Drittes Kapitel

José Cascal erwachte aus seiner Besinnungslosigkeit und rollte sich stöhnend auf den Bauch. Wie lange er nach dem Niederschlag durch Cliff Haller ohnmächtig neben dem Feuer gelegen hatte, konnte er nicht sagen – es mußte eine lange Zeit gewesen sein, denn das Feuer war fast erloschen. Die fahle Nacht lag über Urwald und Fluß, die Grüne Hölle war von Tausenden Stimmen und Geräuschen erfüllt. In das Zwitschern, Flattern und Kreischen der Nachtvögel mischte sich auch ein leises Stöhnen, das Cascal völlig in die Wirklichkeit zurückbrachte. Er richtete sich auf und wischte sich ein paarmal über das zerschundene Gesicht. Dann stand er auf, schwankte herum wie ein Betrunkener, hielt sich an einem Baumstamm fest und schüttelte die letzte Betäubung von sich wie ein Hund das Wasser aus seinem Fell.

Dieses Stöhnen. Eine Frauenstimme. Aus der Dunkelheit jenseits des Feuers am Waldrand. Cascal erinnerte sich wieder … der sinnlose Angriff auf Cliff, diesen Bullen von einem Kerl, die nackte Rita, die bettelnd vor Haller auf die Knie fiel, das lähmende Entsetzen der anderen, die hilflos herumstanden …

»Rita!« rief Cascal leise. Und dann lauter, da er keine Antwort bekam: »Rita! Rita!«

»Ja … hier … José …« Ein flatternde Stimme, heiser vom verzweifelten Schreien, ohne Ton, nur noch ein Keuchen. Cascal schwankte durch die Dunkelheit, dem Ton nach, zog einen glimmenden Ast aus dem verlöschenden Feuer und schwenkte ihn ein paarmal schnell im Kreis um sich selbst, damit die Funken zur Flamme aufglühten. Als der Ast brannte und das Licht des Feuers gespenstisch und zuckend die nähere Umgebung aus der Nacht schälte, tappte er weiter und sah Rita. Sie hing nackt in den Stricken, mit denen Cliff sie an den Baum gebunden hatte, ihr Kopf pendelte hin und her und die langen schwarzen Haare wehten dabei wie ein Totenschleier.

»Dieses Schwein …«, stammelte Cascal. »O Gott, verzeih mir, wenn ich ihn umbringe wie Ungeziefer.« Er schwankte noch immer ohne Kraft in den Beinen zu Rita und löste mit zitternden Fingern die Knoten. Als die Stricke nachgaben, fiel Rita in sich zusammen, als habe sie keine Knochen mehr. Sie rollte auf den Boden, breitete die Arme aus und schloß die Augen.

Cascal riß sich sein Hemd vom Körper, taumelte zum Fluß, tauchte es in das Wasser und rannte zurück zu Rita. Mit dem nassen Hemd massierte er ihren Kopf, die Brüste und den ganzen Körper, rieb ihre Schläfen und die Herzgegend, küßte und streichelte sie und ließ dann wieder das nasse Hemd auf ihren Leib klatschen, immer und immer wieder, bis sie sich bewegte, tief einatmete, die Augen aufschlug und Cascal mit ihren großen braunen Augen ansah wie ein sterbendes Tier.

»Wo … wo ist er?« fragte sie kaum hörbar. Cascal umarmte sie, eine irrsinnige Freude durchströmte ihn, er küßte Rita wieder und bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Ich liebe sie wirklich, dachte er und wunderte sich, daß er überhaupt eines solchen Gefühles fähig war. Zuerst sollte es nur eine Rache an Cliff sein – jetzt war es sein eigenes Schicksal geworden.

»Sie sind weg … alle … Ich weiß nicht, wie lange ich gelegen habe.« Er umfaßte sie mit beiden Händen und küßte sie auf die Augen. »Wie geht es dir, favorita …?«

»Ich möchte sterben, José …«

»Warum? Wegen eines Mannes wie Cliff? Er ist ein Satan, Rita! Wir werden ihn jagen wie einen Jaguar …«

»Wir? Wer ist wir?«

»Du und ich und meine Freunde.«

»Ich bin so müde, José, so todmüde.« Sie legte ihre kalten Finger auf seine Hände. »Was können wir tun? Er ist stärker als wir alle!«

»Das glaubst du nur. Du weißt nicht, was hinter uns steht. Warte es ab!«

Er schob sich unter ihr weg, bettete ihren Kopf auf das zusammengeknüllte nasse Hemd und erhob sich. Mit dem brennenden Scheit ging er den Lagerplatz ab und entdeckte sein und Ritas Gepäck, das Cliff zurückgelassen hatte. Wer hätte es auch tragen sollen? Mit letzter Kraft schleppte er sein Bündel an das Flußufer, schnürte es auf und suchte fieberhaft in den vielen einzelnen Paketen und Schachteln. Dann sah er auf die Uhr, die er am linken Handgelenk trug und begann, einen länglichen dunklen Gegenstand zusammenzuschrauben. Rita Sabaneta hob den Kopf.

»José!« rief sie ängstlich.

»Hier bin ich. Am Fluß. In einer Stunde sind wir heraus aus der Hölle!« Cascal hob den dunklen Gegenstand hoch. Es war eine Art überschwere Pistole. Auf dem Lauf steckte eine längliche, runde Hülse in Form einer kleinen Rakete. »In zehn Minuten müssen sie über uns sein … und in spätestens einer Stunde holen sie uns hier weg … Es war Cliffs größter Fehler, uns nicht gleich totzuschlagen.«

Cascal legte die große Pistole neben sich und warf sich am Ufer auf den Rücken. Auch Rita ließ sich zurücksinken. Ihr zerschundener, mißhandelter Körper brannte und juckte. Aber noch heißer zerfraß der Haß auf Cliff Haller und Ellen Donhoven ihr Herz. Sie klapperte mit den Zähnen vor innerer Erregung und krallte die Nägel in den weichen Waldboden.

»José!« rief sie. Ihre Stimme hatte wieder einen volleren Klang, war aber dennoch schrill vor loderndem Haß.

»Favorita?«

»Wer bist du? Wer bist du wirklich?«

»Ich erkläre es dir später. Noch fünf Minuten – da, hörst du?«

Leises Brummen. Noch weit weg, ein dunkles Summen nur zwischen den Tausenden Nachtstimmen des Urwaldes, aber schnell näherkommend, wachsend wie ein Donnergrollen.

»Flugzeuge«, murmelte Rita. Sie setzte sich und beobachtete Cascal, der aufgesprungen war, am Ufer des Tefé stand und die schwere Pistole hoch über seinen Kopf in den Nachthimmel hielt.

Das dumpfe Brummen war nun fast über ihnen. Cascal drückte ab. Ein dumpfer Knall, die kleine Rakete schoß empor in das Schwarz des Himmels und zerplatzte dort. Ein roter Ball schwebte sekundenlang an einem winzigen Fallschirm durch die Luft und versank dann nahe dem jenseitigen Ufer im Fluß.

Noch dreimal schoß Cascal seine roten Leuchtkugeln ab, dann kam er zu Rita zurück und umarmte sie.

»Wir sind gerettet«, sagte er. »Du wirst ein richtiges Bett haben, ein Arzt wird dich untersuchen, man wird dich pflegen wie eine Prinzessin … und dann werden wir Cliff töten.«

Sie nickte stumm, legte den Kopf an seine Brust und starrte über den Fluß. »Wer bist du?« fragte sie nach langer Zeit erneut. Cascal küßte sie in die Halsbeuge und streichelte ihren glatten, herrlichen Körper.

»Ich bin José Cascal, Hauptmann der brasilianischen Armee und Mitglied des Geheimdienstes, Sektion Manaus. Das ist alles.«

»Geheimdienst!« Rita starrte Cascal aus weitgeöffneten Augen an. »Von Anfang an hast du Cliff gejagt …«

»Nein. Ich wußte gar nicht, daß es ihn gibt. Unser Zusammentreffen war zufällig. Aber welch ein Glück, daß wir uns trafen! Hat er dir erzählt, was er hier im Urwald von Tefé suchte?«

»Nein. Nie. Aber jede Nacht funkte er. Wir wären drei Tage später aufgebrochen und weitergezogen, so war's geplant – da trafen wir auf euch.«

»Wo hast du ihn kennengelernt?«

»In Rio. In einer Bar. Ich tanzte dort.«

»Und bist mit ihm sofort in den Urwald gegangen?«

»Ich habe ihn geliebt, José. Er war ein Mann wie aus einem Bilderbuch. Ich war wie betäubt in seinen Armen.« Sie legte den Kopf zurück und küßte Cascal. »Jetzt weiß ich, in wieviel Verkleidungen der Teufel auftreten kann – ich werde ihn töten, José!«

»Nicht du – ich werde es tun! Und du sollst zusehen, wie man dem Tod eines Stieres in der Arena zusieht.«

Dann lagen sie nebeneinander auf dem weichen Waldboden, eng aneinandergeschmiegt, aber ohne sich zu lieben … nur das Gefühl, daß der eine dem anderen nahe war, daß ihre Haut sich berührte, war ihnen Seligkeit genug.

Nach knapp einer Stunde hörten sie ein helles Schwirren in der Luft. Cascal zeigte zum Himmel und lachte.

»Da sind sie!« rief er. »Sie holen uns! Wenn der Morgen kommt, liegst du in einem weiß bezogenen Bett …«

Sie liefen zu den zurückgelassenen Gepäckstücken. Rita zog ein einfaches Baumwollkleid an, Cascal suchte ein Hemd heraus, und kurz darauf zuckte hell über den Rio Tefé der Lichtstrahl eines Scheinwerfers. Ein Hubschrauber mit Schwimmern unter dem Rumpf senkte sich langsam auf den Fluß, wasserte vorsichtig, die Rotorflügel drehten sich mit halber Geschwindigkeit, das Brüllen des Motors erstarb, und leise brummend glitt der Hubschrauber auf den Pontos zum Ufer.

Cascal rannte hinunter zum Fluß. Mit ausgebreiteten Armen lief er in den Strahl des Scheinwerfers, der jetzt den Urwald abtastete. »Amigos!« schrie er. »Hierher! Hierher!«

Die Kanzel des Hubschraubers öffnete sich, ein Schlauchboot klatschte ins Wasser, ihm folgte ein Mann in lederner Uniform und dickem Fliegerhelm. Cascal drehte sich um. Rita kam in den Strahl des Scheinwerfers gelaufen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Sie lachte, während ihr die Tränen über das zuckende Gesicht rannen, und Cascal nahm sie auf seine Arme und trug sie hinunter zu dem Gummiboot.

»Sie sind gekommen«, stammelte Rita. »Sie holen uns heraus. Ich habe es nicht geglaubt, José … ich habe es wirklich nicht geglaubt!«

Zwei Stunden später lag sie in einem weichen, weiß bezogenen Bett, wie es ihr Cascal versprochen hatte, ein Arzt und zwei Krankenpfleger bemühten sich um sie, gaben ihr ein kräftiges Essen und dann einige Beruhigungsinjektionen, denn sie fing wieder an, hysterisch zu weinen.

Sie war in eine andere, geheimnisvolle, unbekannte Welt gekommen, deren Anblick sie einfach übermannte und dann erneut zerbrach.

***

Zehn Tage wanderten sie auf schmalen Pfaden durch den Urwald, durch glutheiße, dampfende Tage mit Schwärmen von Mücken, durch warme, faulig riechende Nächte, begleitet von unsichtbaren Tieren, deren Fauchen und Kreischen neben ihnen herschlich.

Cliff Haller hatte es aufgegeben, die drei anderen Männer wie Hammel vor sich herzutreiben. Dr. Forster, Pietro Campofolio und Rafael Palma waren keine Gegner für ihn. Stumpfsinnig rissen sie ihre Kilometer herunter, schleppten sie ihre Lasten durch den dampfenden Urwald, lagen in der Nacht erschöpft, wie tot neben dem Feuer und dachten nicht daran, gegen Cliff etwas zu unternehmen. Was sollte man auch tun? Ihn umbringen? Und dann? Um sie herum war Hunderte Kilometer weit nur die Grüne Hölle, war unentdecktes, jungfräuliches, feindliches, verfluchtes Land mit Flüssen, Sümpfen, Dschungel und Regenwald … es gab nur noch ein Vorwärts, kein Zurück mehr, und dieses Vorwärts bestimmte allein Cliff Haller, der anscheinend als einziger wußte, wo einmal der Weg enden würde. Ellen Donhoven blieb bei Dr. Forster. Seit der Nacht, in der Cliff die mißhandelte, nackte Rita an den Baum gebunden und zurückgelassen hatte, war sie Haller aus dem Wege gegangen. Seine Annäherungen wies sie grob ab. Dreimal in diesen zehn Tagen versuchte er, sie zu sich zu ziehen. Er setzte sich eines Abends neben sie ans Feuer und legte die Hand auf ihre angezogenen Knie. Sie wischte sie weg, wortlos, wie man ein Insekt verjagt.

»Baby, ich muß einiges klären, glaube ich«, sagte Cliff und blickte Dr. Forster herausfordernd an, der auf der anderen Seite neben Ellen saß und einen Fisch an einem Stecken in der glühenden Asche des Feuers briet.

»Es gibt nichts mehr zu sagen!« antwortete Ellen steif.

»So? Meinst du?« Cliff grinste verlegen. »Da ist die Sache mit Rita.«

»Ich will davon nichts hören!«

»Es wird aber nötig sein.«

»Sie haben sich benommen wie … wie … Mir fehlt jeder Vergleich!« rief Dr. Forster erregt.

»Das ist gut!« Cliff ließ sich nach hinten fallen und stützte den Kopf auf seine Unterarme. »Ohne unbescheiden zu sein, könnte man sagen, ich bin unvergleichlich. Baby – ein Stichwort: Ich bin in einer politischen Mission hier.«

»O Gott! Der neue James Bond!« rief Dr. Forster. »Verstecken sich hier im tiefsten Urwald geheime Städte, in denen Mondraketen hergestellt werden?«

Cliff Haller richtete sich ruckartig wieder auf. Sein Gesicht war sehr ernst. »Sie wissen gar nicht, wie nahe Sie dran sind, Doc! Es ist jetzt nicht die Stunde, Ihnen Erklärungen abzugeben, aber glauben Sie mir, es war nötig, Cascal auszuschalten.«

»Erzählen Sie uns keine Heldengeschichten, Cliff!« Dr. Forster erhob sich und zog den gebratenen Fisch aus der Asche. Er zerteilte ihn und schob den Teller Ellen auf den Schoß. »Sie sind ein eiskalter Hund.«

»Bin ich.« Haller war weit davon entfernt, beleidigt zu sein. »Ich muß es sein. Und die Sache mit Rita? Sie wechselte über. Sie schloß sich Cascal an. Verdammt, ich war human genug, sie überhaupt leben zu lassen. In unserem Beruf bedeutet Aussteigen soviel wie ins Grab legen. Daß ich Rita nicht in den Fluß geworfen habe, werden wir vielleicht alle einmal bereuen, und dann hilft kein Zetern mehr, Leute.«

»Wer sind Sie wirklich, Cliff?« fragte Campofolio. Er lag auf der anderen Seite des Feuers, fror und schwitzte in schnellem Wechsel. Das Fieber hatte ihn gepackt und laugte ihn aus.

Dr. Forster gab ihm Chinintabletten und pumpte ihn mit Injektionen voll. Sie drückten das Fieber zwar herunter, machten Campofolio aber schlapp und hüllten ihn in eine lähmende Müdigkeit. »Sie suchen hier doch keine seltenen Schmetterlinge …«

»Nein.« Cliff Haller blickte Ellen scharf an. »Ich habe einen festen Auftrag.«

»Von wem?« fragte Dr. Forster.

»Vom lieben Gott, wenn Sie wollen. Auf jeden Fall spiele ich eine Art lieber Gott. Ich muß etwas verhüten.«

»Hier, wo noch nie ein Mensch gewesen ist? Halten Sie uns alle für Idioten?«

»Nicht alle.« Cliff wandte sich wieder an Ellen. »In zwei Tagen haben wir es nach meiner Berechnung geschafft.«

»Nein!« Ellen stellte den Teller mit dem halb gegessenen Fisch auf die Erde. »Ich habe es mir überlegt – wir kehren um!«

»Was?« Dr. Forster, Campofolio und der bereits im Halbschlaf liegende Palma fuhren herum. Nur Haller blieb ruhig. Sein Gesicht wurde kantig, wie aus Stein gehauen.

»Was soll das heißen?« rief Palma. »Alles war umsonst?«

»Ich habe keine Lust mehr.« Ellen Donhoven sah Cliff kampflustig an. »Ich erkläre meine Expedition für gescheitert und kehre auf dem schnellsten Wege zu den Booten zurück.«

»Endlich werden Sie vernünftig, Ellen«, sagte Dr. Forster und legte den Arm um ihre Schulter. Cliff Haller schüttelte den Kopf.

»So viel Dummheit auf einem Haufen, das tut weh!« sagte er laut. »Sehen wir davon ab, daß von den Booten keines mehr übrig ist, denn die haben die Indios längst geklaut … Warum zurück? Das Ziel liegt vor uns! Das Quellgebiet des Rio Tefé und Rio Itanhaua. In zwei Tagen kommen wir in das Gebiet der Jumas – da haben Sie Ihre Pfeilgifte, Mylady.«

»Ich verzichte darauf.«

»Gut! Rennen wir mit den Köpfen gegeneinander!« Cliff blickte auf Ellen, die mit geballten Fäusten aufgesprungen war. »Ich bin Major Cliff Haller. Angehöriger des amerikanischen CIA. Spezialagent mit einem ganz bestimmten Auftrag.« Er lächelte schwach. »Ist die Richtung jetzt klar, Miß Ellen?«

»Nein!« Ellen Donhoven schüttelte wild den Kopf. »Ihr CIA und Ihr Major sind mir Wurscht!«

»Aber es dürfte Ihnen nicht ›Wurscht‹ sein, was knapp zwei Tagesmärsche von uns entfernt mitten im Urwald aufgebaut ist. Auf keinen Fall ist es mir und meinem Land egal! Wir müssen hundertprozentige Gewißheit haben. Und ich sage Ihnen eines ganz klar, Gentlemen: Wer sich ab sofort weigert, so zu handeln, wie ich es will, dem vermittle ich das Gefühl, eine Kugel im Schädel zu haben.« Cliff Haller klopfte auf seine Hosentasche. Jeder wußte, daß dort seine Pistole steckte. Er würde sie schneller ziehen können, als die anderen sich auf ihn stürzten. Major des CIA, des amerikanischen Geheimdienstes, einer jener Männer, denen man nachsagt, sie könnten dem Teufel den Schemel unterm Hintern stehlen, ohne daß er es merkt.

Dr. Forster war der erste, der sich in diese neue Lage fand. Er schob sich zwischen Ellen und Cliff.

»Und was wird dann?« fragte er. »Was wird, wenn Sie Ihr verdammtes Urwaldgeheimnis entdeckt haben?«

»Das ist eine heikle Frage.« Cliff kratzte sich den Kopf. »Fragen Sie, wenn Sie mit einer Frau zusammen sind, auch immer, was hinterher kommt?« Er winkte ab, als Forster etwas entgegnen wollte. »Eines verspreche ich Ihnen: Ich werde dafür sorgen, daß wir aus diesem Mistland wieder herauskommen und daß Miß Ellen ihre dämlichen Pfeilgifte mitbringt. Für den Rückweg haben wir mehr Zeit als für den Hinmarsch. Müssen wir mehr Zeit haben, denn es wird kreuz und quer durch die Landschaft gehen.«

»Und wenn ich bei alledem nicht mitspiele, Cliff?« rief Ellen.

»Das wäre schade, Baby. Dort, wohin wir kommen, macht man keinen Unterschied zwischen Mann und Frau – man knallt sie ab, sobald sie den Kopf heben!«

»Und das wußten Sie alles im voraus!« knirschte Dr. Forster.

»Ja.«

»Und trotzdem führten Sie Ellen in diese Gefahr.«

»Es war der einzige Weg, Doc. Ohne mich und mit Cascal allein wären Sie nicht mehr weit gekommen. Aber das werden Sie erst später begreifen. Wer hat wohl Moco in den Fluß gestoßen? Wer hat Alexander Jesus und Fernando Paz vergiftet? Wer wohl?«

»Cascal? Sie sind verrückt, Cliff.«

»Und Sie sind blind, Doc! Los, Freunde, legt euch hin und schlaft endlich. Morgen früh geht's weiter, und wir brauchen alle Kraft, ich auch.«

***

Gegen Morgen des zweiten Tages – sie waren schon beim ersten Sonnenstrahl aufgebrochen und zogen hintereinander durch den modrig stinkenden Dschungel – blieben Cliff und Ellen Donhoven plötzlich stehen. Von weitem kam ein Geräusch zu ihnen, das ihnen neu war. Es klang, als rausche ein ununterbrochener Tropenregen nicht weit von ihnen über den Wald … Wassermassen, die in die Bäume klatschten. Cliff holte seine Fotokarte aus der Tasche und zeigte auf den Flußlauf ohne Namen.

»Das ist ein Wasserfall«, sagte er. »Auf dem Flugbild ist nichts zu sehen, aber es ist ohne Zweifel ein Wasserfall.« Er ließ die anderen aufholen und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Ferne. »Was ist das?«

Campofolio hob die Augenbrauen. »Kann ein Wasserfall sein. Aber ein Mordsding. Steht nichts in der Karte?«

»Nein.«

»Dem Rauschen nach muß es ein Fall sein wie der Niagara«, sagte Dr. Forster hämisch. »Hat man Sie ausgeschickt, Major, um die Konkurrenz zu besichtigen?«

»So ähnlich.« Cliff warf seine Last ab, die anderen folgten ihm. Die Hitze stand flimmernd zwischen den riesigen Bäumen, der sumpfige Boden schien zu dampfen. Jeder Atemzug war eine Anstrengung, schien die Lunge zu zersprengen. Der Schweiß drang aus den Poren wie aus einem zusammengedrückten Schwamm. Ein höllisches Klima. »Schluß für heute! Schlagen wir einen Lagerplatz auf. Kein offenes Feuer, Leute, keinen Rauch! Campofolio, Sie haben den Gaskocher im Gepäck. Wieviel Gasflaschen haben wir noch?«

»Drei kleine Patronen.«

»Das muß reichen. Kein unnützes Kochen! Es kann sein, daß wir hier eine Woche herumliegen.« In Cliff war eine bohrende, vorwärtstreibende Unruhe erwacht. Er benahm sich wie ein Schüler vor einer Prüfung. Sieh an, dachte Ellen, auch er hat auf einmal Nerven. Was ist das für ein verdammter Wasserfall, den wir hören?

»Wir sind also nahe an Ihrem Ziel, Mr. Major?« fragte sie spöttisch. »Und wir dürfen darauf warten, was der große amerikanische Geheimdienst nun mit uns und den anderen macht.«

»So ähnlich, Ellen.« Cliff war auf einmal sehr ernst. Er hatte sich in der letzten halben Stunde sehr verändert. »Ich werde Sie nicht in Gefahr bringen. Ich werde alles tun, um Sie aus diesem Geschäft herauszuhalten. Ich – verdammt will ich sein – ich liebe dich, Ellen … und ich will mit dir zurück an die frische Luft und dir Gelegenheit geben, den anderen Cliff kennenzulernen. Jetzt siehst du nur den Dreck … und ich muß so sein, denn es steht verflucht viel auf dem Spiel.«

Zwei Stunden lang hieben sie mit den Macheten einen Lagerplatz aus den Lianen und Büschen heraus, steckten starke Äste in den Boden und flochten Dächer aus breiten Blättern, Schlingpflanzen und biegsamen dünnen Zweigen. Unter diesen primitiven Schutzdecken stapelten sie das Gepäck und richteten sie ihre Schlafstellen ein. Cliff erwies sich dabei als schneller und geschickter Arbeiter … er hatte sein Schutzdach in Rekordzeit fertig und half den anderen dann bei ihrem Bau. »Gelernt in Florida, bei der Spezialausbildung«, sagte er. »Da hat man uns in den Sümpfen ausgesetzt, einfach abgeworfen aus dem Flugzeug, und neun Wochen mußten wir uns allein durchschlagen – mit einem Beil, einem Gewehr, hundert Schuß Munition und einem Messer. Es ging wunderbar. Wir haben uns Blätterhütten gebaut, Tassen und Teller geschnitzt, Matten geflochten … als sie uns wieder herausholen wollten, hatten sie Mühe, uns von dem schönen Leben loszureißen. Robinson hat gar nicht so schlecht gelebt …«

Am Abend machte sich Cliff Haller fertig zu seinem großen Alleingang. Er zog aus seinem Gepäcksack eine grüngelbgefleckte Uniform an, in der er schon nach wenigen Metern nicht mehr vom Wald zu unterscheiden war, lud zehn Pistolenmagazine und verstaute sie in den tiefen Taschen, rieb sein Gesicht mit Asche ein, bis es braungrau wurde, schnallte eine Machete in einer Lederscheide an seinen Gürtel und zog eine Art grobes, schwarzes Netz über seine Stoppelhaare. Als er fertig war, sah er aus wie ein riesiges, unbekanntes, furchterregendes Insekt.

Ellen Donhoven beobachtete ihn mit großen Augen. Dieser Mann blieb ihr ein Rätsel, und sich selbst betrachtete sie auch als ein Rätsel. Dr. Forster, das hatte sie in den letzten schrecklichen Tagen gesehen, war ein zuverlässiger, guter Freund, der immer zur Stelle war und half … aber Cliff Haller, das war mehr, das war die Faszination einer ungewöhnlichen Persönlichkeit, das war – bei aller Grausamkeit, die um ihn war – ein prickelnder Reiz … das war das Erlebnis des Außerordentlichen, das Herz einer Frau unwiderstehlich erobernde, nicht begreifbare Wilde im Menschen.

»Es ist wie in einem schlechten Film«, sagte Dr. Forster bitter. »Der große Held in Kampfkleidung. Wo haben Sie Ihre zusammenklappbare Kanone, Cliff? Wo Ihren aufblasbaren Hubschrauber? Und wo bleibt die Laserstrahlpistole? James Bond hatte das alles in der Tasche!«

»Ich brauche nur meine Augen und eine gute Kamera«, sagte Cliff. Er lud eine kleine, handtellergroße Kamera mit einem Spezialfilm, hängte sie an einer Nylonschnur um den Hals und stopfte sie in die grüngelbe Uniform. Campofolio umkreiste ihn wie eine Katze die Maus in der Falle. Palma lag müde unter seinem Blätterdach, sein Fuß stach noch immer, und das Gelenk war noch geschwollen. Es dauerte lange, bis sein Körper das Gift völlig verdaute.

»Kann es sein, daß wir uns nicht wiedersehen?« fragte Campofolio plötzlich.

Cliff zögerte und schielte zu Ellen hinüber. »Ja …«, antwortete er dann gedehnt. Und leise: »Sie Rindvieh!«

»Ist das wahr, Cliff?« Ellen sprang auf.

»Es ist alles möglich.« Haller kontrollierte noch einmal seine Automatikpistole mit dem kurzen, plumpen Schalldämpfer.

»Was wird dann aus uns?« fragte Campofolio ungerührt weiter.

»Wenn ich innerhalb von drei Tagen nicht zurück bin, zieht dem Geräusch des Wasserfalls entgegen. Irgend jemand wird euch dann auflesen und mitnehmen – ohne mich wird man euch als harmlos ansehen.« Cliff fuhr herum, als Ellen plötzlich hinter ihm stand und ihn anfaßte. Er schlang die Arme um sie, riß sie an sich, küßte sie, und sie hing wehrlos an seiner Brust und schloß die Augen. Ebenso plötzlich ließ er sie los, wirbelte herum und war mit ein paar tigerhaften Sätzen zwischen den Büschen verschwunden.

Dr. Forster stützte die wie betäubt dastehende Ellen. Seine Kehle war trocken wie ein Flußbett in der Wüste.

»Sie lieben ihn ja noch immer, Ellen …«, sagte er tonlos. »Was ist bloß mit Ihnen los?«

»Ich weiß es nicht, Rudolf. Ich weiß es nicht.« Sie lief zu ihrem Blätterdach, warf sich auf die Decke, vergrub das Gesicht zwischen den Unterarmen und begann wie ein Kind zu weinen.

***

Cliff Haller trabte durch den Urwald, schlug mit der Machete den Weg frei, wenn es nötig war, aber sonst vermied er jeden Lärm. Erst, als das Rauschen und Donnern des unbekannten Wasserfalls so laut wurde, daß alle anderen Geräusche dagegen verblaßten, nahm er keine Rücksicht mehr und hieb sich seinen Pfad durch das Lianen- und Dornengewirr.

Gegen Morgen kam er in ein Gebiet, das lichter wurde. Hier hatten Menschenhände den Urwald gerodet. Überall ragten die Baumstümpfe aus dem Boden, einen Meter über der Erde abgesägt. Man hatte ja Holz genug.

Hier wurde Cliff vorsichtig, verschmolz mit dem Wald, glitt vorwärts und sicherte nach allen Seiten. Das Gebrüll des nahen Wasserfalls übertönte alles, war überhaupt das einzige Geräusch, das alles andere auffraß.

Dreihundert Meter nach dem gelichteten Wald stand Cliff plötzlich vor einem hohen Drahtzaun. Er sah harmlos aus, engmaschig, befestigt an Eisenstützen.

Zwei Meter fünfzig hoch, schätzte Cliff. Und laut sagte er: »Idioten!«

Der Zaun war geladen mit Hochspannungsstrom. Ein paar Tiere, die tot, zum Teil verkohlt, vor dem Zaun lagen, verrieten es. Sie waren ahnungslos gegen den Draht gerannt und sofort verschmort. Solange der Zaun lautlos den Tod verbreitete, geschah nichts – erst wenn jemand mit einer Isolierzange ein Loch hineinschnitt und der Stromkreis unterbrochen war, würde irgendwo die Alarmklingel schrillen.

Cliff trat nahe an den geladenen Zaun heran und schätzte noch einmal die Höhe. »Man muß uns für Säuglinge halten«, sagte er zu sich. »Wozu haben wir Turnen gelernt?«

Er konstruierte ein wirksames und dabei so einfaches Hilfsgerät, mit dem er den Hochspannungszaun überwinden konnte: eine Schleuder. In der Nähe des Zaunes bog er mit starken Lianen einen dünnen Baumstamm so weit zur Erde, bis es im Holz zu knirschen begann. Dann hockte er sich in die Kronenäste, klammerte sich fest und zerhieb mit der Machete die Lianen. Wie mit einem Katapult wurde Cliff hoch in die Luft geschleudert, weit über den Zaun hinweg, und rollte sich dann auf der anderen Seite über den weichen Boden ab. Es gab ein paar Prellungen, Cliff spürte sie am Oberschenkel und an der linken Schulter, aber er brach sich nichts, streckte sich im Liegen und bewegte alle Glieder. Dann stand er auf und humpelte die nächsten Meter weiter, bis er sich an den Schmerz im Oberschenkel gewöhnt hatte. Die Schulter beachtete er erst gar nicht.

Zweitausend Meter etwa lief er durch den lichten Wald – die letzten Meter kroch er … und dann öffnete sich vor ihm eine Wunderwelt, vor der selbst ein Cliff Haller sprachlos war.

Vor ihm lag ein tiefes Tal, in das von der gegenüberliegenden Seite der unbekannte Fluß herunterstürzte. Es war ein Wasserfall von der doppelten Höhe des Niagara, aber bei weitem nicht so breit, höchstens fünfzig Meter … aber die Wasser, die da schäumend und tosend herunterdonnerten, die Gischtnebel, die vom Talboden aufwallten und in denen sich in den Spektralfarben die Sonne brach, der herrliche, ewige, glühende Regenbogen, der sich von Ufer zu Ufer spannte und eine Hölle aus gischtendem Wasser überbrückte, diese Naturgewalt, die da weiß schäumend zwischen den turmhohen Bäumen hervorbrach und brüllend in die Tiefe stürzte, wo alles zu kochen schien, als speie ein Vulkan überkochende Milch aus … das war ein Anblick, der selbst Cliff Haller ans Herz griff.

Schwer atmend lag er zwischen dem hohen Gras und einem ewig vom Gischt nassen Busch auf der felsigen Erde und ließ sich aus dem Höllental übersprühen. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen klopfte und heiß durch seine Adern jagte.

Aber nicht dieser Wasserfall, der herrlichste Fall, den Cliff je gesehen hatte, war es, der ihn so fesselte, sondern das, was um dieses Naturwunder herumgebaut war.

An den linken, sanft abfallenden Hängen klebten die langgestreckten Bauten eines Kraftwerkes. Die Turbinenhallen, die Umwandler, die Transformatoren, die Wohngebäude – alles war mit riesigen Netzen überspannt, auf die man Zweige gesteckt hatte. Netze, in denen ganze Bäume schaukelten oder künstliche Wiesen. Oberhalb des Hanges, in den Urwald hineingeschlagen, sah Cliff eine Rollbahn, drei große Hangars, vor denen schwere, plumpe Transportmaschinen standen, die Flugzeuge, deren Motorenlärm er fast jede Nacht gehört hatte. Vier Hubschrauber waren in der Luft und umkreisten das ganze Gebiet … helläugige Wespen, denen nichts entging, was fremd in dieser Gegend war.

Cliff Haller in seiner Tarnuniform kroch weiter nach links, ein grüner Käfer im Gras, unsichtbar für die surrenden Riesenlibellen über dem Tal.

Das Plateau war größer, als Cliff es anhand der undeutlichen Luftaufnahmen angenommen hatte. Es war aus dem Wald herausgeschlagen und dann wieder durch Tarnnetze in eine Wildnis verwandelt worden. Unter diesen Netzen aber standen sie, auf breite Betonsockel montiert, in steilem Winkel in den Himmel ragend, Richtung Nordamerika … lange, schlanke, weiße Körper mit roten, spitzen Köpfen, umgeben von dem Filigranwerk eiserner Stützen und Träger … Raketen. Interkontinentalraketen, für die es keine Entfernung gab, die Meere und Länder überflogen, schlanke Speere des Todes, nach deren Aufschlag nichts übrigblieb als Tod und Entsetzen. Von hier aus, dem geheimen Ort mitten im Urwald des Quellgebietes von Juma und Rio Itanhaua, war es möglich, Miami zu beschießen, New York oder San Francisco, New Orleans oder Washington, Detroit oder Chicago, Dallas oder Philadelphia. Es gab keine Entfernungen mehr, so fantastisch es auch klingt … wer hier auf einen roten Knopf drückte und die Raketen in den Himmel donnern ließ, der traf jeden anvisierten und errechneten Punkt auf dem nordamerikanischen Kontinent.

Hier, im unerforschten Urwald, lauerte der vernichtende Tod, hatte sich die tödliche Bedrohung der USA festgesetzt. Was den Sowjets in Kuba nicht gelungen war – eine Raketenbasis gegen die USA –, das war hier in aller Stille und Verborgenheit entstanden und Wahrheit geworden. Eine mörderische Wahrheit.

Cliff wischte sich ein paarmal über das Gesicht – aber außer dem herumsprühenden Wasser wischte er nichts weg – das Bild blieb:

Das Kraftwerk, das Rollfeld mit den Flugzeugen, die Raketenabschußrampen, die flach gebauten Kasernen für das Personal, das Lazarett, auf dem sogar eine Fahne mit dem Roten Kreuz wehte, der schlanke Funkturm, den man von den hohen Bäumen kaum unterscheiden konnte, die breiten Radarschirme, die sich träge im Kreise drehten, Ohren und Augen, die alles hörten und sahen …

In Cliff kam eine gefährliche Kälte auf. Er rollte sich auf den Rücken, blickte mit seinem geschwärzten Gesicht auf den Hubschrauber, der seitlich von ihm die Grenzen des gesperrten Terrains abflog, und wurde sich darüber klar, daß sein Auftrag, den geheimnisvollen Fleck mitten im Urwald zu erforschen, nur ein Teil seiner Aufgabe sein konnte. Was er hier entdeckt hatte, ließ kein Zögern mehr zu. Es bedurfte keiner Befehle mehr aus Washington, es gab keine Rückfragen mehr, keine Konferenzen. Es trat ein, was General Cushing beim Abschied zu Cliff Haller gesagt hatte: »Major, Sie werden vielleicht in Situationen kommen, wo es allein auf Ihre Entscheidung ankommt. Treffen Sie sie richtig. Meinen Segen haben Sie … nur – ich weiß von allem nichts. Ist das klar?«

Es war alles völlig klar, vor allem jetzt, wo Cliff die Raketen vor sich sah. Und es wurde so kalt in ihm, weil das, was er in den nächsten Tagen tun mußte, vielleicht das größte Abenteuer war, das je ein Mann ganz allein bestanden hatte.

Als der Hubschrauber abdrehte, richtete sich Cliff auf und machte mit seiner starken Spezialkamera einige Panoramaaufnahmen von Wasserfall, Tal, Hang und den verschiedenen Gebäudegruppen. Dann schraubte er das Teleobjektiv auf und fotografierte die Raketen, Kasernen und das Rollfeld mit den Flugzeugen. Allein das hätte genügt, damit hätte er seinen Auftrag erfüllt gehabt! Alles andere lag bei Washington und bei einer besonderen Truppe, deren schneller Einsatz jetzt fällig war. Und das war es, was Cliff störte. ›Schneller Einsatz‹. Ein in seiner Lage dämliches Wort. Vor ihm lag der Rückmarsch durch den Urwald, das Erreichen des Kontaktmannes in Manaus, das Wegschicken der Bilder nach Washington auf dem Weg über das Diplomatengepäck von Rio aus – welche Zeit verlor man da! Zwei, drei Monate vielleicht … und dann die Zeit, bis die Spezialtruppe zum Einsatz kam, lautlos, alle diplomatischen Verwicklungen überspringend, Geister, die zerstörten … Er dagegen lag hier, in den Körper des Feindes eingedrungen wie ein Parasit, und nur ihm allein war es möglich, schnell bis zum Herzen vorzudringen und ihn zu töten. Seine Gedanken jagten.

Treffen Sie Ihre Entscheidung, Major … – General Cushing … – Die Raketen, die roten Vernichtungsköpfe auf die Heimat gerichtet …

Cliff Haller steckte die Kamera wieder in seine Uniform, zog das schwarze Netz dichter über seine Haare und wartete. Der Himmel blutete, bevor die Dämmerung einfiel – golden stürzten die Wasser in das Felsenbecken. Dann wurde der Himmel fahl, streifig und graugrün. Schatten senkten sich ins Tal, die künstliche Stadt des Todes versank unter den Netzen völlig, kein Licht flammte auf – sie lebten in den Zimmern hinter lichtdichten Jalousien. Nur die Begrenzung des Rollfeldes war zu sehen … dort flackerten schwache rote Punkte und gaben Breite und Länge an.

Cliff schob sich über den Rand des Hanges und begann, geschützt durch die langen Schatten, den Abstieg zu den Raketenrampen.

Unwiderstehlich zogen sie ihn an … sie waren riesige Magnete, die ihn nicht mehr losließen.

Cliffs einsame Entscheidung war gefallen.

***

Nach einer halben Stunde gelangte er in den inneren Kreis der unter Tarnnetzen versteckten, flachen, dunklen Stadt. Das Rauschen des Wasserfalles lag über allem, so gewaltig in seinem ewigen donnernden Niederstürzen, daß Cliff Haller sich wunderte, wie es Menschen monatelang aushalten konnten, hier zu leben, ohne daß ihnen der Kopf zersprang. Am Tage mochte es noch erträglich sein – da spielte die ganze grandiose Natur dieser Grünen Hölle mit, die turmhohen Bäume, der Fluß, das im Gischt ständig schillernde Tal, der ewige Regenbogen, der glutende Himmel … aber nachts, wenn nichts mehr war als Schwärze und dazu dieses infernalische Donnern der Wassermassen, dann war das Leben hier nur noch mit Watteröllchen in den Ohren auszuhalten.

Im übrigen schien man hier sehr sorglos zu leben. Die völlige Unmöglichkeit dieser Geisterstadt, die den vielfachen Tod in sich barg, auf normalem Wege, also über Land, zu erreichen, führte dazu, daß nirgends Wachen aufgestellt waren. Keine Posten standen an den Raketenrampen, die Kasernen lagen neben den wie verlassen wirkenden Baracken, nur auf dem Rollfeld war Betrieb, starteten gerade zwei der schweren Transportmaschinen, begleitet von einem dünnen Scheinwerferstrahl, der sofort erlosch, als die Flugzeuge in der Luft waren.

Cliff bestaunte die fliegerische Kunst dieser Piloten. Die Rollbahn war nur kurz, die Motoren mußten gleich auf vollen Touren laufen, die Maschinen schossen über die Piste und vollführten so etwas wie einen Absprung, wenn sie über die Begrenzung hinausrasten und dann plötzlich über dem tiefen Tal hingen. Es war ein Start ähnlich dem von Flugzeugträgern, und die Maschinen zogen sofort in steiler Kurve nach oben. Das war mit den schnellen Jagdflugzeugen gut möglich, sie waren dafür konstruiert … aber hier handelte es sich um schwere, plumpe Transportmaschinen, die mit brüllenden Motoren über den Abgrund schossen und dann in einer halsbrecherischen Art hinauf in den Nachthimmel donnerten. Noch schwieriger mußte die Landung der schwer beladenen Maschinen sein … sie schwebten dann wohl über dem Tal ein, zogen einen Kreis um den Wasserfall, verloren dabei an Höhe und flogen so niedrig die Piste an, daß sie fast unmittelbar am Rande der Schlucht aufsetzten und dann die ganze Bahn zum Ausrollen hatten.

Cliff empfand Hochachtung vor diesen Burschen hinter den Steuerknüppeln. Unter einer Felsnase liegend wartete er, bis die beiden Transporter in der Luft waren und unsichtbar davonbrummten. Nicht einmal die Positionslichter an den Tragflächen leuchteten auf – hier gab es keine Luftstraße, keinen Gegenverkehr, keine Gefahr des Zusammenstoßes. Hier gehörte auch der Himmel allein der geheimnisvollen, tödlichen Stadt im Urwald.

Cliff kletterte weiter. Erstaunt sah er, daß nicht alles so dunkel war, wie er es vom gegenüberliegenden Hang aus festgestellt hatte. Die Tarnungen waren vollkommen. Unter den dichten Netzen mit dem eingewebten Blätterdach leuchteten schwache Lampen an den Hauswänden und an leicht gebogenen Laternengalgen. Aus einem lang gestreckten Gebäude klang laute Musik … es mußte die Kantine sein; einige Gestalten in grünen Uniformen standen vor der Tür und unterhielten sich.

Im tiefen Schatten der Häuser, Werkstätten und Tarnnetze wanderte Haller durch die Stadt. Auf der Rollbahn landeten und starteten Hubschrauber. Niedrig überflogen sie das ganze Gebiet und ließen nur dort kurz ihre Bodenscheinwerfer aufleuchten, wo sie eine weiche Stelle in der Absperrung vermuteten. Sonst vertraute alles auf den hohen starkstromgeladenen Zaun und sein Warnsystem, das die geringste Verletzung der Drähte sofort meldete.

Cliff lächelte breit. »Ich bin schon da«, murmelte er schadenfroh. »Ich fresse mich bereits durch euch hindurch. – Nur wie ich wieder hier herauskomme, das weiß ich noch nicht.«

Er schlich weiter, umging die erleuchtete Kantine und robbte auf dem Bauch an den Hauswänden entlang bis zu den Werkstätten. Er drückte eines der Tore so weit auf, daß er hineinschlüpfen konnte und stand plötzlich einem jungen Soldaten gegenüber, der im Schein einer Tischlampe sein privates Transistorradio reparierte. Das Auftauchen eines grüngelb getupften Wesens mit schwarzem Gesicht und einem schwarzen Netz über dem Kopf machte den Jungen sprachlos und wie gelähmt. Mit aufgerissenen Augen starrte er Cliff an.

»Sorry, Boy!« sagte Cliff höflich. Dann schlug er mit der Handkante zu, der Junge rollte vom Stuhl und streckte sich lautlos auf dem Boden aus. »Träum von Mami!«

Cliff durchsuchte die Werkstatt, bis er fand, was ihm fehlte: Eine stark isolierte Drahtschere, wie sie Starkstromelektriker brauchen, wenn sie unter Strom arbeiten müssen. Er steckte die Isolierschere in einen kleinen Sack, hing diesen an seinen Gürtel und verließ schnell wieder die Werkstatt.

Draußen fiel ihm ein, daß es leichtsinnig war, den Jungen so liegen zu lassen … er kehrte zurück, hieb dem Armen noch einmal gegen das Kinn, fesselte und knebelte ihn mit Kabeln und einem verölten Lappen und glitt dann zufrieden in die Nacht hinaus.

Der ganze Komplex der Raketenrampen wurde von zwei Pendelposten bewacht, die aber nicht um die Raketen patrouillierten, sondern in einem Wachhäuschen saßen und Bücher lasen. Sorglosigkeit überall … der beste Schutz war ja der Urwald.

Cliff Haller beobachtete die beiden Soldaten eine lange Zeit. Er lag an der Wand des Wachhauses und wartete darauf, daß sie wenigstens jede Stunde einmal einen Kontrollgang machten. Aber nichts geschah. Die beiden lagen auf den Feldbetten, lasen, tranken kalten Matetee und hörten Cha-Cha-Musik aus dem fernen Rio de Janeiro.

»Dann wollen wir mal!« sagte Cliff leise. »Ein Bienenstich in die Zunge kann auch tödlich sein.«

***

Im Zimmer der Befehlszentrale saßen sich der Kommandant der ›Basis I‹, General Aguria, und José Cascal gegenüber. Sie tranken ein Glas kühles deutsches Bier und rauchten dazu lange, dünne, schwarze Zigarren. Auf dem Tisch lag eine große Karte des Gebietes von ›Basis I‹. Alle Sicherungsmaßnahmen, alle Posten, alle Sperren, jede maßgebende Kleinigkeit der Verteidigung war darauf eingetragen. Nach dieser Karte konnte nicht einmal ein Wurm das Sperrgebiet durchkriechen, ohne von irgendeiner Kontrolle gesehen zu werden.

»Mich wundert, daß Cliff Haller nicht schon längst angekommen ist«, zischte Cascal unsicher und rauchte hastig seine schwere Zigarre. »Die letzte Meldung der Indios kam vor drei Tagen – seitdem ist die Gruppe spurlos verschwunden.«

»Vielleicht hat er aufgegeben?« Aguria war ein wuchtiger Mann mit buschigen Brauen. Er liebte das Leben, und daß man ihn zum Kommandanten der geheimsten Sache der Welt gemacht hatte, betrachtete er nicht als große Ehre, sondern als eine Strafe Gottes.

»Cliff aufgeben? Nie!« sagte Cascal fest.

»Vielleicht irrt er an unserem Sicherungssystem herum und weiß keinen Weg? Seit vier Tagen gehen starke Streifen den ganzen Zaun ab. Die Spannung in den Drähten ist um fünfzig Prozent erhöht worden. Schon wer sie scharf ansieht, verbrennt. Da gibt es keinen Weg mehr hinein.« General Aguria trank einen kräftigen Schluck Bier. »Bedenken Sie, José, daß dieser Haller nicht allein ist, sondern die ganze Expedition mitschleppt. Warum eigentlich?«

»Er hat sich in die deutsche Ärztin verliebt.«

»Als Agent? Schon gestorben!« Aguria lachte. »Angenommen, dem Weibchen ist etwas passiert. Fuß verstaucht, Schlangenbiß, Skorpion oder Spinne oder bloß ein dummes Fieber. Was würde Cliff Haller tun?«

»Er zöge weiter.«

»Allein? Ich denke, er liebt das Mädchen?«

»Nicht allein.« Cascal sah in den Qualm seiner Zigarre. »Er würde sie von den anderen Mitgliedern der Expedition tragen lassen. Dieser Kerl kennt keine Hemmungen! Nein – da muß etwas anderes geschehen sein!«

»Indios?«

»Das würden wir auch erfahren. Die trommeln ihre Siege übers Land. Aber auch aus der Richtung ist alles still. Das ist es, was mich aufregt. Diese Stille um Cliff Haller ist unnatürlich.« Cascal trat unruhig an das Fenster und sah hinaus in die Nacht. »Sie haben keine Lücke in Ihrem Sicherungssystem?«

»Keine. Sehen Sie sich das an.« General Aguria strich mit der Hand über die Karte. »So gesichert ist nicht einmal Kap Kennedy! Wir sehen und hören alles. Vorgestern überflog ein fremdes Flugobjekt in 15.000 Meter Höhe die Basis. Unsere Radarschirme hatten es sofort im Bild. Sicherlich ein amerikanischer Fernaufklärer – aber aus dieser Höhe sieht man gar nichts. Wir haben ihn ziehen lassen und haben, solange er über dem Wald kreiste, toter Mann gespielt. Das ist am sichersten.«

»Aber die Amerikaner haben einen Verdacht – das genügt.«

»Sie haben immer Verdacht, das gehört zu ihrer Aufgabe.« Aguria trank wieder einen Schluck Bier. »Jeder auf der Welt betrügt jeden!«

»Und wenn es Cliff doch gelingt, einzudringen?«

»Unmöglich, Cascal!«

»Er braucht nur ein paar Fotos. Was dann kommt, wissen wir genau. ›Basis I‹ wird zum Kommandounternehmen ›Top secret‹ der Amerikaner. Irgendwann fliegen wir in die Luft …«

»Abwarten, José.« General Aguria schüttelte den Kopf. »Ich habe hier die besten Männer der Armee versammelt. Lauter Spezialisten. Die ›Ledernacken Brasiliens‹. Und um uns herum sind Hunderte Kilometer Urwald. Wo auf der Welt – geben Sie es zu – könnte man sicherer sein als hier?«

»Vor einer Armee? Nirgendwo. Aber ein einzelner Mann kann mehr schaden als eine ganze Armee. Und dieser Mann umlauert uns wie ein Jaguar.«

»Dann ist das Ihr Fehler, Cascal!«

»Meiner? Wieso?«

»Warum haben Sie Cliff Haller nicht einfach erschossen? Sie hatten dazu hundertmal Gelegenheit.«

»Das stimmt.« Cascal dachte an Rita. Ich hätte sie nie erobert, dachte er, wenn ich damals Cliff erschossen hätte. Und als sie es selbst wollte, war es zu spät dazu. Als Gott die Weiber schuf, muß er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben!

General Aguria rollte die Karte zusammen und schloß sie wieder in den schweren Panzerschrank ein. Er ließ die Tür zuklappen, es gab einen schmatzenden Laut … und gleichzeitig erschütterte draußen eine Explosion die ganze geheime Stadt, der Boden schwankte, Cascal und Aguria taumelten an die Wand, glutroter Flammenschein erhellte gespenstisch das Tal. Von allen Seiten schrillten die Alarmsirenen … nach Plan II leuchteten alle Scheinwerfer auf und tauchten die ganze Gegend in taghelles Licht.

»Cliff Haller!« sagte Cascal schwer atmend. »Er ist mitten unter uns!«

»Aber er kommt nicht mehr hinaus!« schrie Aguria hysterisch. »Und mehr als diese eine Rakete kann er auch nicht sprengen!«

»Mehr will er auch nicht!« Cascal lief neben Aguria aus der Kommandozentrale. »Er hat nur seine Visitenkarte abgegeben. Das andere übernehmen seine Kollegen …«

Draußen war die Hölle los.

Der Raketenstand Nr. III war zerfetzt, die Stahlgerüste und Rampen waren bizarr verbogen und zerrissen. Die Trümmer der gesprengten Rakete lagen über Hunderte Meter weit verstreut, hatten die Tarnnetze zerstört, waren in Dächer eingeschlagen, hatten die Kantinenwand auf vier Meter Breite aufgeschlitzt. Mit heulenden Sirenen jagten zwei Lazarettautos von der Krankenstation zum Unfallort. Wie ein Bienenschwarm schwirrten die Hubschrauber über das Tal. Aus den Kasernen rannten die Mannschaften zu den bei Alarm angewiesenen Plätzen. Das Tal wurde hermetisch abgeriegelt. Feuerwehrwagen spritzten in dickem Strahl Schaumlöschmittel über die brennenden Trümmer der Rakete … die Hitze war so groß, daß man sich nicht in die Nähe wagen konnte. Andere Wagen überzogen die unversehrten Raketen sofort mit einem Kühlmantel, um die scharf geladenen Geschosse durch die riesige Hitze nicht auch noch explodieren zu lassen.

General Aguria und Cascal standen in der Nähe des Sprengortes und nahmen die Meldungen entgegen, die von allen Seiten hereinkamen.

»Vierzehn Verletzte, zwei Tote!« schnaubte Aguria. »José, wenn ich diesen Cliff erwische … ich behandle ihn wie die Juma-Indios damals die Missionare. Ich lasse ihn stückweise krepieren! Und ich bekomme ihn, Cascal, darauf will ich einen Schwur leisten! Der einzige Weg, der ihm in die Freiheit bleibt, ist der Wasserfall – und den überlebt nicht mal ein Holzstück … es wird an den Felsen zerschmettert.« Er zuckte zusammen und warf die Arme nach vorn. »Da! Hören Sie! Schüsse! Sie haben ihn! Sie haben ihn! Wenn wir ihn erst sehen, entkommt er uns nicht!«

Ein kleiner Jeep brauste heran, Aguria und Cascal sprangen hinein und rasten über das Plateau den Schüssen entgegen.

***

Cliff hatte sich in Sicherheit gebracht, nachdem er die einzige kleine Sprengladung, die er bei sich trug, unter das Triebwerk der Rakete geschoben und sie mit dem Magneten in eines der Düsenrohre geklebt hatte. Dann stellte er die winzige Uhr auf eine Zündungszeit von zehn Minuten – es war die größte Zeitspanne, die bei dieser Konstruktion möglich war – und machte sich auf den Rückweg zum Elektrozaun.

Den Rückzug benutzte er zu weiteren Fotos. Er fotografierte die Raketen aus der Nähe, die Kasernen, und die Befehlszentrale, die Radarschirme und den Sendemast und hatte gerade das letzte Haus – es waren die Werkstätten – erreicht, als mit einem ohrenbetäubenden Knall die Sprengladung zündete und die Rakete in einer Feuersäule auseinanderriß.

Der Druck der Explosionswelle warf Cliff zu Boden. Er rollte ein paar Meter weiter, sprang dann auf und hetzte über das Plateau den rettenden Felsen entgegen, wo er hinter den Baumstümpfen, Büschen und dem trotz aller Rodungen langsam wieder vordringenden Dschungel genug Deckung fand.

Mit keuchenden Lungen rannte er, Schweiß drang ihm aus allen Poren, hinter ihm loderten die Flammen auf und gellten jetzt die Alarmsirenen. An allen Ecken flammten Scheinwerfer auf. In hohen Bäumen waren sie montiert, auf drehbaren Untersätzen, die, elektrisch ferngesteuert, nun das ganze Gebiet abtasteten.

Cliff machte noch einen Hechtsprung hinter einen Busch und lag dann still, dicht an den Boden gedrückt. Über ihn hinweg, einen halben Meter zu hoch, glitt einer der gleißenden Lichtarme.

Noch vierhundert Meter bis zum Zaun, rechnete Haller. Vierhundert Meter … sie waren nicht zu schaffen. Nicht jetzt, nicht in diesem Hexenkessel von rennendem Militär, tastenden Scheinwerfern, herumschwirrenden Hubschraubern und einer Abriegelung der namenlosen Stadt nach allen Seiten.

Links von ihm bellten Schüsse auf … Es waren die Schüsse, die General Aguria zu dem Triumphgeschrei veranlaßt hatten. Aber es war nur ein übereifriger Maschinenpistolenschütze, der etwas Flüchtendes sah und sofort abdrückte. Verlegen stand er dann vor seiner Beute, als Aguria mit seinem Jeep heranraste.

Es war der große Schäferhund des Leutnants Potriguez. Aguria tobte und schrie, sprang zurück in seinen Jeep und raste erneut zur Raketenstellung. »Er kommt nicht hinaus!« brüllte er Cascal ins Ohr. »Die Basis ist dicht wie ein Dampfkessel!«

Das merkte auch Cliff, als er vorsichtig, das Gelände in seiner Zerklüftung ausnützend, Meter um Meter weiterkroch. Sein grün-gelber Anzug ließ ihn mit der Natur völlig verschmelzen – von den Hubschraubern aus war er nicht zu erkennen. Dafür gab es am Zaun nicht eine Stelle, die unbeleuchtet war. Kreuzweise überschnitten sich die Scheinwerfer. Auf dem festgestampften Boden jagten Jeeps mit schwerbewaffneten Soldaten hin und her.

Die Falle war zugeschnappt. Zwar war eine Rakete zerstört, aber man konnte sie auswechseln. Wichtiger als alle Zerstörung war der Mann Cliff Haller. Er hatte, das war sicher, vor der Explosion Fotos gemacht, er kannte jetzt die ›Basis I‹ – entkam er aus der Falle, erreichten seine Bilder den amerikanischen Geheimdienst, waren die Arbeit von Jahren und die Millionen Kosten umsonst gewesen. Das größte Geheimnis Südamerikas war keinen Cent mehr wert …

Cliff lag, verschmolzen mit dem Boden, dreißig Meter vom Zaun entfernt und wartete. Die Aufregung war ungeheuer, sie glich fast einer Panik. Selbst den Fluß und den Wasserfall strahlte man jetzt an … ein herrliches Bild, im Licht der Scheinwerfer diese Wassermassen in das Felsenbecken toben zu sehen. Ein Riesenvorhang aus glitzernden Tropfen hing über dem Tal.

Eine Stunde lang lag Cliff fast unbeweglich auf dem Boden. Gruppen von Soldaten kämmten die Stadt durch, jeden Winkel, jeden Meter Erde, jeden Felsen. Vor ihm fuhren noch immer die Jeeps Streife entlang dem Zaun. Dann mußten sie durch Funk neue Befehle bekommen haben. Sie teilten sich, ein großer Trupp fuhr zurück in die Stadt, die Zurückgebliebenen übernahmen das nun größer gewordene Kontrollgebiet. General Aguria hatte diese Entscheidung getroffen … er glaubte Cliffs Pläne zu kennen.

»An den Zaun kommt er nie«, sagte er zu Cascal. »Kein Meter Dunkelheit, die Jeeps, die Hubschrauber … es wäre Selbstmord. Nein, er versteckt sich im Inneren der Basis!«

»Und wie ist er hereingekommen?« fragte Cascal.

»Das eben stellen wir gerade fest. Der Zaun ist unbeschädigt. Aber irgendwo muß er eine Lücke gefunden haben. Oder hatte er einen zusammenklappbaren Kleinhubschrauber bei sich?«

»Nein!« sagte Cascal ärgerlich. »Aber trotzdem ist er hier – und das ist erschreckend, General!«

***

Cliff Haller wartete, bis die beiden Jeeps vor ihm sich trennten und nach rechts und links abfuhren. Diese wenigen Minuten, bis sie wieder zurückkamen, waren die einzigen, die für ihn eine echte Chance boten. Er zählte bis drei, holte tief Atem und dachte dummerweise in dieser Sekunde an seine Mutter, die er kaum gekannt hatte, die starb, als er zehn Jahre alt war und die er immer vermißt hatte. Dann sprang er auf, hechtete vorwärts, rollte über den Boden, bremste mit den Hacken vor dem Zaun, riß die Starkstromzange heraus, setzte an, kniff die beiden unteren Drähte durch und schob sich schlangengleich durch das Loch.

In der Überwachungszentrale klingelten die Alarmglocken. Der Zaun ist beschädigt!

Abschnitt VIII.

Die kontrollierenden Jeeps kehrten blitzschnell um und rasten zurück. Sie fanden das Loch sofort, aber Cliff Haller war längst in der undurchdringlichen, wogenden Wand des Urwaldes verschwunden.

»Durch den Zaun!« schrie Cascal, als die Meldung bei Aguria eintraf. »Unter den Augen der Soldaten! Bei vollem Scheinwerferlicht! Ihr Verteidigungssystem ist Scheiße, General!«

»Aber wir haben jetzt seine Richtung! Vierzig Mann jagen ihn bereits!« Agurias Stimme überschlug sich. Sein Kopf war hochrot, als wollte er gleich zerplatzen.

»Ihre vierzig Wickelkinder können Sie zurückpfeifen! Wie weit sollen sie denn Cliff verfolgen? Bis Manaus? Bis Rio? General – dieser Haller ist ein Mensch, der sich wenn's nötig ist, im Arschloch des Teufels versteckt! Jetzt gibt es nur noch eins … die Jagd wie auf ein seltenes Wild!« Cascal steckte die Hände in die Taschen. »Eine Jagd mit List und Köder und Instinkt! Lassen Sie mich und Rita morgen früh an der Quellflußgabelung des Rio Juma absetzen.«

»Sie … Sie allein, José?«

»Ein Regiment wird ihn nie fangen … aber ein Mann allein vielleicht. Ich glaube, seinen Rückweg zu kennen. Er muß nach Manaus, um seine Bilder loszuwerden. Und er wird den gleichen Weg einschlagen, den ich an seiner Stelle auch nehmen würde. Auf ihm sind Ihre Soldaten hilflos – aber zwei Panther, die sich riechen, treffen sich bestimmt. Und dann noch eines: Vergessen Sie nicht die Indios am Juma! Durch ihr Gebiet muß Cliff hindurch! Und er hat die ganze Expedition bei sich …«

»Verdammt! Sie glauben, daß Haller zu dem deutschen Mädchen zurückkehrt?«

»Bestimmt. Ein Amerikaner, der verrückt auf ein Mädchen ist, benimmt sich wirklich wie ein Verrückter.«

Cliff Haller hing oben in der breiten Krone eines Baumes, gestützt auf armdicke Äste, ein Versteck nach Indioart, als auf der ›Basis I‹ mit einem Schlag alle Lichter wieder erloschen. Nur um die Raketenrampen herum und an dem zerschnittenen Zaun brannten einige Lampen, deren Licht kaum wahrnehmbar war.

Cliff Haller setzte sich oben auf einen dicken Ast und lehnte sich gegen den glatten Stamm. Nicht mit mir, dachte er spöttisch. Dieser Trick ist uralt. So schnell bläst man keine Fahndung ab. Jetzt habe ich Zeit, Señores, viel Zeit. Und kein Gepäck mehr als ein paar Gramm … den Film von ›Basis I‹. Man wird in Washington Augen wie Mühlräder bekommen …

***

Während des Tages und bis zur beginnenden Nacht saßen Ellen Donhoven, Dr. Forster, Campofolio und der total erschöpfte Rafael Palma unter ihren Blätterdächern und warteten. Worauf, das wußte keiner. Mit dem Weggang Cliffs war eine Leere entstanden – sie kamen sich wie ausgestoßen vor, verlassen wie ausgesetzte junge Hunde. Zu sehr hatten sich alle daran gewöhnt, daß Cliff für sie dachte, für sie handelte, vor ihnen herging, und sie ihm nur nachzugehen brauchten in dem Gefühl, daß dort, wo er stand, Sicherheit war, soweit man überhaupt in dieser Grünen Hölle von Sicherheit sprechen konnte.

»Zigarette?« fragte Forster und hielt eine Schachtel hin.

»Ja. Danke.«

Sie rauchten eine Weile stumm, dann drehte Ellen den Kopf zu ihm.

»Rudolf … Sie müssen mir helfen.«

»Gern. Nur wie und wo?«

»Sofort! Ich möchte etwas Verrücktes tun.«

»Ob ich Ihnen da folgen kann?«

»Sie müssen es, Rudolf, wenn Sie mich wirklich lieben, wie Sie sagen.« Sie fuhr herum und legte die Arme um seinen Nacken. »Ich will fliehen … vor Cliff fliehen … vor mir, vor allem, was kommt, wenn Cliff zurückkehrt … Ich will ihn nicht mehr sehen! Er ist wie eine Welle, die mich überspült … und vor ihr laufe ich weg! Das ist mein gutes Recht. Und Sie müssen mir dabei helfen, Rudolf …«

»Fliehen! Weglaufen vor Cliff! Wie stellen Sie sich das vor?«

»Wir brechen sofort auf!« Sie sprang hoch, streckte sich und war wieder die entschlossene Ellen Donhoven, die von Manaus aus die Expedition zu den Juma-Indianern ausrüstete. »In einer Stunde können wir marschbereit sein. Wir ziehen zurück an den Rio Tefé. Den alten Weg.«

»Cliff wird uns einholen.«

»Er wird nie nachkommen. Sein Ziel ist vorwärts. Er hat einen Auftrag zu erfüllen. Der ist ihm wichtiger als ich.«

»Verkennen Sie Cliff nicht, Ellen!«

»Ich weiß, was ich tue. Wir brechen auf!« Ellen Donhoven blickte Dr. Forster lange an. Dann lächelte sie etwas gequält. »War das nicht auch immer Ihr Wunsch, Rudolf?«

»Ja.«

»Wenn wir sicher in Manaus sind, verspreche ich Ihnen, mit Ihnen nach Rio und zurück nach Stuttgart zu fliegen. Ich gebe Ihnen mein Wort.«

Sie hielt ihm die Hand entgegen, und er schlug zögernd ein.

»Wie sehr müssen Sie diesen Cliff lieben …«, sagte er leise.

»Ich darf ihn nie wiedersehen.«

»Dann gäbe es eine Katastrophe, nicht wahr?«

»Ja … es würde mein ureigener Weltuntergang.«

Eine Stunde später zog die kleine Karawane durch die Nacht zurück zum Rio Tefé. Dr. Forster ging voran, dann folgten Ellen und der humpelnde Palma. Den Schluß bildete Campofolio mit Cliffs zurückgelassenem Schnellfeuergewehr.

Ungefähr nach vier Stunden Marsch blieben sie ruckartig stehen. Hinter ihnen donnerte es wie eine Explosion, dann wurde der Himmel grau, als gingen plötzlich viele Lichter an. Ein solcher fahler Schein hängt am Himmel, wenn eine Großstadt von der Nacht eingehüllt wird. Das Geknatter vieler Flugmotoren folgte einer kurzen, lähmenden Stille.

Dr. Forster starrte Campofolio an.

»Das ist ungeheuerlich«, sagte er heiser. »Das hört sich an, als ob hier mitten im unerforschten Urwald ein Flugplatz liegt. Wo kommen plötzlich die Maschinen her? Woher der Lichtschein am Himmel? Was war das für eine Explosion?«

»Es scheint, als ob Cliff sein Ziel gefunden hat«, sagte Campofolio. »Major Cliff Haller vom CIA! Wissen wir, was wir da wochenlang mit uns herumgeschleppt haben? Wir haben auf einer Bombe gelebt und wußten es nicht.«

»Aber was ist da hinten im Wald? Welchem Geheimnis ist er auf der Spur?«

»Weiter!« Die Stimme Ellens überschlug sich. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, in den Schläfen summte das Blut. »Das ist Hallers Sache! Was geht es uns an? Wir wollen nur eins: Heraus aus dieser Hölle!«

Sie drehte sich um und ging weiter.

Cliff, dachte sie. Was ist geschehen? Bist du in Sicherheit? Ist alles gut verlaufen?! Cliff, ich bete für dich.

Aber ich will dich nie wiedersehen! Glaub es mir … wir gehen aneinander zugrunde.

Dr. Forster blieb zurück, allein, während die anderen Ellen nachgingen. Er hörte Gewehrschüsse und sah, vielen Blitzen gleich, das Aufleuchten der Bodenscheinwerfer der suchenden Hubschrauber.

Was ist dort hinten, fragte er sich wieder. Was hat Cliff Haller durch den Urwald getrieben? Was bedeutete der weiße Fleck auf der Fotokarte?

Der Himmel in der Ferne wurde rötlich. Dort brennt etwas, stellte Forster fest. Und es hängt mit Haller zusammen, das ist ganz sicher. Was es auch war … Cliff war in Aktion getreten, und Aktion bedeutete auch für sie alle Gefahr. Er rannte zu Ellen vor und legte den Arm um ihre Schulter. Sie zuckte leicht zusammen … ihre Gedanken waren gerade bei Cliff gewesen.

»Er hat irgend etwas gesprengt«, sagte er. »Der Himmel ist voll Feuerschein.«

»Es geht uns nichts an!« Ihr Gesicht war wie erstarrt. »Ich will zurück – ich will mit Ihnen, Rudolf, zurück nach Deutschland.«

***

Cliff Haller blieb in seinem Baumversteck, bis der Morgen über die Wipfel kroch. Erneut kreisten die Hubschrauber über dem ganzen Gebiet, aber das Benzin war vergeudet, denn als Cliff den Stamm hinunterkletterte und auf dem feuchten Waldboden stand, war ein Knopf in einer Scheune voll Stroh eher zu finden als er.

Um die gleiche Zeit flogen auch Cascal und Rita über ihn hinweg zum Rio Juma und wasserten am Zusammenfluß der beiden Quellflüsse. Dort richteten sie sich ein Lager ein und warteten auf die Trommelnachrichten der Indios. General Aguria hatte befreundete Indianer, die mit den Soldaten Tauschgeschäfte machten, in alle Richtungen weggeschickt und ihre Sippen und Stämme alarmiert. Wo auch immer sich Cliff Haller sehen ließ … die Indios würden ihn in Ruhe lassen, aber ihre Trommeln würden seinen Weg an Cascal verraten.

***

Frohen Herzens lief Cliff zurück zum Lager. Sein Ziel hatte er erreicht – er besaß den Film mit den einmaligen Fotos, er hatte als Warnung die Rakete gesprengt … in drei Monaten vielleicht störte niemand mehr den Urwald, das aus ihm herausgeschlagene Stück Land wieder zu überwuchern und zurückzuerobern. Denn es gab nur eine Alternative: entweder zerstörte die Regierung selbst auf einen internen Protest der USA hin die Raketenbasis ebenso leise, wie sie erbaut worden war, oder ein Spezialtrupp des CIA räumte rücksichtslos diese massive Bedrohung der USA weg … ebenso unbeachtet von aller Welt, denn die Welt durfte nie erfahren, was da im Urwald südlich des Amazonas entstanden und vernichtet worden war.

Nach drei Stunden schnellen Laufes erreichte Cliff die Stelle, wo das Lager war. Schon von weitem rief er: »Ich bin es, Kinder! Umarmt mich! Verdammt, war das eine Nacht!«

Aber keiner antwortete ihm, vollkommene Stille herrschte um ihn. Er blieb stehen, drückte sich hinter einen Baum und riß seine Pistole aus der Tasche. Noch immer trug er seinen ›Kampfanzug‹, das geschwärzte Gesicht und das Netz über dem Haar.

»Ellen!« schrie er. »Ellen!«

Keine Antwort.

Sein Herz krampfte sich zusammen. Als er sich duckte und in kleinen Sätzen, immer in Deckung bleibend, vorwärts sprang, spürte er, wie sein Mund zuckte, als habe er einen Krampf.

Ellen, dachte er. Was ist geschehen? Mein Gott, laß mich nicht auf den freien Platz treten, und sie liegen herum, ohne Köpfe, zerhackt mit den Macheten. Laß es nicht zu, Gott! Ich weiß nicht, was ich tue, wenn ich Ellen so liegen sehe …

Noch drei Sätze … er hob die Pistole und stürzte auf den Platz.

Die Blätterhütten waren leer. Zwei Dosen lagen herum. Nudelsuppe. Keine Spuren von Kampf, kein Blut … nur ein aufgeräumter, sauberer Rastplatz.

»Ellen!« brüllte Cliff sinnlos. Er wußte, daß es verrückt war, so in den Wald hineinzuschreien. Aber er mußte es tun, er hatte das Gefühl, sonst zu platzen. »Ellen!!!« Dann hieb er mit den Fäusten die Blätterdächer zusammen und schrie dabei: »Verdammt! Verdammt! Aber ich hole dich ein! Ich hole dich! Und wenn du zum Mond fliehst … ich hole dich ein! Ellen! Verfluchte Welt! Ich liebe dich doch! Warum rennst du denn weg? Das kannst du doch gar nicht! Wir gehören doch zusammen! Ellen!«

Als er alles zerstört hatte, hob er den Kopf wie ein Tier, das die Witterung aufnimmt, holte die beiden Büchsen vom Boden und wischte mit den Fingern den Rest der kalten Nudelsuppe heraus, den er schlürfte wie köstliche Austern … dann gab er den Büchsen einen Tritt und breitete die Arme aus.

»Ich komme, Ellen!« brüllte er. »Einem Cliff Haller läuft man nicht davon!«