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Die Englisch-Nachhilfestunde war wie im Fluge vergangen. Reinhard Stary hatte in den letzten Tagen erstaunlich schnell wieder in die Materie hineingefunden und stellte sich bereits recht geschickt dabei an, früher erworbene Kenntnisse abzurufen. Thomas Korber war mehr als zufrieden. »Morgen brauchen wir keine Stunde anzusetzen. Es genügt, wenn wir nächste Woche alles wiederholen«, resümierte er gegenüber Manuela, nachdem sich Reinhard in Richtung Fußballplatz verabschiedet hatte.

»Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, fragte sie.

»Sicher«, antwortete Korber. »Man darf das Gehirn nicht ständig voll pumpen. Eine kleine Pause wird Reinhard gut tun. Da kann er dann auch das Wochenende in vollen Zügen genießen.«

»Wenn du es für richtig hältst«, meinte Manuela achselzuckend. »Als Lehrer musst du es ja wissen. Das heißt also, dass wir uns in den nächsten Tagen gar nicht sehen.«

»Ja.«

Eine Zeitlang blieb es still in der Küche, nur eine Uhr tickte von irgendeiner Wand. Manuela begann, die Spülmaschine auszuräumen. Es sah nicht so aus, als ob sie Korber heute etwas zu essen kredenzen würde. Hatte sie es vergessen, oder war es diesmal einfach nicht vorgesehen?

»Na, wie war denn dein gestriger Abend?«, fragte Korber, um diese Stille zu unterbrechen.

»Ach, es war halbwegs aufregend und interessant«, erzählte Manuela. »Brown meint, dass Klaus den Job als Manager wirklich bekommt. Seine Bestellung durch den Vorstand sei nur eine Formsache.«

»Das freut mich für dich.« Noch während diese Worte automatisch über seine Lippen kamen, musste Korber unwillkürlich an Klaus Starys gestrigen Auftritt denken.

»Aber je länger es gedauert hat, desto langweiliger ist es geworden. Wie soll man als Frau denn an einem Gespräch teilnehmen, wenn zwei Männer die ganze Zeit nur über Fußball reden? Man muss immer lächeln und mit dem Kopf nicken. Zeitweise habe ich das Gefühl gehabt, die beiden haben mich gar nicht registriert.«

»Vielleicht wirst du dich an dieses Gesprächsthema gewöhnen müssen«, sagte Korber nicht ohne Sarkasmus.

»Eben. Das fürchte ich ja.« Manuela Stary wurde etwas lauter beim Geschirrausräumen. Dann herrschte wieder einige Augenblicke peinliche Stille. »Mein Gott, verstehst du denn nicht?«, sprudelte es mit einem Mal aus Manuela heraus. »Nur mehr Fußball, tagein, tagaus. Es war bis jetzt schon schwer genug. Aber wie soll meine Zukunft ausschauen? Wen kümmert es, was ich mir denke, was ich fühle? Wer interessiert sich für meine Sorgen und Probleme? In ein paar Jahren ist Reinhard groß und weg aus dieser Wohnung. Und dann? Dann soll ich wohl hier in meiner Küche sitzen und die Erbsen zählen.«

Sie kam auf Korber zu. Ihr Gesicht war auf einmal verweint. Sie roch nach Schweiß und Tränen. Er stand auf und nahm sie in seinen Arm. »Es tut mir leid, dass ich das vorhin gesagt habe«, versuchte er, sie zu trösten. »Weißt du, meistens kommt es nicht so schlimm, wie man im ersten Augenblick denkt. Es ist …«

»Es ist schon lange so, dass wir kaum mehr etwas miteinander reden, Klaus und ich«, schluchzte Manuela. »Nur, wenn wir über Reinhard und die Schule streiten. Klaus ist dann so … unnachgiebig und abweisend. Er hat sich stark verändert im Lauf der Jahre. Eigentlich haben wir uns nichts mehr zu sagen. Und das soll jetzt ewig so weitergehen?«

Noch einmal dachte Korber kurz an die Episode auf dem Fußballplatz. War das der richtige Mann für die zartfühlende Manuela? Nein und abermals nein.

»Bitte halt mich noch ein bisschen. Es tut mir gut«, bat sie, während seine Hände unruhig wurden, sich auf eine Wanderung über ihren Körper vorbereiteten. Dann fragte sie mit einem Mal: »Hast du wieder ein Gedicht für mich?«

Korber nickte stumm.

»Ein schönes romantisches? Ein Liebesgedicht?«

Korber nickte abermals.

»Oooh, ich bin schon ganz gespannt. Trag es mir aber bitte auf der Couch im Wohnzimmer vor. Dort ist es viel gemütlicher als hier in der Küche.«

Sie gingen ins Wohnzimmer. Korber setzte sich auf die große, beige Ledercouch. Er musste aufpassen, in ihr nicht zu tief einzusinken. Manuela Stary setzte sich erwartungsvoll neben ihn. Sie war ihm jetzt sehr, sehr nahe.

»Das Gedicht ist von Stefan Zweig«, erklärte Korber und räusperte sich. »Er lebte großteils in Wien und war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Autor tätig. Allerdings hat er nicht viele Gedichte geschrieben, eher Erzählungen und Lebensläufe. Dieses ist jedoch sehr schön. Es handelt von … von den ersten Zärtlichkeiten.«

»Dann fang doch endlich an«, forderte Manuela, die es gar nicht mehr erwarten konnte.

Korber besann sich einen Augenblick, schaute Manuela tief in ihre graublauen Augen und begann dann zu sprechen, anfangs mit merkwürdig trockenem Mund und einer schauderhaften Unruhe in der Stimme. Nur langsam löste sich seine Befangenheit:

 

»Ich liebe jene ersten bangen Zärtlichkeiten,

die halb noch Frage sind und

halb schon Anvertraun,

weil hinter ihnen schon die andern Stunden

schreiten,

die sich wie Pfeiler wuchtend in das Leben baun.

 

Ein Duft sind sie; des Blutes flüchtigste Berührung,

ein rascher Blick, ein Lächeln, eine leise Hand –

sie knistern schon wie rote Funken der Verführung

und stürzen Feuergarben in der Nächte Brand.

 

Und sind doch seltsam süß,

weil sie im Spiel gegeben,

noch sanft und absichtslos und leise nur verwirrt,

wie Bäume, die dem Frühlingswind entgegenbeben,

der sie in seiner harten Faust zerbrechen wird.«[18]

 

Manuela Starys Augen glänzten. Sie waren diesmal die ganze Zeit über offen geblieben, es waren Augen nur für ihn. »Hast du das extra für mich ausgesucht?«, fragte sie. Ihre Hand begann dabei, die seine zu streicheln.

»Es … Ich habe einfach gedacht, es passt am besten«, sagte Korber. Er merkte, wie er immer tiefer in die Couch einsank.

»Es passt fantastisch«, hauchte Manuela. »Und es ist wirklich sooo schön. Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass es da um die Gefühle zweier Menschen geht, die sich ganz langsam näherkommen, und zuerst gar nicht spüren, dass sie von den Wogen der Liebe erfasst werden …«

Sie rückte Millimeter um Millimeter näher zu ihm. Korber spürte ihren Atem, die Wärme ihres Körpers. »Es sind keine Wogen«, korrigierte er. »Es ist ein Frühlingswind, der zum Sturm wird …« Aber seine Worte waren nur ein unnützer Versuch, das zu verhindern, was sich einfach nicht verhindern ließ.

»Und sie in seiner harten Faust zerbricht?«, flötete sie. »Ist es das, wovor du Angst hast? Was geht dir denn nur im Kopf herum! Ich spüre nicht die tosende Gewalt eines Sturmes, die uns auseinanderreißt, ich spüre, wie wir ganz sanft in die Höhe gehoben werden – wie von einem Mailüfterl …«

Schon waren ihre Lippen aufeinander, lernten sich ihre Zungen kennen, tasteten Korbers Hände dorthin, wo sie zuvor nicht hinzugreifen gewagt hatten.

»Ich brauche dich«, flüsterte Manuela ihm ins Ohr, das sie dabei leicht anknabberte. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ist, immer so allein.«

Korber fühlte sich leicht und schwebend, während er ihr die Bluse aufknöpfte. Manuela hatte recht. Ein Mailüfterl war es, das ihn jetzt sanft packte und seiner Männlichkeit Leben einhauchte. Warum hatte er diesen Augenblick nur gefürchtet? Warum?

Doch der Sturm mit seiner harten Faust kam, kalt und unbeugsam. Plötzlich stand Klaus Stary vor ihm, schob Manuela zur Seite, packte ihn beim Kragen, zog ihn hoch und drückte ihn gegen die Wand. Korber spürte einen Schlag im Gesicht, dann noch einen. Er ging zu Boden wie ein nasser Sack.

Sofort schien Stary sein Interesse an ihm verloren zu haben. Er drehte sich um und marschierte geradewegs auf seine Frau zu, deren Erregung sofort in wilde Angst umgeschlagen war. »Was fällt dir ein, du … Metze«, stieß er hervor und versetzte ihr eine derbe Ohrfeige.

Blitzschnell bekam Korber seine Sinne zusammen. Er rutschte nach vorn und machte Gebrauch von der einzigen Waffe, mit der er in dieser Situation gegen den bulligen Stary eine Chance hatte: seine langen Beine. Er säbelte den sich immer noch in einer leichten Vorwärtsbewegung befindlichen Stary um, als ob es darum ginge, als letzter Mann auf dem Spielfeld mit allen Mitteln einen Gegentreffer zu verhindern. Stary wankte und fiel mit dem Kopf gegen den Heizkörper.

Er blutete. Einen Augenblick wirkte er benommen. Korber nutzte die Gelegenheit, um sich, so gut es ging, auf ihn draufzulegen. Manuela tat, was Frauen in solchen Situationen immer zu tun pflegen. Sie schrie aus Leibeskräften: »Tu ihm nichts! Tu ihm nichts!« Niemand wusste, wen sie damit meinte.

»Ich will nur vernünftig mit Ihnen reden«, sagte Korber.

»Nachdem Sie sich mit meiner Frau vergnügt haben? Dass ich nicht lache«, schnaubte Stary.

»Er hat uns geholfen«, redete Manuela auf ihren Mann ein. »Er hat Reinhard in Englisch wieder auf Vordermann gebracht. Das ist wichtig. Reinhard braucht den Schulabschluss. Glaubst du, er wird sein Geld in Zukunft mit Fußball verdienen? Das ist doch nur ein frommer Wunsch von dir.«

Klaus Stary versuchte, sich loszureißen, aber er lag im Augenblick saublöd da. »Und da hast du deinen Freund, den Lehrer, mit einer kleinen Dienstleistung ausbezahlt«, bemerkte er verächtlich.

»Es war nichts! Überhaupt nichts war«, heulte Manuela.

»Denken Sie einmal nach«, gab Korber zu bedenken. »Sie machen da nämlich einen großen Fehler. Um Ihren Sohn kümmern Sie sich nur, wenn Sie ihm beim Kicken zuschauen, und um Ihre Frau kümmern Sie sich gar nicht. Reinhard braucht Sie, aber nicht als Fußballfanatiker, sondern als Vater. Und Ihre Frau braucht Sie noch mehr, aber als Mann, der für sie da ist und nicht andauernd fort.«

»Sie haben keine Ahnung«, kam es von Stary.

»Wenn Sie so weitermachen, werden Sie beide verlieren, und mit mir hat das Ganze so gut wie gar nichts zu tun. Sie sollten sich wieder mehr Ihrer Familie widmen, und nicht nur dem Fußball«, redete Korber weiter.

»Sind Sie endlich fertig, Herr Lehrer? Und würden Sie mich jetzt bitte einmal loslassen?«, grummelte Stary.

»Nicht«, rief Manuela instinktiv.

Aber Korber ließ los und stand auf. Manuela Stary wich ängstlich zurück, ihr Mann krabbelte wieder auf seine zwei Beine. »Keine Angst, ich werde euch beide nicht schlagen«, kam es nur mit mühsamer Beherrschung von Stary. »Unter einer Bedingung: Sie verschwinden augenblicklich aus meiner Wohnung und lassen sich hier nie wieder blicken. Sonst gnade Ihnen Gott, und Ihre einzige Hoffnung ist, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern, was gewesen ist, wenn Sie aufwachen.«

Mit seltsam weichen Knien schleppte sich Korber ins Vorzimmer. Stary blieb dicht an ihm dran. Plötzlich spürte Korber, wie ihn Starys Speichel voll im Auge traf.

»Nicht abwischen, sondern weitergehen, und zwar flott«, kommandierte Stary. Dabei trieb er Korber förmlich zur Tür. »Und nur ja nicht den Mund aufmachen. Sie haben nämlich heute schon genug geredet, Herr Lehrer. Und das ist es, was ich von Ihren Reden halte.«

Schon hatte Korber eine zweite Ladung Speichel im Auge. Dann spürte er, wie er mit einem aggressiven »Auf Wiedersehen« zur Tür hinausgeschubst wurde. Während er die Stiegen hinunterstolperte, fuhr er sich mit einem Taschentuch über das Gesicht.

Er taumelte hinaus ins Freie. Es tat gut, wieder frische Luft zu atmen. Er sog sie tief in sich ein und ging los, ohne zu wissen wohin.

Erst jetzt merkte er, dass er keine Schuhe anhatte.

 

*

 

Wenn die letzten Gäste sich anschicken, das Café Heller zu verlassen, die Billardbretter geputzt und abgedeckt sind, und vielleicht nur noch Herr Sedlacek eine Partie Schach gegen Herrn Heller spielt, dann schaut Frau Heller besonders misstrauisch Richtung Eingangstür. Wie oft war es schon vorgekommen, dass gerade um diese Zeit, knapp vor Mitternacht, ein Stammgast hereingewackelt kam und dann die Nacht zum Tag machen wollte, während man sich selbst gerade mit dem Gedanken angefreundet hatte, den Abend auf eine beschauliche Art und Weise ausklingen zu lassen. Noch schlimmer war es, wenn plötzlich aus irgendeiner Ecke allerlei lichtscheues Gesindel hervorkroch, um ›ein letztes Gläschen‹ zu sich zu nehmen. Man musste dann mit dem lauten Ausruf »Sperrstunde!« darauf hinweisen, dass man auf einen solchen Besuch nicht neugierig war, und dass es genug Kneipen und Spelunken rund um den Floridsdorfer Spitz gab, um ein solches Publikum aufzunehmen. Gerade die lauen Maiabende waren geradezu prädestiniert dafür, späte Gäste, die den rechten Weg nach Hause nicht finden wollten, in Richtung Kaffeehaus zu locken, Menschen, die sich davor in Heurigen- oder Schanigärten[19] zum Nutzen anderer Wirte gütlich getan hatten und jetzt nur Schwierigkeiten machten.

Auf solche Leute war Frau Heller nicht erpicht. Sie waren ihr ein Dorn im Auge. Und gerade der heutige Donnerstag hatte Aufregungen genug mit sich gebracht. Frau Heller hatte noch die schneidende Stimme Herrn Schebestas im Ohr – und die Stimme Leopolds, der seit dem frühen Abend beinahe stündlich bemerkte: »Solche Händetrockner bekommen wir ganz billig, Sie werden sehen, so gebrauchte. Ich kenne auch einen Elektriker, der sie praktisch umsonst montiert.«

Nein, an einem solchen Abend musste man rechtzeitig zusperren, ehe es eine unangenehme Überraschung gab. Frau Heller nahm die Gruppe Jugendlicher ins Visier, die hinten mit dem Austrinken beschäftigt war, und begann, mit ihrem großen Schlüsselbund zu klimpern: ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Café Heller im Begriff war, seine Pforten zu schließen.

Als dann die große Gestalt mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut und einer überdimensionalen Sonnenbrille hereintorkelte, verschlug es ihr beinahe die Rede. »Hinaus! Bitte gehen Sie«, rief sie, und beinahe überschlug sich ihre Stimme. »Wir sperren nämlich gleich zu. Versuchen Sie ja nicht, noch eine Bestellung aufzugeben, es hat überhaupt keinen Sinn.«

»Morgen ab 7 Uhr stehen wir wieder zu Diensten«, ergänzte Leopold. »Da sind die Kipferl dann auch ganz frisch.«

»Kipferl! Blödsinn! Sag bloß, du erkennst mich nicht, Leopold«, bemühte Thomas Korber sich, zusammenhängend zu sprechen.

»Nein«, sagte Leopold und musterte seinen Freund verwundert. »Doch, du bist es. Wie hast du dich denn verkleidet? Was war schon wieder los?«

»Kleine Shoppingtour«, erklärte Korber. »Sozusagen erzwungenermaßen.« Er nahm die Sonnenbrille, diesmal keineswegs Zeichen frühsommerlichen Hochgefühls, ab, und zeigte seinem Freund das dahinter verborgene dunkelblaue Auge.

»Der Watschenausteiler«, bemerkte Leopold nur trocken. »Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Wir haben tapfer gekämpft, er hat auch etwas abgekriegt«, berichtete Korber. Dann erzählte er Leopold kurz von seinem abenteuerlichen Nachmittag. »In der ganzen Aufregung habe ich schlussendlich meine Schuhe stehen gelassen.« Er zeigte auf die billigen Sandalen, die mittlerweile seine Füße zierten.

»Und der Hut?«

»Den habe ich sicherheitshalber auch gekauft. Falls mir dieser Klaus Stary noch einmal über den Weg läuft.«

»Und dann hast du dich herumgetrieben, anstatt nach Hause zu fahren und dich ein bisschen zu pflegen. Ich sehe es dir an.«

Korber nickte. Sein Kopf wirkte dabei schwer. »Die ganze Geschichte ist mir wieder hochgekommen. Ich habe daran denken müssen, wie er mich angespuckt hat. Das hat beinahe mehr weh getan als die Schläge. Ich habe mir vorgestellt, was es für Manuela und Reinhard heißen muss, mit diesem Mann zusammenzuleben.«

Leopold seufzte. »Da bist du wieder sentimental geworden.«

»Natürlich. Zuerst habe ich vorgehabt, mir meine Schuhe zu holen. Das war natürlich unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Dann habe ich den ganzen Krimskrams da zusammengekauft. Schließlich habe ich Durst bekommen und mich Richtung Eintracht-Platz bewegt. Aber ich hatte Angst, dass Stary dort sein und es erneut eine Szene geben würde. Also bin ich dann doch nicht in die Kantine gegangen.«

»Aber irgendwo bist du gewesen. Man merkt’s«, stellte Leopold trocken fest.

»Drüben auf dem Tennisplatz«, plauderte Korber in seinem lethargischen, vom übermäßigen Alkoholkonsum beeinflussten Ton. »Die haben dort auch einen ganz ordentlichen Wein, sollte man gar nicht glauben, um 1,40 Euro das Achterl. Preiswert, findest du nicht?«

»Ich finde, du gehörst schnell wieder ausgenüchtert.«

»Und ich finde, dass ich noch etwas trinken muss. Immerhin habe ich mich extra beizeiten auf den Weg gemacht, weil ich zu dir wollte. Diese alte Gewohnheit, verstehst du?«

»Wir haben Sperrstunde, Thomas. Leider kann ich dir mit nichts mehr dienen.« Leopold schüttelte energisch den Kopf.

»Und wenn ich dir noch etwas Interessantes erzähle?«, lächelte Korber geheimnisvoll. »Ich musste doch auf dem Rückweg wieder beim Eintracht-Platz vorbei. Natürlich war schon alles finster. Aber heraußen, neben dem einen großen Strauch auf dem Parkplatz in die Ecke gedrückt, sind zwei Gestalten gestanden und haben miteinander geredet. Es waren der Robert Moser und der Helmut Sturm.«

»Hast du gehört, worüber sie sich unterhalten haben?«, wurde Leopold neugierig.

Korber legte schweigend ein Zweieurostück auf die Theke. Leopold schenkte ihm in aller Eile ein schwach gefülltes Glas Wein ein.

»Ich muss eines vorausschicken: Ich bin nicht stehen geblieben, um dieses Gespräch zu belauschen«, erzählte Korber nach einem Schluck weiter. »Das wäre aufgefallen. Sie haben mich ja schließlich bemerkt und danach besonders geheimnisvoll getan. Ganz nüchtern war ich auch nicht mehr. Trotzdem …«

»Ja? Herrgott, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, wurde Leopold ungeduldig.

»Ich glaube – aber das ist jetzt wirklich nur eine Vermutung – in dem Gesprächsteil, den ich gehört habe, ging es um eine Frau. Jedenfalls ist ein paar Mal ein Frauenname gefallen. Aber wie gesagt, ich kann nicht garantieren …«

»Wie lautete der Name?«, fragte Leopold unbarmherzig.

»Das weiß ich eben nicht mehr«, musste Korber zugeben. »Du bist jetzt sicher böse, aber er fällt mir wirklich nicht mehr ein. Mir geht im Augenblick so viel im Kopf herum. Und als ich vorne in dem kleinen Espresso an der Ecke zwei Gläser getrunken habe, war der Name plötzlich weg. Ich glaube, er hatte mehrere Silben, so wie die weiblichen Vornamen bei den Quizspielen im Fernsehen, wo man anrufen kann.«

Leopold haderte mit seinem Schicksal. Warum hatte sich ihm die Gelegenheit nicht selbst dargeboten? Warum musste er hier im Kaffeehaus seinen Dienst versehen, während draußen in der Welt großzügig wichtige Hinweise in einem Mordfall verteilt wurden? Warum war es ausgerechnet sein angeheiterter und deprimierter Freund, der im entscheidenden Augenblick am Eintracht-Platz vorbeigestolpert war? Jemand, der gar nicht daran gedacht hatte, sich das zu merken, was er gerade hörte?

»Da schaust du, was?«, kam es von Korber. Er war anscheinend mit sich zufrieden.

»Ja, da schaue ich«, entgegnete Leopold unwirsch, während er kurz überlegte, Korber das halb gefüllte Glas wieder wegzunehmen. »Komm, beeil dich und trink aus«, sagte er dann. »Wir müssen heute noch wohin.«

»Aber in ein Lokal, wo halbwegs etwas los ist«, forderte Korber. »Ich habe Durst.«

»Du wirst schon etwas zu trinken bekommen, keine Sorge. Deine Innenstadteskapaden kannst du dir allerdings für heute abschminken«, mahnte Leopold. »Wir sperren jetzt zu, und dann schauen wir ganz in der Nähe auf einen Sprung vorbei.«

Korber gefiel das gar nicht. »Darf man wissen, in welchen Gourmettempel du mich zu entführen gedenkst?«, fragte er ein wenig spitz.

»Ins ›Katerfrühstück‹.«

»Was, in dieses Tschocherl[20]? Was erwartest du dir von einer Expedition ins szenemäßige Nichts?«

»Sehr viel. Harry Leitner müsste jetzt dort sein. Hab ich gestern herausgefunden, da war er leider schon weg. Wenn er an einem Tag früher geht, heißt das nämlich normalerweise, dass er am nächsten länger anhält.«

»Was liegt dir auf einmal an Harry Leitner?« Korber verstand jetzt überhaupt nichts mehr.

Leopold hatte seinerseits wenig Lust zu einer ausführlicheren Erklärung. »Das wirst du schon sehen«, war alles, was Korber von ihm hörte.