Viertes Kapitel

Zwei Tage lang lief Cliff Haller der vor ihm flüchtenden Expedition Ellens nach. Zwei Tage lang rannte er durch die schwülheiße Grüne Hölle, durch Schwärme von Moskitos, die über ihn herfielen, als wollten sie ihn unter ihren schwirrenden Leibern begraben. Sein Schweiß, der den ganzen Körper überzog, als sei er gerade aus dem Wasser gekommen, lockte die Mücken an wie Honig.

Als die Moskitoplage zu groß und unerträglich wurde, erinnerte er sich eines Mittels, das die Indios aus einer Wurzel preßten … einen Saft, mit dem sie ihren Körper wie Öl einrieben und dessen Geruch die Mückenschwärme vertrieb. Rita Sabaneta hatte ihm dieses Mittel genannt. Woher sie es wußte, hatte er nicht gefragt … damals war er zu verliebt in sie gewesen, um weiter in ihrer Vergangenheit zu forschen, als es nötig war. Aber er ahnte, daß das erst 24jährige Leben Ritas angefüllt war mit Erlebnissen, und wenn man sie genau betrachtete, die schwarz glänzenden langen Haare, die scharfe Nase, die brennenden, dunklen Augen, der geschmeidige, katzenhafte Körper, dann schlug einwandfrei Indianerblut bei ihr durch.

Cliff Haller unterbrach seine Jagd nach Ellen Donhoven und rastete fünf Stunden an einem Seitenarm des Rio Tefé, den sie auf dem Hinweg über einen umgestürzten Baumstamm überquert hatten. Hier, an dieser Notbrücke, suchte Cliff nach der Wurzel … sie wuchs im Sumpfgebiet, hatte eine rissige, grüne Rinde und schob sich als Luftwurzel unmittelbar über der Wasseroberfläche dahin. Mit seinem Buschmesser hieb Cliff ein großes Stück ab, zerquetschte es dann zwischen zwei Steinen und rieb sich mit dem eklig stinkenden Brei den ganzen Körper ein.

Die Wirkung war erstaunlich. Er spürte, wie seine Haut ledern wurde, wie gegerbt … aber die Moskitoschwärme umkreisten ihn nur noch, fielen nicht mehr über ihn her und zogen dann weiter zum Fluß. Selbst in der Nacht, als er an dem kleinen Lagerfeuer saß und die Mücken wie eine Wolke herbeistürzten, griffen sie ihn nicht an, sondern umkreisten nur in sicherer Höhe den Feuerschein.

Dadurch verlor Cliff viel Zeit, und der Vorsprung Ellens wurde immer größer. Aber das machte ihm keine Sorge; er wußte, daß er sie einholen würde. Viel größer war die Gefahr, daß Ellen in die große Falle hineingeriet, die man jetzt geöffnet hatte. Die Fahndung nach dem amerikanischen Agenten hatte den ganzen Urwald zwischen Rio Tefé und Rio Juma alarmiert. Ab und zu hörte er – mit dem Wind kommend – ganz schwach die Trommelnachrichten der Indios, und am ersten Tag seiner Flucht kreisten Hubschrauber und Aufklärer so tief über dem Wald, daß sie fast die Baumkronen berührten. Vor allem die Wasseradern flogen sie ab, dieses Gewirr von Flüssen, Bächen, Zuläufen und Sümpfen, weil man hier, an den Ufern, leichter vorwärtskam als im verfilzten, oft undurchdringlichen Dickicht von Lianen, Riesenfarnen, Dornengestrüpp, abgestorbenen und gebleichten Bäumen und blühenden, haushohen Büschen, die wie eine Wand standen.

Cliff Haller hetzte weiter, nachdem er sich am Morgen noch einmal mit dem stinkenden Wurzelbrei eingerieben hatte. Ich muß sie einholen, sagte er sich immer wieder. Sie laufen blind in ihren Tod. Am Rio Tefé wartet man auf sie … und es wird ein lautloser Tod sein, ein Tod aus dem langen Blasrohr der Indios. Nur ein kurzes Stechen wird man spüren … und dann wirkt das Gift sekundenschnell, lähmt die Atmung, zerpreßt das Herz, umklammert das Gehirn.

Für die Indios wird es eine fröhliche Jagd sein. Sicherlich hat man ihnen ein Kopfgeld versprochen. Nicht in bar, denn was sollen sie mit Geldscheinen im Urwald. Werkzeuge sind wertvoller: Stahlbeile, Äxte, Zangen, Bohrer, Sägen … damit kann man ganze neue Dörfer bauen, in einem Bruchteil der Zeit, die man sonst verwenden müßte. Eine Axt … sie war für einen Indio mehr wert als ein Vermögen in Gold – und viel mehr wert als ein Menschenleben!

Weiter! Weiter!

Sie dürfen den Rio Tefé nicht erreichen! Ich muß sie vorher eingeholt haben! Ellen – verdammt noch mal –, warum läufst du vor mir davon? Bin ich ein Scheusal? Zugegeben, ich habe Cascal und Rita brutal behandelt, aber was weißt du, was auf dem Spiel steht, Baby? Ich hätte sie nach dem Gesetz unseres Krieges im Dunkel töten müssen … ich habe sie leben lassen, und das wird sich als ein Fehler herausstellen, der uns allen das Genick brechen kann. In unserem Beruf darf es kein Erbarmen geben, keine Skrupel, keine menschlichen Regungen, keine bürgerliche Moral! Wie sagte Colonel Hodkings bei der Ausbildung in Fort Disdale? »Jungs, wenn ihr später im Einsatz seid, ganz allein auf euch gestellt, müßt ihr das Härteste sein, was in menschlicher Gestalt herumläuft! Alles das, was in der Bibel steht, gilt für euch nicht mehr. Ihr bekommt einen Auftrag, und der allein ist wichtig. Wie ihr ihn erfüllt, ist eure Sache … aber ihr müßt ihn erfüllen! Die Methoden spielen keine Rolle. Gewöhnt euch an, im Kopf eine Stahlplatte und statt des Herzens eine Chromstahlkugel zu tragen. Nur so behaltet ihr euer Leben in diesem verdammt dreckigen Geschäft!«

Weiter … weiter …

Ich laufe jetzt um dein Leben, Ellen!

Am Rio Tefé warten die Indios auf euch!

***

Der Rückweg zum Fluß verlief schneller, als es Ellen erwartet hatte. Sie zogen den gleichen Pfad zurück, den sie sich auf dem Hinmarsch durch das Dickicht geschlagen hatten. Obwohl nur ein paar Tage vergangen waren, hatte der Urwald bereits begonnen, diese kleine, in seinen grünen Leib geschlagene Wunde wieder zu schließen. Wie tastende Arme schoben sich Blütenzweige in die Lücken, hatten sich Riesenfarne gebogen und verschlossen teilweise wieder den engen Trampelpfad.

Ellen Donhoven war von einer Energie, die keine Ermüdung zu kennen schien. Das Ziel: der Fluß – die Aussicht, auf den gurgelnden, grüngelben Wassern abwärts zu treiben und diese Hölle hinter sich zu lassen – füllte ihren zierlichen Körper mit einer Kraft, die keiner der Männer mehr begreifen konnte. Selbst Dr. Forster wurde dieses Mädchen unheimlich.

Während der kurzen Marschpausen fielen die Männer um und lagen auf dem weichen, faulig riechenden Urwaldboden wie knochenlose Stoffpuppen. Sie schliefen eine Stunde, und dann kroch Palma seitwärts in die Wildnis, brachte fremdartige, nie gesehene, nie gekannte Wurzeln und Früchte mit und kochte aus ihnen Gerichte, die allen merkwürdig dumpf schmeckten, wie ungewürzter Haferbrei. Aber es nahm das Hungergefühl weg und hatte – man merkte es eine Stunde später – eine anregende Wirkung.

»Was kochen Sie uns da für ein Teufelszeug?« fragte Forster am zweiten Tag. »Es wirkt wie Rauschgift auf einen Süchtigen.«

»Es ist Mamaliko.« Palma, dessen geschwollener Fuß grausig aussah und der anscheinend auch nur durch dieses Wurzelgemüse die Kraft erhielt, weiter mit den anderen zu marschieren, zeigte Dr. Forster und Ellen diese rötlich schimmernde, weiche Wurzel. »Die Indios stellen aus dem Saft ein betäubendes Getränk her. Es ist so etwas Ähnliches wie Rauschgift.« Palma grinste verlegen die anderen an. »Glauben Sie, Señora, wir wären jetzt schon hier, wenn wir nicht Mamaliko essen würden?«

Sie hockten, ziemlich geschützt vor dem prasselnden Regen, unter einem Busch und starrten in das grünliche Halbdunkel des über ihnen zusammenschlagenden Dschungels.

Palma schlief schon wieder, Campofolio träumte mit offenen, glänzenden, merkwürdig starren Augen.

Mamaliko … die Wurzel des Glücks.

»Ob unsere Boote noch am Fluß sind?« fragte Ellen. Sie senkte dabei die Stimme. Dr. Forster, gegen den sie sich lehnte, hob kurz die Schultern.

»Wenn Indios sie nicht mitgenommen haben …«

»Wie kämen wir ohne Boote weiter?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, Ellen. Die einfachste Lösung wäre, ein Floß zu bauen.«

»Ohne Werkzeuge?«

»Es gibt Treibholz genug im Fluß. Und zum Zusammenbinden nehmen wir Lianen.«

»Haben Sie eine Ahnung davon?«

»Nein. Aber ich werde es versuchen.« Dr. Forster lächelte traurig.

»Außerdem haben wir Palma. Er kennt alle Tricks des Urwaldes.«

»Ich mache mir Sorgen um ihn. Sein Bein …«

Dr. Forster nickte. »Ich bewundere ihn. Wie er das aushält. Er muß Schmerzen haben bis unter die Haarspitzen! Und hier sitzen zwei Ärzte und können ihm nicht helfen. Das greift mir verdammt ans Gemüt. Was nützen jetzt zwölf Semester Medizin, Staatsexamen und chirurgische Facharztprüfung?!«

»Ob es Palma bis Tefé schafft?«

»Ich weiß es nicht. Die Antibiotika, die ich ihm injiziert habe, verdaut er wie Zuckerwasser. Wenn er durchkommt – ich glaube, sie werden ihm in Manaus den Fuß amputieren müssen.«

Ellen Donhoven sah schweigend auf den schlafenden Palma. Er lächelte im Schlaf, er träumte von schönen Dingen.

Mamaliko.

»Ich weiß, was Sie denken, Rudolf«, sagte sie plötzlich mit gepreßter Stimme.

»Ich denke gar nichts, Ellen.«

»Doch. Sie denken: War das nötig?! Und Sie denken weiter: Alles, was passiert ist bisher, hat sie auf dem Gewissen! Den Tod von Alexander Jesus und Fernando Paz, das geheimnisvolle Verschwinden Mocos … und in Kürze den Tod Palmas … alles ihre Schuld! Alles nur, weil ein überspanntes, stures, in ihre Idee verranntes Weibsbild unbedingt in den tiefsten Urwald ziehen mußte, um unbekannte Pfeilgifte zu entdecken. Für ein Hirngespinst setzte sie Menschenleben ein, statt ein braves Mädchen zu sein, zu heiraten und Kinder zu kriegen wie Millionen ihrer Geschlechtsgenossinnen.«

»Von Schuld kann man nicht sprechen, Ellen.«

»Rudolf, seien Sie jetzt aufrichtig! Ich weiß, was ich alles falsch gemacht habe. Aber jetzt ist es zu spät zur Reue.«

»Es ist nie zu spät, Ellen. Man kann Sie nicht verurteilen. Sie hatten ein Ziel, und das haben Sie mit der Ihnen eigenen Energie durchsetzen wollen. Daß Sie gescheitert sind, ist nicht Ihre Schuld. Wer konnte ahnen, daß uns ein Cliff Haller begegnet, der mit seinem Auftrag alles andere um sich herum zerschlug?«

»Auch Ihre Liebe zu mir, Rudolf?« sagte Ellen leise.

Dr. Forster schüttelte den Kopf. »Nein. Das schafft auch ein Cliff Haller nicht. Das wissen Sie ganz genau, Ellen.«

»Ich habe mich Ihnen gegenüber schrecklich benommen, Rudolf.«

»Warum sprechen Sie jetzt darüber?«

»Ich will reinen Tisch machen.« Sie warf den Kopf herum. Ihre blauen Augen waren von einer erschütternden Traurigkeit. »Sieben Tage bis zum Rio Tefé, dann vielleicht keine Boote mehr, und dann ein Floß, das unter uns zerbricht … und an den Flußufern die Indios … Rudolf, ich habe das Gefühl, diese Hölle hält uns fest!«

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und plötzlich weinte sie. Es war das erste Mal, daß er sie weinen sah, es klang kindlich und hilflos. Er legte den Arm um ihren zuckenden Körper und drückte sie an sich.

Nach einer Stunde, als der Regen aufgehört hatte und der Dschungel unter der glühenden Sonne dampfte, zogen sie weiter. Palma schwankte ihnen nach, auf einen dicken Knüppel gestützt. Dr. Forster hatte ihm noch einmal eine schmerzstillende Spritze gegeben.

»Wir haben nur noch sechs Ampullen«, flüsterte er Ellen zu, die Palmas Fuß untersuchte. Er war dick und unförmig wie ein Elefantenbein.

»An den Booten liegt das andere Gepäck …«

An den Booten. Am Fluß. Sieben Tagesmärsche weit.

Mein Gott, laß uns durchkommen. Gib uns Kraft und Glauben.

***

Mamaliko – das allein war die Kraft, die ihnen noch half, als der vierte Tag zu Ende ging und die Urwaldnacht über sie hereinbrach. Mamaliko, Palmas Wunderwurzel, war der letzte Himmel, der ihnen geblieben war. Mamaliko – das war Vergessen und Betäubung, das war Blindheit vor der Wahrheit und die Überwindung einer nicht begreifbaren Verzweiflung. Mamaliko – das allein noch war das Leben.

Die Nacht, die sie auf einer kleinen Lichtung überraschte, war gnädig und dunkel. Ohne das Feuer zu erhalten, schliefen Palma und Campofolio gleich ein. Dr. Forster hatte eine halbe Flasche Regenwasser getrunken, das sie bei dem täglichen Wolkenbruch in einer Zeltplane auffingen und dann in die Feldflaschen abfüllten. Er fühlte sich nicht matt, sondern erstaunlich tatenfroh und lobte im stillen die Kraft dieser verdammten Zauberwurzel.

Auch Ellen schien diese Droge zu verwandeln. Sie saß eine Weile stumm am erloschenen Feuer und sah Dr. Forster an, musternd, fast lauernd, in der Dunkelheit war ihr Gesicht wie ein fahler Fleck. Aber dann wuchs dieser Fleck, verbreiterte und vergrößerte sich. Forster schüttelte den Kopf, denn er glaubte an eine Halluzination …, aber das Bild, das langsam näher kam, blieb und festigte sich in den Konturen, je dichter es zu ihm rückte.

Ein weißer, nackter Körper. Lange, schlanke Beine, die vor ihm einknickten, ein matt schimmernder Leib mit kleinen, festen Brüsten, der sich zu ihm beugte, ein Gesicht mit einem verklärten Lächeln, als sehe es innerlich Bilder einer schönen, unbeschreiblichen Welt.

»Ellen!« sagte Dr. Forster mit zugeschnürter Kehle. »Wachen Sie auf …«

»Ich bin wach, ganz wach …« Ihre Stimme war völlig normal, aber eingebettet in das Beben der Erwartung. »Nimm mich in deine Arme!«

»Ellen!«

Er riß sie an sich, sie schlang die Arme um ihn und war von einer Wildheit, die alle Vernunft in ihm zur Hölle jagte. Wie zwei kämpfende Raubtiere wälzten sie sich über den Urwaldboden, verbissen sich ineinander und verloren sich aneinander.

Mamaliko – der Gott der Verzauberung.

Später, nach diesem Rausch aus Wollust und Erfüllung, lagen sie schwer atmend nebeneinander und vermieden es, sich zu berühren oder auch nur anzusehen. Sie haßten sich plötzlich. Die Ernüchterung nach dem Verströmen war so groß, daß sie in der Dunkelheit die Fäuste ballten und jeder den anderen ohne Reue hätte töten können. Was sie im Rausch des Mamaliko getan hatten, brachte sie nicht für immer zusammen, sondern entfernte sie noch mehr. Eine unüberwindliche Kluft brach zwischen ihnen auf: die schreckliche Erkenntnis, daß ihre Körper nur durch ein Gift zusammenfinden konnten.

»Wir werden uns nie wiedersehen, wenn wir Manaus erreicht haben«, sagte Dr. Forster heiser in die Stille hinein.

»Nein.« Ellens Stimme war hart, fast rostig. »Du hättest das nie tun dürfen!«

»Ich konnte nicht anders.«

»Wir waren wie Tiere.«

Das waren die letzten Worte, die sie in dieser Nacht miteinander wechselten. Jeder rollte sich auf die Seite und schlief allein im Schutz eines Busches.

In dieser Nacht war Cliff Haller nur noch eine Stunde von ihnen entfernt …

***

Am Nachmittag des fünften Tages erreichte Cliff Haller die Vier-Menschen-Expedition. Er hatte sich noch einmal richtig ausgeschlafen, sicher vor allen Moskitos durch seinen stinkenden Wurzelbrei, und war dann am nächsten Morgen mit frischer Kraft weitergegangen. Er lebte nicht von Fladen und Wurzeln wie Ellen und ihre Begleiter, Cliff fing in Lianenschlingen ihm unbekannte, winzige schweinsähnliche Tiere, die er in heißer Asche gar werden ließ. Sie schmeckten ohne Gewürze wie gesottene Handschuhe, aber sie füllten den Magen. Am vierten Tag köpfte er eine mittelgroße Schlange, schnitt dicke Scheiben aus ihr und briet sie knusprig, wie er es schon bei seiner Spezialausbildung in Floridas Sümpfen gemacht hatte.

Gegen neun Uhr vormittags traf er auf dem Lagerplatz Ellens ein … er sah das Aschenhäufchen des Feuers, einen weggeworfenen Fladen und die zerbrochene Ampulle eines schmerzstillenden Mittels. Er hätte schreien können vor Freude, bombte den Aschenhaufen durch die Luft wie ein Fußballspieler seinen Ball und sah dann auf seiner Karte nach, wo sie sich befanden.

Bis zum Rio Tefé waren es noch gut drei Tagesmärsche … nur eine knappe Zeitspanne noch bis zum sicheren Tod. Cliff Haller faltete die Karte zusammen und strich sich über das Gesicht. Ein wilder Stoppelbart bedeckte Kinn und Backen. Er war so blond wie seine Haare.

Wie werden wir das anstellen, Ellen, dachte er, während er weiterlief. Du hast die falsche Richtung! Wir müssen nach Osten, zum Großen Rio Juruá. Quer durch den Wald, ganz gleich, was uns dabei erwartet. Am Rio Juruá, in dem elenden Indianernest Carababa, wartet ein Kontaktmann auf mich. Er wird per Funk die Anweisung geben, uns herauszuholen. Der Rio Juruá ist der einzige breite Fluß hier in der Tiefe des Urwaldes, wo ein Flugzeug ohne Schaden wassern kann. Kein Hubschrauber, Baby – ein richtiges Flugzeug, das uns dann hinüber nach Peru bringt, nach Iquitos am Amazonas … in die Freiheit, Darling, in unsere Freiheit, die auch ein neues Leben bedeutet.

Aber bis dahin ist noch ein langer Weg. 300 Kilometer durch die Hölle, 300 Kilometer zu Fuß auf einem Pfad, den wir uns selbst schlagen müssen. Wahnsinn, wirst du sagen. Verrückt! Ich ziehe nicht mit. Aber es ist der einzige Weg ins Leben …

Das Auftauchen Cliffs erfolgte während einer kleinen Ruhepause. Palma und Campofolio streiften durch die Umgebung, um etwas Eßbares zu suchen. Sie hatten ein Warzenschwein mit vier Jungen gesehen, das vor ihnen flüchtete.

»Ein Schwein!« brüllte Palma. »Gott segnet uns! Ein Schwein und vier Ferkelchen! Hinterher! Hinterher! Sie dürfen uns nicht entkommen!« Er entriß Dr. Forster das Gewehr, ehe es dieser fester umklammern konnte, und entgegen allen Abmachungen schoß Palma sofort.

»Getroffen!« schrie er und hüpfte auf seinem gesunden Fuß herum. »Ich habe sie erwischt. Suchen wir sie … schnell, schnell!«

»Mit Ihrem Schuß können Sie uns die Indios auf den Hals hetzen!« brüllte Forster. »So ein Blödsinn!«

Aber Palma und Campofolio waren nicht mehr zu halten. Sie rannten dem blutenden Schwein nach und verschwanden im Wald.

Zehn Minuten später tappte Cliff Haller aus den Büschen heraus. Er wirkte wie eine Erscheinung aus einer fremden Welt. Ellen stieß einen hellen Schrei aus, als sie ihn plötzlich dastehen sah – groß, breit, mit ausgebreiteten Armen, ein Lachen in dem sonnengegerbten, von Bartstoppeln überwucherten Gesicht.

Dr. Forster riß das Gewehr herum und legte es auf Cliff an. Er spürte, wie eine schreckliche Kälte ihn durchzog, er war bereit, ohne zu zögern diesen Mann, den er wie nichts auf der Welt haßte, mit einem Fingerdruck zu töten.

»Bleiben Sie stehen, Cliff«, sagte er hart. »Keinen Schritt weiter! Heben Sie die Arme hoch! So bleiben Sie stehen, bis Campofolio wiederkommt und Sie entwaffnet.«

Cliff Haller hob langsam die Hände. »Sind Sie übergeschnappt, Doc?« rief er zurück. »Begrüßt man so einen Lebensretter?«

»Was wollen Sie hier? Wir haben Sie nicht gerufen, wir legen keinen Wert auf Ihre Gegenwart. Wenn Sie nicht freiwillig von uns ablassen, werde ich mit Ihnen das tun, was Sie mit Cascal gemacht haben.«

»Cascal geht es gut, nehme ich an. Besser als uns! Mann, Doc, seien Sie kein Idiot! Ich bin zur rechten Zeit gekommen. Sie rennen in Ihren Tod. Zum Rio Tefé wollen Sie … dort stehen bereits die Indios, um aus Ihnen einen zierlichen Schrumpfkopf zu machen. Sie marschieren genau in die falsche Richtung. Glauben Sie's mir! Ellen, wenn er ein Schwachkopf ist, dann glaub du es mir. Ich bin dir nachgelaufen, um dich zu retten! Ich …«

Er machte einen Schritt vorwärts. Dr. Forster hob sein Gewehr, der Finger krümmte sich am Abzug. Cliff sah es und blieb sofort wieder stehen. Nur seine Augen wurden starr und eisig.

»Drei Schritte zurück!« kommandierte Dr. Forster. »An den Baum dort. Und die Arme hoch über den Kopf!«

Cliff gehorchte. Und da geschah etwas, womit keiner gerechnet hatte: Ellen warf ebenfalls die Arme hoch, rannte an Dr. Forster vorbei, genau in die Schußlinie, Forster ließ das Gewehr sinken und wandte sich ab … und Ellen rannte weiter, warf sich Cliff in die Arme, hing an seinem Hals und küßte ihn, stammelte seinen Namen, ließ sich hochheben und ebenfalls küssen und war wie von Sinnen in ihrem Glück, Cliff wiederzusehen und wiederzuhaben.

»Sie haben gewonnen, Cliff«, sagte Dr. Forster, als beide später zu ihm kamen, Hand in Hand, ein seliges Liebespaar.

»Tut mir leid, Doc …«, sagte Cliff ernst.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

»Danke.« Cliff hielt Dr. Forster die Hand hin. »Sie sind ein guter Verlierer, Doc. Warum können wir nicht Kameraden sein?«

»Uns trennt zu viel, Cliff.«

»Und trotzdem müssen Sie jetzt mit uns mitten durch des Satans Schlafzimmer. Zum Rio Juruá. Wir müssen uns noch lange ertragen.«

»Und du, Ellen?« Dr. Forster blickte auf Ellen. Traurigkeit lag in seinem Blick. »Willst du mit ihm in das Ungewisse?«

»Ja.«

»Du weißt nicht, was daraus wird!«

»Nein! Ich weiß nur, daß ich glücklich bin. So glücklich. Mehr will ich auch nicht wissen.«

»Sie müssen es verantworten, Cliff!« Dr. Forster sah Haller fest in die Augen. »Ich werde mich bemühen, so lange zu leben wie Sie. Denn wenn unser Abenteuer schiefgeht, muß einer übrigbleiben, der Sie zur Rechenschaft zieht.«

»Das können Sie, Doc.« Cliff Haller umarmte Ellen und zog sie an sich. »Für solch eine Frau setze ich mein Leben ein.«

»Und für die Filme, die Sie in der Tasche haben.«

»Auch für die Filme. Es gibt Männer, Doc, die mit beiden Händen Bier trinken … in jeder Hand ein Glas!«

Er lachte, und es war ein so siegessicheres, volles Lachen, daß auch Ellen zu lachen begann und ihn dabei mit beiden Armen umklammerte. Ein Lachen, in dem die Angst mitschwang.

Zwei Stunden später zogen sie weiter, nach Südosten, ins Unbekannte.

Mit den Macheten hieben sie sich einen neuen Pfad durch die grüne Wand.

»Langsam –«, sagte Cliff, wenn Campofolio wie wild gegen die Lianen hieb. »Langsam, Pietro … jetzt haben wir Zeit … viel Zeit … wir schwimmen gegen den Strom …«

300 Kilometer unerforschtes, auf den Karten weißes Land lag vor ihnen. Sie hieben sich mit den Macheten in eine Welt hinein, die bis dahin auch keine Zeit gekannt hatte.

***

Drei Wochen lang kämpften sie sich durch den Wald. Drei Wochen Glut und Regen, Fieberdunst und fauliger Boden. Drei Wochen im Halbdunkel wogender Blätterdächer, an kleinen Flußläufen vorbei, in denen träge, riesige Krokodile schwammen. Drei Wochen Sumpf mit armdicken Schlangen und Myriaden von Mücken, umkreischt von buntschillernden Vögeln und umschlichen von unsichtbaren Raubtieren. Drei Wochen Wanderung nur nach dem Kompaß und einer Fotokarte, die aus fast 20.000 Metern Höhe von einem Spezialflugzeug aus aufgenommen worden war.

Am 20. Tag der Höllenwanderung wurde Rafael Palma wahnsinnig. Es kam ganz plötzlich, als habe ein Blitz sein Gehirn zerstört. Das Gift der Mamaliko-Wurzel hatte ihn langsam von innen zerfressen.

Plötzlich, während einer Rast an einem schmalen Flußlauf, der auf keiner Karte verzeichnet war und den Cliff gewissenhaft in seine Fotokarte einzeichnete, sprang Palma auf, tanzte auf seinem gesunden Fuß herum wie ein Tänzer im Karneval von Rio, lachte dabei gellend und schauerlich, wälzte sich dann auf dem Boden und schrie wie ein verwundetes Pferd. Schaum trat ihm vor den Mund, und bevor Cliff ihn festhalten konnte, sprang Palma wieder auf und rannte um sich schlagend in den Fluß.

»Palma!« brüllte Cliff und riß sein Gewehr hoch. Auch Campofolio und Dr. Forster schossen gleichzeitig mit ihm auf die plötzlich lebendig werdenden, wie verfault aussehenden Baumstämme, die träge in dem gelben Wasser trieben. Jetzt zeigten sie weit aufgerissene Rachen und schossen in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit auf den ins Wasser rennenden Palma zu.

»Zurück! Palma!«

Der Irre hörte nichts mehr. Lachend warf er sich ins Wasser, lachend winkte er zu dem blauen, flimmernden Himmel … dann hatten ihn vier Krokodile auf einmal erreicht und schnappten nach ihm. Ein Aufschrei, der das Blut gefrieren ließ, zerriß die kurze Stille der Lähmung aus Grauen und Hilflosigkeit. Dann schossen Forster, Campofolio und Cliff erneut auf die Reptilien, aber das Gewirr aus hornigen Panzerleibern, menschlichen Gliedmaßen, Blut und dumpfem, schrecklichen Fauchen und Schmatzen lösten sie nicht mehr. Sie trafen drei Krokodile, aber aus dem Sumpf- und Dschungelgewirr glitten neue Bestien ins Wasser und zerfetzten den Körper Rafael Palmas. Nach wenigen Minuten trieb nur noch eine Blutlache über den Fluß, in der die Panzer der erschossenen und gleichfalls zerissenen Krokodile wie flache Flöße schwammen.

Ellen hatte sich abgewandt und beide Hände gegen die Ohren gepreßt. Ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Erst, als Cliff ihr langsam die Hände von den Ohren zog, warf sie sich herum und vergrub ihr Gesicht an seiner breiten Brust.

»Es ist vorbei …«, sagte Haller stockend.

»Und so werden wir alle drauf gehen!« schrie Campofolio neben ihm. »Mein Gott, warum habe ich Sie damals, als Sie wieder auftauchten, nicht gleich erschossen?! Warum ist man bloß so anständig?!«

»Wenn Sie weiter zum Rio Tefé gezogen wären, lägen Sie jetzt schon längst als kopfloses Gerippe am Flußufer. Unser einziger Weg ist der nach Peru.«

»Das wir nie erreichen!«

»Mit Ihrem Pessimismus nicht.« Cliff Haller lud sein Gewehr und füllte den leeren Rahmen mit neuen Patronen. »Das einzige, was uns jetzt noch passieren kann, ist eine Alarmierung der Indios. Unsere Schüsse hat man gehört. Glauben Sie ja nicht, daß wir hier allein mit den Tieren sind.«

Die bösen Ahnungen Cliffs sollten sich bewahrheiten. Am nächsten Tag kreisten drei Hubschrauber über dem Gebiet, in dem sich die vier Menschen Schritt um Schritt vorwärtsquälten. Wie riesige Hornissen summten sie dicht über den Baumkronen und verschwanden dann aus dem Blickfeld. Cliff und Dr. Forster hörten jedoch, wie in ihrer Nähe die Rotorflügel donnerten und sie sich nicht entfernten. Haller und Forster blickten sich schnell an. Sie verstanden sich ohne Worte.

Sie setzen Truppen ab. Irgendwo dort in der näheren Umgebung gibt es ein paar Kahlstellen im Urwald, wo sie mit den Hubschraubern so tief gehen können, daß die im Dschungelkrieg geschulten Soldaten abspringen können.

Vor und hinter sich hörten sie das eintönige Donnern der Propeller. »Sie kreisen uns ein«, sagte Cliff heiser zu Dr. Forster. »Wie Hasen bei einer Treibjagd werden sie uns hetzen. Ellen …« Er legte den Arm um ihre Schulter. Sie blickte zu ihm auf und sah einen fremden Mann an. Alles Jungenhafte war aus seinem Gesicht verschwunden. Cliff wirkte kantig, wie aus einem Fels roh herausgehauen. »Du kannst schießen?«

»Ja, gut sogar, Cliff.«

»Nimm das Schnellfeuergewehr. Du und der Doc gehen voraus … ich bleibe mit Campofolio zurück und halte sie auf.«

»Nein!« Ellen warf den Kopf in den Nacken. Es war die Geste, mit der sie ausdrückte, daß keiner sie mehr in eine andere Richtung zwingen konnte. »Ich bleibe bei dir.«

»Verdammt! Du tust, was ich dir sage!« schrie Cliff sie an. »Los! Doc, nehmen Sie die Karte. Wenn wir uns verlieren … Sie müssen durchkommen bis zum Rio Juruá, bis Carababa. Dort fragen Sie nach Ricardo Peres. Das ist ein Mann, der den Indianern den Rohkautschuk abkauft. Bestellen Sie ihm Grüße von Großvater Jaime. Dann weiß er, wer Sie geschickt hat.«

Plötzlich stand auch eine rote Signalleuchtkugel unter dem blauen Himmel und verglühte sofort wieder.

Sie war verflucht nahe. Der Ring der Dschungelsoldaten zog sich lautlos zusammen. Näher und näher kam die tödliche Gefahr.

»Komm!« Dr. Forster ergriff Ellen und schob sie vor sich her. »Cliff werden wir wiedersehen … er ist beweglicher ohne uns.«

Bevor sie in dem Gewirr von Farnen, Lianen, Büschen und bewachsenen Bäumen untertauchten, blickte sich Ellen noch einmal um. Cliff und Campofolio trennten sich auch … seitwärts gingen sie in den Wald hinein.

»Cliff!« sagte Ellen leise. »Cliff, ich liebe dich …« Dann warf sie sich herum und rannte Dr. Forster nach, der sich seinen Weg durch einen wogenden Farnwald bahnte.

Nach knapp einer Stunde trafen sie aufeinander.

Campofolio war der erste, der im Dickicht die grün-gelb gefleckten Tarnuniformen der brasilianischen Spezialtruppe entdeckte. In einer Reihe, weit auseinandergezogen, aber doch so eng, daß man die Zwischenräume gut überblicken konnte, rückten sie vor. Wie Treiber auf der Jagd. Menschenjäger, die den einzigen Auftrag hatten: Vernichten.

Campofolio war nie Soldat gewesen, er hatte auch nicht das Zeug zu einem Helden, und nie hätte er bis zu diesen Minuten geglaubt, daß er einmal eine heldenhafte Tat vollbringen müßte. Jetzt aber dachte er nur an Ellen Donhoven und an die große Chance für sie, durchzukommen, wenn er die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich zog.

Er wollte keinen töten, er wollte sie nur aufhalten, und entgegen der Meinung Cliffs war er der Ansicht, daß auch ihn niemand töten würde, wenn er nur in die Luft schoß. Er war eben bloß ein Wissenschaftler und dachte normal … mit Soldaten, die einen festen Auftrag haben, hatte er noch nie zu tun gehabt.

Campofolio tat, was er für gut und ungefährlich hielt: Er warf sich in Deckung und schoß in die Luft. Sofort verschwanden die Uniformen und ein Hagel von Geschossen umjaulte den geschützt liegenden Campofolio. Cliff Haller nahm diese Chance wahr – er kroch seitlich durch die Lücke zwischen zwei schießenden Soldaten, blieb auf gleicher Höhe mit ihnen im hohen Farn liegen und wartete. Mit Schrecken hörte er, als der erste Schußwechsel vorüber war, die Stimme Campofolios:

»Soldaten!« schrie er aus seinem Versteck. »Nicht schießen! Ich bin ein Freund! Ich werfe die Waffe weg! Ich bin Mitglied einer Expedition. Nicht schießen!«

»Dieser Idiot!« knirschte Cliff Haller. »Dieser arme Idiot!«

Auf der Lichtung erschien jetzt Campofolio, waffenlos, mit erhobenen Armen. Cliff hörte ein paar Soldaten lachen … dann ratterten kurz die Maschinenpistolen und überdeckten den Todesschrei Campofolios.

Cliff blieb liegen, bis die Soldaten neben ihm weiterrannten und sich um den Erschossenen scharten. Dann kroch er langsam weiter, bis er sicher war, daß man ihn nicht mehr hören konnte, und rannte in einem Bogen in die Richtung, die Ellen und Dr. Forster eingeschlagen hatten. Sie schienen Glück gehabt zu haben – in ihrer Gegend war alles still. Dr. Forster hatte sich einfach von den Soldaten überrollen lassen. In einem dichten Gebüsch, in einer Mulde mit fauligem Wasser, lagen er und Ellen dicht beieinander, hörten das Schießen hinter sich und wagten kaum zu atmen. Keine drei Meter neben ihnen brachen zwei Soldaten durch das Dickicht,kleine, drahtige Kerle mit gefleckten Mützen und Maschinenpistolen.

»Dieses Mal ist es gutgegangen …«, flüsterte Forster, als die Linie der Suchtruppe über sie hinweggegangen war. »Aber sie werden nicht locker lassen. Es gibt keinen Bluthund, der umkehrt, wenn er die Spur gerochen hat.«

Sie warteten über eine Stunde, ehe sie weiterkrochen und sich dann endlich wieder aufrecht gehend durch den Urwald schlugen.

Am Abend, nach dem großen Regen und einem glühenden, dampfenden Nachmittag, warfen sie sich in einem Windbruch auf den Boden und schliefen Sekunden später vor Erschöpfung ein.

Schlangen? Wildkatzen? Giftige Spinnen? Skorpione?

Alles, alles war gleichgültig. Nur schlafen … schlafen … Der Körper war aus Blei.

Die bernsteinfarbene Frühsonne weckte sie. Es roch nach Rauch in ihrer Nähe, sie zuckten beide zur gleichen Zeit hoch und sahen sich um. Dr. Forster riß das Gewehr an die Wange.

Etwas abseits von ihnen saß Cliff Haller vor einem Feuerchen und briet ein Stück Fleisch. Es war ein großer Vogel, fast so groß wie ein Huhn.

»Guten Morgen«, sagte Cliff gemütlich. »Ich wußte gar nicht, daß du schnarchst, Ellen. Das beruhigt mich – ich schnarche nämlich auch.«

»Cliff!« Sie sprang hoch und stürzte in seine Arme. »Cliff … du … du …« Weiter konnte sie nicht sprechen. Schluchzen würgte ihre Stimme ab. Dr. Forster blickte sich um. Cliff hob die Schultern und nickte über den Kopf Ellens hinweg.

»Campofolio hat's erwischt«, sagte er gepreßt. »Sie haben ihn erschossen, als er mit hocherhobenen Armen aus seiner Deckung kam. Wir wissen also, was uns erwartet!«

»Jetzt sind wir nur noch drei.« Dr. Forster wischte sich über das Gesicht. Wie Cliff trug auch er jetzt einen wirren Vollbart. »Wer wird der nächste sein?«

»Keiner.« Cliff Haller streichelte Ellens zuckenden Kopf. »Ich garantiere Ihnen, Doc … wir kommen durch!«

Am Rio Juma erfuhr José Cascal in dieser Stunde bereits durch Funk, daß die Suche nach Cliff Haller vergeblich verlaufen war. Man hatte Campofolio erschossen, natürlich irrtümlich. Die Soldaten seien nervös gewesen, meldete der Kommandeur der Truppe. Und außerdem habe der Mann zuerst geschossen. Ob in die Luft oder nicht … das kann man im Urwald schließlich schlecht feststellen.

»Auf jeden Fall wissen wir jetzt, welche Richtung Haller einschlägt«, sagte Cascal in seiner Hütte am Rio Juma. Er stand vor der Karte und zeigte einem jungen Leutnant den Weg, den Cliff nach den Gesetzen der Logik gehen mußte. »Er wendet sich nach Osten und wird den Rio Repartimento überschreiten. Es ist ganz klar, daß er zum Rio Juruá will. Verflucht, das hätte ich mir denken können. Am Juruá kann er untertauchen, sich ein Boot kaufen und ungehindert bis Fonte Boa am Amazonas treiben. Wir sitzen hier am völlig falschen Ende, Leutnant!«

Zwei Stunden lang flogen die Meldungen zwischen dem Rio Juma und der Kommandantur in Manaus hin und her. Zwei Stunden lang zirpte es in den Geräten. Dann baute General Aguria einen neuen Sperrgürtel auf: Alle Orte am Rio Juruá wurden benachrichtigt, mit Wasserflugzeugen wurden zwei Kompanien nach Carauari, der größten Siedlung am Mittellauf des Juruá geflogen, kleine, schnelle Motorboote nahmen die Kontrolle des Abschnittes zwischen Carauari und Vista Alegre auf – die mit den Weißen freundschaftlich verkehrenden Indios wurden mit einem Kopfgeld gelockt und beobachteten den Fluß Meter um Meter. In Fonte Boa wurde jedes aus dem Wald kommende Boot durchsucht. Bei dem Kautschukaufkäufer Ricardo Peres quartierte sich ein Feldwebel mit sieben Soldaten ein. Das war ein Zufall, und Peres hütete sich, dagegen zu protestieren. Er hatte das größte Haus am Fluß und gab sich so national, daß keiner Verdacht schöpfte. »Diese amerikanischen Hunde!« pflegte er zu schimpfen. In der Nacht aber funkte er zu seinem nächsten Kontaktmann: »Mein Bruder ist unterwegs. Er wird sehr müde sein.« Im Klartext hieß das: Cliff wird umgeleitet. Wartet weitere Nachrichten ab. Keine Anfragen.

Cascals taktische Maßnahmen legten ein Netz um Cliff Haller. Mit Rita Sabaneta flog Cascal am nächsten Tag hinüber zum Rio Juruá und schlug seine Kommandostelle in Xué auf – dem Kautschuksammlerdorf, das dem Quellgebiet des Rio Repartimento am nächsten lag.

***

Am vierten Tag nach ihrem Durchbruch durch den Ring der Soldaten wurden sie erneut umzingelt. Cliff Haller merkte es erst, als rund um sie herum der Wald lebendig wurde und rotbraune nackte Gestalten mit Blasrohren und Pfeilen lautlos wie Gespenster auftauchten. Ellen stieß einen hellen Schrei aus, Dr. Forster riß das Gewehr hoch, aber Cliff schlug ihm den Lauf herunter.

»Keine Bewegung!« zischte er. »Keine Gegenwehr. Um Gottes willen, behaltet die Nerven! Wir können zehn von ihnen töten und haben fünfzig Giftpfeile im Körper. Sie wollen uns nicht umbringen, sie kommen in friedlicher Absicht.«

»Woher wollen Sie das wissen?« Dr. Forster stellte sich vor Ellen. Er deckte sie mit seinem Leib. Es war eine sinnlose Geste der Ritterlichkeit und konnte sie wirklich nicht schützen.

»Hätten sie uns töten wollen, wäre das längst aus ihren Verstecken heraus geschehen. Sie wollen uns mitnehmen. Uns mit den Giftpfeilen umzublasen, ist doch jetzt keine Kunst mehr.«

Ein großer, muskulöser Indianer trat aus dem Kreis der Nackten heraus und hob beide Hände. Er zeigte die Handflächen und Cliff nickte. Das Zeichen der Wehrlosigkeit, des Verhandelns. Er zeigte ebenfalls seine Hände und kam dem großen Krieger entgegen.

Was der Indianer sagte, verstand Cliff nicht. Aber er deutete die Zeichen richtig, die dieser machte … ein Kreisen, ein Deuten in den Wald, das Abbild einer Hütte mit den Fingern zeigend. Cliff lächelte und gab dem Indio die Hand.

»Er läd uns ein in sein Dorf«, sagte er zu Ellen und Dr. Forster. »Wir sollen keine Angst haben. Er bietet uns eine Hütte an.«

»So wie man eine Maus mit Speck in die Falle lockt.« Dr. Forster stand noch immer schützend vor Ellen.

»Nein! Wir sind hier im Urwald, Doc, vergessen Sie das nicht. Hier kennt man kein zivilisiertes Um-die-Ecke-Denken. Hier ist Ehrlichkeit die einzige Moral – im Töten wie in der Gastfreundschaft. Gehen wir mit ihnen.«

»Und wenn sie uns doch töten?«

»Wie wollen Sie das noch verhindern?« Cliff lächelte säuerlich. »Uns bleibt nur noch die Chance, an Überraschungen zu glauben …«

Umgeben von den Indianern, zogen sie stundenlang durch einen fast nachtdunklen Urwald, in einem Tunnel, den die Indios durch das Blätterdach geschlagen hatten. Der Pfad endete an einem Fluß, an dem zehn große Boote lagen … mächtige Einbäume, in denen bis zu zwanzig Krieger Platz hatten. Cliff deutete erfreut auf die Urwaldflotte.

»Sag' ich es nicht … sie holen uns als Gäste ins Dorf. Um aus uns Schrumpfköpfe zu machen, brauchten sie sich nicht die Mühe zu machen, uns mitzuschleppen.«

Die Fahrt auf dem trägen Fluß stromaufwärts dauerte bis zum Abend. Lautlos glitten die Kanus durch den Fluß, nur das Klatschen der Paddel und der Stoßstangen unterbrach die heiße, feuchte Stille. Dann weitete sich der Fluß, die Ufer wurden lichter, und auf einem aus dem Wald gehauenen Plateau sahen sie die Hütten des Dorfes, runde spitz zulaufende Bauten, gedeckt mit riesigen Blättern und geflochtenen Zweigen. Schweine und Hunde rannten am Ufer hin und her, die Ankunft der Boote war durch die Beobachter ausgerufen worden, aus den Hütten und von den kleinen Gärten am Waldrand liefen die Frauen zum Fluß, alle nackt, mit einer goldbraun glänzenden Haut – schlanke, schöne Gestalten von wundervollem Ebenmaß.

An einer fast europäisch anmutenden Landungsbrücke aus Holzplanken und in den Fluß gerammten Stämmen sammelten sich die anderen Krieger. Ein Wald von Federn und Lanzen, eine Mauer aus Muskeln und bemalter, leuchtender Haut. An der Spitze der Männer stand, vorne am Steg, ein Indio, dessen Kopfputz aus Paradiesvogelfedern im Abendwind wehte … eine Federkrone aus roten, goldenen, blauen und schillernden Kostbarkeiten. Die Schwanzfeder eines goldenen Paradiesvogels ist mehr wert als zehn Köpfe der Feinde. »Der Häuptling …«, sagte Cliff Haller und hob grüßend die Hand. Der Krieger mit dem reichen Federputz grüßte zurück.

Vorsichtig legten die Boote an. Hilfreiche Hände hoben Ellen Donhoven an Land und trugen sie fast bis zu dem Häuptling.

»Das ist doch nicht möglich …«, stammelte sie, als der Mann mit dem Federschmuck auf sie zukam und ihr seine Hand entgegenstreckte. »Das ist doch nicht wahr!« Und dann warf sie die Arme hoch und breitete sie aus, und ihr Schrei war so laut, daß Cliff und Dr. Forster entsetzt herumfuhren.

»Moco!« schrie Ellen. »Moco! Du bist das!«

»Willkommen, Señorita, in meinem Land«, sagte Moco, beugte sich über Ellens Hand und küßte sie, wie er es in Manaus bei den vornehmen Weißen gesehen hatte. »Mein Volk heißt Sie willkommen.«