Siebentes Kapitel

Die Betäubung durch Cliff Hallers verzweifelten Schlag hielt genau so lange, wie Dr. Forster brauchte, um das gebrochene Bein Ellens zu schienen. Noch während des Verbindens wachte sie auf, rührte sich aber nicht. Forster blickte schnell zu Cliff, der Ellens Bein in seinen Schoß gelegt hatte.

»Eine blendend regulierte Anästhesie«, sagte Forster sarkastisch. »So genau kann man im Krankenhaus nicht steuern.« Er beugte sich über Ellen und bemerkte in der Tiefe ihrer Augen die flackernde Angst. »Wie fühlen Sie sich, Ellen?«

»Wie man sich nach einem k.o. fühlt, Rudolf. Mir brummt der Schädel.«

»Und das Bein?«

»Im Augenblick nichts. Doch ja –, wenn ich den Muskel anziehe – es sticht –«

»Ruhig liegen, Baby«, knurrte Haller. »Es wird noch verdammt viel Schmerzen geben, wenn wir weiterfahren.« Er legte das Bein vorsichtig auf einen Ballen. Es war ein zusammengerolltes Netz, das Moco als lebensnotwendiges Werkzeug in das Kanu gelegt hatte. »Wie lange dauert so ein Bruch, bis man wieder gehen kann?«

»Sechs Wochen.«

»Scheiße!«

»Na, na, Cliff!« Dr. Forster schüttelte grinsend den Kopf. »Es ist eine Dame hier.«

»Trotzdem.« Haller kroch nach vorn ins Boot und nahm das Paddel auf. »Sechs Wochen, da wollte ich schon in Rio sein.«

»Und sechs Wochen auch nur, wenn das Bein völlig ruhiggestellt ist.« Forster setzte sich hinter Ellen Donhoven an das Heck des Kanus und tauchte sein Paddel in das grünliche Wasser. »Was haben Sie vor, Cliff?«

»Wir suchen uns ein schönes Plätzchen, wo wir sechs Wochen faulenzen können.«

»Hier am Fluß?«

»Ein Fluß ist im Urwald so viel wert wie bei euch Ärzten eine deftige Herzspritze. Wo Wasser ist, ist Leben! Los denn – suchen wir uns ein flaches Ufer!«

»Und mich fragt keiner?« Ellen richtete den Oberkörper auf, aber Dr. Forster beugte sich sofort vor und drückte sie mit dem flachen Paddel hinunter.

»Liegenbleiben!« kommandierte er. »Ellen, Sie sollen sich nicht bewegen, das wissen Sie doch.«

»Es gibt nichts Unfolgsameres als Ärzte im Krankenbett«, rief Cliff von vorn. »Alles, was sie sonst ihren Patienten sagen, vergessen sie bei sich!« Er wandte den Kopf und lachte Ellen an. Es war wieder das unwiderstehliche, jungenhafte Lachen, das Ellen stets wehrlos machte und in ihr das Wissen festigte: Mein Gott, ich liebe ihn … so sehr ich mich dagegen auch wehre.

»Hast du einen anderen Vorschlag, Baby?«

»Nein. Nur eines weiß ich: Ich werde nie mehr in einen Urwald gehen!«

»Ein frommer Wunsch.« Haller lachte laut. »In den nächsten zwei Monaten werden wir mitten drin sein!«

»Zwei Monate –, eine Ewigkeit«, sagte Ellen. Es klang resigniert.

»Und dabei ist es für diesen Teil der Erde ein normaler Zeitraum.« Dr. Forster fiel in den Rhythmus von Hallers Paddel ein. Leicht und fast lautlos glitt das Kanu den Fluß hinauf. Er wurde schmaler, die Ufer rückten näher zusammen, das Wasser stank nach Verwesung. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, Cliff, wohin wir fahren?«

»Nur grob, Doc. Nach Nordosten.« Haller hob die Schultern. »Ich lasse mich überraschen, wann der Fluß zu Ende ist und wir über Land weiter müssen.«

Die kleinen, rotbraunen Männer am Ufer glitten in den Wald zurück wie Affen. Sie gaben merkwürdige, tierische Laute von sich, die über weite Strecken zu hören waren. Es klang wie das Kreischen von aufgescheuchten, wütenden Papageien. Haller ließ sich von diesen Lauten täuschen.

»Papageien!« rief er, als neben ihnen das Kreischen herflog und sie begleitete. »Seht ihr welche?«

»Nein.«

Die kleinen Männer rannten neben dem Boot her, als würden sie keine Müdigkeit kennen. Ein schmaler Pfad am Ufer diente ihnen als Weg. Ab und zu kreischten sie, legten dabei die hohlen Hände vor den Mund wie einen Trichter und nickten lachend, als ihnen aus der Ferne ein anderes Kreischen antwortete. Dann rannten sie weiter, mit merkwürdig vorwärtsschnellenden Sprüngen, die sie den Raubkatzen abgeschaut haben mußten. Sie waren vollkommen nackt und hatten nur ihr Geschlecht mit einem Strick aus Lianen hochgebunden.

Nach ungefähr einer Stunde Fahrt verengte sich der Fluß derart, daß Cliff und Forster mit ausgestreckten Paddeln fast das Ufer berühren konnten und die Luftwurzeln der Bäume wie Girlanden über ihnen hingen. Und genau hier, an der engsten Stelle des Flusses, war von Ufer zu Ufer, von Baum zu Baum, ein engmaschiges Netz aus geflochtenen Lianen gespannt … ein riesiges Spinnennetz, das nichts, was größer war als eine Ratte, durchließ. Cliff Haller drückte das Paddel sofort als Bremse in den Fluß, das Kanu blieb stehen und drehte sich in der trägen Strömung des stinkenden Wassers.

Dr. Forster warf das Paddel ins Boot und griff nach dem Gewehr. Auch Cliff Haller hatte die Waffe schußbereit über seine Knie gelegt. Ellen Donhoven, die brav auf dem Rücken lag und sich nicht rührte, klopfte mit der Faust gegen die Bootswand.

»Was ist los?« rief sie.

»Wir sind Fliegen geworden, die gleich von einer Spinne ausgesaugt werden!« antwortete Cliff mit bitterem Humor. »Vor uns ist ein Netz gespannt, und wir hängen drin. Doc, nicht schießen! Sehen Sie die Kerle?«

»Nein, Cliff!« Dr. Forster beobachtete angestrengt das zum Greifen nahe Ufer. Er sah nichts – nur das Kreischen der Papageien war um ihn.

»Es sind kleine, rotbraune Kerle.« Haller rührte sich nicht, saß wie versteinert. »Eine Art Pygmäen. Das ist neu, Doc. Bisher kannte man Pygmäen nur in Zentral-Afrika. Von südamerikanischen Zwergenvölkern habe ich noch nichts gehört. Sie etwa?«

»Ich habe mich bis zu dieser verdammten Expedition noch nie eingehend mit Brasilien beschäftigt.« Forster sah sich um. »Ich kann nichts erkennen.«

»Sie blicken zu hoch, Doc!« rief Haller sarkastisch. »Die Kerle hocken auf dem Boden wie Wurzeln …«

Das Gekreisch hörte plötzlich auf. Die Stille fiel so unverhofft über sie her, daß sie zusammenzuckten. Beklemmend legte sie sich über ihre Herzen.

»Von wegen Papageien«, sagte Haller knirschend. »Das waren die Zwerge. Da – sehen Sie, Doc! Um Himmels willen, bleiben Sie ruhig sitzen. Die haben genausoviel Angst wie wir. Sie haben noch nie einen weißen Menschen gesehen.«

»Das nehmen Sie an, Cliff.«

»Es ist sicher – sonst wären wir längst mit Giftpfeilen gespickt!«

An beiden Ufern tauchten die kleinen, braunen Männer auf. Es wimmelte aus dem Urwald heraus, als ziehe ein Ameisenheer über den Weg. Über hundert Männer waren es, die nackt und scheu, ihre langen Blasrohre in den Händen, am Ufer standen und mit breitem Grinsen auf den flachen, kleinen Gesichtern zu dem Kanu starrten. Ein älterer Mann, der außer um den Bauch auch noch um den Hals eine Kette aus Schrumpfköpfen trug, winkte mit beiden Armen und hüpfte herum, als trete er dauernd auf Nägel. Cliff Haller zog die Schultern hoch.

»Ein schöner Mann«, sagte er mit Galgenhumor. »Vor allem seine Schmuckstücke sind vertrauenerweckend. Wie die Kerle grinsen! Als sei der Weihnachtsmann zu ihnen gekommen!«

Dr. Forster atmete hörbar auf. »Cliff, Sie elender Nihilist – das ist es! Sie sehen in uns Geister. Sie wollen uns gefallen. Sie unterwerfen sich. Schießen Sie!«

»Verrückt! Wenn sie nichts kennen – aber was Töten ist, das wissen sie.«

»In die Luft schießen, Cliff. Das Krachen allein wird sie umwerfen. Wir sind die Götter, die den Donner bringen.«

»Da könnten Sie recht haben, Doc!« Cliff sah sich anerkennend um. »Und wenn's schiefgeht?«

»Dann sind wir in ein paar Sekunden tot. Sehen Sie eine andere Chance?«

Cliff Haller antwortete nicht. Zögernd hob er sein Gewehr, streckte den Lauf in den Himmel und sah hinüber zu dem tanzenden Mann mit den vielen Schrumpfköpfen. Der Pygmäe unterbrach sein Hüpfen und stand am Ufer mit ausgebreiteten Armen.

»Jetzt!« rief Cliff. Seine Stimme war fast unkenntlich vor Erregung. »Wenn man Sie mit Pfeilen eindeckt –, erschießen Sie erst Ellen, bevor Sie sterben! Diese eine Sekunde bleibt Ihnen immer!«

Forster nickte stumm. Er legte den Lauf seines Gewehres Ellen an die Schläfe. Sie sah ihn an, mit großen, abschiednehmenden Augen, und es war ein Blick, den Forster in sich brennen spürte, wie eine Flamme. Ein merkwürdiges Geräusch war um ihn, und erst, als er den Atem anhielt, wußte er, daß er mit den Zähnen geklappert hatte.

Cliff Haller schoß. Der Schuß donnerte aus dem Gewehr und hallte in der Stille des Waldes wider. Dann tönte er noch dreimal, von allen Seiten, als schösse man aus verschiedenen Richtungen. Ein Echo, das selbst Cliff erschrecken ließ.

An den Ufern, zu den kleinen braunen Männern, waren die Götter gekommen. Kaum war der Schuß gefallen, lagen sie wie vom Blitz getroffen mit dem Gesicht auf der Erde und heulten wie geprügelte Hunde. Sie zuckten mit allen Gliedmaßen und schienen sich in den weichen Boden wühlen zu wollen.

Cliff drehte sich lachend zu Forster und Ellen um. »Das war eine gute Idee, Doc!« schrie er. Er mußte schreien, denn der Druck in ihm suchte eine Erlösung. »Dieses Mal haben Sie uns das Leben gerettet. Los, schießen wir noch einmal … viermal … erst Sie, dann ich und so fort.«

Sie hoben die Gewehre und schossen über die Liegenden hinweg in den Wald. Die Kugeln surrten in die Bäume, rissen Zweige ab und schlugen irgendwo ein.

Viermal wälzten sich die kleinen braunen Männer über den Boden, nach jedem Schuß heulten sie schaurig auf, dann lagen sie am Ufer, nebeneinander wie dunkle Perlen auf einem Kettenfaden. Sie rührten sich nicht mehr, sie schienen wie versteinert.

»An Land!« rief Cliff fröhlich. »Wenn ich dem Häuptling mit seinem Tiffany-Schmuck eine herunterhaue, wird er es als Segen auffassen. Kinder, wir haben den Platz gefunden, wo wir Ellens Bruch ausheilen können. Spielen wir die Götter!«

Sie ruderten an Land und sprangen ans Ufer. Die Pygmäen lagen noch immer auf dem Gesicht, und als Cliff einen von ihnen berührte, zog er sich zusammen wie ein Regenwurm. Sie wagten nicht, den Göttern, die den Donner vom Himmel holten, ins Auge zu sehen. Cliff Haller ging zwischen ihnen herum wie in einer Herde Igel, trat ein paarmal leicht diesen oder jenen Pygmäen in die Seiten und erzeugte damit ein helles Wimmern.

»Das ist auch nicht der Sinn der Sache!« rief er. »Los! Aufstehen! Wir fressen keinen.« Er bückte sich, packte den Häuptling mit seinen Schrumpfkopfketten am Nacken und zog ihn empor. Er stellte den kleinen, vor Angst starren Mann auf die Beine und klopfte ihm gegen die nackte, zuckende Brust. Der Pygmäe kniff die Augen zusammen. Als Cliff ihm zwei kräftige Ohrfeigen gab, blinzelte er. Diese Art von Verständigung schien er zu kennen.

»Sicherlich ist er verheiratet!« stellte Cliff fest. »Es ist doch überall das gleiche!«

Der Häuptling starrte Cliff aus weiten Augen an. Dann nahm er wahr, daß der weißhäutige Gott lächelte, und er lächelte scheu zurück.

»Na also«, sagte Haller und tätschelte dem Häuptling die Wange. »Irgendwie verständigen sich die Jahrhunderte immer.« Er umarmte den Pygmäen, drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuß auf die Stirn.

Der kleine Mann schien das als etwas Schreckliches zu empfinden. Er fiel auf die Knie und heulte wieder los, aber Cliff zog ihn vom Boden und machte eine weite Armbewegung über den Fluß und in den Wald.

Der Häuptling schien zu verstehen. Er riß seine Schrumpfkopfkette vom Hals und legte sie Cliff um, band die Kette von seinen Hüften los, trug sie zu Dr. Forster und brüllte dann einige Laute in einer Sprache, die wie ein kehliges Rülpsen klang. Schaudernd legte sich Forster die Kette um den Hals.

»Nicht so zimperlich, Doc!« sagte Haller und schob einen neuen Patronenrahmen in sein Gewehr. »In der Anatomie haben Sie beim Studium eigenhändig Köpfe aufgemeißelt, und jetzt frieren Sie?«

»Das hier sind Ermordete, Cliff!«

»Dafür leben wir jetzt auch in der Steinzeit. Kommen Sie, wir holen Ellen aus dem Boot. Sie muß ja vor Angst verrückt werden.«

Eine halbe Stunde später trugen acht Pygmäen in einer Art Hängematte aus Lianen die auf zwei lange, dicke Äste geschnallte Ellen ins Innere des Urwaldes. Dr. Forster und der Häuptling folgten ihr, die hundert anderen nackten Zwergmenschen wimmelten hinterher. Am Schluß ging Cliff, das Gewehr schußbereit in den Händen. Er traute dem Frieden nicht. Die Begeisterung war ihm zu wild. So kann man auch einen Sonntagsbraten nach Hause bringen, dachte er grimmig.

Aber er irrte sich. Das Volk der Ulurari-Pygmäen war glücklich und stolz.

Die Götter des Blitzes und des Donners kamen in ihr Dorf.

Die Götter zeichneten sie aus.

Die Götter machten sie unbesiegbar. Die Köpfe der anderen Stämme würden ihnen gehören.

Die Götter wählten sie zum Herrn des Waldes und des Flusses.

Nur eines wußten Cliff, Dr. Forster und Ellen Donhoven nicht: Die Ulurari waren nicht mehr bereit, ihre Götter wieder herzugeben. Sie waren zu ihnen gekommen, und dort sollten sie auch bleiben. Ein paar hundert Augen würden sie bewachen, damit sie nicht auch zu den anderen Stämmen gingen.

Man sieht: Auch Götter haben ihre Probleme.

***

Das Dorf der Pygmäen bestand aus kleinen Rundhütten. Wie Maulwurfshügel sahen sie aus, und Cliff sagte sofort: »In solch einem Bungalow bekomme ich Platzangst. Wir Götter werden den Kleinen mal zeigen, wie man Häuser baut. Passen Sie auf, Doc, das wird ein neues Wunder, wenn ich mit der Axt zu arbeiten anfange.«

Zunächst wurde für Ellen eine Unterkunft besorgt. Cliff bestimmte die größte Hütte dafür, es war die Behausung des Medizinmannes. Der Alte, der nun ausziehen mußte, schien mit dem Wohnungswechsel nicht einverstanden zu sein. Er umtanzte seine Hütte und rasselte mit Lederbeuteln, in denen kleine Menschenknochen lagen. Cliff löste die Auseinandersetzung auf Götterart: Er zeigte auf ein großes Stück Fleisch, das an einer Liane zum Trocknen in der prallen Sonne hing, legte das Gewehr an, zielte und hoffte, daß er nicht daneben schoß. Aber der Schuß saß. Die Liane wurde zerfetzt, und das Fleischstück fiel auf den Boden.

Solch ein Wunder überzeugte den Medizinmann und regelte das Wohnproblem. Die Pygmäen schoben Ellen in die Hütte, und Dr. Forster kroch hinterher.

»Wann werden sie merken, daß wir Menschen sind wie sie?« flüsterte Ellen. Sie tastete nach Dr. Forster. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.

»Hoffentlich erst nach sechs Wochen … Wir sind doppelt so groß wie sie und gegen sie weißer als der Flußsand. Das werden sie nie begreifen.« Dr. Forster streichelte beruhigend Ellens Hand. »Und außerdem werde ich in den nächsten Tagen einige von ihnen heilen. Das wird sie zu neuen Verehrungen hinreißen.«

»Ohne Medikamente, Rudolf?«

»Ich habe noch meine Gürteltasche, Ellen.«

»Und was ist drin?«

»Penicillin, Augensalbe, Salmiak, Hustentropfen, Magentropfen, zwei krampflösende Mittel, Pyramidon und eine Flasche Kölnisch Wasser.«

»Ungeheuerlich, Rudolf. Damit kann man nicht Gott spielen.«

»Man kann, Ellen. Allein mit Salmiak und Kölnisch Wasser!«

Am Abend bereits hatte Cliff Haller ein neues göttliches Wunder vollbracht. Er hatte in zwanzig Minuten einen dicken Baum gefällt, mit Mocos Axt. Als der lange Stamm umfiel, lagen die kleinen Männer samt ihren Frauen und geradezu winzig anzusehenden Kindern wieder flach auf dem Boden.

Die zerstörende Kraft der Götter war ihnen unbegreiflich.

***

In vier Tagen stand das Haus für Cliff, Dr. Forster und Ellen. Für die Pygmäen war es eine Art Hochhaus, ein Riesentempel, den sie nur ehrfürchtig auf allen vieren wie Hunde betraten. Dreißig Frauen flochten das Dach aus Ästen und Blättern. Cliff war in seinem Element, er fühlte sich wohl als Gott …, kommandierte herum, und wenn ihn auch keiner verstand, seine Zeichen waren international. Wenn er mit seiner tiefen Stimme losbrüllte, war es den Pygmäen, als grollten wieder die Gewitter in den Wolken.

Dr. Forster war unterdessen auf der Suche nach Kranken, um auf seine Weise seine Gotthaftigkeit zu beweisen. Was er sah, war erschreckend. Kinder mit den typischen Zeichen von Mangelerkrankungen, rachitisch und mit Geschwüren übersät. Familien, denen der Tod durch Lungenschwindsucht aus den hohlen Augen schrie. Augenkrankheiten durch Infektion von Insektenstichen … fast in jeder zweiten Hütte lebte ein Blinder. Es krochen Kinder herum, in deren vereiterten Augenhöhlen die Mücken und Fliegen wie summende Kugeln saßen.

Dr. Forster sah sehr schnell, daß er in den meisten Fällen mit den Medikamenten seiner Gürteltasche nicht helfen konnte. Er wusch ein paar vereiterte Augenhöhlen aus, schmierte Penicillinsalbe hinein und ließ die Kinder dann wieder laufen. Während der Behandlung hingen sie in seinen Armen wie betäubte Katzen und rührten sich nicht; dann, wenn er sie von sich wegstieß, rannten sie heulend davon, wurden von den Müttern aufgefangen und weggeschleppt.

Dr. Forster wunderte sich, daß er später die Kinder nicht wiedersah und sagte es Cliff. »Es ist, als ob sie die Kinder verstecken.«

»Vielleicht mästen sie sie, weil eine Götterhand sie berührte.«

Am Abend kam Cliff in das Haus und starrte Dr. Forster mit verkniffenem Mund an.

»Doc, wenn ich Ihnen sage, was ich erfahren habe, rühren Sie keinen Patienten mehr an«, sagte er heiser. »Wissen Sie, wo Ihre behandelten Kinder sind? Sie werden es nie erraten. Ihre eigenen Eltern haben sie getötet und ihre Köpfe in den Hütten an die Wand gehängt.«

»Das … das ist nicht wahr«, stammelte Dr. Forster entsetzt. Sein Gesicht verzerrte sich vor Grauen.

»Der große Gott hat ihren Kopf behandelt. Was macht man also? Man schneidet den Kopf ab und hängt ihn auf als ein Heiligtum. Für die Pygmäen ist das logisch gedacht.«

»Das … das muß man ihnen abgewöhnen«, stotterte Forster.

»Werden Sie kein Missionar, Doc!« Haller wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Wir müssen die Zeit bis zu Ellens Heilung überstehen, weiter nichts. Und wenn sie ihren Frauen die Brüste abschneiden und uns zum Geschenk bringen …, wir nehmen sie an, Doc! Wir müssen alles tun, um Ruhe zu haben und die Götter zu spielen.«

***

Der Bruch an Ellens Bein heilte anscheinend gut. Es stellten sich keine Komplikationen ein, die Schienung hielt besser, als es Dr. Forster erwartet hatte, die Lianen und großen Blätter, die nach ihrer Austrocknung wie eine Gipsbinde das Bein umschlossen, waren besser als jedes normale Verbandsmaterial. Die große Gefahr, daß der Bruch schief eingerenkt war und man später das Bein noch einmal brechen mußte, um es gerade zu richten, schien gebannt zu sein. Ohne Röntgenkontrolle, nur auf den Tastsinn seiner Finger angewiesen, war das eine große Leistung Dr. Forsters. Cliff Haller meinte dazu: »Wozu sind Sie Chirurg, Doc?! Jeder muß sein Handwerk verstehen. Sie heilen Knochen, ich grabe Geheimnisse aus.«

Die Pygmäen taten alles, um ihre weißen Götter bei guter Laune zu halten. Sie brachten Fleisch in riesigen Mengen, Früchte und Wurzelgemüse, vergorenen Palmsaft und Wasser. Mit dem Wasser war Cliff vorsichtig. Er kochte es erst ab, ehe er es zum Trinken freigab. Bis auf diese gute Verpflegung aber kümmerten sich die kleinen, rotbraunen Menschen nicht um ihre Götter. Solange Cliff und Dr. Forster in der großen Hütte blieben, waren sie ungestört …, nur wenn sie ausgingen, folgten ihnen im Abstand von drei Metern immer sechs oder acht Krieger – wie eine Leibwache, die den kostbarsten Besitz des Stammes beschützen soll. In Wahrheit waren es Wächter, die darauf zu achten hatten, daß die Götter immer im Gebiet des Stammes blieben, und die den Befehl hatten, alle fremden Stämme sofort mit Giftpfeilen zu beschießen, sobald sie sich den Göttern näherten.

Cliff erkannte das schnell und verzog das Gesicht.

»Sie haben eine merkwürdige Art der Gastfreundschaft«, sagte er zu Forster. »Sie betrachten selbst die Götter als ihr Eigentum. Es wird ein Problem werden, wenn Ellen wieder laufen kann und wir die Zwerge verlassen.«

In der zweiten Woche deuteten alle Anzeichen darauf hin, daß die Pygmäen ein Fest feiern wollten. Die Männer schmückten sich mit Vogelfedern, die Frauen bemalten sich mit gelber Asche. Zwei junge Mädchen, klein wie Kinder, aber körperlich voll entwickelt, wurden mit rötlichem Lehm beschmiert und mit Blumengirlanden behangen. Im Hause des Häuptlings wurde um die gleiche Zeit ein Jüngling hergerichtet. Der Medizinmann bemalte den Körper des Jungen mit groben Strichen aus Pflanzenfarben; besondere Sorgfalt widmete er dem Geschlechtsteil … es wurde rundherum mit einer leuchtendroten Farbe angestrichen.

Und dann dröhnten dumpf die langen, hohlen Baumtrommeln, formierten sich die Männer zu einem Block aus nackten, zuckenden Leibern, dem der Block der aschebeschmierten nackten Weiber gegenüber stand, drei Sänger neben der Trommel stimmten ein schauriges Geheul an, das wie bei einer Sirene auf- und abschwoll. Cliff und Dr. Forster, die erschreckt vor die Hütte liefen und die Gewehre entsicherten, starrten entgeistert auf die beiden Menschenreihen, die sich mit rhythmischen Zuckungen auf sie zubewegten.

Vor den Männern tanzte der nackte Jüngling mit seinem leuchtendroten Geschlecht – vor den Weibern hüpften die beiden Mädchen in ihrem Lehmpanzer, der nur die Brüste und den Unterleib freigab.

»Verdammt –«, sagte Cliff und stützte sich auf sein Gewehr. »Das sieht so aus, als wollten sie uns etwas Gutes tun. Die Mädchen sind für uns …, der Junge für Ellen.«

»Na, dann Prost!« sagte Dr. Forster sarkastisch.

»Man muß die Kleinen verstehen. Auch Götter lieben, denken sie.«

»Und hinterher werden die Mädchen und der Junge umgebracht.«

»Ganz sicher. Aber sie wissen es, und es ist ihnen eine Ehre.«

Die Pygmäen umtanzten jetzt die große Götterhütte. Die beiden Mädchen knieten vor Cliff und Forster, während der Jüngling wartend vor ihnen stand. Führt mich zu ihr, sagte sein Blick. Ich will die weiße Göttin glücklich machen!

»Denkste mein Sohn!« sagte Cliff und grinste breit. Er hob die Hand und schüttelte sie. Dieses Nein verstanden selbst die Pygmäen. Sie kreischten auf, stürzten sich auf den armen Jüngling und wollten ihn zerreißen. Im letzten Augenblick feuerte Cliff in die Luft, die kleinen Männer fielen wieder zu Boden, die Frauen krochen zu einem Ballen zusammen wie Würmer.

Cliff faßte den verstörten Jungen an der Hand und zog ihn in die Hütte. »Du bleibst jetzt hier«, sagte er zu ihm. Er setzte ihn in eine Ecke und deutete auf den Platz. »Hier! Und keine Bewegung.« Und zu Ellen gewandt, die das alles noch nicht verstand, rief er: »Baby, wenn er sich vom Fleck rührt, ballere ihm eins vor die Füße. Die lieben Gastgeber haben ihn abgestellt, damit er dein sexuelles Brachland beackert. Sie tun wirklich alles für ihre Götter.«

Ellen richtete sich auf und legte ihre Pistole griffbereit neben sich. »Was ist denn draußen los, Cliff?«

»Ein tolles Fest. Für uns stehen zwei Jungfrauen bereit.«

»Willst du die auch in die Hütte holen?«

»Das gäbe Komplikationen.« Cliff grinste und lief zurück zur Tür. Dort erschien Dr. Forster und winkte.

»Alles vorbei. Sie haben das Fest abgebrochen.«

»Das ist ein schlechtes Zeichen.« Cliff blickte ernst auf Ellen hinunter. »Wir haben ihr Geschenk verschmäht. Weiß der Teufel, was die Steinzeit-Zwerge sich nun ausdenken!«

Sie traten vor das Haus und sahen sich um. Der Platz war leer. Die Männer und Frauen hatten sich in ihre Hütten verkrochen, nur der Häuptling und der Medizinmann saßen am Rande des Tanzfeldes wie kleine Erdhügel. Hinter ihnen, zwischen zwei Bäumen, schienen Häute aufgespannt zu sein. Cliff Haller wurde bleich und faßte Dr. Forster am Arm.

»Doc …, sehen Sie nur …, hinter den Kerlen …« Seine Stimme verlor allen Klang. »Sie haben die unglücklichen Mädchen getötet und zwischen die Bäume gehängt. Kommen Sie … wir werden ihnen zeigen, was wir davon denken.«

Sie luden ihre Gewehre durch, klemmten sie unter die Achsel und gingen langsam auf die grauenhafte Richtstätte zu. Der Häuptling und der Medizinmann beugten sich tief mit den Köpfen zur Erde. Cliff gab beiden einen Tritt, sie kollerten wie Holzpuppen ein paar Meter weit über den Boden.

Die Mädchen waren schrecklich zugerichtet, ein Anblick, bei dem selbst Cliff ein Würgen überfiel. Über das Gesicht Forsters lief ein Zittern.

»Wir begraben sie, Doc –«, sagte Haller leise. »Holen Sie Mocos Spaten.«

Eine Stunde lang hoben sie das Doppelgrab aus, legten die zerhackten Mädchenkörper hinein und schaufelten die Grube wieder zu. Dann steckte Dr. Forster ein Kreuz auf den kleinen Hügel – er hatte es aus zwei dicken Ästen und Lianenschnüren gezimmert.

Am nächsten Morgen war das Kreuz geschmückt. Am Querbalken hingen, wie zum Trocknen aufgehängt, frisch abgeschlagene Köpfe. Krieger der Pygmäen hatten sie von einem Streifzug ins Nachbargebiet mitgebracht.

»Es ist schwer, Missionar zu sein«, sagte Cliff sarkastisch zu Dr. Forster. »Ihr Kreuz ist zu einer neuen Kultstätte geworden.«

***

In der fünften Woche unternahm Ellen die ersten Gehversuche. Gestützt auf Cliff und Forster humpelte sie in der Hütte herum, ging dann ein paarmal über den Platz und ließ sich später erschöpft auf das Lager zurückfallen.

»In einer Woche läufst du wie ein Reh!« sagte Cliff anerkennend. »Und in einer Woche ziehen wir weiter. Ich habe die Karte studiert. Wir müssen hier in der Nähe des Rio Coari sein. Unser Mistfluß muß da entspringen, wo auch der Coari herkommt. Gelingt es uns, ihn zu erreichen, haben wir das Leben zurückgewonnen. Dann schwimmen wir geradewegs zum Amazonas und nach Manaus.«

»Und in die Arme von Cascal«, sagte Ellen.

»Nein. Für die Menschen da draußen sind wir verschollen, verkommen, tot! Vom Urwald aufgefressen. Wir werden den Amazonas hinunterschwimmen wie Ferienreisende, und keiner wird uns beachten. Gefährlich wird es erst wieder in Manaus.«

Nach weiteren acht Tagen war Cliff aufbruchbereit. Er hatte den Jüngling, der wie ein Sklave um sie herum war, so weit unterrichtet, daß er ihm durch Zeichen und Laute klarmachen konnte, was er wollte. Jetzt erklärte er ihm, daß sie weg wollten. Er zeichnete mit einem Ast ein Kanu auf den Boden, in dem vier Menschen saßen. Dann zeigte er auf Ellen, sich, Dr. Forster und den jungen Pygmäen.

Der kleine Mensch nickte ängstlich. Er verstand. Die weißen Götter wollten weiterziehen. Die große Ehre des Stammes erlosch. Demütig kniete er in seiner Ecke und beobachtete Cliff und Dr. Forster, wie sie ihr Gepäck zusammenschnürten.

Dann warteten sie die Nacht ab. Ein glitzernder Sternenhimmel war über ihnen, als sie leise die große Hütte verließen und zunächst im Schatten der Hauswand stehenblieben.

Das Dorf schlief. Es brannte kein Feuer, nur die vielfachen Laute des nächtlichen Urwaldes umschlossen die niedrigen runden Hütten.

Der Jüngling winkte. Er führte sie einen anderen Weg zum Fluß als den, welchen sie gekommen waren. Er schlug einen weiten Halbkreis, trabte ihnen auf einem schmalen Pfad voran und fuchtelte mit den Armen durch die Luft, wenn Cliff sichernd stehenblieb und in die Nacht lauschte.

»Wir müssen ihm voll und ganz vertrauen«, flüsterte er Ellen und Forster zu. »Er hat uns jetzt in der Hand.«

Der Pfad mündete wieder auf den Weg, der zum Fluß führte. Und hier, vielleicht dreihundert Meter vom Dorf entfernt, hörten sie plötzlich schrille Schreie und sahen dann einen Feuerschein, der den Nachthimmel erhellte.

»Jetzt haben sie die Flucht entdeckt!« schrie Cliff. Er packte Ellen und schob sie vor sich her.

»Rudolf!« rief Ellen und zerrte an Cliff wie einer Eisenklammer harten Hand. »Wo ist Rudolf? Sie kommen nicht mehr mit!«

»Er ist hinter uns! Verdammt … weiter! Es hat doch keinen Sinn, stehenzubleiben!«

»Rudolf!«

Ellen stemmte die Beine gegen den Boden. Cliff riß sie weiter und als sie sich wehrte und losreißen wollte, schlug er ihr mit der freien Hand ins Gesicht.

»Er bleibt zurück!« schrie sie. »Wir können doch Rudolf nicht allein lassen!«

Der Weg zum Fluß. Nur noch hundert Meter.

Ob das Kanu noch am Ufer liegt? Nach sechs Wochen?

Oder hatten es die Pygmäen zerstört? War es im Wasser verfault? Spannte sich das Netz noch immer über den Fluß? Mußten sie jetzt zu Fuß in die unbekannte Hölle flüchten?

Cliff Haller zog Ellen hinter sich her. Zweimal fiel sie hin, und jedesmal zerrte er sie wieder hoch, schob das Gepäck wieder auf ihren Rücken und rannte weiter.

Dr. Forster sahen und hörten sie nicht mehr. Er war, als sie den Hauptweg zum Fluß erreicht hatten, gestolpert und hatte sich den Fuß böse verstaucht. Humpelnd, von den Schmerzen zerrissen, schwankte er weiter, stützte sich auf den kleinen Menschen, der bei ihm blieb und wußte in diesen Minuten, daß hiermit sein Leben abgeschlossen war.

Er hörte Ellen seinen Namen rufen, aber er gab keine Antwort. Lauf – Ellen, dachte er. Lauf … kümmere dich nicht um mich … rette dich mit Cliff, werde glücklich mit ihm …, ich weiß, daß du ihn liebst und nicht mich …, ich habe keine Chance gegen diesen Mann, ich bin nur ein Trottel von Wissenschaftler, ein gutmütiger Kumpel …

Lauf, Ellen, lauf …

Vom Dorf kamen sie gerannt wie die wilden Affen. Ihr Gekreisch zerfetzte einem das Herz. Sie schwangen brennende Äste.

Er blieb stehen und gab dem Jüngling einen Stoß vor die Brust. »Los!« schrie er den Kleinen an. »Rette dich.« Er zeigte nach vorn, wo Cliff und Ellen in der Dunkelheit verschwunden waren. »Warum rennst du nicht weg?!«

Der Jüngling schüttelte stumm den Kopf. Er setzte sich vor Dr. Forster auf die Erde und legte, ergeben in sein Schicksal, die Hände gegeneinander.

Cliff und Ellen erreichten in diesem Augenblick den Fluß. Das Kanu lag nicht mehr an der Landestelle, nur ein paar leichte Rindenboote der Pygmäen, zierlich wie Kähne in einem Zwergenmärchen, schaukelten im Wasser. Das Netz war eingezogen, der Fluß war frei.

»Hinein!« schrie Cliff und stieß Ellen zu den Booten.

»Rudolf! Wir können nicht ohne ihn flüchten. Cliff, ich flehe dich an … laß uns warten!« Sie wehrte sich, als Haller sie in eines der kleinen Boote hob und mit einem kräftigen Ruck die Lianen-Leine vom Pflock riß.

»Er wird ein anderes Boot nehmen!« keuchte er und stieß vom Ufer ab. »Er ist unmittelbar hinter uns. Da …«

Aus dem Wald bellten ein paar Schüsse. Ellen richtete sich auf und legte beide Hände als Trichter vor den Mund.

»Rudolf!« schrie sie hell. »Hierher! Hierher! Hier sind Boote!«

Dr. Forster lehnte an einem Baum und wartete auf die Schar der schreienden Pygmäen. Er konnte keinen Schritt mehr laufen, das Knöchelgelenk schwoll an und jeder Schritt war wie das Eintauchen in glühendes Pech. Er wußte jetzt, daß ihm nur wenige Minuten blieben, und er nutzte sie mit einer Kaltblütigkeit aus, die ihm niemand zugetraut hätte.

Jetzt ist Ellen am Fluß, dachte er fast glücklich. Sie sind gerettet. Sie werden weiterleben, wenn der Urwald sie wieder freigibt. Ich habe mein Versprechen gehalten: Ich werde Ellen beschützen, solange es mir möglich ist.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das durch die Adern zum Herzen und zum Gehirn kroch – jetzt, da sein Leben nur noch nach Minuten zählte …

Dr. Forster hob sein Gewehr. Ich werde euch noch einige Minuten Vorsprung verschaffen, dachte er. Nutzt sie aus, Ellen und Cliff. Wartet nicht auf mich. Rettet euch!

Er legte an, als die geballte Masse der kleinen kreischenden Menschen auf ihn zurollte. Fackelschein erhellte zuckend die verzerrten Gesichter.

Die Götter verlassen das Dorf. Haltet sie fest! Solange sie bei uns sind, sind wir unbesiegbar. Holt sie zurück!

Dr. Forster zielte. Dann drückte er ab und fegte den ersten Krieger vom Weg. Als die Kugel in den kleinen, braunen, glänzenden Körper schlug und der Mann zur Seite wirbelte, blieben die anderen stehen und bildeten eine starre Wand wie in den Boden gerammte Hölzer.

Noch sechsmal schoß Dr. Forster, und die Getroffenen fielen um, als habe man sie über dem Boden abgesägt. Dann stellte Forster das Gewehr auf die Erde, lehnte seine Brust über den Lauf und drückte ab.

Der Schlagbolzen machte plopp, aber kein Schuß löste sich.

Das Magazin war leer.

»Mein Gott, warum das noch?« stammelte Dr. Forster mit weiten, entsetzten Augen. Sein Gesicht verzerrte sich in unendlicher Qual. Er sah das grauenhafte Bild der hingeschlachteten beiden Mädchen vor sich, die man zwischen die Bäume wie Häute gespannt hatte, und starrte in die stumme, braune, vom Fackelschein umloderte Mauer der kleinen Menschen, die sich jetzt in Bewegung setzte wie eine Prozession.

Forster schloß die Augen. Er nahm sich vor, stumm zu sterben und betete innerlich, daß es schnell gehen möge. Ein Gewimmel von Händen griff nach ihm, zerrte ihn vom Baum, sein verstauchter Fuß schoß den Schmerz bis unter die Kopfhaut, er knirschte vor Pein mit den Zähnen … aber dann spürte er, daß niemand ihn aufschlitzte, daß sich keine spitzen Steinmesser in seinen Körper gruben, sondern daß man ihn hochhob, daß sechs oder acht oder zehn kleine, braune Körper unter ihn krochen, ihn stützten und wegtrugen und feierlich mit ihm auf ihren Rücken zurück ins Dorf marschierten. Dort legte man ihn in der großen Hütte auf sein altes Lager und ließ ihn dann allein. Nur noch einmal wurde er gestört – der Medizinmann kam herein und legte ihm einen abgeschlagenen Kopf zu Füßen.

Den Kopf des Jünglings.

Ein Dorf opferte seinem Gott, der bei ihm geblieben war.

Dr. Forster schlug beide Hände vor das Gesicht.

Er durfte weiterleben, aber sein Schicksal war der Urwald geworden.

Man hörte nie wieder von ihm. Er tauchte nie wieder auf.

Auch später, als man dieses unbekannte Gebiet durchkämmte und aus der Luft erforschte, zeigte sich keinerlei Leben im Dschungel. Die Zwergenmenschen wurden nie gefunden. Aber man nimmt an, daß Dr. Forster noch heute als Gott der Pygmäen lebt.

Er war erst 31 Jahre alt.

***

Zwei Monate später tauchten am Rio Coari ein Mann und eine Frau aus dem Dunkel der Grünen Hölle auf.

Wie Gespenster schwankten sie an den großen Fluß, fielen am Ufer in den Sand und blieben dort liegen, als seien sie beim Anblick der Freiheit aus Freude gestorben.

Sie lagen bis zum nächsten Morgen am Ufer, in einem Schlaf totaler Erschöpfung, die schon mehr einer Ohnmacht glich.

Cliff Haller wachte als erster auf, kroch an das Wasser und wälzte sich im Fluß wie ein Tier. Es war eine flache, ausgespülte Bucht ohne Piranhas und Alligatoren, nur zwei dicke Wasserschlangen lagen träge in der Sonne. Cliff hinderten sie nicht an seiner wilden Sehnsucht nach kühlendem Wasser … sie schwammen zum Ufer und überließen ihm den Tümpel.

Nachdem er sich über zehn Minuten im Wasser gewälzt hatte, watete er an Land, warf sich neben Ellen auf die Erde, umarmte sie, hob ihren Kopf hoch und küßte sie. Er küßte sie so lange, bis sie aufwachte und mit einem hellen Aufschrei die Arme um seinen Hals warf.

»Gerettet!« schrie Cliff und wälzte sich mit ihr durch den Sand. Er benahm sich wie ein Irrer, lachte und küßte sie, sprang dann auf und riß sie zu sich empor. Mit einer weiten Armbewegung umfaßte er den Urwald und den mächtigen, breiten Fluß. »Das Leben!« schrie er. »Ellen, Baby – so sieht das Leben aus! Wir sind neu geboren worden!«

In den nächsten Tagen bauten sie sich eine Blätterhütte und begannen dann Bäume zu fällen und ein Floß zu zimmern. Cliff entdeckte eine Gruppe von Balsabäumen, deren Holz so leicht wie Kork war und als unsinkbar galt. Er baute zunächst ein kleines Floß mit großem Ruder und fuhr auf Erkundung den Rio Coari hinab. Nach sechs Stunden kam er wieder, erschöpft, ausgepumpt, besiegt von der Strömung des Flusses.

»Vier Meilen von hier ist eine kleine Siedlung«, sagte er, als er gegessen hatte und neben Ellen unter dem Blätterdach lag. »Zivilisierte Indios und ein paar Weiße. Ich nehme an, Landvermesser. Dahinter wird der Fluß so breit, daß man mit der Strömung mitgerissen wird, man kann tun, was man will. Das ist gut, Baby. Wir werden in einer Nonstopfahrt zum Amazonas kommen.«

Nach drei Wochen war das große Floß fertig. Cliff kappte die Lianen, legte den Arm um Ellen und hob die rechte Hand an den Kopf.

»Wir taufen es Rudolf«, sagte er feierlich, als das Floß in den Fluß rutschte und das Wasser über ihm zusammenschlug, ehe es wieder auftauchte. Es war das erste Mal, daß er Forsters Namen wieder erwähnte. Ellen nickte stumm und drückte den Kopf an Cliffs Brust.

Drei Tage brauchten sie, um das Floß mit Lebensmitteln, Frischwasser und Brennholz zu beladen. Cliff fing wilde Schweine in Fallgruben, zerlegte sie, und Ellen briet sie über dem offenen Feuer, damit das Fleisch sich hielt. Aus ausgehöhlten Kürbissen machte Cliff Töpfe und Wassergefäße, konstruierte Vorratskisten aus Rundhölzern, die er mit Lianen zusammenband und in die sie das gebratene Fleisch stapelten.

Dann war endlich die Stunde gekommen, in der sie das Floß vom Ufer abstießen und in die Mitte des Rio Coari trieben. Cliff lenkte mit dem großen Ruder in der Gabel am Heck des Floßes, und es gelang ihnen schneller, als sie gedacht hatten, in die Strömung zu kommen. Mit einer Geschwindigkeit, als triebe sie ein Motor an, schossen sie den Fluß hinunter.

Ellen lief nach hinten zu Cliff, umarmte ihn und küßte ihn. Plötzlich weinte sie und kauerte sich zu seinen Füßen.

»Ich hätte nie geglaubt, daß wir jemals wieder aus dem Wald herauskommen«, schluchzte sie. »Ich hatte abgeschlossen, Cliff … ich war schon tot!« Sie sah sich um, sah den breiten Fluß, die vorbeigleitenden grünen Ufer, den blauen Himmel und die verdammte, verfluchte, geliebte, gehaßte, gelobte Sonne. »Und jetzt fahren wir … wir fahren, Cliff … wir leben wirklich … und alles, alles ist vorbei!«

»Alles, Baby.« Cliff Haller biß die Zähne zusammen. Noch haben wir Manaus nicht hinter uns, dachte er. Noch sind wir nicht in Rio. Noch fliegen wir nicht im Jet nach Florida.

Ich habe die beiden Filme noch bei mir … ich habe sie die ganze Zeit bei mir gehabt, in einem Lederbeutel auf der Brust. Die Filme, die Millionen wert sind, die einen Staat erschüttern können. Die Filme, die zwei Leben wie unsere Leben wert sind.

Die Jagd, Baby, ist noch nicht zu Ende. Wir sind von einer Gnadenlosigkeit nur zurückgekehrt in eine andere Gnadenlosigkeit. Und sie ist gefährlicher als die kleinen Pygmäen – hinter ihr stehen Tausende Gehirne, die wie Computer arbeiten.

Erst wenn wir wieder drüben in Florida sind, gehört unser Leben wieder uns.

***

Sie trieben drei Wochen auf dem Rio Coari, bis sie endlich durch den Coari-See den Amazonas erreichten.

Sie fuhren nur nachts … tagsüber schliefen sie an einsamen Ufern, unter überhängenden Bäumen, füllten ihre Eßvorräte auf und sammelten das Regenwasser für den Durst.

Zweimal legte Cliff in der Nacht nahe einer Siedlung an, ging an Land und kam dann mit Sachen beladen zurück. Er brachte eine Axt mit, zwei Decken, eine kleine Zinkwanne, einen Flaschengaskocher, Salz und Pfeffer, zwei Küchenmesser und eine Brieftasche mit 2.000 Escudos.

***

Auch auf dem Amazonas ließen sie sich nur des Nachts treiben, bis sie in der kleinen Urwaldstadt Codajás an Land gingen.

In einem Magazin, das die Kautschuksammler und andere Abenteurer ausstattete, kaufte Cliff sich von dem gestohlenen Geld einen neuen Tropenanzug und für Ellen eine Leinenhose und ein weites Leinenhemd. Zum ersten Mal seit Monaten rauchte er wieder eine Zigarette. Es war wie ein Fest. Allein saß er draußen auf der Bank vor dem Magazin und inhalierte den Rauch wie Medizin. Erst jetzt, dachte er, bin ich wirklich zurück.

Ich rauche eine amerikanische Zigarette.

Wie Touristen, nur ein wenig unbequemer, aber sonst mit allem versorgt, ließen sie sich weitertreiben bis kurz vor Manaus. Das Floß versagte nie, die Lianenverschnürungen hielten. Am Tage herrschte jetzt auf dem Amazonas ein reger Schiffsverkehr … die Nähe der großen Stadt Manaus machte sich bemerkbar. Schleppkähne mit wertvollem Edelholz schwammen träge stromabwärts, kleine Motorboote schwirrten um sie herum wie Mücken. Nachts aber war der Amazonas still, verträumt wie ein Märchenfluß, in dem sich der Mond spiegelte. Das war dann die schönste Zeit von ihrer Reise … sie glitten mit ihrem Floß wie durch flüssiges Silber.

Manaus.

Die brodelnde Urwaldstadt. Aus dem Boden gestampft von den Glücksrittern wie die Goldgräberstädte in Kalifornien und Alaska. Eine Stadt, hingespuckt in den Dschungel, am Zusammenfluß von Amazonas und Rio Negro.

Cliff Haller und Ellen betraten Manaus völlig unauffällig. Ihr Floß hatten sie bei Salgada verlassen und mit allen noch vorhandenen Lebensmitteln und Geräten im Strom versenkt. Cliff hieb die Lianen los und ließ die einzelnen Stämme wegtreiben. Dann kauften sie sich zwei Maulesel und jeder einen breiten Strohhut und ritten wie hundert andere Einwohner der Stadt entgegen.

Die erste Telefonzelle, die sie sahen, zog Cliff magisch an. Er fühlte sich jetzt so sicher, daß er seinen persönlichen Triumph nicht mehr zurückhalten konnte.

Um 15.43 Uhr klingelte bei General Aguria das Telefon. Aguria blickte unwillkürlich auf die Uhr, weil ihm die Vermittlung sagte, ein anscheinend Verrückter wolle ihn sprechen.

»Was gibt es?« schrie Aguria in den Hörer. »Wer sind Sie?«

»Hier spricht Haller«, sagte Cliff genußvoll. »Cliff Haller. Ich habe das Rennen gewonnen, General. Die Fotos sind auf dem Wege nach Washington. Ich wollte Ihnen nur noch eines sagen: In Ihren verdammten Urwald gehe ich nicht wieder! Leben Sie wohl, General.«

Aguria legte den Hörer langsam zurück, als sei er aus Blei. Er wischte sich über das Gesicht, seufzte tief und nahm den Hörer wieder auf.

»Sergeant«, sagte er zu der Vermittlung. »Das Ministerium in Rio, den Chef der Abwehr und Señor Cascal. Die Nummer haben Sie. Zuerst Cascal …«

Er wartete etwa vier Minuten, dann klingelte es. Cascals nüchterne Stimme meldete sich.

»Was gibt's, Herr General?« fragte er. »Soll ich rüberkommen zum Kartenspiel?«

»Ja, José. Ich habe eine wundervolle Pokerkarte hier. Cliff Haller ist in Manaus …«

Aguria hörte, wie drüben Cascal laut aufschnaufte und dann wortlos die Verbindung abbrach.

Der Jäger hatte sein Wild wiedergefunden.