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Leopold schwieg auch, während sie auf das ›Katerfrühstück‹ zusteuerten, er auf seinem Rad, Thomas Korber daneben her mit schwankenden Schritten. Dafür kam sein Freund, den die Nachtluft offenbar wieder aufmunterte, in Redelaune.

»Wenn ich in meiner jetzigen Situation von einem Lokal etwas erwarten darf, so sind das drei Dinge: eine respektable Auswahl an Getränken, angenehme Musik und verständnisvolle Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts«, brabbelte Korber vor sich hin. »All das ist dort, wo wir hingehen, so gut wie nicht vorhanden. Du nimmst in letzter Zeit überhaupt keine Rücksicht mehr auf mich. Immer musst du bestimmen, wo es hingeht. Nur, weil du jetzt zur Abwechslung hinter diesem Harry herschnüffeln willst. Du könntest dich ruhig ein wenig mehr in meine Lage versetzen. Ich bin emotional am Boden, um einen der zärtlichsten Augenblicke in meinem Leben gebracht, gedemütigt von einem Rohling, getrennt von demjenigen Menschen, der einen Neuanfang in meinem Dasein bedeuten hätte können. Interruptus auf der ganzen Linie. Und du denkst nur an dich.«

»Ich habe dir gesagt, du sollst das mit der Nachhilfe und den Gedichten bleiben lassen«, unkte Leopold hinüber. »Aber du hast nicht auf mich gehört. Jetzt muss ich mir den ganzen Weg lang deine Gefühlsduseleien anhören. Schau lieber, dass du dich in deinen neuen, prachtvollen Sandalen nicht derstesst[21]. Die schauen ja aus, als hättest du sie geradewegs aus der Alten Donau gefischt.«

Korber bemühte sich kurzfristig um einen geraderen Gang. »Mach dich nur lustig über mich«, brummte er. »Vor den Augenblicken im Leben, wo Gefühle aufkommen, hast du dich immer schon gedrückt. Du weißt gar nicht, wie es ist, tief in die Augen eines zartfühlenden Menschen zu blicken.«

»Wenn ich mich recht erinnere, sind deine Blicke bei Frauen meistens auf Brusthöhe hängen geblieben«, ätzte Leopold weiter. »Du schätzt diese Frau und ihre Situation völlig falsch ein, Thomas. Immerhin hat sie sich jahrelang ganz gut mit Klaus Stary arrangiert. Soll ich dir etwas sagen? Die hat dir nur zwischendurch schön getan, weil sie halt auf ein Abenteuer aus war, und du bist drauf reingefallen. In Eheangelegenheiten mischt man sich nicht ein, das solltest du langsam wissen.«

»Und was ist mit Reinhard?«

»Der ist auch nicht so zart besaitet, wie er immer tut«, winkte Leopold ab. »Das ist mir gestern aufgefallen. Der setzt sich seinem Vater gegenüber schon durch, wenn er will. Dich braucht er dazu jedenfalls nicht. So, wir sind da.«

Sie waren an ihrem Ziel angelangt. Hell erleuchtet lag das Katerfrühstück vor ihnen. Es handelte sich um eins jener Lokale, das, in einer Seitenstraße gelegen, von außen allerhand Appetitlichkeit vortäuschte. In Wirklichkeit befanden sich drinnen nur eine kleine, u-förmige Bar und fünf Tische, alles vom Halbdunkel in ein gnädiges Licht gehüllt. Gerüchten nach hatte das Katerfrühstück seinen Namen daher, weil es von 6 Uhr in der Früh bis spät in die Nacht alle möglichen mit Eiern zubereiteten Speisen anbot, die als eine solche Mahlzeit herhalten konnten. Die meisten Gäste kamen aber wegen des Konsums hochprozentiger Alkoholika, der unweigerlich zum allmorgendlichen Kater – der Voraussetzung für das Frühstück quasi – führte.

Leopold lehnte sein Rad an die Wand. Dann gingen er und Korber hinein.

Rauchschwaden hingen unter der Decke. Aus einer Ecke dröhnte, zu Korbers freudiger Überraschung, laute Musik. Die wenigen Gäste hatten sich gleichmäßig auf das Lokal verteilt und erweckten den Eindruck eines menschlichen Stilllebens. In unregelmäßigen Abständen blinkten die Lichter eines Spielautomaten auf. An der Bar saß, Bier und Schnaps vor sich, Harry Leitner. Er wirkte erschöpft und müde wie jemand, der schon 1.000 Fußballspiele hinter sich hat und die Spuren, die sie hinterlassen haben, am ganzen Körper spürt. Seine Augen wurden magisch vom Barlicht angezogen, das für ihn jetzt der Mittelpunkt der Welt war und die Antwort auf all seine Fragen.

»Einen weißen Spritzer für mich«, bestellte Leopold bei dem Mann hinter der Bar. »Und dem Herrn da«, er zeigte auf Leitner, »geben Sie auch eine Nachfüllung.«

»Er hat aber schon ordentlich getankt«, gab der Barkeeper zu bedenken.

»Ist das denn so schlimm?«, fragte Leopold. Ein solcher Hinweis war das Letzte, was er an diesem Ort erwartet hätte.

»Manchmal wird er eben laut«, kam es knapp von hinter der Theke. »Und wenn er draußen hinfällt, helfen Sie ihm diesmal auf die Beine.« Dann standen auch schon Bier, Schnaps und weißer Spritzer da. Leopold zahlte mit einem Zehneuroschein.

»Erkennen Sie mich?«, wandte er sich jetzt an Harry. »Vor zwei Tagen waren Sie bei uns im Kaffeehaus, bei der kleinen Versammlung der ›Freunde der Eintracht‹. Ich war der Ober.«

Harrys Augen gingen Leopolds Gesicht prüfend auf und ab. »Ich kann nicht jeden kennen«, meinte er dann gleichgültig.

»Ich habe Ihnen damals ein Bier und einen Weinbrand kredenzt«, versuchte Leopold, sein Gedächtnis aufzufrischen. Harry schien gar nicht zu realisieren, dass er auf das nächste Getränk eingeladen war.

Leopold ließ sich nicht beirren. »Da habe ich mich erinnert«, fuhr er fort. »An Ihre tollen Spiele, die herrlichen Flügelläufe. Und auf einmal waren Sie weg. Warum sind Sie so plötzlich nach Linz?«

Harry schüttelte nur den Kopf. »Linz. Na, warum wohl? Weil es dort so unvergleichlich toll ist?« Seine müden Augen, die immer irgendwie auf der Lauer lagen, wurden größer und verliehen seinem Gesicht jetzt groteske Züge. Er machte eine eindeutige Handbewegung, die so viel heißen sollte wie: Fuß ab. »Ich wollte keinen mehr sehen«, sagte er dann.

»Ach ja, die dumme Geschichte.« Leopold tat so, als erinnerte er sich erst jetzt. »Glauben Sie, der Verteidiger hat das Foul damals absichtlich begangen?«

»Jedes Foul ist Absicht«, kommentierte Harry knapp.

»Natürlich, aber ich habe es anders gemeint. Ich habe gemeint, ob er Sie absichtlich verletzt hat.«

Harry schwieg. Er schaute wieder hinauf in das Barlicht, als ob es irgendeine Botschaft für ihn bereithielte. Er machte umständliche Zeichen, die sich wohl auf die körperlichen Maße seines damaligen Gegenspielers beziehen sollten. »Über 1,90 Meter groß«, murmelte er. »Ein Bär von einem Mann. Roman Zeleny war in der ganzen Liga gefürchtet.«

»Vielleicht hat er Sie absichtlich verletzt. Vielleicht hat er es gewollt.«

Harry schien mit einem Mal wach. Er dachte nach. Er rang mit sich selbst. »Nein«, stieß er dann hervor.

»Wenn es aber so war? Wenn es Absicht war?«

»Warum?«, grölte Harry. Er nahm seine Kräfte zusammen, wollte vom Barhocker aufstehen. »Warum, verdammt noch einmal?«

»Was hätten Sie getan, wenn Sie gewusst hätten, dass es Absicht war? Dass er darauf aus war, Sie zu verletzen? Kaltblütig und gemein?«, bohrte Leopold mitleidlos weiter.

»Jetzt hören Sie aber auf, und lassen Sie mich in Frieden«, brüllte Harry gereizt. Er kippte den Schnaps hinunter. Seine Finger krallten sich dabei so fest um das kleine Glas, als ob er es zerbrechen und dann die Splitter einzeln aufessen wollte.

»He, Harry, was ist schon wieder«, rührte sich der Mann hinter der Theke. »Hört bloß mit der Debatte auf, sonst verschwindet ihr hier alle beide«, sagte er zu Leopold. »Ich hab ja gewusst, dass der hier nichts mehr verträgt.«

Harry war schon wieder in sich zusammengesunken. Seine Augen leuchteten nur mehr schwach. Die kurze Anstrengung hatte Kraft gekostet. Der Alkohol nahm jetzt wieder Besitz von seinem Hirn und machte ihn stumpf und müde.

Leopold nutzte die Gelegenheit, um sich nach seinem Freund Thomas umzuschauen. In seinen Bemühungen, aus Harry Leitner etwas halbwegs Vernünftiges herauszubringen, hätte er beinahe auf ihn vergessen. Und wenn Thomas Korber sich einer gewissen, durch ein missglücktes Liebesabenteuer hervorgerufenen Melancholie hingab, musste man auf ihn Acht geben. Sehr sogar.

Da sah Leopold ihn auch schon. In der hintersten Ecke, wo das schummrige Licht noch schummriger war als im Rest des Lokals, saß er an einem Tisch, und er saß nicht allein. Er unterhielt sich angeregt mit einer Frau mittleren Alters, deren Gesichtszüge sich geschickt hinter einer gehörigen Portion Schminke verbargen. Beide prosteten einander zu, bliesen sich gegenseitig den Zigarettenrauch ins Gesicht und schienen sich auch sonst prächtig zu verstehen. Korber klopfte dabei zusätzlich mit seinen Fingern zum Takt der Musik, die aus der Musikbox kam.

Leopold verließ seinen Platz an der Theke, um kurz nach dem Rechten zu sehen.

»Prost, Leopold«, grüßte ihn Korber sofort jovial. »Komm, setz dich ein bisschen zu uns. Darf ich dir Beate vorstellen? Sie ist eine ganz reizende Plaudertasche.«

»Geh, hör auf, Schatzerl.« Die sichtlich angeheiterte Beate kicherte glucksend. »Wer plaudert mehr, ich oder du? Na komm, sag schon.«

»Darf ich euer geistreiches Gespräch kurz unterbrechen?«, fragte Leopold. »Ich möchte vorschlagen, dass wir demnächst aufbrechen, Thomas. Aus diesem Kerl ist nicht viel herauszukriegen, der wird höchstens rabiat.«

»Ich sehe nicht ein, warum ich jetzt schon gehen soll«, wehrte Korber ab. »Die Bude hier ist eigentlich viel gemütlicher, als ich sie in Erinnerung habe. Auch der Wein ist nicht so schlecht. Er fängt an, mir richtig zu schmecken.«

»Eben deshalb«, mahnte Leopold. »Du hast doch in der Früh wieder Unterricht.«

»Was, ein Lehrer bist du?«, kicherte Beate. »Kannst du mir nicht auch eine Stunde geben? Ich bin ganz brav. Oder nein, ich bin lieber schlimm.«

»Du siehst, ich unterhalte mich prächtig«, lächelte Korber.

»Wem bringst du eigentlich mehr bei, den Mädchen oder den Buben?«, kam es von Beate mit einer gehörigen Portion Zungenschlag.

»Vielleicht denkst du einmal an unsere Abmachung«, erinnerte Leopold seinen Freund ungeduldig.

Diese ›Abmachung‹ bestand im Wesentlichen darin, dass Leopold von Korber die Ermächtigung hatte, ihn aus Situationen, in denen ihn reichlicher Alkoholgenuss, Stimmungsschwankungen und eine nicht zu übersehende Geilheit auf Wesen des anderen Geschlechts gefährlich willenlos machten, zu retten, im schlimmsten Fall auch gegen seinen Willen. Er musste ihn abschleppen, ehe etwas Unangenehmes und nicht mehr wieder Gutzumachendes geschah. Natürlich riskierte Leopold dabei endlose Diskussionen mit Korber, der zunächst gar nicht gewillt war, darauf einzugehen, ehe er schließlich doch stets zu seinem eigenen Vorteil nachgab. Auch jetzt war es so.

»Ich verstehe dich nicht. Wir sind gerade erst gekommen«, protestierte Korber, immer noch guter Laune. »Und vergiss nicht, du selbst hast mich hierher verschleppt.«

»Das mag ja sein. Aber unser Besuch hier hat seinen Zweck leider nicht ganz erfüllt. Ich sehe nicht ein, warum ich noch längere Zeit an diesem ungastlichen Ort verbringen soll. Und allein möchte ich dich in diesem Zustand auch nicht zurücklassen.«

»Musst du etwa schon unter die Bettdecke kriechen, Herr Lehrer?«, meldete sich Beate wieder zu Wort. »Das könnten wir doch gemeinsam tun. Ich wohne gar nicht weit von hier. Aber vorher trinken wir einen Gute-Nacht-Schluck.«

»Das wollte ich gerade selbst vorschlagen«, meinte Korber aufgekratzt.

Leopold machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber im selben Augenblick ertönte aus der Musikbox in voller Lautstärke der alte Rolling-Stones-Hit ›Angie‹. Beate war ganz außer sich. »Endlich! Das habe ich schon vor einer guten halben Stunde gedrückt«, kreischte sie. »Komm!«

Sie stand auf und begann, eng umschlungen mit Korber zu tanzen.

Und auch in Harry Leitner, der beinahe an der Bar eingeschlafen wäre, kam wieder Bewegung. »Angie«, brüllte er in einem total misslungenen Versuch, mitzusingen. »Angie! Meine Angie!«

»Jetzt geht das wieder los«, keifte der Mann hinter der Theke. »Wenn du nicht augenblicklich verschwindest, aber in Ruhe und ohne Krach, könnte es wirklich sein, dass du das letzte Mal hier herinnen warst.«

»Aber es ist doch meine Angie«, war Harry völlig konsterniert.

»Ja, wissen wir.« Der Thekenheini sah auf einmal so aus, als sei nicht mit ihm zu spaßen. »Also los, verschwinde.«

»Einen Moment«, rief Leopold, wild mit den Armen rudernd, wieder auf dem Weg nach vorne. »Wer ist diese Angie?«

Die Lebensgeister, die kurz in Harry Leitner erwacht waren, erloschen wieder. Er glotzte Leopold stupide an. »Sie war eine Frau … eine wunderbare Frau … früher einmal«, lallte er. »Was geht Sie das an, verdammt noch einmal! Wer sind Sie überhaupt?«

»Es reicht«, drohte der Barfritze. »Raus, sonst mache ich dir Beine.«

»Lassen Sie mich kurz mit ihm reden«, bat Leopold. »Es ist wichtig.«

»Sie verschwinden jetzt auch, und zwar dalli. Ich kann hier im Lokal keine Schwierigkeiten gebrauchen«, war die grobe Antwort.

»So warten Sie doch einen Augenblick«, insistierte Leopold, aber es schien vergeblich. Der Thekenheini blieb unbeeindruckt, und Harry Leitner stolperte mit einiger Anstrengung mehr schlecht als recht zur Tür hinaus.

»Sie dürfen ihn nicht reizen, wenn er voll ist, da kann er ganz schön unangenehm werden«, hörte Leopold von hinter der Theke, und es klang wie eine Entschuldigung.

»Keine Ursache, ich wollte sowieso gehen«, sagte er mit einem kurzen Seitenblick auf Thomas Korber, der sich nun tatsächlich auf eine Knutscherei mit Beate eingelassen hatte. »Es ist wirklich höchste Zeit.«

Natürlich wollte sich Korber noch immer nicht von seiner neuen Bekanntschaft trennen lassen.

»Ich habe eine ganze Rolling-Stones-Sammlung zu Hause«, schnurrte Beate gerade. »Wenn du willst, können wir da nachher reinhören.«

»Bitte, Thomas, komm jetzt«, bemerkte Leopold nur.

»Mein Gott, du kannst einem tüchtig auf den Wecker gehen«, machte sich Korber Luft. »Setzt dich zu uns und trink ein Gläschen. Du musst das mit dieser ›Abmachung‹, wie du es nennst, nicht so ernst nehmen. Manchmal komme ich mir vor wie ein Kind, das immer brav seiner Mutter nachlaufen muss, weil es sonst zu Hause nicht bei der Tür hineinkommt.«

»Du hast es erfasst«, grinste Leopold. Dabei winkte er provokant mit einem kleinen Schlüsselbund. »Erkennst du sie wieder? Das da sind deine Schlüssel, Thomas. Sie haben vorhin, als du bei uns im Kaffeehaus aufgetaucht bist, aus deinem Hosensack herausgeschaut, da habe ich mich einfach nicht zurückhalten können.«

»Das ist gemein, Leopold. Gib her.«

»Weißt du, dass du ganz schön undankbar bist? Du hättest sie garantiert verloren, wenn ich nicht gewesen wäre. Also mach keine Faxen. Deine neue Freundin Beate kommt sicher öfter hierher, da könnt ihr euch dann näher kennenlernen – ohne meine bescheidene Anwesenheit«, zwinkerte Leopold Korber zu. »Und die Rolling Stones bleiben euch ja auch erhalten, oder?«

»Ich bin fast jeden Abend hier«, beendete Beate achselzuckend den Disput.

»Na also«, seufzte Leopold erleichtert. Er wusste, dass Thomas am nächsten Tag, wenn die Melancholie von ihm gewichen war und der Alkoholnebel sich gelichtet hatte, nicht im Traum daran denken würde, Beate aufzusuchen. Anstandshalber drehte er sich um, als Korber, die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkennend, sich besonders innig von Beate verabschiedete. Dann brauchte er nicht einmal mit dem Finger zu schnippen. Thomas Korber folgte ihm, gleichsam an einer unsichtbaren Leine gezogen, zur Tür hinaus wie ein Hund seinem Herrl.

 

*

 

Es gehörte zum Ritual solcher Abende, dass Leopold seinen Freund nicht nur sicher nach Hause brachte, sondern ihn hinauf in seine Wohnung begleitete, um den Tag im vertrauten Gespräch ausklingen zu lassen, besonders wenn er der Ansicht war, dass Thomas Korber seinen Beistand nötig hatte.

Leopold hatte sich eine Schale Kaffee gemacht, Korber eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank genommen.

»Es war wieder einmal typisch«, ätzte Leopold. »Kaum verfällst du in deine manische Sentimentalität, machst du dich an das nächstbeste greifbare Frauenzimmer heran, ohne auch nur eine Sekunde lang an die Folgen zu denken.«

»Ich weiß, ich weiß«, gab Korber zu. »Aber hör jetzt bitte wieder langsam damit auf. Sag mir lieber: Wie hat sie denn eigentlich ausgesehen?«

Leopold verzog leicht das Gesicht. »Beate? Alter in etwa Mitte 40, mollig, volle Lippen, ziemlich stark geschminkt. Schon ein wenig faltig unter den Augen. Alles in allem: Tendenz hochgradig verbraucht. Würde sich vielleicht ganz gut in einem Werbefilm für drittklassigen Schankwein machen.«

»Sie hat angenehm geküsst«, erinnerte Korber sich. »Wenn es … wenn es ein wenig heller gewesen wäre? Ich meine …«

Leopold schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Bei Tageslicht und im nüchternen Zustand wärst du vor ihr davongelaufen.«

Korber fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Die Sache begann, ihm ziemlich peinlich zu werden. »Ich hab’s befürchtet«, sagte er und trank einen Schluck vom Bier.

»Kannst du dich an das Mädchen erinnern, von dem ich dich einmal weggezerrt habe, und von dem du behauptet hast, es sei mindestens 19?«, fragte Leopold. »Die war keine 15 Jahre alt. Wenn ich nicht aufpassen und auf unsere Abmachung schauen würde, wärst du schon längst bei der Sittenpolizei oder mit einem deiner Liebchen in der Gosse gelandet.«

Korber leerte sein Glas rasch und schenkte nach. Er schaute nicht sehr glücklich drein.

»Und was ist mit dieser Manuela Stary? Warum hat sie es dir plötzlich so angetan?«, ließ Leopold nicht locker.

»Sie ist einfach … so ein zartfühlendes Wesen«, erklärte Korber. »Ihr Leben mit diesem primitiven Heini muss die Hölle für sie sein. Sie hat einen Ausweg aus ihrem eintönigen Dasein gesucht, und da sind wir uns eben näher gekommen. Ich … ich glaube, wir haben begonnen, uns zu lieben.«

»Das glaubst du doch jedes Mal, wenn dich eine mit ihren betörenden Augen anblinzelt. Deine Frauen sind austauschbar, lieber Thomas. Es ist ein flüchtiges Gefühl, das sich deiner bemächtigt. Du suchst die Erfüllung des Augenblicks. Würdest du Manuela Stary wirklich in ein anderes, glücklicheres Leben hinüberführen? Mach dich doch nicht lächerlich. Ein kleiner, versuchter Ehebruch war alles, was du geschafft hast. Und dafür hast du dann auch deine Watschen bekommen.«

»Musst du mich wirklich daran erinnern?«, protestierte Korber leise. »Es hat weh genug getan. Und in meine Gefühlslage kannst du dich eben nicht hineinversetzen.«

»Wie dem auch sei, es scheint noch mehrere solcher hoffnungsloser Schwärmer zu geben«, wechselte Leopold sanft das Thema. »Harry Leitner ist heute Abend völlig ausgezuckt, als er dieses eine Lied aus der Musikbox gehört hat. ›Angie, Angie‹, hat er gerufen und war gar nicht mehr zu beruhigen.«

»Harry Leitner?«

»Ja, der Nämliche. Du hast es natürlich nicht mitgekriegt, weil du viel zu sehr mit deiner Beate beschäftigt warst.«

»Und? Was schließt du daraus?« Korbers Interesse ließ deutlich nach, sobald es nicht mehr um ihn selbst ging.

»Dass er genauso schwärmerisch verliebt war wie du. Dass es irgendwann einmal eine ›Angie‹ in seinem Leben gegeben hat.«

»Tolle Erkenntnis.«

»Mensch Thomas, begreifst du denn nicht?« Leopold zündete sich eine Zigarette an, was er in letzter Zeit nur mehr äußerst selten tat. »Diese Frau kann der Schlüssel zur Lösung des Falles sein. Du selbst hast mir heute erzählt, dass du Moser und Sturm kurz belauscht hast, und dass dabei ein Frauenname gefallen ist, so wie aus einem dieser törichten Quizspiele: Angelika, Angela, Angelina, ›Angie‹ eben.«

Korber winkte ab. »Es kann auch ein ganz anderer Name gewesen sein.«

»Und wenn schon. Die Zusammenhänge sind vielleicht ein wenig verschwommen, aber ich kann mir schon ungefähr zusammenreimen, wie die Sache abgelaufen ist. Harry ist in eine Frau verliebt, unsterblich verliebt. Nennen wir sie Angie. Dann passiert das schwere Foul. Sein Bein wird nie wieder ganz heil. Harry beginnt zu trinken, und Angie gibt ihm den Laufpass. Welche der beiden Sachen welcher vorausging, wollen wir dahingestellt lassen. Schließlich zieht Harry nach Linz, weil er es in Wien ohne Angie nicht aushält.«

»Klingt alles irgendwie fantastisch«, meinte Korber gelangweilt.

»Fantastisch? Du hättest Harry sehen sollen, als ich ihn auf das Foul angesprochen habe. Er hat total die Nerven verloren. Die Sache ist ihm beileibe nicht egal. Ich gehe davon aus, dass sie ihm auch in Linz ständig im Kopf herumgespukt ist. Es muss ihm der Verdacht gekommen sein, dass Zeleny ihn absichtlich verletzt hat, warum auch immer. Leider wissen wir viel zu wenig über den damaligen Spielverlauf.«

»Du solltest Helmut Sturm fragen. Der war doch damals Harrys Trainer. Er kann sich sicher erinnern«, schlug Korber vor.

»Eine ausgezeichnete Idee«, pflichtete Leopold ihm bei. »Begnügen wir uns zunächst mit der Annahme, dass Harry in Linz allmählich einen Hass auf Zeleny entwickelt. Es kommt ihm der Gedanke, ihn für dieses Foul zu bestrafen. Er fährt nach Wien, trifft sich mit Zeleny, um sich, wie er behauptet, bei einem Gläschen mit ihm zu versöhnen. Er macht ihn betrunken, schleppt ihn hinauf in seine Wohnung und ertränkt ihn in seiner eigenen Badewanne. Vielleicht wehrt sich Zeleny ein bisschen, deshalb der Aufschlag mit dem Hinterkopf. Aber dann ist er tot. Na, wie findest du das?«

»Ein bisschen weit hergeholt, wenn du mich fragst.«

»Warum?« Leopold kam immer mehr in Fahrt. »Die einzelnen Teile des Puzzles fügen sich doch allmählich ineinander. Jetzt kommt nämlich Ehrentraut ins Spiel.«

»Ach so? Ich frage mich nämlich schon die ganze Zeit, was das alles mit dem Mord an ihm zu tun hat.« Korbers Konzentration galt in erster Linie seinem Bierglas. Er hörte nur mit einem Ohr auf das, was Leopold sagte.

»Du wirst dich erinnern, dass Ehrentraut Harrys Telefonnummer in seinem Koffer hatte, hastig auf einem Zettel notiert. Das sagt uns, dass er den Kontakt zu ihm gesucht hat. Was aber kann er von Harry gewollt haben? Was war es, das man nicht schnell bei einem Bier in der Kantine mit ihm besprechen konnte? Es gibt nur eine Lösung: Ehrentraut hat gewusst, dass Harry Zelenys Mörder ist und hat ihn kaltblütig erpresst.«

»Sei mir nicht böse, das kann ich dir so nicht abnehmen«, bemerkte Korber jetzt wieder interessierter. »Frage eins: Woher soll Ehrentraut von der Sache gewusst haben? Und Frage zwei: Was hat er sich denn von Harry erhofft? Schau ihn dir doch an. Das ist ein heruntergekommener Alkoholiker, der froh ist, wenn er das Geld für seine tägliche Trinkerei zusammenbekommt.«

Leopold ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. »Antwort eins: Du weißt, dass sie alle miteinander dicke Freunde waren, Ehrentraut, Moser, Sturm und unser Harry Leitner«, fasste er zusammen. »Die drei Musketiere und DArtagnan. Vielleicht hat sich Harry im Suff nachher den anderen anvertraut, vielleicht ist er sogar von einem seiner Kumpel auf die Idee gebracht worden, Zeleny umzubringen – etwa von Sturm, der sein Trainer war, als das mit dem Foul passierte, oder von Ehrentraut selbst. So viel dazu. Und Antwort zwei: Harrys Mutter hat ihm nicht nur die Wohnung, sondern auch ein bisschen Geld hinterlassen, unter Umständen genug, um Ehrentraut fürs Erste aus seinen finanziellen Schwierigkeiten zu bringen. In seiner Lage greift man doch nach jedem Strohhalm.«

»Frage drei: Traust du Harry zwei solche Morde zu?«

Wie aus der Pistole geschossen antwortete Leopold: »Natürlich. Der Mord an Zeleny geschah aus Hass, aus Rache. Da war er ordentlich motiviert und wahrscheinlich nicht so verlebt wie heute. Und am Dienstag, als Ehrentraut umgebracht wurde, war Harry noch relativ gut beisammen. Da befand er sich in einer Notsituation. Vergiss außerdem nicht, dass der Kerl ein ganz schön hohes Aggressionspotenzial hat.«

»Trotzdem kann ich mich mit deinen Ausführungen irgendwie nicht anfreunden«, klang Korber alles andere als überzeugt.

Leopold lächelte genüsslich wie Meisterdetektiv Hercule Poirot beim Verzehr eines Schokoladenpuddings, nachdem ihm wieder ein Geniestreich geglückt war. »Du wirst sehen, dass ich recht habe«, sagte er. »Vielleicht fühle ich mich in letzter Zeit öfter mal ein wenig unpässlich, aber wenn’s um Mord geht, bin ich topfit. Ich bin gespannt, wie weit Richard mit dem Fall schon ist. Vorsichtig geschätzt glaube ich, dass wir beide derzeit die Nase vorn haben.«

»Bleibt eine kleine, aber wesentliche Schwierigkeit: Wie willst du das alles beweisen?«, fragte Korber, während er sich ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank holte.

»Beweisen? Nichts leichter als das. Das Schwierigste ist, wie ich dir schon einmal zu vermitteln versucht habe, die wesentlichen von den unwesentlichen Fakten zu unterscheiden und dadurch auf die richtige Spur zu kommen. Alles Weitere ergibt sich praktisch von selbst«, dozierte Leopold. »Also, was sind deiner Meinung nach unsere nächsten Schritte?«

»Keine Ahnung.«

»Zunächst einmal müssen wir herausfinden, was Ehrentraut konkret gegen Harry in der Hand hatte, um ihn erpressen zu können. Das ist unsere wichtigste Aufgabe. Aufgabe zwei lautet: Angie finden.«

Korber schien Spaß an Leopolds Ausführungen zu haben. »Fantastisch, fantastisch«, amüsierte er sich. »Und wie haben der Herr vor, die Sache anzulegen?«

»Wir müssen noch einmal auf den Fußballplatz«, sinnierte Leopold. »Morgen ist dazu der ideale Zeitpunkt. Da läuft das Showtraining der Eintracht ab, inklusive Freibier und so. Bestimmt sind eine Menge Leute dort. Also eine gute Gelegenheit, Antworten auf unsere Fragen zu finden. Und wir haben ja noch unseren Privatdetektiv, dem das Wasser bis zum Hals steht. Ich bin gespannt, ob er und Bettina schon etwas gefunden haben, das uns weiterhilft.«

»Du glaubst doch nicht, dass ich dich auf den Sportplatz begleite«, wehrte Korber sich.

»Ja, warum denn nicht?«

»Blöde Frage. Weil Stary dort sein wird, natürlich. Vor dem kann ich mich doch nicht mehr blicken lassen.«

»Hast du vielleicht Angst vor ihm? Du, der unerschrockene Kämpfer gegen Unterdrückung in der Familie?«

»Ja, spotte nur«, sagte Korber, der mit einem Mal sehr müde wirkte. »Weißt du eigentlich, dass deine Methoden ganz schön altmodisch sind? Die von der Polizei geben bloß ein paar Daten in den Computer ein, und schon wissen sie, was sie wollen. Aber du …«

»Der Computer, natürlich!« Leopolds Augen glänzten. »Auf den hätte ich beinahe vergessen. Thomas, Thomas, manchmal gibst du ja doch etwas Brauchbares von dir.«

Aber Thomas Korber hörte seine letzten Worte nicht mehr. Sanft war er in seinem bequemen Lehnstuhl, das volle Bierglas vor sich, eingeschlafen. Leopold tippte ihm nur kurz zum Abschied auf die Schulter, drehte das Licht ab und schlich sich dann aus der Wohnung, so leise er konnte.