1

 

Übel gelaunt lehnte Leopold an der Theke und ließ seinen Blick mit kleinen, leicht geröteten Augen desinteressiert durchs Café Heller schweifen. Die energische Stimme von Frau Heller weckte ihn aus seinen Träumen: »Schauen Sie nicht ins Narrenkastl[1], Leopold. Die Melange hier ist für die Frau Fürthaler, haben Sie das schon wieder vergessen? Die wird sich was Schönes denken, wenn Sie so teilnahmslos dastehen und ihren Kaffee kalt werden lassen. Was ist denn los mit Ihnen?«

»Bitte sehr, bitte gleich, Frau Chefin.« Mit einem Griff, dem es ein wenig an der gewohnten Souveränität mangelte, nahm Leopold das Tablett an sich. Sein sonst sicherer Gang wirkte etwas ferngesteuert. »Wohl bekomm’s, gnä‹ Frau«, murmelte er und stellte den Kaffee neben Frau Fürthaler ab, die ihre Ungeduld mit einem höflichen Lächeln überspielte.

›Es ist ein Schub‹, dachte Leopold. ›Jahrelang bin ich älter geworden, ohne es zu spüren. Das ist jetzt die Strafe.‹ – In Wahrheit war es nur so, dass er den Alkohol, dem er überhaupt selten zusprach, nun noch weniger vertrug als ehedem. Gestern, an seinem freien Sonntag, hatte er sich mit Theo und Erwin getroffen, zwei Freunden, die er schon lange nicht gesehen hatte. Man war in einem lauschigen Garten beim Heurigen gesessen und hatte die laue Mailuft sowie das eine oder andere Glas genossen. Wie oft würde man einen so unbeschwerten Abend denn zukünftig gemeinsam verbringen können? Schließlich war man in Theos Wohnung bei Kaffee und Hochprozentigem gelandet.

Jetzt, am Morgen danach, spürte Leopold es im Kopf und in allen Gliedmaßen. Während sein Magen die Sache erstaunlich gut überstanden hatte, blieben Arme und Beine schlaff, der Schädel brummte, und die Zunge fühlte sich an wie Löschpapier. Immer wieder musste er einen neuen Anlauf nehmen, um seinen Körper in Gang zu bringen. Dabei rätselte er, ob es nur an seinem trägen Hirn lag, das sich schwer tat, die richtigen Befehle auszuteilen, oder ob ihn tatsächlich schon das Alter packte.

Frau Heller blieb unbarmherzig: »Das Cola hier bewegt sich auch nicht von allein zu dem jungen Mann am Billard«, nörgelte sie. »Mein Gott, muss man Ihnen heute alles wie einem kleinen Kind erklären, Leopold?«

Sie hat leicht lachen, dachte Leopold. Ihr geht’s ja gut. Wenn ich wenigstens so anschaffen könnt wie sie und mir nicht alles sagen lassen müsst.‹ Er schleppte sich mit dem Cola die paar Schritte bis zum zweiten Billardtisch. Dabei fiel ihm unangenehm auf, wie gut aufgelegt seine Chefin um diese Zeit schon war. Sie schien den frühsommerlichen Morgen zu genießen und erfreute sich an den Geräuschen, die von der Kaffeemaschine kamen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie Leopold bei der umständlichen Verrichtung seiner Tätigkeiten beobachtete.

»Es ist ein Schub«, erklärte Leopold wie als Antwort auf ihre erheiterten Blicke. »Ich bin gewissermaßen hier im Kaffeehaus gealtert. Leider ist das bis jetzt niemandem so richtig aufgefallen, auch mir nicht. Ich hoffe nur, dass ich meinen Dienst weiterhin ordentlich versehen kann. Derzeit schaut es nicht gut aus.«

»Aber Leopold«, entgegnete Frau Heller belustigt. »Wie äußert sich denn dieser ›Schub‹, von dem Sie da sprechen? Etwa dadurch, dass Ihre Äuglein ganz klein und rot werden? Lassen Sie doch Ihre Spassettln[2]. Sie haben gestern ein wenig zu viel Alkohol erwischt, geben Sie’s zu.«

»Das auch«, stöhnte Leopold und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie anstrengend schon die kleinsten Bewegungen sein konnten. Nur gut, dass derzeit niemand Anstalten machte, eine weitere Bestellung aufzugeben.

»Wenn Sie schon glauben, dass Sie Ihr Alter und die Arbeit hier im Kaffeehaus spüren, dann sollten Sie sich an Ihrem freien Tag ausruhen und nicht die Nacht durchfeiern«, fuhr Frau Heller amüsiert fort. »Aber es sei Ihnen verziehen. Am nächsten Sonntag müssen Sie ohnehin zum Dienst erscheinen. Da sperren wir nämlich auf.«

»Am Sonntag?« Leopold spürte einen Stich, dass er gar nicht mehr gerade stehen konnte.

»Jawohl, am nächsten Sonntag. Da ist doch am Vormittag dieses wichtige Fußballspiel[3] unserer Mannschaft Eintracht Floridsdorf.«

»Sie meinen das Bezirksderby gegen die Floridsdorfer Kickers?«

»Genau das. Jahrelang haben wir bei Heimspielen unseres Vereins alle möglichen Lokale verdienen lassen, weil wir sonntags geschlossen haben. Aber erstens gibt es immer weniger Gasthäuser, die am Sonntag offen halten, und zweitens handelt es sich hier um ein besonderes Spiel.«

»Jawohl, Frau Chefin«, sagte Leopold resignierend, während er mit der rechten Hand die Belastbarkeit seiner Rückenmuskulatur prüfte. Er wusste, dass es ein besonderes Spiel war, von dem mehr oder weniger die Existenz der Floridsdorfer Eintracht abhing, und deshalb hätte er sich die Partie liebend gern mit seinem besten Freund, dem Lehrer Thomas Korber, angeschaut. »Aber könnte nicht vielleicht der Herr Waldbauer …«, äußerte er deshalb zaghaft.

»Nichts da, Leopold. Ich erwarte einen starken Umsatz, und da brauche ich beide Ober im Haus. Wir müssen rechtzeitig aufsperren, denn viele Leute, die zum Spiel wollen, werden vorher auf einen Sprung hereinschauen, und nach dem Derby haben wir, wenn es gut geht, ohnehin alle Hände voll zu tun. Dieses eine Mal werden Sie es wohl aushalten, dann ist die Saison ohnedies vorbei.«

»Eben«, konstatierte Leopold mürrisch. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so für Fußball interessieren.«

»Eine Geschäftsfrau muss sich für alles interessieren, was ihr einen neuen Markt erschließt«, erwiderte Frau Heller. Dabei stellte sie behände einige abgewaschene Gläser ins Regal. »Außerdem wäre es eine Bildungslücke, wenn man heutzutage beim Fußball nicht mitreden könnte.«

Leopold seufzte. Das konnte ja heiter werden, wenn seine Chefin plötzlich das Bedürfnis hatte, zu einem Thema wie Fußball ihre Meinung kundzutun. »Das Runde gehört ins Eckige«, hörte er sie da schon hinter der Theke dozieren. »Na, was sagt Ihnen das?«

»Bei uns im Kaffeehaus hat bis jetzt immer das Eckige, also der Würfelzucker, ins Runde, also ins Kaffeehäferl, gehört«, antwortete Leopold kopfschüttelnd.

»Seien Sie doch nicht so grantig. Wer am Vorabend sündigt, muss trotzdem am nächsten Tag wieder seinen Mann stehen«, belehrte ihn Frau Heller mit diebischer Freude. »Was meinen Sie? Der Gegner wird eine Viererkette bilden, aber wir werden wohl mit zwei Sturmspitzen dagegen ankämpfen.«

Leopold spürte wieder eine leichte Schwäche in seinen Beinen.

»Ich sage Ihnen, dieses Derby wird eine enge Partie, in der wir unsere mentale Stärke beweisen werden, denn aufgeben tut man einen Brief, Leopold.«

Jetzt reagierte auch sein bisher so tapferer Magen mit einem flauen Gefühl.

»In der zweiten Halbzeit ist das Ding dann gegessen, beziehungsweise das Bonbon gelutscht.«

»Was für ein Bonbon?«, fragte Leopold genervt.

»Das ist ein Fachausdruck, Leopold. Eine Terminologie. Das heißt so viel wie: Wir werden den Ball versenken und dann die Räume eng machen. Und beim Gegner ist die Flasche leer.«

Trotz seiner Wehwehchen war Leopold in diesem Augenblick froh, als ihn ein Gast zu sich rief. Mein Gott, würde das jetzt die ganze Woche so weitergehen? Nicht nur, dass am Sonntag zusätzliche Arbeit auf ihn wartete, musste er sich bis dahin auch die unreflektierten Fachsimpeleien seiner Chefin anhören.

»Das ist Allgemeinbildung«, rief Frau Heller ihm nach. »Man muss nur ein wenig die einschlägigen Artikel in den Zeitungen und Zeitschriften studieren. Sie sollten sich auch damit beschäftigen, Leopold, dann würden Sie nicht immerzu an Ihre abartige Kriminalistik denken.«

»Melange mit wenig Schaum, sehr heikel«, ordnete Leopold an, ohne auf diese Provokation zu reagieren.

Und siehe, es kehrte wieder Ruhe hinter der Theke ein. Frau Heller braute ihr Gebräu, und die Kaffeemaschine summte leise ihr Lied dazu. Es wurde still, und das war gut so.

Na also, dachte Leopold. Jetzt hat sie fertig.

 

*

 

Wenn Leopold an diesem Vormittag eine kleine Pause einlegen durfte und ihm dabei die Mattigkeit vom Vortag nicht allzu sehr zu schaffen machte, dachte er mit Wehmut an das sonntägige Spiel und seinen heimlichen Lieblingsverein, die Eintracht aus Floridsdorf. Die Existenz dieses Klubs hing tatsächlich an einem seidenen Faden. Denn er sollte mit dem Lokalrivalen, den Floridsdorfer Kickers, fusioniert werden.

Die Floridsdorfer Eintracht war 1913 als erster Fußballklub Floridsdorfs von dem aus Braunschweig stammenden Gemischtwarenhändler Rolf Thiel gegründet worden. So entstand auch – in Anlehnung an den deutschen Klub Eintracht Braunschweig – der Vereinsname. Der Platz befand sich auf dem sogenannten Donaufeld bei der Alten Donau, einem Nebenarm des großen Flusses, nicht weit vom Café Heller entfernt. Erst 1920 formierten sich die Floridsdorfer Kickers im Bezirksteil Jedlersdorf. Von da an entwickelte sich rasch eine sportliche Gegnerschaft zwischen beiden Klubs. Die Geschicke schwankten im Laufe der Jahre. Zunächst gelang jedem Verein je einmal der Aufstieg in die höchste Spielklasse, die freilich damals zunächst nur aus Wiener Vereinen bestand. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man mit den Großen nicht mehr mithalten, und in jüngster Zeit reichte es für beide nur mehr für die zweithöchste Amateurklasse, die Wiener Landesliga. Jeder kurzfristige Aufstieg in die Regionalliga Ost hatte einen raschen Wiederabstieg zur Folge. Man lief Gefahr, langsam in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Diejenigen, die etwas dagegen unternehmen wollten, waren die Floridsdorfer Kickers. Dabei kam ihnen der Zufall zu Hilfe. Bei einem ihrer Heimspiele fiel im Publikum ein leicht angetrunkener Herr auf, der, offensichtlich weil bei der gegnerischen Mannschaft zwei Ghanesen kickten, ständig aufs Spielfeld rief: »Ja, was ist denn da los? Nieder mit den Bimbos! Schlagt die Nigger!« Man wollte ihn wegen seines rüpelhaften Verhaltens schon zurechtweisen, da erkannte ihn jemand. Es war der in den 70er-Jahren aus Floridsdorf nach Kanada ausgewanderte Joe Brown (ehemals Josef Braun, wegen seiner gelegentlichen rassistischen Äußerungen auch ›der braune Sepperl‹ genannt). Er hatte dort ganz klein in einem Tischlereibetrieb angefangen und es im Laufe der Jahre zum stolzen Besitzer der Möbelkette BBF (›Brown’s Best Furniture‹) gebracht. Dieser Unternehmer kam, wenn auch grölend und angeheitert, den Kickers gerade recht.

Man wies ihn also nicht zurecht, sondern zerrte ihn in die Kantine, wo er sich nach dem Spiel weiter am Alkohol labte und man ihn hochleben ließ. »A really nice Klub, den ihr da habt’s. So was richtig Gemütliches, Einheimisches«, plauderte er dabei salopp in der ihm zur Gewohnheit gewordenen Mischung aus Englisch und schlampigem Deutsch. Die so rasch entstandenen Sympathien wurden prompt genutzt. Brown stellte sich als Hauptsponsor der Kickers zur Verfügung und wurde bei der nächsten Generalversammlung zum Präsidenten gewählt. Sein einfaches Motto, mit dem er auch die schwierigsten Aufgaben anpackte, lautete: »Na, des wer ma glei hob’n«. So wurde für die nächste Saison eine schlagkräftige Mannschaft zusammengestellt (mit einem Senegalesen übrigens), die den Verein in die nächsthöhere Spielklasse führen sollte. Tatsächlich war man diesem Ziel bereits sehr nahe gekommen, obwohl Brown nur selten Zeit für einen Abstecher nach Wien fand. Er konnte sich auf seine Spieler und Funktionäre verlassen: Eine Runde vor Schluss der Meisterschaft führten die Floridsdorfer Kickers die Tabelle mit einem Punkt Vorsprung auf Viktoria Landstraße an.

Jetzt galt es, weiter in die Zukunft zu schauen, nach dem zum Greifen nahen Aufstieg in die Regionalliga Ost nicht gleich wieder abzusacken, sondern sich im Gegenteil nach oben in Richtung der beiden österreichischen Profiligen zu orientieren. Dazu kam es den Kickers gelegen, dass sich bei der Floridsdorfer Eintracht eine Führungskrise anbahnte. Ihr Präsident, Alfred Sonnleitner, war amtsmüde und hatte seinen Rücktritt angekündigt, angeblich, um sich in Zukunft seinen beiden Kärntner Hotels zu widmen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es freilich, dass es einige finanzielle Ungereimtheiten gab, die ihn zu diesem Schritt bewegten. Auch einige Sponsoren wollten abspringen. Wie auch immer, in einem solchen Verein sah Joe Brown den idealen Fusionspartner. Er verfügte dann über eine schier unendliche Zahl an Nachwuchsspielern und konnte sich einige Verstärkungen für die Kampfmannschaft günstig sichern. Als ›1. FC Floridsdorf‹ würde man auch die Politik und die Wirtschaft des gesamten Bezirkes hinter sich haben. Und schließlich plante Brown den Bau eines Stadions mit dazugehörigem Einkaufszentrum in den nördlichen Ausläufern Floridsdorfs, im Industriegebiet zwischen Stammersdorf und Gerasdorf, als endgültigen Schritt zum Großklub.

Über all diese Dinge waren von den Funktionären beider Vereine bereits positive Gespräche geführt worden, bei denen Eintracht-Obmann Wolfgang Ehrentraut als Drahtzieher fungiert hatte. Im Prinzip gab es nur mehr zwei Unsicherheiten: Die Generalversammlungen der zwei Klubs mussten dem Zusammenschluss zustimmen und die Floridsdorfer Kickers tatsächlich Meister werden. Denn für ein weiteres Jahr in der Landesliga erschienen diese Pläne selbst einem Mann wie Joe Brown zu hochtrabend. Er blieb freilich Optimist. »Des werd’n ma scho moch’n«, verkündete er jedem, der es hören wollte.

Während die Kickers euphorisch waren, herrschte bei den Eintracht-Anhängern schlechte Stimmung. Der eigene Platz sollte nur mehr für Nachwuchsspiele genutzt werden, in absehbarer Zeit einer Wohnhausanlage oder einem Schulzentrum weichen. Und ausgerechnet mit den Kickers sollte man den unseligen Bund eingehen, mit dem Erzfeind, dem Bezirksrivalen. Einen Bund, bei dem die Eintracht über kurz oder lang wohl ihre Identität verlieren würde.

Blieb überhaupt noch Hoffnung für die Fans der Eintracht? Nun, zum einen gab es die Chance, dass die Mannschaft am Sonntagvormittag die Kickers schlug und damit deren hochtrabenden Meisterschaftsplänen praktisch ein Ende bereitete. Die Eintracht hatte im Frühjahr bisher einen tollen Lauf hingelegt und war die letzten sieben Spiele ungeschlagen geblieben. Theoretisch war das Bezirksderby also ein Match, dessen Ausgang man nicht deuten konnte. Aber wie sah die Wirklichkeit aus? Die fusionswilligen Funktionäre würden die Eintracht-Spieler wohl mit sanftem Druck zur Passivität anhalten. Und würden die Spieler selbst sich durch einen Sieg die Chance vermasseln wollen, Teil eines Großklubs zu werden und mehr zu kassieren? Was wog dagegen schon die alte Rivalität! Die Buchmacher sahen die Sache nüchtern: Sie hatten die Partie gar nicht in ihr Wettprogramm aufgenommen. Also konnte man diese Möglichkeit wohl oder übel vergessen.

Die zweite Chance bestand in der Generalversammlung. Wenn tatsächlich die meisten Mitglieder so gegen einen Zusammenschluss waren, wie sie es offen aussprachen, mussten sie ja nur dagegen stimmen, um alles zu Fall zu bringen. Aber es hatte sich schon bei anderen Vereinen gezeigt, dass der Vorstand seine Wünsche und Vorstellungen in solchen Versammlungen beinahe immer durchsetzte. Man würde den Mitgliedern falsche Hoffnungen machen und andererseits versichern, dass es finanzielle Probleme gäbe, sodass ohne Fusionierung die Auflösung kurz bevorstünde. Die Fusion würde dann als Licht am Ende des Tunnels präsentiert werden, als bittere Notwendigkeit einerseits, aber auch als Schritt in eine bessere Zukunft. Wer konnte da schon widerstehen?

Nein, nein, alles lief auf den geplanten künftigen ›1. FC Floridsdorf‹ hinaus. Wehmütig wischte Leopold ein paar Gugelhupfbrösel von der Theke. Wie es aussah, würde das Derby zwischen Eintracht Floridsdorf und den Floridsdorfer Kickers das letzte Spiel einer Kampfmannschaft auf der Eintracht-Sportanlage überhaupt sein. Ausgerechnet an diesem Tag hatte es sich seine Chefin in den Kopf gesetzt, das Kaffeehaus aufzusperren, und er musste arbeiten, anstatt sich das Match anschauen zu können.

Aber womöglich war es besser so. Vielleicht war es besser für Leopold, den Untergang seiner Lieblingsmannschaft nicht persönlich mitverfolgen zu müssen.

 

*

 

Gelbes Sakko, weißes Hemd, violette Krawatte. Ein Anflug von Schnurrbart. Eine Sonnenbrille und ein leichter, modischer Hut. In diesem Outfit, das ein Selbstbewusstsein und eine Lebensfreude ausstrahlte, welche er nur selten besaß, betrat Thomas Korber am frühen Nachmittag das Café Heller.

»Hallo, Leopold«, rief er beiläufig über die Theke, während er sich eine Zigarette anzündete.

»Hallo, Thomas! Na, wie schaust du denn heute aus?«

»Gefalle ich dir etwa nicht?« Lässig zog Korber eine Augenbraue in die Höhe.

»Ein bisschen gar bunt, würde ich sagen.«

»Es ist ja auch der schönste Frühling, Leopold, beinahe schon Sommer. Da spürst du das Leben an jeder Ecke und möchtest einfach ein Teil sein von dieser Pracht, diesen Farben. Das hält einen jung. Sei mir nicht böse, aber du wirkst dagegen in deiner Kellnermontur richtig alt.«

Alt! Schon wieder dieses hässliche Wort! Leopold spürte ein Stechen in der Seite. »Erstens bin ich Ober, lieber Freund«, protestierte er, »und zweitens ist das keine Montur, sondern ein gediegener, dunkler Anzug mit Mascherl[4]. Und aus ›Altausseh‹[5] bin ich noch lange nicht.«

»War doch nicht so gemeint, Leopold. Das Leben ist einfach wunderbar um diese Jahreszeit. Wir sollten dabei unsere inneren Gefühle auch nach außen hin zeigen, verstehst du? Ich habe jedenfalls beschlossen, die nächsten Tage so richtig zu genießen, den Puls, der überall schlägt, in mir aufzunehmen und mich durch nichts davon abhalten zu lassen. So, und jetzt bring mir bitte einen großen Braunen.« Korbers Blick wanderte zum rechten Seitenfenster, wo eine nicht mehr ganz junge, aber rassige Dame mit roter Hose und einem grün-violett-bunten T-Shirt saß. Die prallen Farben zogen ihn sofort an. Aber auch andere pralle Dinge waren deutlich zu sehen. Die Dame trug nämlich keinen BH. Die knusprigen Brustwarzen leuchteten bis zu ihm nach vorn. Der Sommer war wirklich nicht mehr weit.

Leopold machte sich freilich Sorgen, wenn er solcherart das gesteigerte Interesse seines Freundes an einer Frau wahrnahm. Egal, welche Stimmungslage er vortäuschte, Thomas Korber war grundsätzlich auf das andere Geschlecht aus. Leider waren seine Bemühungen selten von Erfolg gekrönt. Seine Versuchungen führten ihn nie zu einer, die wirklich zu ihm passte. Deshalb hieß es jetzt für Leopold, verstärkt aufzupassen. »Es muss ja noch einen Grund geben, warum du so aufgemascherlt[6] daherkommst«, sagte er.

»Wenn du so willst, ja. Es ist doch jetzt die Woche bis zum Bezirksderby, und ich habe beschlossen, unsere Eintracht feierlich zu Grabe zu tragen. Ich werde mir übrigens meine Karte schon im Vorverkauf sichern. Soll ich dir eine mitnehmen?«

Leopold zuckte nur hilflos und entschuldigend die Achseln. »Geht leider nicht«, entschuldigte er sich.

»Und warum?«

Leopold deutete mit dem Kopf nach hinten in Richtung der kleinen Küche, wo Frau Heller gerade ein Paar Würstel ins heiße Wasser legte: »Wir sperren am Sonntag auf, eben wegen dem Derby. Gerade jetzt kommt sie auf so eine Idee, wo es den Klub praktisch ohnehin nicht mehr gibt. Es ist zum Wahnsinnigwerden.«

Frau Heller drehte sich in diesem Augenblick um, sah Korber und grüßte ihn enthusiastisch: »Sie kommen doch am Sonntag auch nach dem Match, Herr Professor? Sie müssen den Sieg mit uns feiern. Was glauben Sie, mit welcher Taktik wir den Gegner in die Knie zwingen werden?«

»Mit gar keiner«, polterte Leopold an seiner Stelle. »Verlieren werden wir dieses Spiel, weil es eine ausgemachte Sache ist.« Schon verschwand er mit einem Getränk in die hinteren Bereiche des Lokals.

Korber wollte etwas Höfliches sagen, aber er blickte stattdessen wieder zum rechten Seitenfenster. Die Dame mit dem bunten T-Shirt lächelte ihn an. Er lächelte zurück.

»Sie sind doch Professor Korber vom Gymnasium vorne?«, fragte sie, und als er nickte: »Wollen Sie sich nicht einen Augenblick zu mir setzen?«

Korber nahm Platz. Schon interessierte ihn das Bezirksderby nicht mehr so brennend. Er saß gegenüber der rassigen Dame, ohne ein Hehl daraus zu machen, dass sie ihm gefiel.

»Hoffentlich habe ich Sie nicht von Ihrem Gespräch abgehalten«, sagte sie.

»Ach, es geht nur um Fußball«, beschwichtigte Korber sie. »Das Thema wird uns wohl in nächster Zeit öfter beschäftigen. Da versäume ich nicht viel.«

»Na, dann ist es ja gut. Übrigens heiße ich Manuela, Manuela Stary. Mein Sohn Reinhard hat mir viel von Ihnen erzählt, dass Sie so ein toller Lehrer sind.«

Korber ließ kurz eine Liste mit den Namen all seiner Schüler in Gedanken vor sich ablaufen. »Verzeihen Sie, aber ich glaube, ich habe keinen Schüler namens Stary«, behauptete er dann.

»Das weiß ich. Aber Reinhard hat schon so viel Gutes über Sie gehört. Es spricht sich eben herum, wenn ein Lehrer seine Schüler motiviert und fachlich gute Kenntnisse hat. Darum habe ich auch eine Bitte an Sie.«

»Ach so?« Korber horchte auf.

»Reinhard hat das letzte Semester in Englisch total verpatzt. Er hat bald eine entscheidende Prüfung. Wenn er die nicht schafft, muss er im Herbst zur Wiederholungsprüfung antreten. Sie wissen, was das heißt: den Großteil des Sommers über zu lernen, immer mit der Ungewissheit, ob er das Jahr wiederholen muss. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie ihm nicht bei der Vorbereitung auf die Prüfung helfen könnten. Geld spielt dabei keine Rolle.«

»Ausgeschlossen«, stieß Korber irritiert hervor. »Ich meine, das ist sehr schwierig. Im Prinzip dürfen wir Schüler unserer Anstalt nur im Rahmen eines allgemeinen Förderkonzeptes …«

»So ein Förderkonzept interessiert mich nicht, Herr Professor«, unterbrach Manuela Stary ihn. »Dafür ist es jetzt doch schon ein bisschen spät, meinen Sie nicht auch? Ich würde mir halt wünschen, dass Sie Reinhard wieder auf Trab bringen, das in ihm wachrufen, was er kurzfristig vergessen hat. Er ist nicht dumm, glauben Sie mir. Mein Gott, Sie kennen doch die Probleme, die Buben in seinem Alter haben. Er ist 14 und steckt mitten in der Pubertät. Außerdem spielt er bei der Eintracht Fußball, das nimmt ihm zusätzlich viel Zeit weg. Bitte! Es wäre nur für ein paar Stunden.«

»Wir haben einige Schüler, die ihre Sache als Nachhilfelehrer ganz ausgezeichnet machen.«

»Das interessiert mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Reinhard hat sich eben Sie in den Kopf gesetzt. Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie pädagogisch wichtig es ist, dass ein Schüler in so einer Ausnahmesituation von einem Lehrer unterrichtet wird, den er persönlich schätzt. Darum bitte ich Sie noch einmal: Sagen Sie ja.«

Korber zögerte einige Augenblicke. »Sie haben hier im Kaffeehaus auf mich gewartet?«, fragte er. »Sie haben gewusst, dass ich komme?«

»Natürlich«, kam die Antwort. »Es ist ja kein Geheimnis, dass Sie hier nach der Schule gern Ihren Kaffee trinken. Das ist ja nichts Schlimmes.«

Korber überlegte kurz, dann schüttelte er höflich, aber bestimmt den Kopf. »Seien Sie mir nicht böse, aber ich denke, ich kann Ihr Angebot nicht annehmen«, sagte er.

»Warum denn nicht?«, protestierte Manuela Stary. »Es sind doch nur ein paar Male, die Sie sich für meinen Reinhard diese und nächste Woche Zeit nehmen müssten. Wir wohnen auch gar nicht weit von hier, gleich vorn in der Bertlgasse. Sie kommen einfach zu uns, und ich koche Ihnen ein gutes Essen.«

Das klang für einen Junggesellen wie Korber natürlich verlockend.

»Auch von der Zeit her haben wir keine Präferenzen«, lockte Frau Stary weiter. »Nur am Abend hat der Bub dreimal in der Woche Training bei der Eintracht.«

»Wäre es nicht besser – ich meine pädagogisch besser«, erwiderte Korber mit einem leicht ironischen Unterton in der Stimme, »Reinhard würde in den nächsten beiden Wochen auf das Training verzichten?«

»Das geht nicht«, widersprach Manuela Stary sofort. »Er hat einen sehr strengen Trainer, der würde ihn dann sofort aus der Mannschaft stellen. Für Reinhard wäre das ein psychologischer Tiefschlag im falschen Augenblick. Außerdem ist mein Mann so dahinter, dass der Bub Fußball spielt. Nein, nein, das Training muss schon sein, aber das ist ja kein Hindernis.«

Da hatte er es wieder einmal. Wenn es hart auf hart ging, war den Eltern der Sport wichtiger als die schulische Ausbildung. Wie oft hatte Korber das schon miterlebt.

»Nun?«, kam der fragende Blick.

»Ich weiß nicht …«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kommen morgen einfach auf eine Probestunde vorbei, sagen wir um 15 Uhr. Geht sich das aus?«

»Und … welcher Stoff wäre durchzunehmen?«

»Ach, vierte Klasse Gymnasium, die übliche Grammatik und ein paar Geschichten aus dem Buch. Nichts, wofür man sich besonders vorbereiten müsste, Herr Professor.«

Korber schaute in die großen, dunkelblauen Augen der Manuela Stary, die der Frau zusammen mit ihrem Teint und den schwarzen Haaren ein attraktives südländisches Aussehen gaben. Dazu kamen die unter dem engen, bunten T-Shirt kaum verborgenen Formen der weiblichen Brust. »Also gut«, stieß er hervor. »Ich glaube, das ist wirklich eine Ausnahmesituation. Und Sie werden die Sache doch nicht an die große Glocke hängen?«

Sie tätschelte kurz seine Hand und sagte: »Aber nein! Das ist nett, dass Sie es sich überlegt haben. Sie werden es sicher nicht bereuen!« Sie reichte ihm eine Visitenkarte mit ihrer Adresse.

»Also dann … bis morgen um drei, Frau Stary.«

»Sie können ruhig Manuela zu mir sagen.«

»Gut. Ich heiße Thomas … Thomas Korber …, Manuela«, presste er heraus, während er die Visitenkarte einsteckte.

»Bis morgen, Thomas. Darf ich deinen Kaffee bezahlen?«

»Das ist aber wirklich nicht notwendig«, wollte Korber abwinken, aber Leopold war schon zur Stelle und nahm den ihm dargereichten Schein dankend in Empfang.

Als Manuela Stary gegangen war, rückte Korber seine Krawatte zurecht und begab sich wieder nach vorn zur Theke, wo Leopold ihn bereits erwartete und kopfschüttelnd stöhnte: »Ich habe es kommen sehen. Aber dir ist anscheinend nicht zu helfen.«

»Es handelt sich doch nur um eine Gefälligkeit, die ich der Dame, das heißt, ihrem Sohn, erweise«, verteidigte Korber sich.

»Ist aber meines Wissens nach nicht erlaubt, den eigenen Schülern Privatunterricht zu erteilen.«

»Leopold, die Sache ist nur für eine ganz kurze Zeit anberaumt, ein Himmelfahrtskommando sozusagen. Außerdem unterrichte ich den Buben gar nicht. Ich kenne ihn nicht einmal.«

»Wahrscheinlich wirst du ihn auch nicht wirklich kennenlernen«, spöttelte Leopold. »Da schon eher seine Frau Mama. Und wenn du Pech hast, in Folge den Herrn Papa in einem ungünstigen Moment. Das wird dann aber keine sehr angenehme Begegnung.«

»Du traust mir also nicht über den Weg«, stellte Korber ein wenig pikiert fest.

»Wie kann man jemandem trauen, der einem versprochen hat, ein Jahr lang keine Frau anzuschauen und sich bei der erstbesten Gelegenheit wieder an eine heranmacht?«, fragte Leopold.

»Du siehst alles viel zu eng, lieber Freund. Weißt du was? Du kommst mir schon vor wie eine von diesen alten Keppelweibern, die nur mehr zu Hause sitzen, und deren einzige Freude es ist, andere Leute auszurichten. In letzter Zeit wirkst du wirklich ein bisschen muffig und alt. Sogar an meiner Kleidung hast du etwas auszusetzen. Dabei ist draußen der herrlichste Tag, und es soll so schön bleiben. Denk einmal daran. Lass die Sonne auch in dein Herz hinein, Leopold. Schließlich wird es bald Sommer.«

Die letzten Worte sang Korber mehr, als er sie sprach. Während er zur Tür tänzelte, summte er das Lied ›Fang das Licht‹, das er mit der Stimme von Karel Gott im Ohr hatte. Schwungvoll ging er hinaus ins Freie. Leopold aber blieb mit einem gequälten Gesichtsausdruck hinter der Theke zurück.

 

*

 

›Ich bin alt. Ich muss mich schonen. Ich will nach Hause‹, dachte Leopold, während er ungeduldig auf seine Ablöse Waldemar ›Waldi‹ Waldbauer wartete. Da kam ein ganz seltener Gast zur Tür herein: Paul Wittmann, einer von denen, die Leopold nicht oft sah, weil ihnen, wie sie ihm selbst gegenüber anmerkten, das Kaffeehaus zu teuer war. Sie bevorzugten die Kantine am Sportplatz der Eintracht. Dass das Angebot dort klein und das Ambiente einfach, um nicht zu sagen puritanisch war, störte sie nicht. Dass der Kaffee, der dort ausgeschenkt wurde, seinen Namen nicht verdiente, merkten sie nicht. Dass die Freundlichkeit des Ehepaares, das die Wirtschaft führte, sich in Grenzen hielt, nahmen sie in Kauf. Die Preise waren billiger als anderswo, und das zählte.

Leopold machte es im Grunde nichts aus, dass gewisse Menschen einen Teil ihrer Freizeit gern in trostlosen und kahlen Räumen verbrachten, wo sie sich einseitig ernährten, nur weil sie dadurch ein paar Cent sparten. Er fragte sich aber, was so ein Kostverächter wollte, wenn er plötzlich im Kaffeehaus vor ihm stand.

»Ein großes Bier, bitte«, bestellte Wittmann freundlich, aber gebieterisch. Sein gewelltes schwarzes, leicht angegrautes Haar ging fast bis zu seinen Schultern herab, das lässig aufgeknöpfte weiße Hemd legte einen Teil seiner stark behaarten Brust frei. An seiner Halskette hatte er ein respektables Kreuz hängen. »Na, seid ihr seit dem letzten Jahr schon wieder teurer geworden?«, ätzte er, während ihm Leopold das Bier einschenkte.

»Hättest ja nicht herzukommen brauchen«, grantelte Leopold. »Kannst ruhig in deine Baracke gehen, das macht mir gar nichts aus.« Wo nur ›Waldi‹ Waldbauer blieb?

»Jetzt hab dich doch nicht so, Leopold. Ein kleiner Scherz, verstehst du? Ich müsste ja wirklich nicht kommen. Aber wir brauchen jemanden, der uns hilft, und da haben wir an euch gedacht. Immerhin geht es um unsere Eintracht, unsere gemeinsame Eintracht.«

»Ach so?« Leopold wurde hellhörig.

»Donnerstag nächste Woche ist doch die alles entscheidende Generalversammlung, wo über die Zukunft unseres Klubs entschieden wird. Willst du mit den Kotzbrocken von den Kickers in einem Verein beisammen sein? Nein? Na also. Dann müssen wir dafür sorgen, dass unter den Mitgliedern der Eintracht wieder die nötige Eintracht herrscht, gemäß unserem alten Wahlspruch: ›Einträchtig – übermächtig‹. Wir müssen Überzeugungsarbeit leisten und neue Perspektiven aufzeigen, damit alle geschlossen gegen eine Fusionierung sind. Dazu möchten wir morgen eine Besprechung abhalten. Am Sportplatz wäre das natürlich zu auffällig. Deshalb möchten wir zu euch ins Kaffeehaus kommen.«

»Wenn wir euch nicht zu teuer sind.«

»Leopold, da geht es um keine Preise, da geht’s um die nackte Existenz. Der Vorstand versucht schon, mit allen möglichen Lockmitteln neue Mitglieder an Land zu ziehen, die für die Fusion stimmen. Das versuchen wir natürlich auch. Wir nennen uns ›Freunde der Eintracht‹.«

»Ist das nicht ein etwas einfallsloser Name?«

»Vielleicht, aber egal. Es brennt der Hut. Was glaubst du, was es plötzlich für ein Theater gibt, wenn jemand Mitglied werden möchte, der von uns geworben wurde. Früher waren sie froh, wenn sie ihr Geld bekommen haben. Man hat seinen Betrag für ein Jahr hingelegt und war sofort dabei, ohne Wenn und Aber. Jetzt heißt es zunächst einmal, man solle die weitere Entwicklung abwarten, zum Mitgliedwerden sei im Herbst noch Zeit genug. Und wenn man sich dadurch nicht abschütteln lässt, schicken sie einen einmal zum Einzahlen auf die Bank, und dann heißt es, es müssen noch alle Daten in den Computer und lauter solcher Quatsch. Die wollen nur verhindern, dass wir neue Stimmberechtigte zur Versammlung bringen. Falsche Bande!«

»Und was wollt ihr machen? Ich meine, du gibst ja selbst zu, dass alles ein abgekartetes Spiel ist, dass es kaum ein Gegenmittel gibt.«

Wittmann seufzte. »Du denkst viel zu negativ, Leopold. Ich glaube schon, dass wir die Fusion verhindern können. Dann müssen wir versuchen, Sonnleitner zum Bleiben zu überreden und den einen oder anderen Sponsor für uns zu gewinnen. Leicht wird es nicht, aber was bleibt uns schon anderes übrig? Mein Gott, seit dieser Joe Brown wieder in Wien ist, geht er auf unserem Platz ein und aus, als ob es schon sein eigener wäre. Da redet er dann in seinem Kauderwelsch, dass einem ganz übel wird, tut recht freundlich, hat aber nur eines im Sinn: uns seinen Kickers einzuverleiben. Und der Ehrentraut, dieses schleimige Arschgesicht, macht ihm noch den Hof. Der trägt meiner Meinung nach ja die Hauptschuld, dass es so weit gekommen ist. Hat den Sonnleitner weggeekelt und glaubt, er kann jetzt den großen Chef spielen. Wenn es den nicht mehr gäbe, täten wir uns schon leichter.«

Leopold wusste, was man sich von Ehrentrauts undurchsichtigen Machenschaften erzählte, und dass er bei allem, was er tat, danach trachtete, etwas für sich auf die Seite zu schlagen. »Wie viele Leute werdet ihr denn sein?«, fragte er Wittmann.

»Vielleicht zehn? Fünfzehn? Zwanzig? Oder gar mehr?« Wittmann lächelte, als ob er einen kommenden Triumph ahnte. »Wir wollen doch sehen, wie viele wahre ›Freunde der Eintracht‹ wir auf die Beine stellen können«, verkündete er kampfesmutig.

»Am besten ist es, ich setze euch nach hinten zu den Kartenspielern«, überlegte Leopold. »Allerdings ist es eine Platzfrage. Wir haben morgen mindestens eine Tarockpartie …«

»Die Tarockpartie ist mir wurscht«, hörte er da Frau Heller lautstark hinter sich. Offensichtlich hatte sie die letzten Teile des Gesprächs mitbekommen, während sie durch ihre kleine Küche gehuscht war. »Ich habe Ihnen ja gesagt, Leopold, wie wichtig es ist, sich jetzt dem Fußball zu öffnen. Wenn eine taktische Besprechung bei uns vorgesehen ist, wird sich dem alles unterordnen müssen.«

Und schon war sie in ein intensives Gespräch mit Paul Wittmann vertieft: Wann die Besprechung anzusetzen sei; ob die Herrschaften auch zu speisen gedachten; ob sie unter sich zu bleiben wünschten; ob Tische und Sessel versammlungsmäßig zusammenzustellen waren; ob eine Fußballhymne zu Beginn alle in die richtige Stimmung bringen würde, und so weiter und so fort. Leopold war froh, als seine Ablöse ›Waldi‹ Waldbauer endlich eintraf. Nicht, dass ihn dieses Treffen nicht interessierte – weit gefehlt! Natürlich hoffte er, dass die letzten Enthusiasten, die ›Freunde der Eintracht‹, einen Ruck in die gesamte Angelegenheit bringen und die Fusion im letzten Augenblick verhindern würden. Aber die fußballerischen Ambitionen seiner Chefin waren nun einmal nicht das geeignete Mittel, seine eigene Missstimmung zu bekämpfen.

Als er dann draußen im Freien stand, wo alles um ihn herum lachte und lebte, überlegte er wieder einmal, ob es nur der Alkohol vom Vortag war, der seinen Körper hemmte und ihn ins Grübeln kommen ließ. Sein Freund Korber hatte recht: Der Sommer war im Anflug. Weshalb gerade jetzt missmutig sein und ans Alter denken?

Wie ein Blitzschlag kam ihm dann die Erleuchtung: Fröhliche Menschen waren fröhlich, so einfach war alles. Sie betrugen sich heiter und ausgeglichen. Sie würden nie auf den Gedanken kommen, einen Mord zu begehen.

Und das war es, was Leopold in Wahrheit fehlte. Schon lange war in seiner näheren Umgebung kein kapitales Verbrechen mehr geschehen. Wo waren die eifersüchtigen Eheleute, die geldgierigen Verwandten, die Unterdrücker und die Unterdrückten, die Aggressiven und die Depressiven, die Betrogenen und die Betrüger? Wo waren sie geblieben? Hatte das bisschen Sonne, das jetzt vom Himmel strahlte und Wärme spendete, sie etwa alle geläutert?

Leopold schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. Das wahre Verbrechen war nicht einmal durch das schönste Wetter aufzuhalten. Irgendwann, wahrscheinlich schon demnächst, würde irgendwo wieder etwas passieren. Man musste nur Geduld haben und darauf warten. Dass er körperlich angeschlagen war, zeigte Leopold nur, wie sehr er sich danach sehnte, vor seinen Augen wieder einmal einen Toten liegen zu haben. Er wusste ja schon gar nicht mehr, wie eine Leiche aussah. Ein Mord musste her, und zwar rasch, dann würde es auch mit ihm schnell wieder bergauf gehen.