckliche Wirkung an Tieren. Er ließ Schweine und Vögel schießen, ritzte mit vergifteten Holzsplittern Fischen die Haut auf, ließ einen Panther fangen und schlitzte ihm mit einem vergifteten Messer nur leicht das Fell auf.

Die Wirkung war immer tödlich. Manchmal in Sekundenschnelle, ein paarmal dauerte der Todeskampf der Tiere Minuten. Ellen überwand sich und redete sich ein, daß diese Tiere für die Forschung geopfert würden … aber es war trotzdem schrecklich anzusehen, wie die Tiere durch das Gift alle Kraft verloren, sich auf die Seite wälzten und unter Zuckungen starben.

Zehn Tage lang sezierten Dr. Forster und Ellen die Kadaver, um Veränderungen an den Organen festzustellen. Sie fanden nichts.

Ab und zu war auch Cliff bei ihnen und schüttelte den Kopf. »Nun wißt ihr, daß es Nervengifte sind«, sagte er. »Na und? Was habt ihr davon? Unsere chemischen Gifte sind ebensogut. Lohnt es sich, dafür in den Urwald zu ziehen?«

An einem Abend, nach dem Essen, sagte Cliff Haller: »Ich wollte es euch nicht gleich sagen, aber man hat Jatupua nicht gefunden. Er ist wie vom Erdboden verschwunden. Seit zwölf Tagen suchen sie ihn. Es wird Zeit, daß wir aufbrechen, Leute. Ich rieche förmlich die Gefahr. Auch Moco hat Sorgen. Er spricht nur nicht darüber. Die Hälfte seiner Krieger ist ständig auf Streife. Sie kontrollieren ein Gebiet von dreißig Quadratkilometern. Das ist im Urwald ungeheuer viel. Den Fluß beobachten sie auf fünfzig Kilometer Länge. Gestern flog ein Hubschrauber über den Unterlauf. Die Männer dachten an ein riesiges Insekt, das die Götter schickten, und verkrochen sich. Jetzt ist Moco dabei, ihnen zu erklären, was die Weißen alles an Waffen haben. Heute morgen habe ich vierhundert Krieger an das Knallen von Gewehren gewöhnt … es hat mich vierundzwanzig Patronen gekostet. Leute, ich habe ein Kitzeln unterm Herzen … wir müssen hier weg, ehe es zu spät ist.«

»Und Moco und sein Stamm?« fragte Ellen.

»Er ist dabei, einen Plan zur Evakuierung des Dorfes zu machen. Er will neue Gebiete erschließen und mit seinem Stamm auf Wanderschaft gehen.«

»Und alles wegen uns. Cliff, ich glaube, wo ich auftauche, bringe ich Unglück.«

»Was für ein Gedanke, Baby.« Haller gab Ellen einen flüchtigen Kuß auf die Stirn. Es war seit Wochen die einzige Zärtlichkeit, die sie austauschten. Flüchtige Küsse, ein Berühren der Lippen nur, ein Kontakt bloß: Wir gehören zusammen. »Ynamas Heilung hat alles ins Rollen gebracht, und für Moco ist die Gesundheit Ynamas eine Wanderung zu neuen Gebieten, an einen anderen, unbekannten Fluß, wert.«

»Und wann sollen wir aufbrechen?« fragte Forster.

»Moco meint, in sechs Tagen. Mit siebzig Booten will er abfahren. In der Nähe des Rio Juruá trennen wir uns dann von ihm. Er zieht weiter nach Süden, zum Rio Babona, in das Gebiet der Xeroanes. Es wird blutige Kämpfe geben, aber Mocos Männer haben vorzügliche Giftpfeile – ihr kennt sie ja.« Cliff versuchte ein Grinsen, aber es mißlang. »Immer dasselbe, meine Lieben. Ob in der alten Welt oder der unentdeckten: man schlägt sich tot wegen des Lebensraumes.«

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In diesen Wochen baute General Aguria ein lückenloses Netz um das ganze Gebiet zwischen Rio Repartimento und Rio Juruá. José Cascal und Rita Sabaneta verhörten jeden Indianer, der aus den Wäldern an den Fluß kam, um Tauschgeschäfte zu machen. Die meisten nackten, manchmal auch mit Lumpen bekleideten Indios erhielten von Cascal Zigarren und eine kleine Flasche Schnaps; für den Fall, daß sie drei Weiße sehen würden, zwei Männer und eine Frau, versprach er ihnen eine ganze Kiste voll Zigarren und viel große Flaschen Schnaps.

Aber der Wald schwieg. Cliff und seine Begleiter schienen von der Grünen Hölle aufgesaugt zu sein.

General Aguria, der mit einem Wasserflugzeug im Rio Juruá landete und Cascal besuchte, wurde immer unruhiger.

»Hoffentlich ist Ihre Vermutung richtig«, sagte er besorgt. »Wenn uns Haller wieder ein Schnippchen schlägt, ist es für uns tödlich. Seine Fotos sind einen ganzen Krieg wert!«

»Wo soll er hin?« Cascal fuhr mit dem Finger über die Karte. »Nach Süden, das wäre kompletter Irrsinn. Da schlägt er sich zwei Jahre durch den Wald. Den alten Weg zurück? Unmöglich, denn er muß damit rechnen, daß hier kein Loch mehr zum Durchschlüpfen ist. Also bleibt ihm nur der Weg zum Rio Juruá. Es sei denn, man holt ihn aus der Luft ab.«

»Genau daran habe ich gedacht.«

»Und genau das ist auch nicht mehr möglich. Wie soll er seine Position angeben ohne Funkgerät? Wo sollen ihn die Abholer in der Nacht suchen? Es geht hier nicht um ein Stückchen Wiese, sondern um einige hundert Quadratkilometer. O nein, General, Cliff Haller kommt am Rio Juruá aus dem Wald! Wir müssen nur Geduld haben. Und mit unserer Ungeduld rechnet er. Er hat jetzt Zeit. Er kann Wochen mißachten. Und er denkt: Mit jeder Woche werden sie nachlässiger. Nach einem Monat, nach zwei Monaten schlafen sie im Stehen. Nach drei Monaten weiß keiner mehr, warum man überhaupt noch Wache schiebt. Und wenn wir soweit sind, dann kommt er – und weg ist er!« Cascal trank einen Schluck Fruchtsaft. »Behalten wir die Ruhe, General, denken Sie an die Katze, die stundenlang unbeweglich vor einem Mauseloch sitzen kann und dann mit spitzen Krallen zuschlägt.«

Bis auf diese Aussprachen war das Leben am Rio Juruá wie das Wohnen in einem Paradies. Rita war eine Geliebte, von der sich Cascal – das hatte er sich vorgenommen – auch nicht trennen würde, wenn hier seine Aufgabe erfüllt war. Ich nehme sie mit nach Manaus, dachte er. Ich werde sie vielleicht sogar heiraten. Ich bin ein Mann von 35 Jahren, da muß man daran denken, eine feste Heimat zu haben und ein Weib, das kocht, wäscht und den trüben Alltag aufheitert. Wer könnte das besser als Rita?

An einem Sonntag meldeten Arbeiter eines Vermessungstrupps, der durch den Urwald zog, um Land zu arrondieren, daß man einen alten, entkräfteten Indianer in einem Einbaum aus dem Fluß geholt hatte. Er konnte kein Wort Portugiesisch, und der Indianerdolmetscher übersetzte, daß der Alte Jatupua hieße, von einem Fluß Numumu käme – einem Fluß, der auf der besten Karte nicht verzeichnet war – und daß ihn drei Weiße von seinem Stamm vertrieben hätten. Zwei Männer und eine Frau. Weiße Zauberer, die die Götter beleidigt hätten.

Cascal machte einen Luftsprung, als der Militärbefehlshaber in Carauari ihm den Funkspruch brachte.

»Das sind sie!« schrie Cascal und küßte Rita vor allen Anwesenden. »Das sind sie! Am Rio Numumu … wo ist das?«

»Keine Ahnung. Aber es muß ein Fluß sein, der näher am Rio Coari als am Rio Repartimento liegt.«

»Also doch!« rief Cascal und beugte sich über die Karte. »Cliff Haller schlug einen Bogen und marschiert auf den Juruá. Der einzige Weg, der ihm bleibt!« Er blickte hoch. »Weiß es der General?«

»Er ist vor zehn Minuten angerufen worden.«

»Und was sagte er?«

»Wenig.« Der Hauptmann grinste breit. »Nur ein Wort: Alarm!«

»Das genügt auch!« Hinter Cascal schellte das Telefon. Er wirbelte herum und nahm ab. Stumm hörte er auf die Stimme am anderen Ende der Leitung. Seine Augen glänzten wie im Fieber. Dann legte er auf und sah den Hauptmann, Rita und die anderen Soldaten mit einem vor Freude verzerrten Gesicht an.

»General Aguria war es. Die II. und III. Fallschirmjäger-Kompanie sind bereits verladen und werden mit Hubschraubern in das Gebiet geflogen. Sie haben Schwimmer anmontiert und können also auf dem sagenhaften Rio Numumu wassern. Ich selbst werde in einer halben Stunde abgeholt und fliege in das Kampfgebiet.«

»Gratuliere«, sagte der Hauptmann. »Es ist ein großer Erfolg für Sie.«

»Man muß nur logisch denken können.« Cascal blickte zu Rita. Ihre Augen glühten, die vollen, sinnlichen Lippen zitterten. »Ich bringe ihn lebend«, sagte Cascal heiser. »Du kannst ihn dann zerreißen, du Raubtier –«

***

Sie kamen von allen Seiten.

Die Späher Mocos meldeten, daß Männer aus summenden Riesenmücken an großen runden Flügeln in den Wald schwebten. Andere Wachen am Fluß meldeten mit Trommelzeichen, daß diese Mücken auf dem Fluß gelandet seien und langsam hinabfuhren.

»Jetzt ist es soweit«, sagte Cliff. »Sie haben uns im Netz. Drei Tage kommen sie zu früh … in drei Tagen wären wir untergetaucht und das Dorf verlassen gewesen.«

»Und jetzt wird es wieder Tote geben«, sagte Ellen voll Schauder.

»Es wird Tote regnen.« Cliff sah, wie Moco seine Krieger in einzelne Gruppen einteilte. Die Frauen und Kinder wurden in die Boote verladen, alte Männer lenkten und ruderten sie. Dann kam Moco zu Cliff und Ellen. Dr. Forster war unten am Ufer und verband zwei Indios, die sich beim schnellen Rückzug an spitzen Dornen verletzt hatten.

»Wir werden die Frauen und Kinder zum Rio Danauri bringen«, sagte Moco. Er war in diesen Stunden um Jahre gealtert. Tiefe Furchen durchzogen sein noch junges Gesicht. »Das ist ein überwachsener, verschlammter Fluß, wo niemand ihnen folgen kann. Dort werden sie auf uns warten.«

Aus dem Busch trafen immer neue Späher ein. Drei kleine Boote legten an. Hastige Worte wurden gewechselt. Moco nickte immer wieder und machte wilde Zeichen in die Luft.

»Sie haben uns umzingelt«, sagte er. »Aber sie kommen in weit auseinandergezogener Kette. Das ist ein Fehler. Ich werde meine Krieger auf die Bäume setzen und von dort aus jeden Soldaten, den sie sehen, mit dem Blasrohr töten lassen. Aus dem Wald droht keine Gefahr – dort kommen sie nicht weiter. Aber das Flugzeug auf dem Fluß. Wir können es nicht angreifen mit unseren Booten.«

»Den Hubschrauber übernehmen wir.« Cliff Haller steckte die Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. Dr. Forster am Ufer fuhr herum. Er nahm seine Apothekentasche und rannte zum Dorf hinauf. »Wir haben zwei Gewehre und drei Pistolen«, sagte Haller. »Es muß uns gelingen, mit gezielten Schüssen den Motor zu treffen. Dann sind sie hilflos. Es ist unsere einzige Chance.« Er wollte noch etwas sagen, aber dann blieb ihm das Wort im Munde stecken. Zwischen den Hütten tauchte Ynama auf, in der Hand ein langes Blasrohr und vor sich einen Köcher voller Giftpfeile. »Was soll denn das?« fragte Cliff. »Moco, schicken Sie Ynama zu den anderen Frauen.«

»Sie will nicht, Cliff.« Mocos Augen strahlten. »Bleibt Señorita Ellen nicht auch bei Ihnen, mit der Pistole in der Hand? Ynama ist wie Ellen. Sie verläßt mich nicht.«

»Mir kommen die Tränen vor so viel Heldentum!« schrie Cliff. »Wir drehen hier keinen Hollywoodfilm – es geht um unser verdammt nacktes Leben! Moco, nehmen Sie Ihre Ynama und hauen Sie ab. Ihr Volk braucht Sie noch. Das Kommando hier übernehme ich.«

»Ich müßte mich anspucken, Señor«, sagte Moco feierlich, »wenn ich jetzt zu den Frauen liefe. Dieser Kampf geht auch um mein Volk – und ich bin ihr Häuptling!«

»Und dafür haben Sie drei Jahre die Missionsschule besucht!« Cliff lachte rauh. »Moco, ich danke Ihnen.«

»Für was?«

»Für Ihre verfluchte Dummheit, aus lauter Freundschaft jetzt vor die Hunde zu gehen.«

Von weitem hörte man einzelne Schüsse, darauf ein helles Knattern: Maschinenpistolen. Moco winkte seinen Kriegern. Wie Geister verschwanden die bemalten Gestalten im Dschungel. Jeder hatte seinen Auftrag, jeder wußte, was zu tun war: Töten! Jeden töten, den er sah. Lautlos töten … mit einem geblasenen Pfeil, dessen Spitze vergiftet war. Ein Pfeil, der aus dem Nichts, aus dem grünen, wogenden Dach des Waldes herunterschoß auf sein Opfer.

Langsam, mit lautem Knattern, näherten sich drei Hubschrauber auf dem Fluß. Mit ihren trägen Schwimmern schoben sie sich durch das Wasser.

Es war die letzte Meldung, die im Dorf eintraf. Dann riß die Verbindung zu den Kriegern am Fluß ab.

»Drei Hubschrauber also.« Cliff Haller zog die Augenbrauen hoch. »Das schaffen wir nie. Ich schlage vor, Ellen und Sie, Doc, schwenken irgend etwas Weißes, wenn die Kerle heran sind und lassen sich gefangennehmen. Ihnen wird man nichts tun, und dir erst recht nicht, Baby … sie wollen meinen Kopf.«

»Und du?« fragte Ellen.

»Ich versuche, allein durch den Dschungel weiterzukommen.«

»Du bist verrückt«, sagte sie. »Du bist total verrückt. Wir bleiben alle zusammen.«

Vom Fluß hörte man das Knattern der Flugmotoren. Fast gleichzeitig prasselten hinter Ellen die Flammen aus den Hütten.

Moco verbrannte sein Dorf.