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Thomas Korber kam ein wenig aufgelöst zur Nachhilfe bei den Starys an. Er hatte sich schnell ein Deodorant aus einem Drogerieladen besorgt und notdürftig parfümiert. Dennoch: Das Hemd klebte an ihm, er hatte nach wie vor das Gefühl, ein gewisses Odeur auszustrahlen, und in seiner rechten Hand hielt er einen Fotoapparat, bei dem er nicht so richtig wusste, wo er ihn hintun sollte.

In der Nachhilfestunde tat er dann das, was er am besten konnte. Wie ein Betreuer oder Coach führte er Reinhard Stary beinahe zwanglos an die Dinge heran, die er eigentlich schon konnte, die aber durch die eine oder andere Irritation in seinem Seelenleben in Vergessenheit geraten waren. Bis zur Prüfung würde alles wieder seinen rechten Platz in Reinhards Hirn eingenommen haben.

Danach kam der für Korber schwierigere Teil: Lyrikstunde mit Manuela Stary. Zwar machte Reinhard die erwarteten Mucken, als es hieß, zum Training zu gehen, aber seine Mutter bekam die Sache rasch in den Griff.

»Du hast das Training gestern ohnedies geschwänzt«, sagte sie. »Das kommt heute überhaupt nicht infrage. Du darfst deinen Vater nicht enttäuschen, nicht jetzt, in dieser Situation.«

Das wirkte. Reinhard packte seine Sachen zusammen und ging.

»Das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt«, wandte sich Manuela dann an Korber. »Du weißt sicher schon, dass dieser Ehrentraut in der Nacht erstochen wurde. Eine furchtbare Geschichte. Jetzt suchen sie bei der Eintracht jemanden, der für ihn die Geschäfte weiterführt. Ich glaube, es gibt da noch eine außerordentliche Vorstandssitzung, aber es ist so gut wie sicher, dass Klaus das Amt übernimmt.«

»Ist ja toll«, entfuhr es Korber.

»Nicht wahr? Ich bin ganz aufgeregt. Deshalb sollen Klaus und ich auch heute Abend mit dem Amerikaner essen gehen. Er will, dass gleich von Anfang an eine familiäre Atmosphäre entsteht.«

›Wie mag das wohl wieder zugegangen sein, dass dieser Stary plötzlich am Ruder sitzt?‹, dachte Korber. Er sagte: »Da bist du ja sicher ziemlich im Stress. Ich will dich nicht länger stören.«

»Aber du störst ja nicht«, fiel ihm Manuela ins Wort. »Ich habe jetzt bloß nichts Ordentliches zum Essen für dich da. Heute müssen es ein paar kalte Kleinigkeiten für dich tun.« Sie öffnete den Kühlschrank und nahm einen bereits sorgsam vorher vorbereiteten Teller heraus, auf dem unter einer Plastikfolie Wurst, Speck und Käse fein mit Tomaten und Paprika garniert lagen. »Brot? Senf? Mayonnaise?«, fragte sie dann.

»Um Gottes willen, da hast du dir aber etwas angetan«, lächelte Korber verlegen. »Das bringe ich ja unmöglich alles hinunter. Aber es ist genau das Richtige für die warme Jahreszeit.«

Er begann, die Folie ein wenig umständlich zu entfernen und mit einer Gabel auf dem Teller herumzustochern. Manuela Stary brachte Brot und sonst noch einiges, dann verschwand sie kurz aus der Küche. Sie kam mit zwei Blusen und einer eleganten schwarzen Hose zurück. »Welche von den beiden soll ich denn heute Abend anziehen?«, fragte sie. »Welche gefällt dir besser?«

Korber wurde die Situation peinlich. Er hatte so gut wie keine Ahnung, welche Bluse besser zu der Hose passen würde. »Ich weiß auch nicht«, meinte er.

»Also, das kann für einen Mann wie dich doch nicht so schwer sein«, sagte Manuela. »Vielleicht siehst du den Unterschied besser, wenn ich sie mir kurz überstreife.«

Damit entledigte sie sich rasch ihres T-Shirts und zeigte Korber ihren etwas üppigen, aber wohlgeformten, jetzt nur mehr spärlich bekleideten Oberkörper, der ihn schon im Kaffeehaus verzückt hatte. Korber spürte, wie ihm zwischen seinen Bissen immer wärmer wurde. Er wusste nicht so recht, wo er hinschauen sollte.

Manuela schien von seiner Anwesenheit unbeeindruckt und schlüpfte – schwupp – aus ihrem Jeansrock, sodass sie jetzt im Negligé vor Korber stand. »Es stört dich doch nicht, dass ich mich gleich hier umziehe«, lächelte sie. »Aber es wäre unpraktisch, wenn ich dazu immer hinausgehen müsste. Außerdem geniere ich mich nicht vor dir. Ein Lehrer, weißt du, ein Lehrer ist so etwas wie ein Priester oder ein Arzt, eine Vertrauensperson, vor der man keine Geheimnisse hat.« Jetzt zog sie die schwarze Hose und dazu eine weiße Bluse an. »Na?«, zwinkerte sie Korber zu. »Was sagst du?«

Der hatte Mühe, passende Worte zu finden. »Schön, sehr schön«, murmelte er undeutlich, während er an seinem Speck kaute.

Noch einmal durfte er die faszinierende Oberweite von Manuela Stary betrachten, die nur mit Mühe durch ihren BH gezähmt wurde, dann präsentierte sie sich ihm in einer roten Bluse. »Und wie gefällt dir die?«, fragte sie.

»Auch sehr schön.« Korber flehte innerlich, dass diese Modeschau bald ein Ende haben würde.

»Ja, aber welche steht mir jetzt besser? Die weiße Bluse oder die rote? Ich habe da leider keine Erfahrung, ich komme ja so selten unter die Leute. Mein Gott, wann war mein Mann das letzte Mal mit mir essen? Das ist wirklich schon eine Ewigkeit her. Und heute geht es doch irgendwie um seine Zukunft. Ich bin richtig aufgeregt. Sag schon, welche soll ich anziehen?«

Die Sache musste jetzt schnell gehen, deshalb legte sich Korber fest: »Die weiße!«

»Und warum gerade die weiße?«, wollte Manuela wissen.

»Sie steht dir gut, sie ist elegant und neutral …« Korber rang nach Worten.

»Aber die Amerikaner mögen’s doch lieber bunt. Meinst du nicht, dass es für Klaus besser ist, wenn ich die rote nehme?«

»Dann zieh eben die rote an.«

»Ich möchte nicht, dass du das einfach sagst, um mir Recht zu geben. Bitte drücke dich nicht vor der Entscheidung. Also, welche jetzt?«

Korber schluckte nervös den letzten Bissen Käse hinunter. »Die rote«, sagte er.

»Und warum?«

»Weil sie … weil sie eben bunt ist und Herrn Brown wahrscheinlich besser gefällt.«

Manuela Stary spazierte kurz ins Vorzimmer und betrachtete sich dort im Spiegel. »Nein, ich nehme lieber doch die weiße«, meinte sie dann. Ohne weiteren Kommentar reckte sie Korber wiederum zuerst ihren BH entgegen, dann streifte sie ihr T-Shirt über und stieg aus der Hose zurück in ihren Rock. »Danke, dass du mir geholfen hast, allein hätte ich mich wahrscheinlich nie entscheiden können«, lächelte sie ihm zu, während sie den Tisch abräumte. »Und hast du dir auch … ein Gedicht für mich zurechtgemacht? Ich glaube, ich brauche ein wenig innere Entspannung vor dem anstrengenden Abend.«

Das Gedicht, natürlich! Schon hatte sich Manuela Stary neben Korber auf die Bank gesetzt und blickte ihn mit erwartungsvollen Augen an. Diesmal wich er ihrem Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn. Gleichzeitig setzte sich, Baustein für Baustein, in seinem Gehirn alles zusammen, was er in der Nacht mit letzter Anstrengung auswendig gelernt hatte. »Es ist ein Gedicht von Nikolaus Lenau«, begann er.

»Wer war denn das?«, fragte Manuela Stary gespannt.

»Ein österreichischer Dichter aus der Zeit des Biedermeier«, erklärte Korber. »Seine Gedichte sind sehr melancholisch. Ich glaube, er ist oft allein gewesen oder hat sich so gefühlt.« In den Schulbüchern hätte er wohl gefunden: ›Nikolaus Lenau, eigentlich Nikolaus Niembsch, Edler von Strehlenau, 1802–1850; österreichischer Lyriker ungarischer Herkunft; Dichter des Weltschmerzes; Tod in einer Nervenheilanstalt in geistiger Umnachtung.‹

»Klingt interessant«, nickte Manuela.

»Das Gedicht heißt ›Schlaflose Nacht‹.« Korber räusperte sich und fand dann schnell in die Sprachmelodie der einzelnen Zeilen hinein. Er tat sich viel leichter als am Tag zuvor. Manuela Stary schloss die Augen, lehnte sich zurück und genoss den Vortrag. Mit angenehmer, sanfter Stimme brachte Korber die Verse zu Gehör:

»Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit

der ungestörten Einsamkeit.

 

Denn seine Herde treibt der laute Tag

in unsern grünenden Gedankenhag,

die schönsten Blüten werden abgefressen,

zertreten oft im Keime und vergessen.

 

Trägt aber uns der Schlaf mit weicher Hand

ins Zauberboot, das heimlich stößt vom Strand,

und lenkt das Boot im weiten Ozean

der Traum herum, ein trunkner Steuermann,

so sind wir nicht allein, denn bald gesellen

die Launen uns der unbeherrschten Wellen

mit Menschen mancherlei, vielleicht mit solchen,

die feindlich unser Innres tief verletzt,

bei deren Anblick sich das Herz entsetzt,

getroffen von des Hasses kalten Dolchen;

an denen gerne wir vorüberdenken,

um tiefer nicht den Dolch ins Herz zu senken. –

 

Dann wieder bringen uns die Wellenfluchten,

wohin wir wachend nimmermehr gelangten,

in der Vergangenheit geheimste Buchten,

wo uns der Jugend Hoffnungen empfangen.

Was aber hilft’s? wir wachen auf – entschwunden

ist all das Glück, es schmerzen alte Wunden.

 

Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit

der ungestörten Einsamkeit.«[13]

Einige Augenblicke danach blieb es ganz still in der Küche, man hörte nur das Ticken der Wanduhr. Dann öffnete Manuela Stary die Augen, blinzelte leicht, so als ob sie von einem Traum wieder in das Hier und Jetzt zurückfinden müsse, und sagte: »Schön, wirklich sehr schön. Ich bin wie auf einer Wolke geschwebt, und beinahe wäre ich eingedöst. Das ist doch eine ganz andere Sprache, als wir sie heute verwenden. Was ist eigentlich ein ›Gedankenhag‹?«

Korber lächelte. »Du hast recht, das ist wirklich ein seltenes Wort. Ein ›Hag‹ war früher etwas, das von einer Hecke umschlossen war. Wenn wir es auf das Gedicht umlegen, so heißt es, dass jeder von uns ein solch eng umgrenztes Gebiet in sich trägt: die eigenen, kühnen Gedanken.«

»Und dieser Lenau wollte sich ganz in seine Gedanken zurückziehen.«

»Na ja, eigentlich darf man es nicht so persönlich sehen. Er gibt ja nur eine Idee weiter und spricht auch nicht direkt zu uns, sondern über ein ›lyrisches Ich‹, das nicht mit dem Autor gleichzusetzen ist«, war Korber jetzt wieder ganz Lehrer.

»Das ist mir egal. Eigentlich ist er ein armer Kerl. Er weicht den Menschen aus. Die verfolgen ihn dann alle dort, wo wir den Schlaf als angenehm empfinden, bis in die Träume hinein. Dadurch kann er nicht einschlafen und bleibt krampfhaft wach. Ein richtiger Einzelgänger, wenn du mich fragst.«

»Ich habe dir ja gesagt, Lenau muss sich oft allein gefühlt haben. Zeitweise hat er die Menschen gemieden. Natürlich spiegeln sich solche Gedanken in seinen Gedichten wider.«

»Und so etwas kommt dann dabei heraus.« Manuela Stary schüttelte den Kopf. »Versteh mich bitte nicht falsch, Thomas. Ein wunderbares Gedicht, und du hast es auch wahnsinnig gut vorgetragen. Aber die ganze Nacht aufbleiben, nur um seinen Gedanken nachzuhängen und dabei vor dem Schlaf richtig Angst zu haben, das ist doch krank, oder?«

»Künstler sind eben so«, meinte Korber gleichgültig. »Vieles an ihnen werden wir nie ganz verstehen können. Das darf uns nicht stören.«

»Tut es auch nicht«, winkte Manuela ab. »Aber das nächste Mal bring bitte etwas Optimistischeres mit, sonst werde ich ganz grüblerisch und melancholisch. Ein Liebesgedicht! Kannst du nicht ein nettes Liebesgedicht aussuchen?«

Ein Liebesgedicht! Irgendwie hatte Korber es befürchtet. Am liebsten hätte er sich in seinen eigenen Gedankenhag zurückgezogen, aber das wurde ihm in diesem eigenartigen poetischen Verhältnis offenbar immer unmöglicher. Bald würden ihn lyrische Monstrositäten ungeheuren Versmaßes in seinen Träumen verfolgen, ungezügelte Wellen würden ihn über ein ganzes Meer amouröser Reime geleiten, und im Erwachen würde er das sanfte Rauschen von Manuelas Stimme hören, immer noch ein Gedicht und noch ein Gedicht von ihm fordernd. Das Schlimme war, dass er begann, an der Situation Gefallen zu finden und nicht mehr wusste, ob Manuelas naiver Zugang zur Dichtkunst daran Schuld trug oder sein naiver Zugang zu ihr selbst.

»Ich werde mich bemühen. Es ist Zeit«, sagte er, steckte gedankenverloren den Geldschein ein, den ihm Manuela Stary überreichte, nahm die Kamera vom Garderobekästchen und verabschiedete sich.

Manuela blinzelte ihm erneut kurz zu. »Vielen Dank für alles«, flüsterte sie. »Ich bin ganz gespannt, wie der heutige Abend wird. Morgen erzähle ich dir alles.«

»Er wird sicher schön und interessant, glaube mir«, versprach Korber, schon in der Tür.

»Hoffentlich.« Sie legte den Kopf zur Seite und dachte kurz nach. »Ich glaube, ich ziehe doch lieber die rote Bluse an«, rief sie Korber dann nach.

 

*

 

Korber trat hinaus in die Sonne und atmete einmal tief durch. Da tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. »Leopold«, rief er erschrocken. »Was machst du denn hier?«

»Ich habe auf dich gewartet.«

Korber schaute ihn nur fragend an.

»Die Adresse habe ich im Kaffeehaus mitgehört, und den Beginn deiner Stunde hast du mir ja liebenswürdigerweise mitgeteilt«, klärte Leopold ihn auf. »Und wie lange du mit dem Gedicht brauchen würdest, das hab ich eben geschätzt.«

»Und warum wartest du auf mich?«

»Dumme Frage. Hast du etwas herausgefunden?«

»Wenn du dich ein bisschen geduldet hättest, hätte ich dich gleich angerufen und dir alles mitgeteilt«, sagte Korber kopfschüttelnd. Dann machte er Leopold mit dem Ergebnis seiner kurzen Verfolgungsjagd vertraut.

»Zeig her, ich will die Fotos sehen.« Leopold konnte es kaum mehr erwarten. Fachmännisch klickte er an der Kamera herum, bis die Bilder auf dem kleinen Display sichtbar wurden. »Unscharf«, murmelte er zuerst und rümpfte ein wenig die Nase, aber dann heiterten sich seine Gesichtszüge auf. »Ja, was sieht man denn da«, frohlockte er. »Das hab ich mir doch gleich gedacht. Erstens war die Bettina schon immer ein bisschen falsch, zweitens ist sie nicht die Frau, die eine lieblose Beziehung ohne einen anderen Mann aushalten würde. Wenn ich nur wüsste, wer der Kerl ist. Vielleicht kenne ich ihn sogar. Aber leider – so richtig scharf ist hier kein Bild.« Dann bekam Korber dennoch ein kräftiges Lob: »Hast du gut gemacht. So, und jetzt gehen wir etwas trinken.«

»Zur Feier des Tages?«

»Auch.«

»Sag bloß nicht, dass du mich jetzt auf den Eintracht-Platz verschleppen möchtest«, dämmerte es Korber. »Du willst mich nur wieder in diese Sache hineinziehen, tiefer und immer tiefer. Ich habe dir doch gesagt, dass ich diesmal nicht mitmache.«

»Was sträubst du dich«, versuchte Leopold, ihn zu beruhigen. »Ich bin ja bei dir, also kann dir gar nichts passieren. Außerdem bist du doch neugierig, wie es jetzt, nach Ehrentrauts Tod, um deine Eintracht steht.«

»Manuelas Mann wird wahrscheinlich den Job kriegen.«

»Der Watschenverteiler? Na, dann wünsche ich gute Nacht.«

»Zumindest dürfen er und Manuela heute zusammen mit Brown essen gehen. Ich glaube, Brown macht das ganz geschickt. Er hat sich rasch ein willfähriges Opfer ausgesucht, das zwar eine große Klappe hat, ihm aber nicht gefährlich werden kann. Stary wird heute Abend entsprechend präpariert und dann dem Vorstand als Ehrentrauts Nachfolger vorgeschlagen. Sollte es einen Widerstand geben, droht er einfach, nach der Fusion alle wichtigen Positionen mit seinen Leuten von den Kickers zu besetzen. Und er wird alles schnell durchziehen, ehe sich die Gegenseite formiert.«

»Womit erwiesen ist, dass Brown trotz allem Revolutionsgeschrei die Fäden fest in der Hand hält. Übrigens ein widerlicher Kerl. Er war heute früh im Kaffeehaus.« Leopold erzählte seinem Freund rasch von Browns lautstarkem Auftritt.

Dabei marschierten beide tüchtig voran, und auch Korber lenkte seine Schritte wie selbstverständlich in Richtung Eintracht-Sportplatz. »Glaubst du, dass Stary ein Motiv gehabt haben könnte, Ehrentraut zu töten?«, fragte er.

»Natürlich«, erwiderte Leopold. »Er könnte schon länger auf den Managerposten gespitzt und irgendwelche Chancen für sich gesehen haben. In einem Anfall von Blödheit ist ihm dann die Idee gekommen, Ehrentraut auf diese Weise loszuwerden. Durchaus möglich. Aber eine andere Sache könnte eine weitaus größere Triebfeder gewesen sein. Denk an die Fotos im Koffer. Stell dir einmal vor, Reinhard war einer der Nackedeis darauf, und sein Vater hat davon erfahren. Da würde es mich nicht wundern, wenn er kurz einmal ausgerastet ist – und das hat dann auch schon genügt.«

»Ob Ehrentraut wirklich ein Perverser war?«

Leopold zuckte die Achseln. »Kann sein, muss aber nicht sein. Ich will ihn nicht vorschnell verurteilen. Irgendeinen Spleen für heranwachsende Burscherln wird er schon gehabt haben, wenn das stimmt, was wir bisher erfahren haben. Die Polizei hat jedenfalls seine Computer beschlagnahmt und checkt alles durch. Da bin ich schon gespannt, was dabei herauskommt. Seine Frau Bettina muss die Abende derzeit jedenfalls ohne Internet verbringen.«

»Ist die jetzt eigentlich auch verdächtig?«

»Selbstverständlich. Erstens sind das die Ehepartner von Ermordeten eigentlich immer, zweitens hat sie zu auffallend darauf hingewiesen, sie hätte mit keinem anderen Mann was. Da habe ich mir gleich gedacht, dass das sehr fragwürdig ist. Durch deine Fotos kommt sie jetzt in einen Argumentationsnotstand. Wir müssen ihr noch genauer auf den Puls fühlen.«

Immer näher kamen sie so, indem sie das Terrain der Mordverdächtigen sondierten, an den Fußballplatz heran. Man hörte, wie Bälle losgetreten wurden oder irgendwo an einem Gitterzaun landeten, man hörte das wilde Durcheinander aufgeregter, junger Stimmen. Während Leopold bereits auf die Kantine zusteuerte, versuchte Korber, ihn zurückzuhalten. »Ich glaube, Reinhards Mannschaft trainiert gerade. Da würde ich gern ein wenig zusehen«, sagte er.

Leopold folgte ihm etwas widerstrebend. Moser hetzte seine Truppe gerade wieder über den Platz. Offenbar gab es eine Übung im direkten Kurzpassspiel, bei der jeder, dem ein technischer Fehler unterlief, eine Strafrunde ums Spielfeld laufen musste. Dabei hatte es auch Reinhard Stary erwischt. Er trabte gerade demotiviert an jener Ecke vorbei, wo ein paar Schaulustige das Training verfolgten.

»Hopp, hopp«, schrie Moser, diesmal aufgrund der Zuschauer etwas zurückhaltender. »Im Spiel ist es genauso. Wenn ihr einen Ball vergeigt, müsst ihr hinterherrennen.«

Reinhard erblickte jetzt Korber. »Hallo, Herr Professor«, rief er und unterbrach die Strafrunde, um seinen Nachhilfelehrer zu begrüßen. »Was machen denn Sie hier bei uns beim Training?«

»Ich wollte mal sehen, was du so alles kannst«, erwiderte Korber. »Aber ich glaube, ich habe einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt.«

»Der Moser spinnt schon wieder«, schüttelte Reinhard den Kopf. »Wenn das so weitergeht, höre ich wirklich mit dem Kicken auf.«

»Weiter, weiter, los, was ist denn?«, hörte man schon Mosers Stimme, diesmal in voller Lautstärke. »Willst du vielleicht noch eine Runde laufen?«

»Bis morgen«, verabschiedete sich Reinhard leise und nahm seine Strafrunde wieder auf.

Plötzlich stand ein muskulöser, breitschultriger, leicht untersetzter Mann mit kantigem Gesicht und einem Anflug von schwarzem Schnurrbart vor Korber: Klaus Stary. »Was wollten Sie von meinem Sohn?«, fragte er. Seine Stimme klang aggressiv, herausfordernd.

»Gar nichts. Ich schaue nur ein bisschen beim Training zu, wie alle anderen auch«, verteidigte sich Korber.

»Woher kennen Sie Reinhard eigentlich?«, bohrte Klaus Stary weiter.

»Ich … bin Lehrer vorne am Gymnasium«, sagte Korber vorsichtig.

»Aha, deshalb also die Anrede ›Professor‹«, knurrte Stary, während er Korber abschätzig zu mustern begann. »Sie unterrichten Reinhard?«

»Nein«, antwortete Korber zögernd. »Aber man kennt natürlich mehr Schüler, als man selbst hat.«

»So, so.« Klaus Starys Blick drückte nun seine ganze Verachtung aus. »Sie haben also weiter gar nichts mit Reinhard zu tun. Und da rufen Sie ihn einfach mitten unter einer Übung her zu sich und unterbrechen ihn beim Training?«

»Ich habe ihn nicht hergerufen«, protestierte Korber zaghaft.

»Nein? Irgendetwas wollten Sie jedenfalls von ihm. Ihn kontrollieren vielleicht? Ihn darauf aufmerksam machen, dass er einiges für seine Prüfungen zu lernen hat?«, zischte Stary böse durch seine Zähne. »Ich habe nicht viel gelernt in der Schule, aber wenn man mir etwas beigebracht hat, dann war es, wie wichtig sich die Lehrer allesamt nehmen. Überall verfolgen sie einen hin, sogar auf den Fußballplatz. Und dass in einem Kind andere Talente schlummern als die ständige Auswendiglernerei oder irgendwelchen Blödsinn zu schreiben, das sehen sie nicht ein.«

»Sie könnten sich ruhig ein wenig mehr für die schulische Laufbahn Ihres Sohnes interessieren«, entfuhr es Korber. Er merkte sofort, dass er damit komplett falsch reagiert hatte.

»Sind Sie etwa gekommen, um mir eine Predigt zu halten, welche Bedeutung die Schule für junge Menschen hat?«, wurde Stary auch gleich merklich lauter. »Die beste Schule ist das Leben, merken Sie sich das. Dort muss man sich durchsetzen, nicht in einer miefigen Klasse, wo man den ganzen Tag weltfremde Dinge hört. Das Fußballspielen kann Reinhard weiter bringen als die ganze sinnlose Lernerei, die behindert ihn nur. Sobald er seine Schulpflicht abgeschlossen hat, werde ich diese unnötige Qual für ihn auch beenden, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Warum lassen Sie das nicht Reinhard selbst entscheiden? Und tun ein bisschen mehr dafür, dass er jetzt die Klasse schafft? Er ist ja schließlich Ihr Kind.« Korber wusste, dass er sich zu weit nach vor gewagt hatte. Aber was sollte er tun? Er war innerlich aufgewühlt und empfand eine tiefe, ohnmächtige Wut gegenüber dem ungehobelten Kerl, der ihm gegenüberstand, und der mit aller Macht andere beherrschen wollte, zumindest die Mitglieder seiner Familie.

»Wer schickt Sie? Die Schule? Oder vielleicht gar meine Frau?« Hämisch grinsend schaute Stary Korber von oben bis unten an. »Na, wie auch immer. In jedem Fall brauche ich mir eine solche Einmischung in meine Privatangelegenheiten nicht gefallen zu lassen, lieber Herr … Professor, oder? Sie unterrichten Reinhard nicht, wie Sie selbst gesagt haben. Also geht Sie das Ganze nichts an. Verschwinden Sie, aber schleunigst. Und merken Sie sich: Ich möchte Sie in Zukunft nicht in der Nähe meines Sohnes oder meiner Frau sehen, sonst setzt’s was, verstanden?«

Damit wandte er sich ab, ging ein paar Schritte, ehe er sich noch einmal zurückdrehte, um nachzusehen, wie Korber darauf reagieren würde. Der bewegte sich ein wenig widerwillig mit Leopold, der ihn recht bestimmt beim Arm packte, Richtung Kantine.

»Kannst du mir sagen, was das jetzt für einen Sinn gehabt hat?«, fragte Leopold.

»Tut mir leid. Es ist einfach über mich gekommen. Ich kann so eine proletenhafte Art nicht vertragen«, antwortete Korber.

»Aber, aber. Ich dachte, als Lehrer ist man über solche Dinge erhaben.«

»Ich jedenfalls nicht. Und immerhin geht es um die Zukunft eines jungen Menschen.«

»Ja, ja, bilde dir das nur ein. Weißt du etwa, was der Bub wirklich will? Nein. Du kennst nur die Süßholzraspeleien seiner Mutter. Und in die hast du dich natürlich verschaut, ich kenn dir’s an. Klar, dass du da vor dem Ehemann ein Affentheater machen musst. Klassische Feindbildsituation.«

»Das ist nicht wahr«, protestierte Korber vehement.

»Pass nur auf, mein Lieber«, sagte Leopold. »Dieser Klaus Stary ist wirklich der Typ, der dir irgendwo auflauert und dich kaltblütig niederschlägt. Das ist ein Watschenausteiler, ich habe dich gewarnt. Also sieh dich ja vor, dass er nicht hinter die Nachhilfe und das ganze Zeug mit seiner Frau kommt. Und für die bereitest du am besten ein schönes Abschiedsgedicht vor.«