8
Leopold musste zugeben, dass er in der allgemeinen bürgerlichen Etikette nicht hundertprozentig bewandert war. Gehörte es sich, einen Tag, nachdem man einer Witwe zum plötzlichen Ableben ihres Mannes kondoliert hatte, schon wieder bei ihr anzurufen? Jedenfalls klang Bettina Ehrentrauts Stimme am Telefon diesmal im Gegensatz zu ihrer redseligen und aufgekratzten Art vom Vortag zurückhaltend und indigniert. Sie sah nicht ein, warum sie sich schon wieder mit Leopold treffen sollte.
»Na schön, wenn es unbedingt sein muss«, sagte sie. »Ich habe aber nur sehr wenig Zeit.«
»Ich auch, Gnädigste, ich auch«, räumte Leopold ein.
Später, auf dem Bahnhofsvorplatz, trippelte sie ihm eiligen Schrittes entgegen, der Blick gar nicht freundlich, im Gesicht Spuren von Tränen. »Was wollen Sie?«, fragte sie gereizt. »Ich habe nicht jeden Tag Zeit für ein Plauscherl, und in meiner jetzigen Situation schon gar nicht. Was ist denn auf einmal so wichtig? Wir haben doch gestern ausführlich miteinander geredet.«
»Ja, schon. Aber ich bin ein bisschen enttäuscht. Ich habe erwartet, dass Sie ehrlich zu mir sind«, kam Leopold zur Sache und betonte dabei das Wort ›ehrlich‹ besonders.
»War ich denn das nicht?«
»Keineswegs. Sie haben mir gegenüber behauptet, dass Sie keinerlei Beziehung zu einem Freund beziehungsweise Liebhaber unterhalten. Das war eine Lüge.«
»Wie kommen Sie denn plötzlich darauf?«, bäumte sich Bettina auf.
»Es gibt Beweise.«
Ein kurzes, nervöses Zucken der Augen, eine kleine Unsicherheit. »Welche?«
»Sie sind gestern mit einem Mann beim Millennium Tower gesehen worden. Na, und innig geküsst haben Sie sich auch.«
Bettina kämpfte um ihre Fassung. »Sie haben mir nachspioniert?«
»Was habe ich denn damit zu tun?«, spielte Leopold den Unschuldigen. »Man hat mir die Sache zugetragen. Das heißt, es wird bereits darüber geredet. Und ich, der Ihnen immer die Stange gehalten hat, komme mir jetzt ganz schön dumm vor. Ich habe geglaubt, ich bin eine Vertrauensperson. Dabei haben Sie mich angeschwindelt.«
»Die Leute erzählen solche Dinge herum?«
»Gewissermaßen. Es existieren sogar Fotos von dem kleinen Rendezvous.«
Bettina schnappte nach Luft. »Mir scheint, Sie sind ein ganz gemeiner Erpresser«, protestierte sie. »Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Ich habe Sie immer für einen aufrichtigen Menschen gehalten.«
»Ich Sie doch auch. Aber wie gesagt, ich habe nichts mit der Sache zu tun. Ich weiß nur, dass Gerüchte im Umlauf sind, und wo ein solches Gerücht ist, erfährt es bald auch die Polizei. Da schaut es dann gar nicht gut für Sie aus. Ich möchte Ihnen doch helfen. Das geht aber nur, wenn Sie mir jetzt reinen Wein einschenken.«
Um Bettinas Nervenkostüm war es wahrhaft nicht gut bestellt. Sie begann, wild drauflos zu heulen. »Wie … wie wollen Sie mir denn helfen?«, fragte sie schluchzend.
»Zuerst die Wahrheit«, blieb Leopold unnachgiebig. »Sie haben einen Geliebten?«
»Ja«, kam es, kaum hörbar.
»Haben Sie oder Ihr Geliebter Ihren Mann umgebracht?«
»Nein«, sagte sie immer noch leise, aber mit einem leichten Protest in der Stimme.
»Gut. Ich will Ihnen zunächst einmal glauben. Aber Sie wissen selbst, dass Sie die Tatsache, dass Sie Ihren Liebhaber verheimlicht haben, verdächtig macht, oder?«
»Es war wie in einem schlechten Film«, brach es aus Bettina hervor. »Wolfgang hat mich von einem Privatdetektiv beschatten lassen. Er wollte mir meine Untreue beweisen, damit ich im Fall einer Scheidung schuldig gesprochen werde. Da war aber nichts, wirklich. Eigentlich hat alles erst angefangen, als ich diesem Privatdetektiv plötzlich gegenübergestanden bin. Es war Gerry, Gerry Scheit, ein alter Schulfreund von mir. Wir konnten es kaum glauben. Zuerst haben wir über die Situation nur gelacht, aber dann …«
» … ist was Ernstes draus geworden.«
»Richtig. Wir sind ja damals in der Schule ein kleines bisschen verliebt ineinander gewesen. Gerry war schon als Bub ein Draufgänger, und meine Reize waren mit 14 auch nicht so ohne.« Sie hatte sich wieder beruhigt und begann, mit einem Taschentuch ihre Tränen abzutrocknen. »Nach der Hauptschule haben wir uns dann aus den Augen verloren. Und jetzt ist Gerry rasch draufgekommen, dass ich es war, die er beschatten sollte. Darum ist er einfach auf mich zugegangen, anstatt sich zu verstecken. Der Funke ist dann schnell übergesprungen. Gerry war verliebt wie in alten Tagen, und ich … na ja, ich hatte halt auch schon lange keinen Sex mehr.« Schön langsam kam Bettina wieder zurück in ihre alte Form.
»Aber zum Schein hat er die Observierung weiter gemacht und auch das Geld dafür kassiert«, stellte Leopold fest.
»Was hätten wir denn tun sollen? Wolfgang sagen, dass wir beide ein Paar sind? Das hätte überhaupt nicht funktioniert. Also haben wir so weitergemacht und gehofft, dass uns etwas einfällt. Natürlich ist Wolfgang misstrauisch geworden. Er hat sich ja krankhaft eingebildet, dass ich einen Freund haben muss.«
»Hat Ihr Freund – dieser Gerry – ein Alibi für den Dienstagabend?«
Bettina winkte ab. »Nein. Er war mit einem Auftrag beschäftigt. Aber ich fürchte, es gibt nichts Konkretes, das ihn für die Tatzeit entlastet.« Sie schaute Leopold herausfordernd ins Gesicht: »Und jetzt helfen Sie uns. Bitte!«
Leopold überlegte. »Es wird nicht leicht«, meinte er. »Viele Möglichkeiten, kein Alibi. Wenn man die eigene Unschuld nicht beweisen kann, bleibt eigentlich nur mehr eins übrig.«
»Und das wäre?«, fragte Bettina neugierig.
»Den wahren Täter zu überführen«, kam es von Leopold mit Bestimmtheit. »Jedenfalls muss ich so schnell wie möglich mit Gerry sprechen.«
»Ich weiß nicht, ob ihm das recht ist.«
»Liebe Bettina, hier geht es nicht darum, ob Ihrem Freund etwas recht ist«, stellte Leopold klar. »Es geht um mehr. Es geht darum, ob wir seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können. Also schicken Sie ihn mir bitte noch heute im Kaffeehaus vorbei.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte Bettina. Es sah so aus, als ob sie kurz über etwas nachdachte, das ihr durch den Kopf ging, dann verabschiedete sie sich von Leopold und trippelte so beherzt, wie sie gekommen war, wieder von dannen.
Leopold sah ihr kopfschüttelnd nach. Was sollte er bloß von dieser Frau halten? Er konnte sich nicht helfen, aber irgendwie war sie ihm immer noch sympathisch, und er hoffte, dass sie nicht allzu sehr in den Fall verstrickt war. Aber was wusste man schon? Wenn Ehrentraut draufgekommen war, dass ihm nun schon alle beide das Geld aus der Tasche herauszogen, war es leicht möglich, dass es zu einer Auseinandersetzung mit tödlichem Ende gekommen war: zwischen ihm und Bettina, Gerry, oder allen beiden.
Diesem Gerry Scheit musste Leopold jedenfalls einmal auf den Zahn fühlen. Er hätte gern gewusst, warum er ihm auf dem Foto für einen kurzen Augenblick bekannt vorgekommen war, doch es fiel ihm nicht ein. So steuerte er gedankenverloren auf das Café Heller zu, wo bald sein Dienst beginnen würde. Dabei spürte er auf einmal kurz einen Stich in der Seite, dann noch einen. Sie waren also wieder da, die Wehwehchen. Er hätte in der vorigen Nacht doch nicht so lange ausbleiben sollen. War er wirklich zum Älterwerden verdammt? Stand ihm gar der nächste Schub ins Haus? Egal. Der Fall drohte kompliziert zu werden, da durfte man auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen.
*
Als Leopold die Helligkeit des warmen Spätfrühlingstages gegen das gedämpfte, intime Licht seiner Arbeitsstätte eintauschte, brauchten seine Augen einige Augenblicke, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Dann gewahrte er eine kleine, eher mickrige Gestalt jenseits der 50 mit Cordhut und einer beinahe zu warmen Jacke, die sich auf seltsame Art im Kaffeehaus zu schaffen machte. Der Mann wirkte forsch wie ein Kammerjäger und akribisch wie ein Tierpräparator. Sein prüfendes Gesicht legte er dabei in endlos viele Falten. Frau Heller schritt, sichtlich gezeichnet, hinter der Theke auf und ab, ohne den für sie in solchen Situationen unverzichtbaren blauen Dunst zu inhalieren, und auch Waldemar ›Waldi‹ Waldbauer lugte bei seinen Serviergängen interessiert nach vorne.
»Hat der Herr vielleicht eine Kontaktlinse verloren?«, fragte Leopold beiläufig.
Frau Heller schien nahe dem endgültigen Zusammenbruch. Mit einer deutlich sichtbaren Handbewegung winkte sie Leopold zu sich. »Dieser Herr ist von der Gesundheitspolizei«, wisperte sie ihm, nach wie vor heftig gestikulierend, zu. »Er inspiziert unser Lokal. Schon seit einer halben Stunde steckt er seine Nase überall hinein. Angeblich hat es einen anonymen Hinweis gegeben, dass bei uns so einiges mit der Hygiene nicht stimmt.«
Leopold brauchte gar nicht erst lange nachzudenken, von wem der ›Hinweis‹ stammte. »Das war sicher dieser Kanadier«, schoss es Leopold in den Kopf. »Eigentlich wollte ich Ihnen ja nichts davon sagen, aber Joe Brown war gestern Früh hier, hat sich äußerst ungehobelt benommen und erklärt, dass er das Lokal unbedingt kaufen will.«
»Also eine Intrige«, japste Frau Heller. »Eine Intrige, um uns fertigzumachen.«
»Ein taktischer Winkelzug, würde man im Fußball sagen«, bemerkte Leopold.
Frau Heller war immer noch ganz aus dem Häuschen. »Pah, Winkelzug. Ein grobes Foul hinter dem Rücken des Schiedsrichters. Gleich nachdem er sich ausgewiesen hat, hat dieser Herr gefragt, ob wir nicht Angst hätten, dass – ich zitiere wörtlich, Leopold – ›diese Hütte demnächst über uns und den Gästen zusammenbricht‹. Wie kann denn so jemand ein Lokal unvoreingenommen prüfen?«
»Regen Sie sich nicht so auf«, versuchte Leopold, sie zu beruhigen. »Es ist ja nichts passiert.«
»Vielleicht, aber ich kann mir vorstellen, was dabei herauskommt. Nicht einmal einen Kaffee wollte der Herr trinken, sondern er hat nur in die Schalen hineingeschaut, ob sie auch sauber sind. Bei den Gläsern hat er dann schon zu meckern begonnen, obwohl sie frisch aus der Spülmaschine gekommen sind.«
»Wenn ich auch etwas dazu bemerken darf«, meldete sich plötzlich ›Waldi‹ Waldbauer mit erhobenem Zeigefinger zu Wort. »Im hinteren Teil unseres Kaffeehauses ist er mit dem Finger über einige Spieltische gefahren, um zu prüfen, ob Staub drauf ist. Eine Frechheit.«
Leopold musterte seinen Kollegen kurz, dann sagte er: »Du musst dir unbedingt ein anderes Haarshampoo zulegen, Waldi.«
»Warum denn das?«, fragte Waldi indigniert.
»Sollte der Inspektor hinten auf den Tischen etwas Beunruhigendes gefunden haben, so war das kein Staub, sondern deine Schuppen,« stellte Leopold sachlich fest. »Ich sehe ja, wie du sie auf deiner Livree hast und gleichmäßig überall im Kaffeehaus verteilst. Wenn man uns da draufkommt, dann gute Nacht.«
»Also das ist doch …«, ereiferte sich Waldi, machte sich aber sogleich mit finsterem Blick wieder ans Bedienen, als er sah, dass sich der Gesundheitsexperte mit ernstem Gesicht auf die Theke zubewegte. Er schien sich jetzt doch zu trauen, einen Kaffee zu trinken, jedenfalls ließ er sich von Frau Heller auf einen kleinen Schwarzen einladen. Er kippte das heiße Getränk hinunter und blickte dann auf den Boden der Schale, so als wolle er aus dem Kaffeesud die letzte Wahrheit herauslesen.
Schließlich begann er: »Dass die Küche nicht den neuen, für die Gastronomie ausgearbeiteten Richtlinien entspricht, wissen Sie ja, Frau Heller.«
»Aber Sie müssten wissen, dass wir bis zu einer eventuellen Übergabe eine Ausnahmegenehmigung haben«, wehrte sich die Angesprochene.
Der Gesundheitsexperte ließ sich nicht irritieren. »Desgleichen mangelt es an einer geeigneten Lüftung im WC-Bereich«, stellte er fest. »Außerdem fehlen Händetrockner. Es hängen nur Handtücher dort.«
»Auch hier habe ich mich mit der Behörde geeinigt, dass derzeit …«
»Ich weiß, Frau Heller, ich weiß«, unterbrach sie der Kontrollor. »Aber es handelt sich hier nur um die eindeutigsten Schwachpunkte.« Er ließ seinen Blick noch einmal kurz durch das Kaffeehaus schweifen, während sich Frau Heller mit zittrigen Händen an der Theke festhielt. Sie sehnte sich nach einer Zigarette, wagte aber nicht, sich in Anwesenheit dieses peniblen Beamten vor dem Küchenbereich eine anzuzünden.
»Ich will es kurz machen«, fuhr der Mann mit dem Cordhut fort. »Die Stadt Wien ist bemüht, die Tradition der Einrichtung Kaffeehaus mit einer gewissen Modernität zu verbinden. Die Gäste sollen sich hier wohlfühlen.«
»Sie fühlen sich doch wohl hier bei uns«, zeigte Frau Heller für solche Worte wenig Verständnis.
»Lassen Sie mich ausreden«, zischte der Kontollor. »Solchen Bestrebungen haben Sie sich bis jetzt anscheinend immer erfolgreich zur Wehr gesetzt. Aber ein Modernisierungsschub ist dringend notwendig. Wenn Sie sich also selbst in nächster Zeit keinen Umbau leisten können oder wollen, wäre es das Beste, das Lokal zu verkaufen.«
»Was erlauben Sie sich?« Frau Heller war außer sich vor Rage. »Wollen Sie mich vielleicht enteignen, mir das Café unter dem Hinterteil wegziehen? Das würde Ihnen so passen! Dann sollen hier vielleicht Hot Dogs, Hamburger oder Pizzas verkauft werden, weil Ihr Freund, Herr Brown, mit dem Sie zusammenarbeiten, das will.«
»Ich bin ein Beamter des Staates Österreich und arbeite mit niemandem zusammen«, grunzte der Gesundheitsmensch. »Lassen Sie also diese Unterstellungen. Ich will Ihnen auch das Lokal nicht wegnehmen. Aber die Beschwerden werden sich häufen, Sie werden sehen. Dann werden die Kontrollen verschärft und alle paar Wochen stattfinden. Und wenn wir dann etwas finden, ist es um das Kaffeehaus schneller geschehen, als Ihnen lieb ist.«
In der immer heftiger und lauter werdenden Debatte übersahen alle Beteiligten völlig, dass ein großer Mann mit breitkrempigem Hut, der einen leichten Sommeranzug trug, das Heller betreten hatte. »Grüß dich, Leopold«, sagte er, und dann überrascht, aber jovial: »Servus, Schebesta.«
Der Cordhut blickte zum Sombrero auf. »Servus, Juricek. Was machst du denn hier? Ein Mordfall?«, fragte der Angesprochene.
»Gewissermaßen. Aber ich trinke auch gern einen guten Kaffee. Und du? Kämpfst wieder einmal für die Gesundheit und Hygiene der Nation?«
»Gewissermaßen auch, ja.« Schebesta räusperte sich.
»Aber doch nicht hier, in diesen altehrwürdigen Hallen«, meinte Juricek und bestellte eine Melange und ein Mineralwasser.
»Beinahe zu altehrwürdige Hallen«, korrigierte Schebesta. »Gerade da muss man besonders genau sein.«
»Der Brown hat sich beschwert, weil er das Lokal haben möchte«, raunte Leopold Juricek ins Ohr.
»Es ist wie mit alten Autos«, fuhr Schebesta unbeeindruckt fort. »Da geht immer mehr kaputt, und sie brauchen mehr Sprit, aber die Leute wollen sie nicht gegen neue eintauschen, obwohl das für sie und die Umwelt viel besser wäre. Also kontrollieren wir eben. Hier haben wir auch so ein Auslaufmodell, das förmlich nach einer Modernisierung schreit.«
»Auslaufmodell?«, ereiferte sich Frau Heller. »Wir sind inzwischen das einzige Kaffeehaus im Bezirk, in dem man Karambole spielen kann, wir haben über 20 verschiedene Zeitungen aus dem In- und Ausland, die Kaffeemaschine ist brandneu, und Sie bezeichnen uns als Auslaufmodell? Das ist stark.«
»Die Zeit hat eben ihre Spuren hinterlassen«, schnarrte Schebesta. »Die einzelnen Mängel habe ich Ihnen bereits mitgeteilt. Sie betreffen zum Teil die Küche, den WC-Bereich …«
»Auf meinem WC können Sie essen«, teilte ihm Frau Heller kampfesbereit mit.
»Daran bin ich nicht interessiert«, erwiderte Schebesta nasenrümpfend. »Darum geht es auch nicht. Es geht um die Lüftung und die Händetrockner.«
Juricek, der daneben in aller Ruhe an seinem Kaffee nippte, griff nun wieder in das Gespräch ein. »Sag, Schebesta, wie geht’s denn deiner Schwester?«, fragte er.
»Danke der Nachfrage, gut. Warum?«
»Hat sie noch immer dieses Wirtshaus in Ottakring?«
»Den Steinernen Krug? Natürlich.« Schebesta verzog seinen Mund zu einem eitlen Lächeln.
»Soweit ich mich erinnern kann, ist das ein – nun, sagen wir einmal ein Ort, an dem die Zeit viel deutlichere Spuren hinterlassen hat. Komisch, dass es da noch nie eine Überprüfung gegeben hat.«
»Nun, wenn alles in Ordnung ist und es keine Beanstandungen gibt …«
»Komm, Schebesta, es hat Beanstandungen gegeben, das weißt du genauso gut wie ich. Das hat sich sogar bis zu uns bei der Mordkommission herumgesprochen. Ich habe da Details aus der Küche gehört … Aber lassen wir das. Ich will auch gar nicht näher in dich dringen, warum da alle Augen zugedrückt werden. Mich stört nur, dass du hier brav den Erfüllungsgehilfen spielst, wenn euch jemand benützt, um seine Interessen durchzusetzen. Das ist nicht fair.«
»Ich weiß nicht, was dich das überhaupt angeht«, reagierte Schebesta unwirsch.
»Was mich das angeht? Sogar sehr viel. Wenn die Person, die sich über das Heller beschwert hat, eine männliche Stimme mit amerikanischem Akzent hatte, ist sie in den Mordfall verwickelt, den ich gerade untersuche. Also mach dir da die Finger nicht schmutzig.«
Schebesta wurde jetzt ein wenig kleinlauter. »Ich tue doch nur meine Pflicht«, sagte er entschuldigend.
»Ich denke, es wird reichen, wenn Frau Heller demnächst Händetrockner installiert, oder aber auch eine Box mit Papierhandtüchern. Ohne weitere Kontrollen«, schlug Juricek vor, während er genüsslich seinen Kaffee austrank.
»So habe ich es ja auch gemeint«, wandte sich Schebesta an Frau Heller. »Also nicht vergessen, die Händetrockner …«
»Auf Wiedersehen«, kam es nur unbarmherzig von ihr zurück.
Juricek tippte an seinen Sombrero. »Schönen Gruß an die Schwester«, rief er Schebesta nach, der aber schon mehr draußen als herinnen war.
Dann blickte er auf die Fenster, die Tische, die Sessel, die gepolsterten Bänke und die Tapeten, auf denen der Rauch von Jahrzehnten seine Spuren hinterlassen hatte. Er schaute auf die Billardbretter und die eingerahmten Fotos an der Wand. Für einen Augenblick fühlte er sich außerhalb jeder Zeit, als fester Bestandteil eines Ablaufes, der immer so war und immer so sein würde. Und dennoch würde einmal, vielleicht in nicht allzu fernen Tagen und ohne irgendeinen Kontrollor, der Zeitgeist drüberfahren und nichts zurücklassen außer ein paar eingerahmter Fotos.
»Wie kann ich Ihnen nur jemals danken, Herr Oberinspektor«, riss ihn Frau Hellers Stimme aus seinen Gedanken. »Sie waren großartig.«
Juricek winkte kurz bescheiden mit der Hand ab. »Keine Ursache«, sagte er. »Aber kommen Sie bitte der kleinen Aufforderung nach, und schauen Sie, dass auch sonst alles in Ordnung bleibt. Es wäre wirklich schade, wenn aus diesem Kaffeehaus irgendein neumodischer Fast-Food-Tempel würde. Und jetzt lassen Sie mich bitte ein paar Minuten mit Leopold plaudern.«
*
Während ›Waldi‹ Waldbauer etwas konsterniert weiter seinen Dienst versah und auch ein paar kurze, irritierte Blicke in Richtung von Frau Heller warf, setzte sich Juricek mit Leopold an einen Tisch beim Fenster.
»Tja«, begann er. »Ehrentraut ist durch einen Stich in den Rücken gestorben. Genau genommen waren es zwei Stiche, aber bereits der erste war tödlich. Die Tatwaffe wurde noch nicht gefunden, es deutet jedoch alles darauf hin, dass es sich um jenes Messer handelt, das aus der Kantine des Eintracht-Platzes verschwunden ist. Aufgrund des Stichkanals scheint es, als sei der Mörder größer als Ehrentraut gewesen, er oder sie könnte aber auf der schrägen Stehplatzrampe hinter dem Tor auch oberhalb von ihm gestanden sein. Kein Kampf. Da und dort Spuren, die wir erst auswerten müssen. Das ist es einstweilen im Großen und Ganzen.«
»Viel ist das nicht gerade«, bemerkte Leopold.
»Eben. Dafür gibt’s jede Menge Verdächtige, die wir überprüfen, und mit denen wir uns unterhalten. Drum wäre ich neugierig, ob du dich schon ein bisschen umgehört hast.«
Leopold begann, von den Ereignissen auf dem Eintracht-Platz zu erzählen. Dabei kam er zunächst auf das bedauerliche Aufeinandertreffen von Thomas Korber und Klaus Stary zu sprechen sowie darauf, dass Stary bereits als Ehrentrauts Nachfolger gehandelt wurde. »Da ist was dran«, meinte er. »Und ich kann es meinem Freund Thomas nicht verdenken, wenn Stary auf der Liste der Verdächtigen für ihn ganz oben steht.«
»Du meinst, er hat es auf seinen Posten abgesehen gehabt? Glaubst du nicht, dass es bei einem eventuellen Streit eher um die Nacktfotos gegangen ist? Starys Sohn Reinhard ist ja auch darauf abgebildet.«
»Auch möglich. Mit Reinhard habe ich übrigens kurz gesprochen. Er behauptet, alles sei ein Jux gewesen. Kein Wunder. Ehrentraut hat den Burschen vorher Bier eingeflößt. Die vertragen doch nichts. Ob er wirklich so ein Perverser war?«
»Wir überprüfen gerade seine Computer, aber soviel ich weiß, gibt es da nichts Auffälliges. Er hat Pornografie aus dem Internet konsumiert, nicht mehr oder weniger als viele andere auch, jedenfalls völlig legal. Über eine entsprechende Neigung sagt das alles nichts aus.«
»Gefallen werden ihm die Buben schon haben«, gab Leopold zu bedenken. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Kannst du dich an die Novelle ›Der Tod in Venedig‹ von Thomas Mann erinnern?«, fragte er. »Wir haben sie einmal in der Schule gelesen.«
»Dunkel«, brummte Juricek. Er wurde nicht gern an seine Schulzeit erinnert.
»Es ist die Geschichte von dem alternden Schriftsteller Gustav Aschenbach, der sich am Lido in den heranwachsenden Knaben Tadzio verliebt«, klärte Leopold ihn auf. »Da erkennt er erst seine Neigung, und dann bricht alles voll aus ihm heraus: der Voyeurismus, der Beschützerinstinkt. Ehrentraut hat sich auch für die Buben gegen die brutalen Trainingsmethoden von Moser eingesetzt.«
»Wir werden heute beim Training vorbeischauen und mit ein paar von den Jungs reden«, sagte Juricek.
»Da ist noch etwas«, erzählte Leopold weiter. »Die Gerüchte, dass das Bezirksderby am Sonntag geschoben sein soll, verdichten sich.« Er sprach jetzt von den nervösen Versuchen der Fans, sich Gewissheit über die sportliche Integrität des Trainers der Eintracht-Kampfmannschaft, Helmut Sturm, zu verschaffen.
»Soll das heißen, dass du Sturm auch verdächtigst?«, wollte Juricek wissen.
»Gewissermaßen ja. Es sieht so aus, als ob er sich noch von niemandem manipulieren hat lassen. Durchaus möglich, dass es sein ehrliches Ziel ist, das Spiel zu gewinnen. Vielleicht wollte Ehrentraut am Dienstagabend ein letztes Mal versuchen, ihn zu überreden, mit einem unmoralischen Angebot, mit Erpressung, mit Verweis auf die langjährige Freundschaft. Und dann ist es zum tödlichen Streit gekommen.«
»Du vergisst drei Dinge«, resümierte Juricek. »Wenn es so ist, war Sturm Ehrentraut im Weg und nicht umgekehrt. Zweitens gab es keine sichtbaren Zeichen einer Auseinandersetzung. Drittens ist die Mordwaffe vorher ziemlich sicher aus der Kantine entwendet worden. Wer immer das getan hat, war sich bereits einige Zeit vor der Tat gewiss, dass er Ehrentraut umbringen wollte.« Plötzlich setzte er ein breites Lächeln auf und fragte Leopold: »Sag, war Harry Leitner gestern auf dem Platz?«
»Harry Leitner?« Einen Augenblick schien Leopold wie vom Blitz getroffen. Es gefiel ihm gar nicht, dass ihn Juricek darauf ansprach. War er etwa hinter die kleine Heimlichkeit mit der Telefonnummer gekommen?
»Ja, Harry Leitner. Den musst du doch kennen, Leopold. Ehemaliger Eintracht-Flügelflitzer. Karriereende nach Brutalo-Foul, dann in Linz untergetaucht, jetzt wieder da.«
»Ach so.« Leopold lächelte verlegen. »Den meinst du. Ja, der ist vorne an der Theke gestanden, bei Bier und Schnaps. Man erkennt ihn ja fast nicht mehr, so verlebt sieht er aus. Der Alkohol hat ihn ganz schön zugerichtet. Du meinst, der könnte auch etwas mit dem Mord zu tun haben?«
»Warum nicht? Er war dort, er kannte Ehrentraut von früher – du weißt, diese Musketiergeschichte – und wie es aussieht, hat Ehrentraut in den letzten Tagen versucht, mit ihm in Verbindung zu treten. Das ist doch schon etwas, oder?«
»Hat Harry dir das etwa erzählt?«, fragte Leopold verunsichert. Warum wusste sein Freund Richard das alles schon wieder? Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut.
Juricek schüttelte den Kopf. Er war noch immer verdächtig gut gelaunt. »Wenn du aus dem ein vernünftiges Wort herausbekommst, bist du Weltmeister«, tat er seinem Freund kund. »Der ist schon am Vormittag nicht mehr nüchtern. Was er faselt, sind zum Teil Erinnerungen, zum Teil Momentaufnahmen und zum Teil irgendwelche gedroschenen Phrasen. Unbrauchbar.«
»Woher willst du es denn dann wissen?«
»Robert Moser, der Trainer der Jugendmannschaft, hat es mir gesagt. Auch ein ›Musketier‹. Ich würde nur zu gern herausfinden, wie die alle wirklich miteinander zusammenhängen. Aber warum interessierst du dich so sehr dafür? Du wirst doch nicht bereits in diese Richtung geschnüffelt haben?«
Leopold winkte theatralisch ab: »Wie kommst du denn auf so etwas? Aber weil du schon von Harry Leitner redest: Derjenige, der ihn so böse gefoult hat, ein gewisser Zeleny …«
»Hat er nicht Zeleznik geheißen?«, versuchte Juricek, sich zu erinnern.
»Nein, Zeleny, das ist amtlich. Dieser Zeleny ist doch unter mysteriösen Umständen gestorben, ertrunken in der eigenen Badewanne. Ist das damals nie genauer untersucht worden?«
»Das war vor meiner Zeit, ich hatte mit der Sache nichts zu tun«, erklärte Juricek. »Damals war ich ein kleiner Revierinspektor. Aber soviel ich weiß, war die Sachlage eindeutig. Dieser Zele… Also, er hatte beinahe drei Promille Alkohol im Blut. Was hätte es denn sonst sein sollen, wenn nicht ein Unfall?«
Leopold zuckte mit den Schultern. »Legst du dich mit drei Promille Alkohol in eine Badewanne, Richard?«
»Es gibt eben Leute, die tun das, wie du siehst. Komm, Leopold, du hörst schon wieder das Gras wachsen. Du denkst an Mord, ich seh dir’s an. Aber bevor du deine Fantasie zu sehr ausschweifen lässt, sag mir bitte, was du von Ehrentrauts Frau Bettina hältst.« Wieder lag das breite, joviale Lächeln auf Juriceks Gesicht.
»Keine Ahnung«, drückte Leopold herum. »Das Einzige, was mir einfällt, ist, dass die Ehe praktisch nur mehr auf dem Papier bestanden hat.«
»Leopold, enttäusch mich nicht. Die Frau war gestern Mittag hier im Kaffeehaus, das weiß ich. Das hast du dir doch nicht entgehen lassen, oder?«
»Ja, sie war kurz da«, gab Leopold widerwillig zu. »Aber wir haben nur über ein paar Belanglosigkeiten geplaudert. Soll’s jetzt etwa die gewesen sein? Erinnere dich, Richard: Wir gehen davon aus, dass der Mörder das Messer aus der Kantine verschwinden hat lassen. Und Bettina war nie dort.«
»Sie könnte einen Komplizen gehabt haben.« Juricek strich sich genüsslich übers Kinn.
Leopold setzte sein unschuldigstes Gesicht auf. »Wen denn?«, fragte er.
»Ihren Freund Gerry Scheit, den Privatdetektiv. Der müsste dir eigentlich auch schon bekannt sein. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass ihn dein Freund Korber gestern aus eigenem Antrieb fotografiert hat. Also bist du ja schon auf einer heißen Spur.«
»Das ist unfair, Richard«, protestierte Leopold. »Ich glaube fast, du spionierst mir mehr nach als irgendjemand anderem. Und wie soll ich dir behilflich sein, wenn du ohnedies schon alles weißt?«
»Immer mal langsam«, sagte Juricek. »Es hat uns eben interessiert, was die Ehefrau des Verstorbenen am Tag nach seinem Tod so alles treibt. Dich offenbar auch. Es hat dir aber niemand angeschafft, ihr nachzuspionieren. Es wäre vernünftiger und effizienter, wenn du dich unter dem Fußballpublikum umhörst, wie wir es besprochen haben. Da hast du ja schon einiges herausbekommen. Aber du weißt, was ich von deinen anderen Aktivitäten halte. Und du kennst mittlerweile meinen Kollegen Bollek.«
Leopold stand auf. Freilich, am liebsten wäre er im Erdboden versunken. Vielleicht war es am besten, jetzt schnell den Dienst anzutreten, um den Ärger darüber, dass er seinen gesamten Ermittlungsvorsprung verspielt hatte, durch Arbeit zu verdrängen.
Juricek griff derweil, immer noch breit lächelnd, nach seinem breitkrempigen Sombrero. »Übrigens«, meinte er beim Aufsetzen, »dieser Scheit könnte es tatsächlich gewesen sein. Gretl Posch behauptet, dass sie ihn am Mordabend in der Kantine gesehen hat. Möglicherweise war er auch schon vorher einmal dort. Er hatte also die Gelegenheit, sich das Messer zu nehmen.«
Während er zahlte, teilte er Leopold mit: »Übrigens, was ich dir neulich geklagt habe, wegen meiner Wehwehchen: Wenn du auch einmal das Gefühl hast, die Toten sitzen dir im Genick und drücken dich nieder, sodass du nicht mehr aufkommst, schalt einfach einmal total ab und mach einen ausgedehnten Spaziergang an der frischen Luft. Ich habe beinahe schon vergessen, welche Wunder das wirken kann. Ich fühle mich heute geradezu prächtig, wie neugeboren. Du schaust mir allerdings ein bisschen abgespannt aus. Übertreib es also nicht. Kopf hoch und … na, du weißt ja.«
Als er durch die kleine Küche ging, um sich für seinen Dienst umzuziehen, spürte Leopold wieder das leichte Stechen in der Seite. Sein Kopf war auch etwas schwammig nach all dem, was er sich von Juricek hatte anhören müssen. Wahrscheinlich lag er bereits weit hinter den polizeilichen Ermittlungen zurück. ›Es ist doch ein Schub‹, dachte er kopfschüttelnd. ›Da kann man nichts machen.‹
*
Leopold hatte sich noch viel zu wenig mit seiner Zukunft beschäftigt. Was, wenn es ihm wirklich einmal schlechter gehen sollte? Oder, viel schlimmer, wenn man ihn eines Tages einfach nicht mehr brauchte?
Normalerweise waren ihm solche Gedanken verhasst, er verdrängte sie. Aber jetzt, er wusste auch nicht warum, fiel ihm immer wieder die Geschichte mit den Händetrocknern ein, bei jedem Gast, der die Toilette aufsuchte. Zuerst würde der Händetrockner das Handtuch ersetzen, dann würden überhaupt neue WC-Anlagen kommen, dann eine neue Küche. Auch sonst würde kein Stein auf dem anderen bleiben. Die Billardbretter, die Kartentische, die Zeitungen, alles würde wegkommen. Im Geist sah Leopold Joe Brown mit einer dicken Zigarre dastehen und lautstark Befehle austeilen, und mit jedem Befehl würde etwas Neues von dieser kleinen Welt Besitz ergreifen, die so wenig Neues vertrug. Er hörte Musik aus Dutzenden Lautsprechern auf ihn eindringen, zuerst leise, dann immer lauter, Frau Heller inmitten eines swingenden Publikums, dem sie den Kaffee in Pappbechern kredenzte. ›Schauen Sie nicht so, Leopold‹, würde sie sagen. ›Musik ist die Zukunft. Musik und Fußball.‹ Er würde es aber kaum verstehen, weil der Lärm aus den Lautsprechern so laut war.
Er würde dann nicht mehr dazugehören. ›Irgendwann werde ich so unnötig sein wie das Handtuch, das jetzt noch auf dem Klo hängt‹, dachte er. ›Und niemandem werde ich abgehen.‹
»Leopold, was ist denn los mit Ihnen?«, schreckte ihn Frau Heller aus seinen Gedanken auf. »Sie haben Ihren Dienst ohnehin später angetreten, jetzt stehen Sie wieder herum wie ein Traummännlein.«
»Ich spür’s wieder. Der Schub, Frau Chefin«, entschuldigte er sich. »Wenn ich Ihnen zu langsam bin, und Sie auf meine Dienste verzichten wollen, gleichsam als Vorbereitung auf eventuell anbrechende neue Zeiten …«
»Jetzt werden Sie nicht kindisch«, wies sie ihn liebevoll zurecht. »Bedienen Sie lieber den Herrn vorne am zweiten Tisch, der eben gekommen ist. Er winkt Ihnen schon die ganze Zeit.«
»Der wird sich ein wenig gedulden müssen. Zuerst bekommt die Frau Fürthaler ihre Melange.«
»Leopold«, wurde Frau Heller wieder strenger. »Lassen Sie Frau Fürthaler warten, die ist es schon gewohnt. Dieser Herr …« Sie kam mit dem Mund ganz nahe an sein Ohr. »Erkennen Sie ihn nicht wieder? Er ist einer der unsern.«
Einer der unsern? Damit konnte wohl nur einer der ›Freunde der Eintracht‹ von der Versammlung am Dienstag gemeint sein. Leopold schaute sich den Typ kurz aus den Augenwinkeln an: sportlich, gepflegtes Äußeres, leicht angegraute Schläfen, Sonnenbrille. Nichts, was ihn auf den ersten Blick zu einer auffälligen Erscheinung machte. Dennoch glaubte er, ihn zu kennen.
»Bitte sehr, der Herr?«, näselte er ihm entgegen.
»Eine kleine Flasche Bier, wenn’s schon sein muss«, erwiderte der Angesprochene. »Aber eigentlich wollte ich nur kurz mit Ihnen reden.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Jetzt tun Sie nicht so. Sie haben mich ja quasi herbestellt.«
Jetzt dämmerte es Leopold. Natürlich, das war Gerry Scheit, Privatdetektiv und neuer Begleiter von Bettina Ehrentraut. Er musste also auch an der Versammlung teilgenommen haben. Leopold holte eine Flasche Exportbier aus dem Kühlschrank. Dabei sah er, dass Frau Heller mit einer Melange und den Worten: »So, da kommt schon Ihr Kaffeetscherl, Frau Fürthaler« nach hinten lief. Es sah so aus, als könne er sich kurz mit Scheit unterhalten.
»Eine unangenehme Situation, in die Sie sich da hineinmanövriert haben«, sagte Leopold knapp.
»Wieso? Eine Freundin zu haben ist noch lange kein Verbrechen.« Gerry Scheit spielte auf lässig, schaute auf seine Fingernägel, ob sie auch sauber waren.
»Ihren Ehegatten umzubringen aber schon.«
»Ich weiß, das haben Sie auch Betty gegenüber angedeutet«, lächelte Scheit, und seine Zähne blitzten. »Aber ist das nicht etwas weit hergeholt? Bettys Mann hat nichts von uns beiden gewusst.«
Leopold blieb angriffslustig: »Das würde ich nicht so sehen. Er hat Sie beauftragt, seine Frau zu beschatten. Er wollte Resultate, aber er hat keine bekommen. Nichts, nicht einmal irgendetwas hat er bekommen. Da musste er doch Verdacht schöpfen. Ich wette, er ist Ihnen beiden auf die Schliche gekommen.«
»Aber nein. Ich bin überzeugt, er hatte keine Ahnung. Er hat mir sogar einen weiteren Auftrag gegeben. Es war wegen des Fußballvereins, in dem er gearbeitet hat. Er hat sich Sorgen bezüglich umstürzlerischer Tendenzen gemacht, wollte die Namen von Leuten, die die geplante Fusion gefährdeten. Da hat er mich gebeten, mich ein wenig umzuhorchen.«
Daher also Scheits Anwesenheit bei der Versammlung im Kaffeehaus und nachher in der Kantine, wo Gretl Posch ihn sich gemerkt hatte. »Interessant«, meinte Leopold. »Dann kommt zu dem Motiv auch noch die Möglichkeit dazu. Ich stelle mir das so vor: Sie gingen nach unserem netten Treffen zusammen mit den anderen auf den Fußballplatz. Ehrentraut wollte kurz mit Ihnen sprechen, um über die Pläne der Eintracht-Verschwörer Bescheid zu wissen. Er wählte dazu den um diese Zeit verlassenen Platz auf der Stehplatztribüne hinter dem Tor aus. Aber Sie hatten bereits den Plan gefasst, ihn zu töten und trugen das Messer aus der Kantine bei sich. Vielleicht hat Betty Sie dazu angestiftet, weil es für sie die einfachste Art war, sich ihres Gatten zu entledigen, vielleicht war Ehrentraut über Ihr Verhältnis doch im Bilde und hatte Sie schon in der Kantine darauf angesprochen. Egal! Als er Ihnen den Rücken zudrehte, stachen Sie zu.«
»Eine nette Geschichte, alle Achtung.« Gerry Scheit schien sich weiterhin zu amüsieren. »Aber wer soll sie glauben?«
»Die Polizei glaubt sie bereits«, wurde Leopold jetzt ungeduldig. »Gerade vorhin sind meine Chefin und ich einvernommen worden. Man hat uns Ihr Foto gezeigt und gefragt, was Sie am Dienstag so alles getrieben haben. Auf dem Fußballplatz hat man Sie offensichtlich auch erkannt. Die suchen schon alle Beweise gegen Sie zusammen, da wette ich mit Ihnen. So leicht kommen Sie aus der Sache nicht heraus.«
Erstmals fiel so etwas wie ein Schatten auf Scheits Gesicht. »Wirklich?«, fragte er. »Das wäre ja in der Tat fatal. Aber ganz so einfach ist die Geschichte auch wieder nicht.«
»Besonders schwierig auch nicht«, konterte Leopold kühl. »Noch dazu, wo Bettina gestern Gott und die Welt angelogen hat. Nichts hat sie von einem Freund erzählt, dann tauchen auf einmal Sie auf. Und jetzt stellt sich sogar heraus, dass Sie zur Mordzeit in unmittelbarer Nähe von ihrem Mann waren.«
»Betty ist im Moment durch Ehrentrauts überraschenden Tod völlig durcheinander«, versuchte Scheit eine Entschuldigung.
Bettina und durcheinander! Alles konnte Leopold glauben, nur das nicht. »Das wird der Polizei ziemlich egal sein«, stellte er fest. »Wenn Sie Ihre Unschuld beweisen wollen, müssen Sie etwas unternehmen.«
Scheit überlegte kurz, dann fragte er, wieder mit dem Anflug von einem Lächeln: »Und was?«
»Seien Sie doch nicht so begriffsstützig«, ärgerte Leopold sich. »Tun Sie nicht so, als ob Sie sich nicht auskennen würden. Im Augenblick spricht sehr vieles gegen Sie. Also würde ich an Ihrer Stelle alles daransetzen, den wirklichen Mörder zu finden – vorausgesetzt, Sie haben mit der Sache nichts zu tun.«
»Das leuchtet ein.«
»Sie waren in letzter Zeit oft mit Ehrentraut zusammen. Denken Sie nach, ob Ihnen da etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Schauen Sie sich mit Bettina in der Wohnung um, ob Sie dort etwas finden, das uns auf eine Spur bringt.« Leopold versuchte, den Privatdetektiv zu instruieren. Scheit nickte aber nur wie ein ungezogener, ungeduldiger Junge, der sich eine lästige Predigt von seinen Eltern anhören muss. Dann zahlte er und ging, ohne einen Cent Trinkgeld gegeben zu haben.
»Eigentlich gehört er eingesperrt«, brummte Leopold ihm kopfschüttelnd hinterher. Er schaute auf die Kaffeehausuhr, die bedächtig ihre Tagesrunde drehte. 15 Uhr vorbei und Thomas Korber hatte sich gar nicht anschauen lassen. Das bedeutete nichts Gutes.