Neuntes Kapitel

Im Zentralbüro des brasilianischen Geheimdienstes in Rio de Janeiro war die Stimmung weniger lässig als bei den Amerikanern. Während Cliff Haller und Ellen sich in der Villa des kleinen Cook unter die Brause stellten und den fauligen Geruch von Urwald und Dschungel zum x-tenmal von sich spülten und sich einseiften, als könnten sie die vergangenen Monate damit von sich abwaschen, saßen ein paar tausend Meter weiter einige ernste Männer um einen ovalen Tisch, rauchten schweigend, tranken Kognak und hörten auf den Bericht, den José Cascal vortrug.

Cascal hatte sich für diesen Auftritt gut vorbereitet. Jedes Wort war genau überlegt. Die Schuld am Versagen aller Sicherheitsmaßnahmen schob er geschickt dem Geheimdienst selbst zu. »Es ist unmöglich, daß ein Projekt wie die Raketenbasis unbemerkt bleibt«, sagte er am Schluß seiner Verteidigung. »Die Zeiten, in denen man Versteck spielen kann und die anderen herumlaufen wie blinde Kühe, ist vorbei. Wo mehr als zwei Augen etwas sehen, gibt es keine Geheimnisse mehr. Der Fehler liegt allein in der Dimension, Señores: Einzelne Raketen, verteilt über größere Gebiete, das läßt sich verdunkeln, aber eine ganze Basis mit eigenem Flugplatz … wie soll man so etwas schützen?«

Die Generale sahen schweigend auf die große Karte des Tefé-Gebietes, die wie eine Decke den Tisch bedeckte. General Aguria kaute an der Unterlippe. Für ihn war die Karriere beendet. Er erwartete auch keine Gnade. Ein Posten irgendwo in einem Urwaldkommando, das war schon eine Auszeichnung, mehr, als er erhoffen durfte. Früher waren unfähige Offiziere einfach verschwunden. Wohin, danach fragte niemand, denn vieles Fragen war gefährlich.

»Ich habe nur Befehle ausgeführt, weiter nichts«, verteidigte er sich müde. »Ich bekam die Pläne und realisierte sie.«

»Señores!« Der Chef des Geheimdienstes, ein Mann, den alle nur unter dem Namen Dariques kannten und von dem jeder wußte, daß er falsch war, fächelte sich mit einem Blatt Papier Kühlung zu. »Uns interessiert nur: Was sagen wir den Amerikanern?« Er schwenkte wieder den Zettel. »Hier ist der offizielle Protest aus Washington. Blitzschnell arbeiten die Burschen dort! Neben der Note haben sie sogar schon einige Fotos der Basis an unser Außenministerium gefunkt. Übrigens gute, klare Aufnahmen. Dieser Haller ist ein absoluter Könner!« Er warf einen Seitenblick auf Cascal. Über Cascals Gesicht zuckte es wie Wetterleuchten. Der Haß zerfraß ihn von innen wie Säure. »Das ist die Lage: Die USA verlangen die sofortige Zerstörung der Basis und eine offizielle Vollzugsmeldung.«

»So tief es uns trifft, so sehr unsere vaterländischen Herzen auch dabei bluten werden – wir zerstören die Basis!«

»Und das … das … diese Entehrung will man auf sich nehmen?« stotterte einer der Generale. Seine Mundwinkel zitterten, als unterdrückten sie mit letzter Kraft das Weinen.

»Nein. Das ist der Teil der Forderung, den wir den USA nicht erfüllen. Die Basis wird nächste Woche gesprengt, in aller Stille; dann kann von mir aus die Kommission landen und den Trümmerhaufen besichtigen. Wir werden verhindern, daß sie die Herkunft der Waffen erfahren. Das wird unser kleiner Triumph der Niederlage sein!«

»Und was geschieht mit Cliff Haller?« fragte Cascal in die Stille hinein, die den Worten Dariques folgte. Eine Stille wie nach einer Begräbnisrede. Die Gedenkminute für den verlorenen Traum von Macht und nationaler Größe.

»Haller?« Dariques winkte ab. »Er interessiert uns nicht mehr. Sollen sich seine zukünftigen Gegner mit ihm herumschlagen!«

»Er allein hat unser Vaterland geschädigt!«

»Hinter ihm standen die USA, Cascal. Wie hinter Ihnen Brasilien stand. Sie haben verloren. Vergessen Sie nicht die sportliche Note unseres Berufes: Im Kampf den Gegner mit allen Mitteln schlagen … nach dem Kampf die faire Anerkennung des Siegers.« Dariques lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kognak. »Ich wünschte, ich hätte einen Cliff Haller in meinem Dienst. Washington hat einige hundert von seiner Art.«

»Ich werde ihn töten!« sagte Cascal laut. Die Köpfe der schweigend rauchenden Offiziere fuhren zu ihm herum. Dariques beugte sich vor.

»Ich gebe Ihnen dazu keinen Auftrag, Cascal!«

»Das habe ich erwartet. Trotzdem werde ich ihn töten.«

»Sie handeln dabei auf eigene Faust.«

»Ja.«

»Sie begehen einen Mord, Cascal, einen simplen Mord! Niemand wird Sie schützen, wenn man Sie als Täter festnimmt. Sie werden wie ein gemeiner Mörder behandelt werden. Und da es ein USA-Bürger ist, wird man, um ein gutes Gesicht im diplomatischen Verkehr zu behalten, den Mörder zum Tode verurteilen. Das ist im voraus sicher.«

»Es schreckt mich nicht. Señores.« Cascals Gesicht war fahl, wie mit Staub überzogen. Die schwarzen Augen brannten. »Man wird den Mörder nicht bekommen.«

»Das wissen Sie so genau, Cascal?«

»Ja. Ich brauche Cliffs Tod, um selbst weiteratmen zu können. Verstehen Sie das, Señores? Solange er lebt, ist er wie ein Stein auf meinem Herzen.« Er wischte sich über das Gesicht. Seine Hände zitterten dabei und waren feuchter als seine Stirn. »Brauchen Sie mich noch?«

»Nein.« Dariques nickte Cascal zu. »Sie können gehen. Wissen Sie, daß Haller nur noch vier Tage in Brasilien bleibt?«

»Nein.« Cascal, der schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich noch einmal um. »Nur noch vier Tage?«

»Ja. Und er wird bewacht wie ein hundertkarätiger Diamant. Schlucken Sie Ihre Rache hinunter, Cascal, und verdauen Sie sie wie einen fetten Kloß.«

»Unmöglich, General.« Cascal schüttelte den Kopf. »Vier Tage sind genug, um auch einen Cliff Haller umzubringen.«

Mit schnellen Schritten verließ er das Konferenzzimmer. Dariques schwieg, bis die Tür wieder zugefallen war. Dann sagte er langsam:

»Daran wird er zugrunde gehen, Señores. Aber es ist der einfachste Weg … Cascal erspart uns damit einige Unannehmlichkeiten.«

***

Zwei Tage lebten Cliff und Ellen wie in einem richtigen Paradies. Die Villa des kleinen Cook lag an einem Berghang, umgeben von einem Park mit blühenden Büschen und verträumt rauschenden Palmen. Ein Swimming-Pool war in eine saftige Wiese gegraben worden, und wenn man abends auf der Terrasse stand, hatte man einen märchenhaften Blick über die Millionen Lichter von Rio, das aus dieser Entfernung wie ein Zaubergarten wirkte. Ellen Donhoven war so ergriffen von der Schönheit dieser Stadt, daß sie am ersten Abend stundenlang auf der Terrasse saß und sich nicht losreißen konnte von diesem Bild glitzernder Faszination. Glücklich lehnte sie sich gegen Haller, als er hinter sie trat und die Arme um ihre Schultern legte.

»Waren wir wirklich in der Hölle?« fragte sie leise. »Cliff, ich kann's gar nicht glauben. Es liegt alles so weit zurück.«

»Gestern waren wir noch in Manaus am Amazonas. Vor zehn Stunden noch flog der Tod im selben Flugzeug wie wir.«

»Cascal! Auch er ist jetzt so weit weg –«

Haller schwieg. Manchmal ist sie noch wie ein Kind, dachte er zärtlich. Sie hat ihren Dr. med., sie ist eine verdammt mutige Person, die allein in den unerforschten Urwald zog, um Pfeilgifte zu entdecken und zu analysieren. Sie hat einen verfluchten Dickkopf und kann schießen wie ein Mann, und als ihr Freund Dr. Forster im Urwald blieb, war sie tapferer, als ich es vielleicht gewesen wäre. Himmel noch mal, sie ist eine ungewöhnliche Frau, das Seltsamste und Schönste, Wildeste und Zärtlichste, was ich jemals in einem Rock erlebt habe, aber jetzt ist sie wie ein Kind, das vor einem Weihnachtsbaum sitzt und die Kerzen bewundert.

»Er ist ganz in der Nähe, unser Freund José«, sagte Cliff und küßte Ellens Augen. Sie hatte den Kopf weit nach hinten gelegt. »Unmöglich. Wir sind doch im Paradies, Cliff.«

»Das mit einer Mauer umgeben ist, und der Drahtverhau darauf ist mit Starkstrom geladen.«

»Glaubst du, daß sie uns noch immer verfolgen, Cliff?« fragte Ellen.

»Solange wir in diesem Land sind, haben wir keine Ruhe. Dafür sorgt schon Rita.«

»Du hast sie geliebt, nicht wahr, Cliff?«

»Ich kannte dich noch nicht«, wich er aus.

»Wenn du mich nie gesehen hättest – wie wäre es weitergegangen mit dir und Rita?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht wie immer …«

»Ein Händedruck, ein paar liebe, unnütze Worte, ›leb wohl, Baby, es war wunderbar‹, und dann das große Vergessen. So ist's doch?«

»Ja. Wenn aus jedem Flirt eine Affäre würde – verdammt, das Heulen und Zähneklappern wäre lauter als in New York der Verkehr um 17 Uhr.«

»Und was wird aus uns, Cliff?«

»Was für eine Frage, Ellen. Wir heiraten.«

Cliff streichelte ihren Körper, und der gab unter dem dünnen Kleid Antwort mit einem zuckenden Beben. Ellen Donhoven spürte eine Hitzewelle durch ihren Körper fluten. »Willst du die ganze Nacht hier draußen sitzen und mit Rio poussieren?« fragte er.

»Nein, Cliff.« Sie stand auf und dehnte sich. Seine Hände hielten noch immer ihre Brüste umspannt. »Ich liebe dich, Cliff.«

»Das gehört sich auch so.« Er lachte sein jungenhaftes, entwaffnendes Lachen, hob sie auf seine Arme und trug sie ins Haus. Mit den Füßen stieß er die Türen auf und zu, und sie sprachen kein Wort mehr miteinander, bis sie sich auf dem Bett aneinanderklammerten und in einer gemeinsamen Flamme verbrannten.

Über Rio lag eine jener Nächte, die den Verstand rauben kann.

Für Cliff und Ellen war das Paradies vollkommen.

Der Abend darauf sah Cliff Haller und Ellen Donhoven im Hause des Botschafters. Brasilien feierte irgendeinen Gedenktag seiner wildbewegten Geschichte, und Botschafter Ralf Pitters hatte zum Beweis der freundschaftlichen Verbundenheit zwischen Brasilien und den USA die Spitzen der Gesellschaft von Rio de Janeiro in seine Residenz geladen. Eine Pracht für sich waren die Generale, unter ihnen auch General Aguria. Ordenbehangen, glitzernd, wie aus dem Bilderbuch, standen sie in kleinen Gruppen mit den anderen ausländischen Diplomaten zusammen und diskutierten über unwichtige Alltagsdinge. Keine Silbe fiel über die Raketenbasis im Urwald von Tefé, mit keinem Wort wurde ein politisches Problem berührt.

Der kleine Cook, überall zu finden und ebenso schnell wieder verschwunden, hatte gleich bei Cliffs Eintritt in die amerikanische Botschaft Ellen von ihm losgeeist.

»Das könnte dir so passen, die schönste Frau des Abends wie eine Uhrkette herumzuschleppen!« sagte der Kleine. Er machte eine linkische Verbeugung vor Ellen, schob ihren Arm aus Cliffs Handgriff und zog die Verblüffte mit sich fort.

Cliff bummelte unterdessen hinüber zum Swimming-Pool, ließ sich von einem der zahlreichen Diener ein Glas Sekt bringen, umkreiste die im matten Licht von Lampions lachenden oder flirtenden Gruppen in ihren tiefen Gartensesseln, blieb ein paarmal stehen, um eine besonders schöne Frau zu mustern und trödelte dann weiter, tiefer in den Park hinein, wo aus der Dunkelheit das Flüstern und Kichern hinter Büschen verborgener Paare der lauen Nacht eine neue Melodie gaben.

Plötzlich blieb er stehen. Sein Körper wurde steif, das Gesicht versteinerte sich. Die Hände in den Taschen seines Anzuges ballten sich zur Faust.

»Cliff Haller«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Gleichzeitig drückte sich ein runder, metallischer Gegenstand in Cliffs Rücken. Er brauchte nicht zu raten, was es war. »Behalten Sie die Hände nach guter, alter amerikanischer Art in den Taschen und gehen Sie weiter.«

»Cascal.« Cliff blickte in den herrlichsten Sternenhimmel, den er je gesehen hatte. »Eine so schöne Nacht, und Sie machen so häßliche Dinge. Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«

»Das Problem, mit Ihnen wieder hinauszukommen, ist wesentlich größer.« Die Stimme Cascals klang ruhig und sicher. Sie befanden sich in einem Teil des weiten Parks, wo die Lampions und die in den Rasen gesteckten bunten, flackernden Windlichter sie nicht mehr erreichten.

»Muß das sein?« fragte Cliff Haller.

»Es muß.«

»Sie können mich auch zehn Schritte weiter abknallen, Cascal. Dort ist es völlig dunkel und ich nehme an, als Profi haben Sie einen Schalldämpfer auf dem Lauf.«

»Genau wie Sie es machen würden, Cliff. Jetzt ist das Glück bei mir. Ich kann es gebrauchen nach der ewigen Pechsträhne. Wissen Sie, daß ich vogelfrei bin?«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich werde Sie nicht im Auftrag des Geheimdienstes umbringen – für den sind Sie der sportliche Sieger. Unsere Abrechnung ist absolut privat.« Cascal drückte den Lauf seiner Pistole härter in Cliffs Rückgrat. »Gehen Sie langsam weiter und pfeifen Sie eine lustige Melodie.«

»Bitte. Was soll's sein? Was hören Sie gern? Etwas aus der West-Side-Story? Oder den Old Man River? Aber ich warne Sie, Cascal – ich bin nicht ausgesprochen musikalisch. Ich treffe nicht immer den richtigen Ton.«

»Ist das eine Spezialität von Ihnen?« Cascals Stimme troff von Spott. Er fühlte sich sicher, er war jetzt der Sieger.

Langsam gingen sie durch den Park, im Gleichschritt, wie zwei strafexerzierende Soldaten. Sie erreichten die Mauer, die das große Grundstück der Residenz umzog, eine drei Meter hohe Wand, deren Kamm mit eisernen Spitzen gespickt war. Cliff Haller grinste und nickte dann mit dem Kinn hinauf. »Elektrisch geladen. Da kommen Sie nie rüber, Cascal.«

»Warten Sie's ab. An dieser Stelle ist die Mauer nur noch einen Zentimeter dick. Von draußen haben wir ein Loch herausgebrochen und nur noch von innen den Putz stehenlassen, damit die Posten bei ihrem Rundgang nichts merken konnten. Wenn ich das Signal gebe, fällt der Putz zusammen.«

»Dann blasen Sie das große Halali, Cascal. Ich frage mich nur: warum solche Umstände? Machen Sie den Finger krumm und wenn das leise Plopp vorbei ist, haben Sie keine Probleme mehr.«

»Ich muß ein Versprechen erfüllen, Cliff.« Cascals Miene verzog sich zu einer Fratze. »Glauben Sie mir: Ohne dieses Versprechen lägen Sie längst auf dem Gesicht.« Er stieß einen hellen Pfiff aus, der Haller zu einem breiten Grinsen reizte. Das ist alles so unwirklich, dachte er. So lächerlich. So kolportagehaft. Und doch ist es der Vorhof zum Tod.

Er überlegte, was er unternehmen konnte, um sich aus dieser prekären Lage zu befreien. Jenseits der Steinwand hörte Cliff jetzt Geräusche. Ein leises Hämmern und Schaben, dann einen Stoß … die Mauer brach auf fast einen Meter fünfzig Höhe zusammen, ein Loch war entstanden, durch das ein Mensch bequem hindurchschlüpfen konnte. Cascal winkte mit der Pistole.

»Hinaus, Cliff!«

Haller sprang durch das Mauerloch. Aber aus seinem Plan, gleich weiter mit einem gewaltigen Satz sich in den Schutz der Nacht zu tauchen, wurde nichts.

Neben dem Loch stand ein Mädchen. Lange, schwarze Haare, mit roten Blumen verflochten wie zu einem Fest. Brennende, große Augen, deren Blick sich an Haller festsaugte. Ein vor Aufregung zitternder, schlanker und doch üppiger Körper. Eine Hand, die sich ihm mit einer Pistole entgegenstreckte. Grellrot bemalte Lippen, die wie zu einem stummen Schrei geöffnet waren.

»Rita!« entfuhr es Cliff. Er blieb stehen.

Eine Sekunde, ein Wort, mit denen er sein Leben verschenkte.

»Ja«, sagte Rita. Ein Stoß in den Rücken ließ Haller vorwärtstaumeln. Cascal war durch das Mauerloch nachgekommen. »Nun bist du da. Ich habe es mir gewünscht – als das schönste Geschenk, das José zu unserer Hochzeit bringen kann. Er hat Wort gehalten … Ich werde ihn dafür heiraten.«

»Seid glücklich und bekommt viele Kinderchen.« Cliff lehnte sich an die Mauer. Die Ahnung von einem schrecklichen Ende verkrampfte nun doch seinen Hals und ließ seine Stimme verzerrt klingen. »Findest du nicht, daß das eine merkwürdige Einladung zur Hochzeit ist?«

»Komm mit«, befahl Rita und winkte mit der Pistole. Sie ging voraus. Cliff folgte ihr schweigend und ohne weitere Verzögerung. Er wußte in seinem Rücken Cascals schußbereite Waffe.

Zehn Schritte weiter wartete ein unbeleuchteter Wagen auf dem Pfad, der sich durch den lichten Wald wand. Rita riß die Tür auf und sah Haller mit flatternden Augen an.

»Steig ein!«

»Man wird mich spätestens in einer Stunde vermissen.«

»So lange dauert es nicht, Cliff«, sagte Cascal. »Außerdem wird man denken, Sie wären mit einem schönen Mädchen im Park.«

»Fehlspekulation, Cascal. Ich habe Ellen bei mir.«

Rita gab ihm einen Stoß, er fiel auf die Polsterbank und schlug mit dem Kopf an die gegenüberliegende Tür. Der Angriff erfolgte so plötzlich, daß er sich nicht mehr um sein Gleichgewicht kümmern konnte.

»Ich hasse sie!« schrie Rita ihm ins Gesicht. Ihr heißer Atem wehte über ihn. Mit der flachen Hand schlug sie ihm viermal auf die Augen, bis er ihren Arm ergriff und wegstieß. »Das ist für sie. Für sie! Diese blonde, kuhäugige Hure! Oh, wie wird sie schreien und jammern, wenn sie dich finden, Cliff. Ich möchte dabeisein, wenn sie zusammenbricht, wenn sie deinen Namen ruft, aber du wirst keine Antwort mehr geben können, denn du wirst nur noch ein Gerippe sein, ein ekliges, abgenagtes, blankes Gerippe …«

Cliff Haller setzte sich zurecht. Ritas Stimme überschlug sich und erstarb in einem Schluchzen. Cascal legte den Arm um sie, vergaß aber nicht, gleichzeitig auf Haller zu zielen.

»Beruhige dich«, sagte er zärtlich. »Mein Gott, beruhige dich. Du hast ihn ja jetzt. Du kannst mit ihm machen, was du willst. Behalte die Nerven, favorita …«

»Ich würde sie an Ihrer Stelle zu einem guten Arzt fahren«, sagte Cliff mit zugeschnürter Kehle. »Sie ist verrückt geworden.«

»Das stimmt – verrückt vor Haß. Und nur Sie werden sie heilen können. Ihr Todesschrei, Cliff, wird die Medizin für Rita sein.« Cascal setzte sich neben Haller und drückte ihm die Pistole gegen die Schläfe. Cliff schielte auf Cascals Finger, er war bis zum Druckpunkt gekrümmt.

Der Wagen raste in einem Bogen um die Stadt herum, hinaus zu den dreckigen Hügeln von Pico di Tijuca, wo an den Hängen die Elendshütten aus Wellblech, Holzlatten und Pappe, Unterkünfte der Ärmsten der Armen von Rio de Janeiro kleben. Die Slums des Paradieses.

»Die Blumen in deinem Haar erinnern mich an den Rio Tefé«, sagte Cliff bedächtig. »An einem frühen Morgen war es, der Wald und der Fluß dampften in der Morgensonne, da kam ich von der anderen Seite des Flusses und brachte dir einen Korb unbekannter Blüten mit. Sie waren blutrot und trugen auf ihren inneren Blättern weiße Flecken, die aussahen wie geöffnete Lippen. Ich habe dich ausgezogen …«

»Schweig!« schrie Rita. Ihre Stimme überschlug sich wieder. »Du verfluchter Hund, schweig!«

»… ich zog dich aus, legte dich ins nasse Ufergras und streute die Blumen über dich. Dann liebten wir uns. Verdammt – das war eine heiße Stunde – und als wir auseinanderfielen, waren die Blumen zerquetscht, wie mit einem roten Brei warst du eingerieben, und du rochst wie eine einzige, riesige Rose.«

»Stopf ihm den Mund, José!« keuchte Rita. Der Wagen schleuderte lebensgefährlich um die engen Kurven der Bergstraße. »Er soll aufhören! Aufhören! Aufhören!«

Cascal schlug wortlos Cliff Haller auf den Mund. Die Lippe platzte auf, und Cliff leckte das hervorquellende Blut weg.

»Das zahle ich Ihnen zurück«, sagte er zwischendurch. »Das war ein gemeiner, unfairer Schlag.«

Von da ab lag dumpfes Schweigen in dem durch die Nacht rasenden Wagen. Die Elendsquartiere lagen hinter ihnen – jetzt begannen wieder die Villen der Reichen. Sommersitze im kühlenden Höhenwind. Parkähnliche Gärten, durch die Bäche rannen und aus denen Quellen sprudelten. Eine Pracht üppiger Bäume und Büsche, Fruchtbarkeit aus Sonne und Wasser. Vornehme Stille. Ein paar Laternen in den Gärten und an den Einfahrten. Nichts störte den Sternenhimmel, Rios zweiten Stolz nach dem Zuckerhut.

Vor einer dunklen Villa hielt Rita den Wagen an und stieg aus. Cliff beugte sich vor und starrte aus dem Fenster.

»Haben Sie beim Roulette gewonnen, Cascal?« fragte er. »Dieser Klotz kostet unter Brüdern zwei Millionen Dollar! Oder erwartet mich noch eine Überraschung?«

»Nur Ihr Tod – aber der dürfte keine Überraschung mehr sein. Steigen Sie aus.« Cascal klinkte die Tür auf. Cliff stieg aus und streckte sich, als habe er stundenlang krumm gelegen. Auf der Straße erwartete ihn Rita und starrte an ihm vorbei ins Leere. Cascal schloß das schmiedeeiserne Tor auf und machte eine einladende Handbewegung. Cliff zögerte. Verrückte Angst kroch ihm den Buckel hoch. Hundertmal hatte er sich in Situationen befunden, aus denen ein Entrinnen pure Glückssache gewesen war. Aber er war immer wieder herausgekommen, er hatte es geschafft, mit Haken und Ösen und oft auch mit Leichen, wenn's sein mußte – und nie, verflucht, nie hatte er diese gemeine Angst gespürt, die ihn jetzt lähmte. Die Ausweglosigkeit war diesmal vollkommen. Jeder Schritt, den er jetzt ging, führte näher zum sicheren Tod. Wem eine solche Erkenntnis beschert wird, der hat das Recht, Angst zu spüren.

Cascal grinste breit. Er ahnte, wie es Cliff zumute war. Rita stand hinter Haller, verbarg sich hinter seinem breiten Rücken, verkroch sich wie ein Hündchen. Die Erinnerung an die berauschende, glückliche, tobende Stunde am Ufer des Tefé unter der Morgensonne, im dampfenden Gras, als die Blüten zwischen ihren Körpern zu Brei zerrieben wurden, diese tosende Stunde der Wildheit, in der sie brüllten wie sich paarende Tiere, zerriß ihren Haß wie einen dünnen, morschen Schleier. Dahinter leuchtete die Liebe auf, die irrsinnige Liebe zu diesem Mann, der noch genau vierundfünfzig Schritte hatte bis zu seinem Tod.

»Kopf hoch, Cliff!« sagte Cascal hämisch. »Sterben Sie wie der Mann, als der Sie immer gelebt haben und dessen Kaltblütigkeit stets ein Vorbild für Ihren Nachwuchs war. Sie haben doch nie Angst vor dem Sterben gehabt.«

»Nein. Nie.« Haller ging langsam in den dunklen Park. Er hörte aus dem Finstern einen Bach rauschen. »Aber ich konnte mich immer wehren. Ich war nie bloßes Schlachtvieh, zu dem Sie mich jetzt degradieren.«

»Ihr Pech, Cliff. Man kann sich seinen Tod nicht aussuchen.« Cascal riß ihm plötzlich die Arme nach hinten, Handschellen klickten um seine Gelenke. Das ist das Ende, dachte Haller. Unwiderruflich. Mit auf den Rücken gefesselten Armen kann ich nichts mehr tun.

»Erklären Sie genauer, Sie Saukerl«, sagte er tonlos.

»Diese Villa gehört einem Señor Miguel de Sequillar. Er verdient seine Millionen mit Marihuana und Meskalin. Aber das weiß keiner. Offiziell handelt er mit Südfrüchten und edlen Hölzern. Und weil er so reich ist, lebt er die Hälfte des Jahres an der französischen Riviera und steckt sein Geld den Huren zwischen die Schenkel. So auch jetzt, die Villa ist leer. Aber Señor Sequillar ist auch ein großer Tierfreund und ein Mensch, der nicht gerne Spuren hinterläßt. Wer mit Rauschgift handelt, hat viele Schwätzer. Wenn sie zu schwatzhaft werden, läßt Señor Sequillar sie auf einfache Weise verschwinden. Er läßt sie auf einer Brücke über einen künstlichen Teich laufen … Ist der Auserwählte mitten auf dem Steg, öffnet sich eine Falltür, die man von der Terrasse des Hauses aus bedienen kann. Sekunden später ist er tot. Man munkelt, in dem Teich leben viertausend Piranhas. Ich sagte es schon … Señor Sequillar ist ein großer Tierfreund. Gehen wir.«

»Auf die Brücke«, sagte Cliff heiser.

»Zum Teich. Über die Brücke gehen Sie allein. Ich muß den Auslöseschalter bedienen.«

»Sie sind das Dreckigste, was ich je kennengelernt habe«, keuchte Cliff Haller.

»Beschimpfen Sie nicht mich.« Cascal hob wie entschuldigend die Schultern und zeigte auf Rita Sabaneta. »Der Vorschlag kam von ihr, von Ihrem blumenbestreuten Schätzchen.«

Rita wandte sich ab und lief wie von Furien gehetzt fort in die undurchdringliche Nacht. An der Terrasse der Villa blieb sie stehen, preßte die Stirn gegen den kalten Stein und hämmerte mit den Fäusten gegen die Wand. Cascal gab Haller einen Stoß.

»Das war ihre Antwort. Und nun los. Gehen Sie, Cliff. Ich kann Sie auch zusammenschlagen, zur Brücke schleifen und auf die Falltür legen. Wenn Ihnen das lieber ist …«

Es waren genau sechsunddreißig Schritte bis zum Rand des Teiches. Ein künstlicher See von etwa fünfzig Meter Durchmesser. Am Ufer blühende Blumen und Seerosen, Zierschilf und exotische Büsche. In einem eleganten Bogen überspannte eine weiße Holzbrücke das Wasser, zierlich wie in den japanischen Gärten. In Schönheit morden, dachte Haller. Dieser Sequillar muß eine sadistische Bestie sein. Man sollte sich den Namen merken, wenn ein Wunder vom Himmel fällt und ich jetzt noch überlebe.

»Marschieren Sie los!« sagte Cascal knapp. Cliff blieb stehen. Schweiß tropfte über seine Stirn und lief über das Gesicht in den Mund.

»Sie haben Humor«, keuchte er. »Ich soll freiwillig …!«

»Das ist der Reiz der Sache. Sie gehen spazieren und kommen nicht wieder.«

»Cascal, auch Sie sind irrsinnig!«

»Wollen Sie nun gehen oder nicht?«

»Nein.«

»Sie Narr!«

Cascal hieb Haller mit dem Knauf der Pistole gegen die Schläfe, bevor dieser ausweichen konnte. Der Schlag kam so schnell, daß er ihn gar nicht sah. Stöhnend fiel er in die Knie und sank dann um, nicht völlig betäubt, aber gelähmt und mit vibrierenden Nerven. Er merkte, wie Cascal ihm auch die Füße fesselte, diesmal mit einem Strick, nicht mit einer Handschelle. Als die Lähmung nachließ, bäumte er sich auf, stieß mit den Beinen nach Cascal, krümmte sich und schnellte vor, traf Cascal am rechten Schienbein und sah, wie dieser wankte. Er wußte, daß es eine sinnlose Gegenwehr war, aber es widerstrebte ihm einfach, kampflos zu sterben, wirklich nur ein Schlachttier zu sein.

Cascal warf sich auf ihn, hieb ihm ins Gesicht und schleifte ihn dann über die Brücke. Genau auf der Falltür legte er ihn nieder und trat ihm in das Rückgrat. Ein irrsinniger Schmerz durchzuckte Cliff, ließ den Himmel über ihm explodieren und die Welt in glühende Funken zerspringen. Zum ersten Mal in seinem Leben schrie er auf vor Schmerz. Ein brüllender Schrei, als spucke er sein Herz aus.

Rita Sabaneta sank an der Terrassenwand zusammen. Sie hielt sich die Ohren zu und wimmerte wie ein Kind. Mach Schluß, schrie sie gegen die Steine. Mach Schluß. Bitte, bitte … stirb endlich, Cliff!!

Cascal kam vom Teich zurückgerannt. Sein Gesicht sah schrecklich aus, grauenerregender als eine indianische Opfermaske. Er stürzte zum Schalter der Falltür. Unter dem Hebel glomm ein schwaches rotes Lämpchen auf.

Die Falltür ist belastet. Hebel runter.

»Jetzt!« schrie Cascal zu Rita hinunter. »Jetzt! Jetzt fällt er! Bist du nun zufrieden?«

Er drückte den Hebel bis zum Anschlag, die rote Kontrolllampe erlosch.

Cliff Haller spürte, wie nach dem unbeschreiblichen Schmerz sein Unterkörper, vom Gürtel an, gefühllos geworden war. Er hat mir die Wirbel zertreten, dachte er absolut klar. Ich bin querschnittgelähmt. Und gleich, gleich wird die Klappe fallen. Viertausend Piranhas. Ein Schmerz von Sekunden nur …, aber dieser Ekel, dieser letzte Ekel, der als letzte Erinnerung mit ins Jenseits geht: Die aufgerissenen Mäuler der Fische, die messerscharfen Zahnreihen …

Er lag unbeweglich auf der Falltür. Sein Gehirn hatte ausgesetzt. Alles, was man von den letzten Sekunden eines Menschen geschrieben hat, war Quatsch. Keine Erinnerung an die Mutter, an die Kindheit, an die schönen Stunden im Leben, kein rasend schneller Film, der ›Das Leben des Cliff Haller‹ hieß, nicht einmal ein Gedanke an Ellen … Nein, gar nichts, Leere, ein Vakuum, Funkstille der Seele.

Unter ihm schnarrte etwas: Der Mechanismus, der auslösende Stromkontakt.

Viertausend Piranhas warten auf dich!

Er spreizte die Ellbogen und hieb die Zähne in die Unterlippe. Nicht schreien, Cliff! Nicht schreien! Nicht …

Da fiel die Klappe, und er sank weg.

***

Langsam fuhren Cascal und Rita zurück nach Rio de Janeiro. Schweigend saßen sie nebeneinander. Cascal lenkte den Wagen, Rita starrte auf die hell erleuchteten Straßen. In ihr war absolute Leere. Sie lauschte nach innen und hörte nicht einmal mehr ihr eigenes Herz klopfen. Als Cascal sie ansprach, sah sie ihn an mit Augen, die keinen Funken Seele mehr in sich trugen.

»Er war sofort tot«, sagte Cascal heiser. »Ich habe die Falltür deutlich herunterklappen hören. Nicht einmal geschrien hat er. Bei Gott, ich kann keine Piranhas mehr sehen!« Er fuhr etwas langsamer, schlich durch die breiten Avenidas, auf denen sich der Glanz der Millionenstadt spiegelte, um Rita genauer ansehen zu können. »War das nötig, favorita? Zugegeben – er hat mich besiegt, er hat mich meine Karriere gekostet … aber er war im Grunde genommen ein einmaliger Mensch! Er war einer, den man in die Fresse schlagen und trotzdem ehren kann. Einer der letzten Abenteurer unserer Zeit.«

»Es mußte sein!« sagte Rita kurz. »Und jetzt nenne seinen Namen nicht mehr, sonst bringe ich dich um!«

Bis zur Wohnung Cascals war es eine gute Stunde Fahrt. Erst in dem großen Zimmer mit der breiten Couch ergriff Rita wieder das Wort. Sie warf die Kleider von sich, legte sich auf die Kissen und breitete ihre betörende nackte Schönheit vor Cascal aus.

»Ich bezahle«, sagte sie. »Mach eine Flasche Champagner auf, zwei, drei, zehn Flaschen. Ich will in Champagner baden! Ich will das wildeste Fest meines Lebens feiern! Ich werde verrückt sein, verrückt, verrückt …« Sie schrie, strampelte mit den Beinen und kreischte hysterisch, als Cascal die erste Flasche Champagner entkorkte und den schäumenden Saft über ihren zuckenden Körper schüttete. »Mehr!« schrie sie. »Mehr! Preß eine Wolke voll Champagner aus! Er soll auf mich herunterregnen! Ich will vergessen … vergessen …«

In dieser Nacht tobte Cascal wie ein Irrer auf dem zuckenden, heißen, dampfenden, vom Sekt süßsäuerlichen Körper Ritas. Was er alles tat, er wußte es nicht … von Sinnen wie Rita, wurde er zum Tier, sah im Nebel seiner Leidenschaft Blut und leckte es auf, hörte Schreien und Stöhnen, spürte, wie Nägel seinen Rücken aufrissen und Zähne sich in seine Brust verbissen, und er tobte weiter, in roten und dann explodierenden Nebeln schwimmend, bis er von dem rasenden Körper rollte und die Besinnung verlor, noch bevor er den Boden berührte.

Am nächsten Morgen fand Cascal nach längerem Suchen Rita Sabaneta auf dem Balkon. Sie hatte sich vergiftet. Ihre linke Brust war blutverkrustet, Cascal hatte sie im Rausch zerbissen … und mit ihrem eigenen Blut hatte sie, bevor das Gift sie erlöste, mit dem Zeigefinger auf die weißen Steine des Balkons geschrieben:

Cliff … I love you …

Sie lag auf der Seite, den leeren Blick hinüber zu den Hügeln von Pico de Tijuca.

José Cascal schwankte zurück ins Zimmer und betrank sich sinnlos.

***

Die Lähmung wich einem grenzenlosen Staunen. Die Beine und der Unterkörper waren zwar noch gefühllos und hingen an ihm wie zwei sinnlose Würste, aber sein Gehirn begann wieder zu arbeiten. Ich lebe, dachte Cliff. Wie ist das möglich? Die Falltür klappte auf, unter mir warteten viertausend hungrige Piranhas auf mich, ich bin in den Teich gefallen, aber ich lebe … Das ist verrückt, total verrückt. Ich schwimme nicht einmal, kein Tropfen Wasser ist an meinem Körper, bis auf den Angstschweiß, in dem ich die letzten Minuten gebadet habe. Er öffnete und schloß ein paarmal die Augen, schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund und schleuderte damit die letzte Lähmung aus seinem Gehirn.

Das erste, was er jetzt ganz deutlich hörte, war ein Platschen und Rumoren unter sich. Er zog die Knie etwas an und wunderte sich, daß es gelang, obwohl er kein Gefühl in den Beinen hatte. Cliffs Lage war trostlos: Als die Falltür aufklappte, hatte er instinktiv die Ellbogen gespreizt. An ihnen hing er nun frei in der rechteckigen Öffnung, die Sohlen seiner Schuhe berührten fast die Wasseroberfläche, und dieses Wasser kochte von wirbelnden Fischleibern. Sie schnellten hoch, schnappten nach den Beinen … ein Meer von blitzenden Zähnen und glotzenden großen, gnadenlosen Augen.

Cliff Haller preßte die Zähne zusammen. Er zog die Rücken- und Armmuskeln zusammen, konzentrierte alle Kraft in seine Schultern, zog die Beine wieder an und drückte sich dann hoch. Zweimal versuchte er das: Muskeln spannen, Beine anziehen, dann die Beine wegstoßen und den Schwung dazu ausnutzen, sich mit der Schulter seitlich auf den Brückenboden zu werfen …

Beim dritten Mal gelang es. Cliff wälzte sich auf die Seite und starrte durch die Falltür auf den brodelnden Teich unter sich. Ich werde mein ganzes Leben lang keinen Fisch mehr essen können, dachte er, und der Ekel würgte ihn.

Er rollte sich weiter, erreichte die Schräge der gebogenen Brücke und kugelte hinunter bis zum Ufer. Dort blieb er wieder liegen und zwang sich, nicht dem Drang nachzugeben, einzuschlafen. Mit den in den Fesseln beweglichen Händen schnürte er die Fußstricke auf und versuchte ein paar Schritte. Taumelnd ging er am Ufer hin und her, schwankte dann zu dem dunklen, palastartigen Haus und setzte sich auf eine der Steinbänke.

Es gibt wirklich noch Wunder, dachte er und blickte hinauf in den sternenübersäten Himmel. Verdammt, ich habe nie an dich geglaubt, du Gott aus dem Gebetbuch … trotzdem: Ich danke dir!

Eine Viertelstunde später lief Cliff Haller die Bergstraße hinab und suchte ein Taxi. Viermal gelang es, eins anzuhalten, aber als die Fahrer seine auf den Rücken gefesselten Hände sahen, gaben sie sofort Gas und rasten weiter. Erst das fünfte Auto hielt an. Ein Mestize grinste ihn breit an.

»Wohin?« fragte er.

»Zur amerikanischen Botschaft.« Cliff warf sich auf den Beifahrersitz. Der Mestize tippte auf die Handschellen.

»Woher?«

»Frag nicht so viel … hau ab!« Cliff legte den Kopf nach hinten auf die Nackenrolle des Sitzes.

»Das kostet fünfzig Dollar, Mister.«

»Du bekommst hundert, wenn du die Schnauze hältst und endlich abfährst!«

Der Mestize grunzte, ließ den Motor aufheulen und raste hinunter nach Rio de Janeiro.

***

Das Fest in der amerikanischen Botschaft trat in einen der ersten Höhepunkte ein: Der brasilianische Tenor Raffael Trulljo von der Oper in Rio sang Arien von Puccini und Verdi. Der Kultur-Attache der Botschaft begleitete ihn am Flügel. In einem weiten Kreis hatten sich die Gäste auf der Terrasse um den Sänger gruppiert, schlürften Sekt und Cocktails und ertrugen geduldig diese kulturelle Einlage. Auch für die Bildung muß man etwas tun, das ist man den Millionen auf dem Bankkonto schuldig.

Während Trulljo das eiskalte Händchen der Mimi anbetete, waren – unbemerkt von den Gästen – Cook, Finley und Hauptmann Leeds in höchster Alarmbereitschaft. Ein Pendelposten hatte das Loch in der Mauer entdeckt. Sofort berief der Sicherheitsoffizier eine Besprechung im Zimmer des Militär-Attaches ein. Drei Beamte der Botschaft bezogen Wache an dem Mauerdurchbruch. Der kleine Cook hatte sofort den richtigen Gedanken: »Wo ist Cliff Haller?« fragte er.

Diskret begann die Suche nach Cliff unter den Gästen und im Park. Ellen Donhoven saß ahnungslos in der ersten Reihe der Arien-Zuhörer. Sie war vom 1. Botschaftssekretär flankiert, der den Befehl erhalten hatte: Lenken Sie Dr. Donhoven ab. Kümmern Sie sich intensiv um sie. Sie darf in der nächsten Stunde nicht nach Cliff fragen.

»Haller ist verschwunden«, meldeten die Suchkommandos. »Kein Winkel in Haus und Park ist ausgelassen worden.«

»Der Fall ist klar«, stellte Cook fest. »Sie haben Cliff gekidnappt.« Er ging zum Telefon, wählte eine Nummer und lächelte sauer, als sich der Teilnehmer meldete. »Mein lieber Freund Dariques«, sagte er. »Warum haben Sie Haller geklaut?! Wollen Sie eine offene Feldschlacht?! Die können Sie haben! Morgen liquidieren wir den uns bekannten Teil Ihrer Mitarbeiter. Das ist kein guter Stil, mein Lieber.«

Cook hörte zu, was Dariques ihm entgegnete. Im Telefon schnarrte die Stimme ohne Unterbrechung, als habe ein Relais einen Kontaktfehler. Cook unterbrach ihn nicht. Als die Stimme endlich abbrach, nickte er nur schweigend und legte auf. Finley und Leeds konnten ihre Aufregung nicht mehr verbergen.

»Was sagte er?« riefen sie gleichzeitig. Cook winkte müde ab.

»Er hat Cliff nicht. Er hat überhaupt mit der ganzen Sache nichts zu tun. Er ist völlig ahnungslos.«

»Und das glauben Sie ihm?« schrie Finley.

»Ja. Das glaube ich ihm. Die ganze Sache ist eine Privatfehde zwischen Cascal und Haller.« Der kleine Cook blickte auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten nach Mitternacht. »Dariques hat mir sogar Cascals Adresse verraten …«

»Dann nichts wie hin!« rief Leeds. »Und wenn er Cliff auch nur ein Haar gekrümmt hat …!«

»Er wird ihm mehr gekrümmt haben. Für Cliff können wir nichts mehr tun. Streuen wir uns keinen Sand in die Augen, Jungs. Die Sache ist erledigt. Wer übernimmt das Problem, Ellen davon zu unterrichten?«

»Ich«, sagte Finley heiser. »Sofort?«

»Erst, wenn sie nach Cliff fragt.« Cook legte die flache Hand auf seine linke Brust. Dort beulte sich der Smoking etwas, kaum wahrnehmbar für einen Laien. Ohne seinen Schulterhalfter ging Cook keinen Schritt vor die Tür. »In einer Stunde fahren wir zu Cascal. Ich glaube kaum, daß er jetzt schon in seiner Wohnung ist.«

»Und wir können nichts, gar nichts für Cliff tun?« stöhnte Leeds. Als Nachfolger Hallers betrachtete er die Ohnmacht des Geheimdienstes als keinen sehr guten Anfang.

»Absolut nichts!« Der kleine Cook blickte an die Decke. »Jeder Beruf hat sein Risiko. Gehen wir zurück zu den anderen und hören wir uns die Arien des Trulljo an …«

***

Zehn Minuten später lösten sich Leeds, Finley und Cook wieder aus dem Gewühl der Gäste. Cook hatte ein aufgeregtes Zeichen gegeben und rannte dann ins Haus.

»Cliff ist da!« schrie er, als wäre er an der aufgestauten Luft fast erstickt. »Er wartet in der Garage. Mit einer normalen Taxe ist der Kerl gekommen!«

Cliff Haller saß auf einem Stapel alter Reifen, als Cook, Finley und Leeds in die Garage stürmten. Neben ihm stand der Mestize und hielt sofort die Hand auf, als er die drei Männer sah.

»Hundert Dollar hat er mir versprochen!« rief er. »Wer bezahlt mir die hundert Dollar?«

»Hallo, Cliff«, sagte Cook und ging um ihn herum.

»Hallo, Boys!« Haller rasselte mit den Handschellen. »Kann einer mal einen Hammer und einen Meißel suchen und mir die Armbänder abnehmen?«

»Hundert Dollar!« schrie der Mestize. »Und ich habe nichts gehört und gesehen.«

»Das ist brav, mein Junge.« Finley drückte ihm zwei Fünfzig-Dollar-Noten in die Hand, der Mestize grinste breit, wirbelte dann herum und rannte aus der Garage hinaus in den Hof der Botschaft. Kurz darauf heulte der Wagen auf und entfernte sich.

»Das ist nicht schön, uns so in Trab zu halten«, sagte Cook und hielt den Meißel fest, während Finley mit einem Hammer zuschlug. »Wolltest du Entfesselungskünstler werden?«

»Ich hatte einen neuen Job als Fischfutter.«

Hauptmann Leeds spürte einen Schauder auf seinem Rücken.

»Verstehe.« Der kleine Cook tätschelte Haller die Wangen. »Aber du warst ungenießbar. Sie spuckten dich wieder aus! Warum fragt uns niemand vorher? Wir hätten es ihnen sagen können!« Die Kette war gesprengt. Finley begann, das Schloß der Handschellen aufzuschlagen.

»Cascal?« fragte er dabei.

»Ja.«

»Wir werden zurückschlagen. Verlaß dich drauf.«

»Aber laß mich erst in den Staaten sein.« Haller rieb sich die befreiten Handgelenke. Cook schickte Leeds weg, ein großes Glas puren Whisky zu holen. Er wußte, was Cliff jetzt guttat. »Und kein Wort zu Ellen. Ihre Nerven sind genug strapaziert. Morgen ist alles vergessen … für immer!«

»Du bleibst also dabei, die dämliche Farm bei Tentown zu kaufen?« Cook setzte sich neben Cliff auf die alten Autoreifen.

»Ja.«

»Und du meinst, das hältst du lange durch?«

»Bis zu meinem Lebensende.«

»Ich wette tausend Dollar dagegen.«

»Gib sie schon her … du hast sie verloren, Cook!« Haller lachte. Er war wieder der große, starke, durch nichts zu erschütternde Mann, ein Felsklotz von einem Kerl. »Hat Ellen nach mir gefragt?«

»Noch nicht.«

»Dann wird's Zeit, daß ich mich um sie kümmere.« Er gab dem kleinen Cook einen Stoß und verließ lachend die Garage.

Raffael Trulljo war bei Rigoletto gelandet, als Cliff Haller hinter Ellen trat und die Hände auf ihre Schulter legte. Sie hob schnell den Kopf und legte den Finger auf den Mund. Cliff nickte, beugte sich hinunter und küßte ihr Haar.

»Holdes Mädchen, sieh mein Leiden …«, sang Trulljo gerade.

»Wo warst du?« flüsterte Ellen und hielt Cliffs rechte Hand fest.

»Ein bißchen spazieren, durch den Park …«

»Singt er nicht gut?«

»Sehr gut, Baby.«

»Psst!« Sie legte wieder den Finger auf die Lippen.

Cliff streichelte ihre Schulter und lauschte gehorsam dem Gesang. Er sah Cook, Finley und Leeds gegenüber stehen, sie grinsten ihn an und blinzelten ihm zu.

Morgen ist endlich alles vorbei, dachte er. Ich werde ihnen den ganzen Scheißdreck vor die Füße werfen. Aber sie glauben es noch nicht. Im Grunde genommen kennen sie mich überhaupt nicht. Ich werde ein wunderbarer Farmer in Tentown sein …

***

Zwei Tage später veröffentlichten die brasilianischen Zeitungen notgedrungen – weil die Weltpresse voll davon war – Berichte über die Ermordung ganzer Indianerstämme im Inneren des Amazonas-Urwaldes. Ein Augenzeuge – es war Cliff Haller – berichtete vom Untergang Gaio Mocos und seines Volkes. Entsetzen verbreitete sich über das Land. Die Regierung, sonst darin geübt, beide Augen zuzudrücken, war gezwungen, ihren Abscheu auszusprechen und die Bestrafung der Schuldigen anzuordnen. In der UNO wurde das Abschlachten der brasilianischen Indianer auf die Tagesordnung gesetzt, der Papst schaltete sich ein, die ersten Bilder erzeugten ein Grauen, das rund um den Erdball lief. Brasilien verlor sein von Religiosität und Liberalität geprägtes Gesicht. Plötzlich erkannte jeder, daß es nur eine Maske gewesen war. Die Proteste aus aller Welt häuften sich in Rio und der Hauptstadt Brasilia zu Bergen.

Geschickt hatte der CIA den Namen José Cascal in die Berichte über die Indianerschlächterei einfließen lassen. Cascal … das war plötzlich der Name, an den sich alles hielt. Das war der große Schuldige, die Bestie, der Ausrotter.

Als er verhaftet wurde, spielte er noch mit der Hoffnung, nach einem Schauprozeß in der Versenkung zu verschwinden und irgendwo in der Weite des Landes geruhsam seinen Lebensabend verbringen zu können. Er hatte nur auf Befehl gehandelt, er hatte nichts getan, was seine vorgesetzten Stellen nicht wußten und guthießen. Er kam sich völlig schuldfrei vor.

Aber die große Politik brauchte ein Opfer. Und dieses Opfer hieß José Cascal.

Ein Gericht in Rio verurteilte ihn unter den Augen der Weltöffentlichkeit zum Tode. Cascal nahm das Urteil standhaft hin. Sie werden mich nicht umbringen, dachte er. Das alles ist nur ein geschicktes Theaterspiel.

Er war auch dann noch davon überzeugt, als man ihn eines Morgens aus der Zelle holte und über den Gefängnishof führte. Jetzt schieben sie mich ab, dachte er. Ich bin gespannt, welchen Teil des Landes sie mir zuweisen. Vielleicht Manaus? Da kümmert sich keiner mehr um mich. Was weiß die Welt schon von Manaus am Amazonas?

Erst, als er an der kahlen Mauer stand und das Erschießungspeloton aufmarschierte, begriff er, daß man ihn wirklich töten wollte.

»Das könnt Ihr doch nicht tun!« schrie er, als zwei Soldaten ihn festbanden und die Binde über seine Augen zogen. »Ich habe doch nichts getan! Ich habe nur Befehle ausgeführt! Die Schuldigen sitzen in den Militärkommandos, in den Landwirtschaftskommissionen, auf den Haziendas der Großgrundbesitzer! Brüder, ihr könnt mich doch nicht töten … das könnt ihr doch nicht … ich bin doch nur ein ganz kleines Rad im Getriebe … Ich habe nur die Befehle ausgeführt … Ich … Mutter Gottes … ich …«

Cascal starb in der ersten Salve. Mindestens sieben Schüsse waren tödlich. Der Fangschuß in die Schläfe war reine Munitionsvergeudung.

Am nächsten Tag brachten die brasilianischen Zeitungen die kurze Meldung von der Hinrichtung Cascals. Kaum einer las sie noch – der Flug von Apollo 12 zum Mond war ungleich wichtiger. Nur Dariques reagierte. Er rief den kleinen Cook an.

»Gratuliere«, sagte er. »Das war Maßarbeit. Ich werde Mühe haben, mich zu revanchieren.«

»Auf ein Neues.« Cook lachte fröhlich ins Telefon. »Darf ich Sie zu einem Drink bei mir einladen, Dariques?«

»Recht gern. Wann?«

»Morgen um 20 Uhr. Es gibt Rum mit Wodka.«

»Ich komme!«

Vier Tage später wurde die Raketenbasis im Urwald bei Tefé gesprengt. Nur das Kraftwerk blieb stehen … elektrischen Strom kann man schließlich auch zur friedlichen Eroberung der Grünen Hölle benutzen …

***

Die Farm bei Tentown war ein gesegnetes Fleckchen Erde. Ein grünes Tal mit einem Flüßchen, saftigen Hügelweiden, einem Wald mit uralten Bäumen, einem Farmhaus im Kolonialstil mit weißen Säulen und einem flachen Dach, dessen Rand hochgezogen war und Schießscharten enthielt, langgestreckte Stallungen und große Korrals, in denen das Vieh sich drängte.

Cliff Haller hatte alle Hände voll zu tun, um diesen Besitz zusammen mit vier Cowboys in Ordnung zu halten. Vor vier Monaten hatten Cliff und Ellen vor dem Friedensrichter von Tentown geheiratet, ohne allen Pomp, in aller Stille. Nur Vater Donhoven erhielt ein Telegramm und telegrafierte zurück, er würde herüberkommen, sobald es der Terminplan zulassen würde. »Hoffentlich ist Cliff ein Mann, der dich festhält!« schrieb er. »Es wird endlich Zeit, daß du dich darauf besinnst, eine Frau zu sein.«

»Und was für eine Frau du bist«, lachte Cliff und trug Ellen durch das Haus. »Das Fraulichste, was mir je unter die Hände gekommen ist.«

Im September erhielt Cliff Besuch aus Washington. Ein Mr. Dreher sprach zwei Stunden unter vier Augen mit ihm und fuhr dann wieder ab. Cliff trank drei doppelte Whisky und kam dann wie ein Junge, der eine Fensterscheibe zerbrochen hat, ins große Wohnzimmer. Er setzte sich still in eine Ecke des Sofas und klemmte die Hände zwischen die Knie. Ellen betrachtete ihn aufmerksam.

»Was wollte dieser Mr. Dreher?« fragte sie.

»Er kam aus Washington.«

»Das weiß ich bereits. Ein unhöflicher Mensch. Tippte an seinen Hut und ging einfach an mir vorbei.«

»Sein Benehmen ist unmöglich.« Cliff sprang auf und suchte etwas. Als er es nicht fand, sah er Ellen wie ein bettelnder Hund an. »Ich könnte noch einen Whisky vertragen, Ellen.«

»Ärger?«

»Wie man's nimmt.« Er wandte sich ab und starrte durchs Fenster auf die Korrals mit den Rindern. »Er hat einen Auftrag gebracht.«

»Er will Vieh kaufen?«

»Nein. Ich soll nach Moskau …«

»Cliff!« Es war ein Aufschrei, der ihn herumwirbeln ließ. Ellen hatte die Hände vor den Mund gepreßt und starrte ihn an. In ihren Augen lag ungläubiges Staunen. »Cliff … du hast mir versprochen …«, stammelte sie.

»Natürlich, das habe ich. Aber hör mich einmal ganz ruhig an, Baby …«

»Nein! Nein! Ich will nichts hören. Keine Erklärungen, keine Argumente, nichts von dieser verfluchten Logik, daß alles so sein muß, wie es kommt …« Sie drückte die Hände gegen die Ohren und schüttelte wild den Kopf. »Hör auf damit! Hör auf! Du hast nichts mehr mit Washington zu tun! Du bist der Farmer Cliff Haller!«

Cliff hatte den Whisky gefunden und trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Er lehnte sich gegen die Wand und vermied es, Ellen anzusehen.

»Moskau«, sagte er langsam. »Ellen, die Russen haben eine neue automatische Raketensteuerung entwickelt, die besser ist als unsere. Sie legen uns aufs Kreuz, wenn es uns nicht gelingt, eine einzige dieser Steuerungen in die Hand zu bekommen. Ich … ich … verdammt, Ellen, ich bin Amerikaner und liebe mein Land.«

»Haben sie keinen anderen als dich?« schrie Ellen verzweifelt. »Besteht der ganze CIA nur aus Cliff Haller?«

»Nein. Aber man traut mir zu, daß ich einen dieser Apparate erwische. Ich weiß, ich habe dir versprochen, nie mehr in diesem dreckigen Geschäft mitzumischen und ich will es auch nicht, aber … Ellen, begreif es doch … Wenn die Russen diese neuen Raketen bauen … Ich …, mach es mir doch nicht so schwer, Baby …, ich weiß nicht, was ich tun soll!«

Ende September flog Cliff Haller nach Moskau. Er hieß jetzt Jeff Chandler und hatte einen Paß als Zuckerrübenfachmann. Auf der Gangway blieb er kurz vor der Tür des Düsenklippers stehen und blickte noch einmal zurück. Er war der letzte auf der Treppe und behinderte niemanden mehr. Er sah hinüber zu der Holzbarriere, die das Rollfeld vom Flughafengebäude abtrennte, hob beide Arme und winkte.

Eine schmale, einsame Frau mit kurz geschnittenen blonden Haaren winkte zurück. Sie stand im Wind, der über das Flugfeld pfiff und hielt sich am Zaun fest, als könne sie weggeweht werden.

»Mach's gut, Ellen«, sagte Cliff leise. Dann drehte er sich ruckartig um und betrat schnell die Maschine. Hinter ihm klappte die Tür zu, die Riegel rasteten ein. Die Gangway rollte zur Seite.

Die einsame Frau umklammerte das Geländer und starrte auf den riesigen silberglänzenden Vogel, der sich langsam wegdrehte und zur Startpiste rollte.

»Komm wieder, Cliff …«, stammelte sie. »Mein Gott, laß ihn wiederkommen und gib mir Kraft, die kommenden Monate durchzustehen.« Dann war der Riesenvogel in der Luft, donnerte über sie hinweg.

Sie kämmte sich mit gespreizten Fingern die durcheinandergewirbelten Haare und ging langsam zum Ausgang. Dort stand ein kleiner, verlegen grinsender Mann, den sie vorher nicht bemerkt hatte. Er wartete auf sie.

»Mr. Cook«, sagte Ellen steif und voller Abwehr. »Was wollen Sie noch von mir? Cliff ist fort – und Ihre Worte brauche ich nicht.«

Der kleine Mann kratzte sich die Nase und ging neben Ellen her zum Parkplatz, wo ihre Wagen standen.

»Ich will Ihnen etwas schenken, Ellen«, sagte er. »Tausend Dollar. Cliff hat sie bei einer Wette verloren. Er braucht sie nicht zu zahlen. Er wollte es nicht glauben, daß irgend etwas stärker sein könnte als seine Liebe.« Cook hob beide Arme. Er sah jetzt aus wie eine Fledermaus. »Irrtum, meine Beste … Agenten lieben gefährlich. Es ist zum Kotzen – aber es ist nun einmal so!«

Über ihnen verschwand als kleiner, silberner Punkt das Flugzeug in den Wolken.