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Reinhard Stary war, wie Thomas Korber gehofft hatte, durchaus kein unintelligentes oder sprachunbegabtes Kind. Anfangs wirkte er ein wenig still und gehemmt, doch bald konnte Korber ihm im Verlauf dieser Probestunde einiges an Wissen entlocken, das sich in die hinteren Regionen seines Gehirns verschoben hatte. Er kannte das von vielen seiner Schüler: Sie konnten mit dem, was sie wussten, oft nur erschreckend wenig anfangen. Sie waren zu wenig bei der Sache. Ihre Gedanken kreisten um Dinge aus der realen oder virtuellen Welt, die mit der Schule ganz und gar nichts zu tun hatten. Man musste sie dann dazu bringen, ihre Traumwelt zu verlassen und sich wieder an die bekannten Dinge zu erinnern. Das war oft schon der Schlüssel zum Erfolg.

»Nun?«, erkundigte sich Manuela Stary nach der Stunde neugierig. Sie war, im Gegensatz zum Vortag, in eine keusche, dunkelblaue Bluse gehüllt.

»Ich denke, der junge Mann wird das schon schaffen. Auf jeden Fall werde ich ihm weiter dabei helfen«, sagte Korber.

»Das freut mich«, lächelte Manuela. »So, jetzt hast du dir aber ein gutes Essen verdient, wie ich es dir versprochen habe.«

Korber wollte abwehren, aber der gute Geruch aus der Küche signalisierte ihm, dass schon längst alles vollbracht war und die stolze Köchin jetzt nach jemandem Ausschau hielt, der ihr Werk lobte. »Kaiserschmarren«, erwiderte sie auf Korbers fragenden Blick. »Das ist Reinhards Lieblingsessen, und du magst es hoffentlich auch.«

Und ob! Noch dazu, wo Manuela Stary wirklich gezaubert hatte, sodass jeder Bissen auf der Zunge zerging. »Köstlich«, urteilte Korber. »Kommt dein Mann gar nicht zum Essen?«, wollte er dann, ein wenig unsicher und neugierig zugleich, wissen.

Manuela schüttelte den Kopf. »Er kommt später. Er arbeitet noch, und danach muss er ja immer auf einen Sprung auf dem Fußballplatz vorbeischauen, was es bei der Eintracht Neues gibt«, seufzte sie.

»Darf Papa überhaupt wissen, dass Herr Korber mir jetzt Nachhilfe gibt?«, fragte Reinhard.

»Nein, natürlich nicht«, lächelte Manuela ein bisschen verkrampft. »Mein Mann Klaus ist in dieser Hinsicht sehr streng. Wenn mein Sohn Nachhilfe braucht, ist er nicht reif fürs Gymnasium, sagt er. Also schweigen wir lieber und halten deine Existenz geheim, sonst nimmt er Reinhard womöglich von der Schule. Imstande dazu wäre er.«

»Aber Fußballspielen muss der Bub unter allen Umständen«, kritisierte Korber.

»Ja. Das bildet sich Klaus eben ein. Er ist, was diese Sache betrifft, leider ein Fanatiker. Aber bis jetzt hat es Reinhard ja auch gut getan.«

»Morgen gehe ich aber nicht zum Training. Es stimmt, es ist besser, wenn ich mich jetzt auf die Schule konzentriere«, protestierte Reinhard mit einem Mal.

»Da werden wir erst sehen, was Papa dazu sagt.«

»Es ist mir egal, was er sagt. Ich gehe nicht. Die können mich alle mal«, wiederholte Reinhard und lief plötzlich mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer.

»Was hat er denn?«, fragte Korber.

Manuela Stary zuckte mit den Achseln. »Genau weiß ich es nicht. Er traut sich nicht, es mir zu sagen. Aber er hat zur Zeit eine Stinkwut auf seinen Trainer, so viel habe ich mitbekommen. Leider hat Reinhard am Sonntag den Ausgleichstreffer verschuldet, in der letzten Minute. In solchen Fällen kann Robert Moser – sein Trainer – sehr vulgär sein, manchmal sogar richtig gemein. Er ist ein ordinärer Prolet, wenn du mich fragst. Ich kann ihn überhaupt nicht leiden.«

Manuela Stary begann, den Tisch abzuräumen. Einen Augenblick lang überlegte Korber, ob er ihr helfen sollte, aber sie war flink und geschickt, und ehe er sich’s versah, hielt er wieder nach ihren – diesmal allerdings gut versteckten – Reizen Ausschau.

»Das Dumme ist nur, dass Moser und Klaus sich so gut verstehen«, redete sie weiter. »Beide schreien sie gern herum und spielen den starken Mann. Junge Menschen wie Reinhard sind für sie verweichlichte und weltfremde Träumer. Und von der Schule hält Klaus, wie gesagt, auch nichts. Es wird dem Buben wohl nichts anderes übrig bleiben, als weiter zum Training zu gehen und zu spielen.«

Die ganze Zeit über hatte sie, das Gesicht von Korber abgewandt, versucht, ein wenig Ordnung in die geräumige Küche zu bringen. Jetzt drehte sie sich um und sah ihm prüfend in die Augen. »Warum sind Männer ab einem gewissen Alter eigentlich nicht mehr romantisch?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, kam es ein wenig unsicher von Korber.

»Du bist doch Lehrer. Sind wenigstens Lehrer romantisch?«

»Ich … ich weiß es nicht«, versuchte Korber ein Lächeln.

»Du unterrichtest auch Deutsch, hast du gesagt. Weißt du, was ich schon immer einmal wollte? Dass mir jemand ein Gedicht aufsagt. Ein schönes, romantisches Gedicht«, sagte Manuela Stary. Dabei setzte sie sich wieder zu Korber an den Tisch und rückte ganz nahe zu ihm.

Korber fühlte eine leichte Röte in sich aufsteigen. Sollte er … ?

»Du musst doch eine Menge Gedichte kennen«, bohrte Manuela weiter. »Bei uns in der Schule mussten wir ständig Gedichte vorlesen oder auswendig vortragen. Ist das heute denn nicht mehr so?«

Korber wurde immer verlegener. »Nun ja, die Kinder von heute wissen mit Gedichten nicht mehr viel anzufangen«, antwortete er ausweichend. »Es ist oft dankbarer, mit Songtexten zu arbeiten.«

»Ach was, Songtexte.« Wieder war ihre Hand kurz auf seiner, wie schon im Kaffeehaus. »Ich möchte jetzt ein romantisches Gedicht hören, und zwar von dir.«

Schon als Kind hatte Korber dazu herhalten müssen, bei allen möglichen Anlässen oder Gelegenheiten etwas aufzusagen, oder – und das war ihm jetzt, wo er daran zurückdachte, besonders peinlich – zu singen. Seine helle, noch nicht gebrochene Stimme hatte damals auf die Eltern, die Großeltern oder die Freunde vom Papa besonders einschmeichelnd gewirkt. Es war automatisch aus ihm herausgesprudelt, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Aber hatte er es wirklich gern getan, oder hatte er nur eine leichte Form der Dressur über sich ergehen lassen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass man Kinder gern zur Schau stellte, und dass er das als unnötige Manipulation empfand.

Er ließ seine Schüler selten Gedichte aufsagen. Er hatte auch immer Verständnis für diejenigen unter ihnen gezeigt, bei denen ein solches Ansinnen den größten Widerspruchsgeist hervorrief. Jetzt blickte Korber in Manuela Starys unnachgiebige Augen. So leicht würde er bei ihr nicht davonkommen.

»Es ist schwer«, gab er ihr leise zu verstehen. »So spontan, auf Befehl.«

»Bitte versuch es, mir zuliebe.«

Korber stützte sich mit seinem rechten Ellenbogen am Tisch ab und hielt seine Hand gegen die Stirn, wie es die großen Denker zu tun pflegen, wenn sie auf einen Einfall warten. Leicht verschämt hielt er den Blick nach unten. Dann begann er:

 

»Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen, fort und fort,

und die Welt hebt an zu singen,

triffst du nur das Zauberwort.«[8]

 

Die paar Zeilen hatten ihre Wirkung auf Manuela Stary nicht verfehlt. Als er seine Hand wegnahm und ihr wieder ins Gesicht sah, merkte er, dass sie andächtig lauschte. »Schon aus?«, fragte sie irritiert.

»Ja.«

»Goethe?«

»Nein, Joseph von Eichendorff. Ein Romantiker.«

»Ich dachte Goethe. Die meisten schönen Gedichte sind von Goethe.«

»Hat dir dieses denn nicht gefallen?«

»Doch, doch. Aber es war ein wenig kurz.«

Wieder einmal jemand, der den Maßstab in erster Linie bei der Quantität, nicht bei der Qualität ansetzte? »Es ist zwar kurz, aber es kann uns doch einiges sagen«, versuchte Korber zu erklären. »Es sagt uns, dass die ganze Welt voll von wunderbaren, poetischen Dingen ist, man muss nur das Schöne an ihnen erkennen und freilegen. Das ist sozusagen der Job des Dichters. Er kann für alles die richtigen Worte finden und es wachküssen, wie dereinst der Prinz das Dornröschen.«

»Mit dem Zauberwort«, lächelte Manuela Stary und öffnete dabei ihre Lippen so, als ob sie auch geküsst werden wollte. »Ich finde, es ist eine herrliche Idee. Aber ich mag an Gedichten vor allem den Reim und den Rhythmus, wenn es so richtig beschwingt klingt und einen wie auf einer Wolke schweben lässt. Und da muss es schon etwas länger dauern, damit man richtig in Stimmung kommt. Wie viel?«, fragte sie plötzlich.

»Was?«

»Ich meine, wie viel Geld bekommst du? Für die Stunde?«

Korber winkte ab. »Heute nichts. Es war ja nur eine Probestunde.«

»Und hast du dir schon etwas mit Reinhard ausgemacht?«

»An sich haben wir für morgen wieder eine Stunde vereinbart«, sagte Korber, erleichtert, dass die Sache mit dem Gedicht ausgestanden war.

»In Ordnung. Komm bitte wieder um die gleiche Zeit, denn ich bin mir beinahe sicher, dass er doch zum Training gehen wird, obwohl er derzeit streikt.« Sie verabschiedeten sich. Korber war bereits im Gehen begriffen, da spürte er nochmals Manuela Starys Hand auf seiner Schulter. »Und bring mir bitte ein Zauberwort mit, ein schönes Gedicht«, hörte er sie sagen. »Aber wenn es geht, ein bisschen länger als das heutige. Und romantisch muss es sein. Das tut mir gut, ich spüre es.«

Noch ein Gedicht! Korber fiel die Ankündigung ein, die Heinz Erhard seinen trefflichen Gedichtvorträgen immer vorangeschickt hatte. Und er sollte jetzt auch …? Ein längeres romantisches Gedicht? Was verstand Manuela Stary unter ›romantisch‹? Etwa gar ein Liebesgedicht?

Als er die Wohnung der Starys verließ, sah Thomas Korber wieder einmal größere Probleme auf sich zukommen. Warum hatte er sich bloß auf die Sache mit der Nachhilfe eingelassen?

 

*

 

Normalerweise erklang im Café Heller keine Musik. Zugegeben, bei der einen oder anderen Veranstaltung – einem Hausball etwa – kam man nicht um sie herum. Und in früheren Jahren, als im Radio noch ›Musik zum Träumen‹ zu hören gewesen war, hatte man die verbliebenen Gäste knapp vor der Mitternacht mit sanften Tönen aus dem Lautsprecher auf ein friedliches Nachhausegehen eingestimmt. Sonst aber war Musik etwas, das an diesem Ort, wo viele Menschen ihre Ruhe suchten, nur störte.

Musik dröhnte einem sonst ohnehin überall und aus allen Ecken entgegen. Die Leute benötigten Musik, um sich am Morgen zu waschen, um Auto zu fahren, zu arbeiten, zu lernen, einander zu lieben und einzuschlafen. Sie ließen sich sogar von Musik berieseln, wenn sie eigentlich nur miteinander reden wollten, von sogenannter ›Hintergrundmusik‹. Der ganze Tag, von früh bis spät, wurde von Musik untermalt, und es war immer weniger wichtig von welcher. Die Auswahl traf in den meisten Fällen ein Computer.

Warum war das bloß so? Vielleicht, weil die Menschen Angst vor der Stille hatten. Wenn es ruhig war, mussten sie innehalten und einmal tief in sich hineinhören. Dazu waren sie immer weniger in der Lage. Sie brauchten Geräusche, Berieselung, irgendetwas Künstliches, das sie davor bewahrte, die Leere in ihrem Inneren zu erforschen.

Hier, im Heller, hielt man es mit den alten Traditionen. Die meisten Leute kamen, um zu plaudern oder zu spielen, und zwar ohne irgendein Gedudel im Hintergrund. Das Kaffeehaus machte sich seine Geräusche selbst: die gedämpften Stimmen, das Umrühren der Löffel in den Kaffeetassen, das Rascheln beim Umblättern der Zeitungen, das Knarren der Schritte auf dem Parkettboden, das Klacken beim Aufeinanderprallen der Billardkugeln. Und oft, wenn gerade nicht viel zu tun war, lauschten Leopold und Frau Heller andächtig dieser Melange aus Ruhe und Bewegung.

Darum wunderte es Leopold, dass Herr Heller schon den ganzen Dienstagnachmittag an seiner Stereoanlage herumbastelte, die ansonsten ihr Dasein nur mehr in einem Nebenraum hinter der Küche fristete. Was sollte das denn werden?

Auch einige Gäste beäugten diese Entwicklung misstrauisch. »Sagen Sie, Leopold, gibt es heute etwa eine Veranstaltung, von der wir nichts wissen?«, erkundigte sich ein Stammgast. »Können wir unsere Zeitung gar nicht zu Ende lesen?«

Leopold, der Schlimmes ahnte, antwortete ausweichend: »Ich weiß von nichts.« Schließlich hörte er es, zuerst undeutlich und leise, dann aber laut und klar, beinahe zu einer Klangwolke anschwellend aus den Lautsprechern: ›You’ll never walk alone‹, diesen Uralthit, der, soviel er wusste, in der Zwischenzeit zu einer Art Credo aller bekennenden Fußballanhänger geworden war.[9] Er sah seine ärgsten Befürchtungen übertroffen, noch dazu, wo Frau Heller zu diesen Klängen freudig aus der Küche hüpfte.

»Frau Chefin, ist das denn wirklich notwendig?«, fragte er und hatte Mühe, den Musiklärm zu übertönen.

»Es ist notwendig, Leopold.«

»Wenn Sie mich fragen, ist das ein Verstoß gegen die guten Sitten. Es ist gewissermaßen ein Sakrileg, dass in unserem Kaffeehaus so gut wie nie Musik erklingt. Und jetzt bringen Sie es doch tatsächlich übers Herz …«

Jäh unterbrach ihn Frau Heller: »Erstens, Leopold, hat Sie niemand gefragt, und was in diesem Lokal gute Sitte ist und was nicht, bestimme seit jeher ich. Zweitens handelt es sich bei diesem Lied um eine Hymne, die die Fußballfans auf der ganzen Welt in eine Art Taumel versetzt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und drittens möchte ich mir durch Ihre fortwährende schlechte Laune nicht den ganzen Tag verderben lassen.«

»Mir haben Sie ihn jedenfalls schon verdorben.«

»Weil Sie keinen Sinn fürs Geschäft haben. Ich habe gesagt, heute Abend ist eine Fußballsitzung, und der hat sich alles unterzuordnen. Ich weiß, wovon ich rede, glauben Sie mir. Sehen Sie nicht, welche große, einmalige Chance da auf uns zukommt, Leopold? Sehen Sie nicht, welches Potenzial an neuen Kunden draußen auf uns wartet? Der Fußball ist die Zukunft, und wenn wir es geschickt anstellen, werden die Fans in Massen zu uns strömen.«

Leopold sah sich kurz um. Von Taumel keine Rede, höchstens vom Hinaustaumeln. Bei den ersten Tönen des Liedes hatten die meisten Gäste nämlich fluchtartig das Lokal verlassen. Man konnte den verbliebenen Rest an den Fingern einer Hand abzählen. »Bei der Hymne sind jetzt fast alle gegangen, und nicht ein Einziger ist hereingeströmt«, bemerkte er trocken.

Frau Heller schüttelte über so viel Unverstand den Kopf. »Noch einmal: Wir investieren hier in die Zukunft, Leopold, in eine ungewisse, aber hoffentlich rosige Zukunft. Wir müssen umdenken. Unsere Stammgäste werden weniger, wenn einer stirbt, kommt leider nicht so schnell einer nach. So ist das eben. Also müssen wir neue Märkte für uns erschließen. Und unsere Gäste heute Abend werden wir mit der Hymne empfangen, aus, basta. Aber was rede ich, Sie haben einen Grant und wollen mir ohnedies nicht zuhören. Wahrscheinlich wollen Sie mir jetzt auch noch weismachen, es wird gleich wieder ein Verbrechen passieren.«

Leopold wagte es jetzt, mit erhobenem Zeigefinger auf Frau Heller zuzugehen. »Mit solchen Dingen scherzt man nicht, Frau Chefin. Denn, wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Eine solche Versammlung, die ja praktisch einer Verschwörung gleichkommt, birgt eher den Keim einer Gewalttat in sich, als dass sie zum zukünftigen Gedeih unseres Kaffeehauses beizutragen vermag. Noch dazu, wo es dabei um eine heikle Angelegenheit geht: das Überleben eines Traditionsvereines, gepaart mit sportlicher Rivalität, Missgunst und Neid. Da ist viel Platz für Aggressionen, und Ihre ›Hymne‹ wird die Leute nur noch narrischer machen.«

Frau Heller schüttelte nur abermals den Kopf und verschwand mit den letzten Takten ihres neuen Lieblingsliedes etwas indigniert in der Küche. Leopold wurde anlässlich eines weiteren Lautstärketests der Anlage durch Herrn Heller nun auch von den letzten übriggebliebenen Gästen zum Zahlen gebeten. »Bitte uns ab morgen wieder zu beehren, da läuft wieder alles normal«, bemerkte er entschuldigend. »Das ist halt der neue weibliche Führungsstil, da kann man nichts machen.«

Und dann war etwas passiert, was sonst nur sehr selten geschah: Das Café Heller war leer, mitten am Tag. Das Spielfeld war gewaltsam geräumt worden, die Teilnehmer an der Besprechung konnten einmarschieren.

 

*

 

Gegen 19 Uhr trafen die ersten Anhänger der Eintracht ein, und es wurden rasch mehr. ›You’ll never walk alone‹ dröhnte jetzt wiederholt aus den Lautsprechern, diesmal mit anerkennendem Beifall akklamiert. Jeder Gast wurde vom Ehepaar Heller persönlich begrüßt. Und Leopold bekam rasch jede Menge zu tun.

Der hintere Teil des Lokals, der sonst für die Kartenspieler gedacht war, von denen sich heute aber nicht einmal die eine angesagte Tarockpartie blicken ließ, war in eine stimmige Fußballecke umgewandelt worden. In der strategischen Mitte der u-förmig angeordneten Tische saß der offensichtliche Kopf der Verschwörung, ein langjähriges Vereinsmitglied namens Lukas Hamm, der nun Anstalten machte, die Sitzung zu eröffnen.

»Liebe Freunde«, begann er. »Ich glaube, jeder von euch weiß, warum wir heute Abend hier zusammengekommen sind. Jahre –, ja, jahrzehntelang hat es die Floridsdorfer Eintracht zuwege gebracht, im fairen sportlichen Wettkampf mit den ihr zur Verfügung stehenden bescheidenen finanziellen Mitteln ihren Mann zu stehen. Und das soll jetzt auf einmal alles anders werden? Unser Verein soll mitsamt seiner Sportstätte ausgelöscht werden auf immer und ewig? Sodass man dereinst nur noch in den Annalen wird nachlesen können, wer die Eintracht aus Floridsdorf war? Und warum? Nur, weil ein vielfacher Millionär aus Kanada und einige mit Geld leicht zu überzeugende Funktionäre es sich in den Kopf gesetzt haben? Nein, sage ich, und abermals nein!«

Erstmals brandete tosender Applaus auf. Danach schilderte Hamm ausführlich, was er um die aktuellen Fusionspläne wusste und kam schließlich zu den vorgesehenen Gegenmaßnahmen:

»Die Entscheidung darüber, was mit unserer Eintracht in Zukunft geschehen wird, fällt bei der Generalversammlung nächste Woche. Da erst wird sich herausstellen, welche Richtung die Dinge wirklich nehmen. Darum glaubt niemandem, der euch sagt, man könne nichts mehr machen, es sei alles schon vorherbestimmt. Im Gegenteil: Jeder von uns hat es in der Hand, die Fusion zu Fall zu bringen, durch seine Stimme. Und wir müssen weitere Mitglieder werben, die sich innerhalb dieser Woche einschreiben lassen und dann bei der Generalversammlung stimmberechtigt sind. Wir wissen, dass uns der Vereinsvorstand derzeit diesbezüglich alle möglichen Schikanen in den Weg legt. Deshalb freut es mich, euch mitzuteilen, dass ich Herrn Doktor Stamberger als Anwalt gewinnen konnte, der darauf achten wird, dass jedes neue Mitglied zügig aufgenommen werden kann.«

Ein kleiner, unscheinbarer Mann in einem grauen Anzug mit roter Krawatte stand auf und verneigte sich. Wieder tosender Applaus. Hamm fuhr fort: »Wir brauchen also keine Angst zu haben, dass uns irgendjemand übervorteilt. Das sollte uns Mut machen. Viele werden aber jetzt fragen: Tun wir der Eintracht etwas Gutes, wenn wir so um ihre Existenz kämpfen? Hat sie die Kraft, allein und finanziell unabhängig weiterzuleben, oder steht ihr Ende unmittelbar bevor?«

Aufgeregtes Gemurmel. Das war offensichtlich ein Punkt, über den völlige Unklarheit herrschte.

»Ich möchte unseren Elektrohändler, Herrn Payer, und Herrn Malota, Besitzer von Floridsdorfs traditionsreichem Schuhgeschäft, stellvertretend für jene Betriebe nennen, die sich bereit erklärt haben, der Floridsdorfer Eintracht im nächsten Jahr als Sponsor unter die Arme zu greifen«, sagte Hamm. Wieder frenetischer Beifall. »Allerdings«, wandte er nun ein, »haben sie ihre Unterstützung davon abhängig gemacht, dass sich Herr Sonnleitner die Sache überlegt und zumindest für ein weiteres Jahr Präsident bleibt. Wir müssen ihn also davon abbringen, den Verein zu verlassen, und zwar rasch.«

»Der kann nicht mit dem Ehrentraut«, kam ein Zwischenruf.

»Solange der Ehrentraut da ist, könnt ihr den Sonnleitner vergessen«, hörte man.

»Der Ehrentraut hat Geld vom Sonnleitner in die eigene Tasche gesteckt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das weiß doch jeder.«

»Also müssen wir den Ehrentraut abservieren.«

»Jawohl, weg mit ihm.«

»Das wird nicht so leicht sein«, meldete sich Lukas Hamm wieder zu Wort. »Selbst wenn Ehrentraut Vereinsgelder veruntreut haben sollte, was einige von uns glauben, sind unser Verein und der Sportplatz längst Geschichte, bis es zu einer eventuellen Verurteilung kommt.«

»Weg mit ihm«, rief wieder jemand laut.

»Wir sollten ihn öffentlich zur Rede stellen.«

»Nein, weg mit ihm.«

»Er ist der Totengräber der Eintracht.«

»Am liebsten würde ich dem schleimigen Affen eine Lektion erteilen, die er so schnell nicht wieder vergisst!« Jörg Wotruba, der neben Paul Wittmann saß, war es, der sich mit vor Alkohol und Aufregung heiserer Stimme nicht mehr beherrschen konnte.

Die Stimmung schien zu kippen. Ehrentraut stand allem im Weg, der vermaledeite, geschniegelte Ehrgeizling Ehrentraut. Die einen schwiegen resignierend, die anderen machten ihrem Ärger laut Luft. Aber wie man den ungeliebten Wolfgang Ehrentraut loswerden sollte, wusste anscheinend keiner.

In all dieser Aufregung betrat, zunächst von der Menge unbemerkt, ein nicht allzu großer, hagerer Mann das Kaffeehaus, der beim Gehen den linken Fuß leicht nachzog. Er blieb an der Theke stehen, bestellte sich ein Bier und einen großen Weinbrand und zündete sich eine Zigarette an. Er war nicht ungepflegt, sah aber verlebt aus. Das Gesicht hatte eine ungesund rötliche Färbung und war von kleinen Narben und Falten durchzogen. Das ließ ihn älter erscheinen, als er wahrscheinlich tatsächlich war. Die kleinen Augen saßen hinter einem schmalen Schlitz in ihren Höhlen. Der Gesichtsausdruck hatte etwas Abwesendes und Hellwaches zugleich. Er wirkte wie ein Löwe, der träge in der Sonne liegt und ungefährlich, beinahe tollpatschig aussieht, in Wirklichkeit aber auf seine Beute lauert.

Irgendjemand erkannte ihn. Es wurde ruhig, die hitzige Debatte war jäh unterbrochen. Alle Augen waren plötzlich nach vorne gerichtet.

Wotruba, der sich schon zuerst kein Blatt vor den Mund genommen hatte, war der Erste, der etwas sagte. »He, D’Artagnan, was willst du denn hier?«, rief er. »Kommst du für deine Freunde spionieren?«

Der Angesprochene kippte nur stumm den Weinbrand hinunter und trank sein Bier.

»Bist du taub, Harry?«, versuchte es Wotruba erneut.

»Nein«, kam es jetzt von der Theke. »Aber diesen französischen Scheißnamen könnt ihr euch behalten.«

»Was willst du hier?«, rief fordernd ein anderer.

»Was man eben in einem Kaffeehaus so will, in Ruhe ein Bier trinken. Ist das so abwegig? Am Platz tut der Kanadier auf wichtig und macht alle verrückt, da habe ich Kopfweh bekommen.« Wortlos deutete er auf sein leeres Stamperlglas.

Während Leopold nachschenkte, fiel es ihm siedend heiß nein. Das war Harry Leitner, ehemals pfeilschnelle Sturmspitze der Floridsdorfer Eintracht. Den Spitznamen ›DArtagnan‹ hatte er bekommen, weil er als junger, aufstrebender Spieler mit den drei ›Musketieren‹ Ehrentraut, Moser und Sturm blendend harmoniert hatte und schließlich nach einigen anfänglichen Scharmützeln auch privat von ihnen als Freund aufgenommen worden war. Dann war die dumme Sache mit dem Bein gekommen, ein komplizierter Bruch nach einem schlimmen Foul. Harry hatte dem Fußball ade sagen müssen und war auf einmal weggewesen. Jetzt, etwa 15 Jahre später, hätte ihn Leopold kaum mehr erkannt. Die Zeit und wohl auch der Alkohol hatten ein böses Spiel mit ihm getrieben.

Die Teilnehmer des außerordentlichen Treffens wussten inzwischen nicht, wie es weitergehen sollte. »Der erzählt doch jedes Wort brühwarm seinen Freunden«, hörte man, worauf Leitner nur verständnislos den Kopf schüttelte und vor sich hin brummte: »Ich habe keine Freunde.« Doch niemand schien ihm zu trauen.

Da nutzte Herr Heller die Gunst der Stunde. Er nahm sich ein Herz, marschierte mutig nach hinten, stellte sich in den freien Raum zwischen den Tischen und ergriff das Wort: »Herrschaften, lassen wir uns nicht von Kleinigkeiten beirren. Es geht um die Zukunft unseres Vereins Eintracht Floridsdorf. Schon der Name ›Eintracht‹ mahnt uns, dass wir einträchtig zusammenstehen müssen. Ich höre immer wieder, wie schwer es sein wird, Herrn Sonnleitner auch nur für ein Jahr zum Bleiben zu überreden. Aber wenn wir zusammenhalten und ein Team bilden, das Konzepte entwirft, die gegenwärtige Situation analysiert und evaluiert, wenn einige von uns sich bereit erklären, dieses eine Jahr den Weg mitzugehen und Verantwortung zu übernehmen, dann wird, ja, darf Herr Sonnleitner uns nicht so rasch im Stich lassen. Ich selbst erkläre mich bereit, Teil dieses Teams zu sein. Und ich möchte nicht hinter den zahlreichen wackeren neuen Sponsoren zurückstehen und mich mit einem Betrag von …«, jetzt geriet Herr Heller leicht ins Schwitzen und blickte kurz nach vorne zu seiner Gattin, die ihm aufmunternde Blicke zuwarf, »… von 25.000 Euro einbringen. Ich glaube, es ist nur fair, wenn dann in Zukunft sämtliche Veranstaltungen des Klubs wie Weihnachts- und Meisterschaftsfeiern und Ähnliches hier bei uns im Lokal stattfinden werden.«

Herr Heller schöpfte tief Luft und wischte sich dann den Schweiß von der Stirn. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Orkanartiger Jubel brach aus, Bravorufe dröhnten von überall her. Frau Heller weinte hinter der Theke vor Rührung. Sogar Harry Leitner zerdrückte ein paar Tränen in seinen Augenschlitzen. Nur Leopold ging die Gefühlsduselei auf die Nerven. Er schenkte bei Leitner Weinbrand nach und genehmigte sich dann selbst einen größeren Schluck. Den brauchte er auch, denn Frau Heller drehte noch einmal ›You’ll never walk alone‹ auf höchste Lautstärke.

Die ›Freunde der Eintracht‹ sangen aus vollen Kehlen mit, applaudierten, skandierten ›Einträchtig – übermächtig‹ sowie ›Hört hört, schaut schaut, wir brauchen keinen Ehrentraut‹. In der Folge wurde nicht viel analysiert oder evaluiert, sondern gebechert, was das Zeug hielt, sodass Leopold mit den Bestellungen kaum nachkam.

Dann begann der Alkohol seinen Tribut zu fordern. Die Stimmung bekam erneut einen Knick. Die gerade noch himmelhoch Jauchzenden wurden wieder misstrauisch und unsicher. »So leicht werden sie es uns nicht machen«, hieß es, und: »So ein Ami setzt sich letzten Endes doch durch.«

»Glaubt ihr nicht, dass die schon alles bis ins Detail geplant haben?«

»Wenn wir am Sonntag die Kickers schlagen, können sie sich ihre Pläne in die Haare schmieren.«

»Das kannst du vergessen!«, rief Jörg Wotruba. »Heute ist doch unser Freund Brown auf dem Platz. Ich wette, er hat da gleich eine Besprechung mit unseren Eintracht-Spielern gemacht und ihnen gesagt, wie hoch sie verlieren müssen. Dieses Schwein!«

»Wir sitzen da, und drüben am Sportplatz machen sie sich inzwischen in Ruhe alles aus«, hörte man.

»Du warst doch schon dort, Harry«, rief einer zur Theke. »Ist dir was Besonderes aufgefallen?«

Harry Leitner dachte kurz nach, dann formulierte er mit schwerer Zunge: »Ich halte ihn nicht aus, diesen Kanadier. Jeden hat er angeredet, ob er nicht schnell Mitglied werden möchte. Und am Freitag gibt’s ein Schautraining mit Freibier.«

Jetzt gingen alle Stimmen durcheinander: »Diese elende Ratte. Alle will er bestechen, alle.«

»Wir müssen das verhindern.«

»Wie willst du das machen?«

»Ganz einfach, wir gehen auf den Platz und überzeugen uns selbst davon, wie die Dinge stehen.«

»Jawohl, gehen wir.«

»Die sollen uns kennenlernen.«

Und so entschloss man sich rasch, dem Eintracht-Platz einen Besuch abzustatten. Die Gläser wurden hastig ausgetrunken, einige halbvoll stehen gelassen. »Zahlen, Leopold«, kam es beinahe gleichzeitig aus allen Mündern. Schließlich verließen die ›Freunde der Eintracht‹ das Café Heller grimmig und aufgebracht und verschwanden singend, skandierend und schreiend in die Nacht hinaus. Etwas hintennach, aber dennoch in ihrem Schlepptau, hinkte Harry Leitner. Man konnte jetzt gut sehen, dass das eine Bein kürzer war als das andere.

 

*

 

Nur der Rauch, die Zigarettenstummel auf dem Fußboden und die Flecken auf den eilig über die zusammengestellten Tische gebreiteten Tischtüchern erinnerten daran, was sich vor wenigen Minuten hier abgespielt hatte. Auf einem Garderobeständer hing eine vergessene Kappe. Die Leuchtstoffröhre über dem zweiten Billardtisch summte leise. Im Café Heller war es seltsam ruhig geworden.

»Glauben Sie wirklich, dass die hinüber auf den Platz gegangen sind, Leopold?«, wollte Frau Heller wissen.

»Da können Sie Gift darauf nehmen«, antwortete Leopold, während er ein Tablett voll schmutziger Gläser abstellte.

»Aber die sind doch gar nicht mehr in der Lage, irgendetwas auszurichten«, bemerkte Frau Heller kopfschüttelnd.

»Das wollen sie auch nicht. Irgendein gescheiter Mensch hat einmal ein Buch geschrieben, in dem er behauptet, dass so ein Haufen, wie er gerade eben bei uns hinausgewankt ist, erst durch die Entladung zu einer richtigen Masse wird.[10] Die wollen sich nur ein bisschen abreagieren und ihren Frust loswerden. Da bin ich immerhin froh, dass diese Entladung nicht bei uns stattfindet. Ich sage Ihnen ja die ganze Zeit, Frau Chefin: Wo viele Menschen zusammenkommen, ist die Gewalt nicht weit weg. Und mit Ihrer Hymne haben Sie alle zusätzlich aufgestachelt. Ich befürchte das Schlimmste.«

»Ach, Leopold, Sie vermuten einfach hinter allem und jedem ein Verbrechen, da kann man gar nicht normal mit Ihnen reden.«

»Sie werden sehen, dass ich recht hab.«

»Darüber möchte ich nicht mit Ihnen streiten. Macht Ihnen etwa schon wieder Ihr Alter zu schaffen, dass Sie so grantig sind?«

»Es geht. Nur bei der Hymne habe ich Kreislaufprobleme bekommen.«

Frau Heller ignorierte diese Bemerkung, überlegte einen Augenblick, warf einen Blick in das leere Lokal und sagte dann: »Wissen Sie was, Leopold? Ich glaube, wir sperren jetzt zu. Auf die paar Herumtreiber, die vielleicht noch auftauchen, können wir verzichten. Es war ein anstrengender Tag.«

Leopold schaute sie kurz ungläubig an.

»Ja, ja, Sie haben schon richtig gehört«, kam es wie zur Bestätigung von Frau Heller. »Sie können nach Hause gehen. Mein Mann und ich möchten allein sein.« Dabei sah sie Herrn Heller mit großen Augen an wie einen Helden.

»Ja, mein Liebling«, turtelte der wie in seinen besten Tagen und nahm sie fest in seinen Arm.

»Na, dann will ich nicht länger stören«, stellte Leopold fest. Während er sich umzog, überlegte er, wie er seinen weiteren Abend zu gestalten gedachte. Es fiel ihm ein, dass Thomas Korber nicht zu der Versammlung gekommen war, obwohl er ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Natürlich war er neugierig, was ihn davon abgehalten haben könnte. Etwa gar der neue Nachhilfeschüler mit Mutter? Wichtiger war jedoch, ob sich am Platz der Floridsdorfer Eintracht Entscheidendes getan hatte. Die Theorie von der Entladung der Masse hatte etwas für sich.