Klischees und andere Wahrheiten
Der stumme Fisch
Söte, Thünkram, Lütter, poofen, Deern, plietsch, kieken, Büx, vertellen, antrekken, Knuust, Schnute und dun sind Worte, die zu meinem aktiven Wortschatz gehören. Vorausgesetzt sie sagen überhaupt etwas, peppen 97 Prozent der Meck-Pommer ihre Wortwahl mit Worten der plattdeutschen Sprache auf, der Sprache, in der Luther die Bibel übersetzte, der Sprache, in der Handy Ackerschnacker heißt. Der Unterschied zwischen einem Fisch und einem Fischkopp besteht in einem Gen, das der eine nicht hat und der andere nicht gebraucht – das Sprechgen. Swiegen un denken deit schließlich keen kränken. Wer mehr als, sagen wir, sieben Worte am Stück von sich gibt, gerät schnell in den Verdacht eine grode Sabbeltrien to sin, die ut’n Furz nen Dunnerschlach maakt (große Labertasche zu sein, die aus einem Furz einen Donnerschlag macht).
Es kann einem meck-pommerschen Kind schon die Tränen in die Augen treiben, wenn es aus London für 3,89 Euro pro Minute zu Hause anruft und sich für die Neuigkeiten aus der Heimat interessiert:
Nö, nix. Anschließend Schweigen.
Meck-Pommer-Kind: Na, irgendwas? Was habt ihr gestern gemacht?
Bowlen!
Alleine?
Nö. Schweigen …
Mit wem denn?
Wie immer.
Aha! Und Oma?
Jo.
Wie immer?
Jo.
Papa, die Minute kostet 3,89 Euro. Du musst jetzt was sagen.
Und so dehnt sich das Gespräch, wie es auch die Sprache im Allgemeinen tut. Schöun büschen laaaaangtrecken dat Ganze. Schön dat Mul so’n büschen runterhäng laten up eener Siet. Dat rrrrrrrr rrrrrrrrrollen. So wart dat eene schöne Sprrrraaaak, nicht so vornehm, wie das Holsteinische oder Hamburgische mit seinen ssspitzen Sssteinen. In Mecklenburg-Vorpommern ist das Ganze etwas bodenständiger und oller. Es heißt: Wat jung is, dat summt, wat oolt is, dat brummt. Und da kommen wir der Sache nämlich schon näher. Furze. Mittels denen unterhalten sich Heringe. Und so ähnlich funktioniert das auch bei den Küstenmenschen. Für Außenstehende ist nur ein Geräusch, ein Jo und ein Nix auszumachen, aber für den Einheimischen steckt in diesem Jo so viel drin – Kritik, Geschichten und Zuneigungsbekundungen. Ein Jo von Meck-Pommer zu Meck-Pommer kann mitunter eine ganz bunte Unterhaltung sein. Für Außenstehende gestaltet sich die Konversation mit Einheimischen zugegebenermaßen schwierig, und so sind zum Beispiel Dokumentationen über Mecklenburg-Vorpommern nur bedingt möglich.
Interviewer: Hier Fischfang und so, EU-Reformen, Arbeitslosigkeit, Wende, wie ist das hier? Wie kommen Sie zurecht? Was hat sich verändert?
Meck-Pommer (aus: Die Ostsee): Fischer zu sein ist halt ’ne Aufgabe, nich!?
Und dann starrt der meck-pommersche Fischer unbeeindruckt in die Kamera und sagt nichts mehr, auch wenn das leicht kreisende Mikrofon sehr bestimmt zu mehr Informationen auffordert. Fischer haben wie die Landwirte und Handwerker einen Berufszweig gewählt, der nicht viel zur Rettung des Sprechgens beitragen kann.
Lassen Sie sich nicht irritieren, wenn die Antwort bündig ausfällt! Fragen Sie einfach weiter und erzählen Sie. Dass der Meck-Pommer nicht nachfragt, bedeutet nicht, dass er kein Interesse hat. Lassen Sie sich von einem grimmigen Gesichtsausdruck nicht abschrecken! Das ist nur die raue Landschaft, die sich da ins Gesicht gefurcht hat. Es spiegelt nicht den Gemütszustand wider. Um dennoch sicherzugehen, dass der Meck-Pommer Gefallen an einer Unterhaltung mit Ihnen findet, erfreuen Sie den Einheimischen, indem Sie nicht StralSUND, sondern STRALsund sagen, und Meeeklenburg, statt Mäcklenburg oder Ostseebad SellIN und nicht SELLin (der Sellerie stammt nicht von hier). Wenn ein ganzer Small Talk gebraucht wird, halten Sie sich an meinen Tipp: Wind macht sich hervorragend. Böen und Brisen aus Nordost oder Südwest lassen den Meck-Pommer mitunter geradezu ins Sabbeln geraten. Was den Hypochondern ihre Krankheiten, ist den Meck-Pommern der Wind, von dem sie immerhin dreihundert Tage im Jahr etwas haben (die restlichen Tage Sturm).
Und dann ist da im Platt der ganze Humor dieser Norddeutschen; ihr gutmütiger Spott, wenn es einer gar zu toll treibt, ihr fest zupackender Spaß, wenn sie falschen Glanz wittern, und sie wittern ihn, unfehlbar … Es ist die Sprache des Meeres. Das Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und herzlich, klar und nüchtern, und vor allem, wenn man will, herrlich besoffen. (Kurt Tucholsky)
Der Bauer an der Buddel
Ein Land, in dem Bier eine ganze Stadt reich gemacht hat, kann dem Alkohol nicht abgeneigt sein. In nicht weniger als zweihundert Braustellen wurden in Wismars fetten Hansejahren große Fässer mit schwarzem Gerstensaft produziert und ständig nach Brügge, Bergen und Riga verschifft. Dank des Bieres ist Wismars Marktplatz heute so groß wie anderthalb Fußballfelder.
Aufgewachsen in der Umgebung dieser Bieraura, bewegte ich mich die Abende meiner Jugend zwischen dem Klabautermann, dem Anker und der Fähre hin und her. Ich bestellte Fährwasser (Kümmel), Stralsunder Pils oder Störtebeker-Schwarzbier. Meistens das Schwarzbier. Ich bin Hanseatin, und der legendäre Pirat Klaus Stürzdenbecher (Störtebeker) ist mein Vorfahre. Er soll ein sehr trinkfester Bursche gewesen sein. Und so wie ich, wird er in den Hafenkneipen das Glas gehoben und gefordert haben: Nich lang schnacken, Kopp in Nacken! Geschnackt wird nicht lang. Als eine Freundin in der Fähre fragte: Darf man hier rauchen?, erhielt sie die Antwort: Swiensteern achtern! Hilflos sah sie zu mir. Schweinschwanz hinten, übersetzte ich. Alles o. k.!
Während in anderen Regionen jetzt eine Diskussion über Sinn und Unsinn des Rauchverbots aufgekommen wäre, war in der Fähre mit Swiensteern achtern nicht nur die Erlaubnis zum Anzünden der Zigarette gegeben worden, sondern auch alles zum Thema Rauchen in öffentlichen Einrichtungen gesagt. Zu den klar gesprochenen Worten bekommt man ebenso wat Klares wie Korn serviert, lauscht der Stimme von Hans Albers, wenn er den Jungen bittet, bald wiederzukommen, schunkelt etwas mit dem Kopf und fertig ist das Amüsement à la Mecklenburg-Vorpommern. Zünftige Wirtshäuser mit rappelvollen Bierbänken und -tischen, auf die Weizen zwischen angeregte Gesprächsrunden gestellt werden, gab es hier zu keiner Zeit. Denn es lebe die Devise: Tu hus is immer am schönsten.
Statistisches: Sind es nun die Seefahrergene, die es nach Rum gelüstet, oder doch die wirtschaftlichen Missstände des Landes, die dazu führen, dass in Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich 2,5 Männer mehr an Trunksucht und deren Folgen sterben als im Rest der Republik?
Statistisch gesehen hatten diese 2,5 Männer wenigstens mehr Sonne als die Trunksüchtigen in allen anderen Bundesländern. Zudem atmeten sie bessere Luft, denn die Emissionswerte in Mecklenburg-Vorpommern liegen bei gerade mal einem Drittel der Bundesdurchschnittswerte. In das Land der (mit Abstand) meisten Alkohol- und auch Verkehrstoten reisen in guten Jahren die meisten Touristen, die sich gerne im Inland erholen, in weniger guten Jahren reisen immerhin noch fast die meisten dorthin. Wahrscheinlich waren die 2,5 Männer mehr keine Bauern, denn die Bauern sind mit ihren Kühen und Feldern doch ganz gut beschäftigt. Fast zwei Drittel der Fläche Mecklenburg-Vorpommerns wird von Landwirten bewirtschaftet. Die Produktivität der landwirtschaftlichen Betriebe liegt weit über dem bundesdeutschen Niveau. Vielmehr werden in einem Bundesland, in dem zwar am häufigsten die Sonne scheint, aber trotzdem sehr viele Männer und Frauen mehr als anderswo keine Arbeit haben, wohl auch Perspektivlosigkeit und Langeweile den Weg zur Buddel weisen.
Außerdem: Neben dem Schweineschwanz kann Ihnen in Mecklenburg-Vorpommern auch der Heringsschwanz über den Weg laufen. Er übernimmt hier in der Redewendung Da kräht kein Hahn nach die Rolle des Hahns.
Die langsamen Mühlen
Hätte sich Bismarck ein bisschen schlaugemacht, hätte er sich vielleicht seine schnippische Bemerkung verkniffen: Wenn die Welt untergeht, gehe ich nach Mecklenburg, denn da passiert alles fünfzig Jahre später. Richtiger hätte es heißen müssen: Was in Mecklenburg-Vorpommern längst erfunden ist, erlangt woanders erst später Bekanntheit. Der Taucheranzug zum Beispiel wurde vom Mecklenburger Peter Kreeft bereits um 1800 erfunden. Nur weil er, was die Patentanmeldung betraf, etwas tranbüttelig (so das hiesige Fachwort für die meck-pommersche Langsamkeit) war, heimste die Anerkennung ein anderer ein. Ähnlich erging es auch dem Stralsunder Carl Wilhelm Scheele. Der entdeckte den Sauerstoff. Sein Bericht erschien bezeichnenderweise erst schlappe vier Jahre später, also machte sich im Zusammenhang mit der Entdeckung des Sauerstoffs ein Engländer einen Namen. Langsamer mahlen die Mühlen, aber schnell drehen sich die modernen Windräder auf Mecklenburg-Vorpommerns weiten Feldern. Man weiß eben, worauf es ankommt, deshalb fuhr auch eines der ersten Benzinautos auf den Straßen Mecklenburg-Vorpommerns, die erste Galopprennbahn Europas öffnete die Tore in Bad Doberan, und die erste künstliche Leber wurde von einem Rostocker Forscherteam geschaffen – und all das trotz der ständigen Induktion: Arbeit is keen Has, de löppt uns nich wech. Oder: Jo, jo, door hebben wi schon een Katt mit dootfodert (Da haben wir schon eine Katze mit totgefüttert). In Mecklenburg-Vorpommern wird Flachatmung praktiziert. Wat mutt, dat mutt, aber wenn dat nix warrt, warrt dat eben nix, so weise sprach schon die Rossmann-Verkäuferin, als ich sagte: Ich müsste die Fotos aber bis morgen haben.
Soll ich aber ehrlich sein, so hat Bismarck natürlich recht. Dat duurt aal’n büschen länger. So wird dem Hitler in Bad Doberan eben erst 2007 das Ehrenbürgertum endgültig aberkannt, und Rügentouristen haben jahrzehntelang vor der Klappbrücke im Stau zu stehen, bevor das Problem mal jemand in Angriff nimmt. Oewer dann mit’m Ruok. Deshalb weihte Angela Merkel mit der neuen Rügenbrücke auch gleich ein Jahrhundertbauwerk ein. Und obendrauf, weil die Touristen bei Schietwetter nun nicht mehr im Stau stehen, entstand gleichzeitig ein ziemlich ambitioniertes Update des Stralsunder Meereskundemuseums (Ozeaneum), in dem die gewonnene Zeit gnadenlos vertrödelt werden kann.
Zeit ist in Mecklenburg-Vorpommern ein hohes Gut, an das allerorts beharrlich erinnert wird. Widerwillig erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an eine Eiscafé-in-Binz-Begebenheit:
Immer mit der Ruh, sagte die Bedienung, als neben meinem Tisch eine Mutter mit ihrem weinenden Kind drängelte: Wo sind denn bitte die Toiletten?
Ich konnte diesem Kind, das schon rötlich-grün im Gesicht war, leider nicht helfen. Und als die Bedienung endlich meine Bestellung zu Ende notiert hatte, brauchte vorerst niemand mehr eine Toilette.
Das riecht, ob Sie das wohl mal aufwischen könnten, fragte mein Tischnachbar, nachdem sich Mutter und Tochter beschämt davongemacht hatten.
Immer mit der Ruh, mahnte die Bedienung auch ihn und schenkte dem Malheur mindestens zehn Minuten Zeit, seinen Geruch zu entfalten. Mich erinnerte das damals an eine Szene aus einer meiner Lieblings-Sitcoms, in der die Cafébetreiberin mit ihrem Café auf die Liste der hippsten Cafés in L. A. kommen möchte. Zu diesem Zweck verordnet sie ihrer Angestellten, auf Bestellung eines Kaffees mit einem rotzigen Zuerst trinke ich meinen aus zu reagieren.
Wie ein Fels in der Brandung stehen die hanseatischen Stadtmauern und gewähren hochschlagenden und überschäumenden Trendwellen zuverlässig Einhalt. Man muss in Mecklenburg-Vorpommern nicht mit einem Roller ins Büro rollern oder sich dem Stress ergeben, für seinen Mops ein modisches Regenmäntelchen zu finden. Dat is doch all schiet, weiß der konservative Meck-Pommer. Er glaubt ganz fest daran, dass sich Altbewährtes immer wieder neu bewährt. Was soll ich bei einer Fideliovorstellung, wenn die da in Jeans und mit Kalaschnikows herumstehen (Reaktion nach einer Stralsunder Theaterpremiere)? Das erklärt auch, warum ich in einer Apotheke statt des georderten Aspirin Complex zu hören bekam: Nee, das ist doch blöd. Warmes Bier und ab ins Bett. Aber weil sich die Apothekerin schließlich doch noch an das neuerliche marktwirtschaftliche System zu erinnern schien, überzeugte sie mich vom Kauf einer Salmiaktüte.
So finden Veränderungen in Mecklenburg-Vorpommern nur in gefühlten Dezisekunden statt, und dennoch weht immer ein frischer Wind! Das Land, auch wenn für das menschliche Auge nicht ad hoc wahrzunehmen, befindet sich in steter Veränderung. Das Meer trägt Land ab, um es woanders wieder anzuspülen. Es ist eine natürliche Veränderung, keine künstlich überstürzte. Gut Ding will eben Weile haben.
Fritz Reuters Landesverfassung:
Paragraf 1: Allens bliwwt bi’n ollen. Alles bleibt beim Alten.
Paragraf 2: Nix ward sick ännern. Nichts wird sich ändern.
Nix los
»Jährlich 2000 Veranstaltungen der Extraklasse«. Wollen die mich verarschen?, hätte ich mich beim Blick auf die Tourismusbroschüre noch vor einigen Jahren gefragt. Von diesen zweitausend Veranstaltungen hatte ich während meiner Adoleszenz gefühlte minus fünf erlebt und das, obwohl ich in der drittgrößten Stadt des Landes wohnte und mich durchaus eifrig auf die Suche begab. Wald-Meer, Sand-Meer, garnüscht-Meer, gelesen in einem Mecklenburg-Vorpommern-Internetforum, bringt ziemlich auf den Punkt, was ich damals über mein Bundesland zu sagen gehabt hätte. Inzwischen würde ich großspurig behaupten: Zweitausend? Erscheint mir reichlich untertrieben!
Eines Tages fiel mir wie Schuppen von den Augen, dass das Unterhaltungsprogramm in Mecklenburg-Vorpommern eine Frage der Wahrnehmung, der Interpretation und der Kunst, Freizeitangebote überhaupt als solche zu erkennen, ist. In diesem Zusammenhang ebenfalls eine Frage der Interpretation, das Wort Extraklasse. Extraklasse zum Beispiel das Genuschele unseres Landwirtschaftsministers Till Backhaus in der Tagesschau, als die Vogelgrippe über Mecklenburg-Vorpommern hereinbrach. Klasse der Kommentar des Bauherrn der neuen Rügenbrücke, auf die Frage nach dem Tierschutz: Wir haben 500 000 Euro in die Forschung gesteckt und herausgefunden, dass die Vögel nicht gegen die Drahtseile der Brücke, sondern einfach über sie hinwegfliegen. Dafür weniger extra, das Rahmenprogramm zur Einweihung selbiger, auch wenn man mir weismachen wollte, dass Gottlieb Wendehals, die Puhdys und Ute Freudenberg sehr wohl Showacts der Extraklasse sind.
Ich habe in meiner Jugend außer einem Programmkino nicht sehr viel vermisst, dennoch fieberte ich dem Tag entgegen, das Bundesland zu verlassen, um in Clubs zu gehen und in Secondhandläden nach einer abgewrackten Lederjacke zu suchen. Ich wollte laute Nachbarn und frisches Thaibasilikum kaufen können, wünschte mich zwischen Menschenmassen und Autohupen, wollte auf Vernissagen und Konzerten sein, ins Kabarett gehen und in große Antiquariate. Ich wollte etwas, das dem Rostocker Mau-Club zeigt, was eine Harke ist.
Clubs, laute Nachbarn, Lederjacken und auch Vernissagen interessierten mich recht schnell nicht mehr, dafür vermisste ich Auftritte der Shantychöre, Kranichbeobachtungsstationen, einen kurzen Anfahrtsweg, bevor ich mich in die Ostseewellen stürzen konnte, und ich vermisste vor allem die meck-pommerschen Veranstaltungen der Extraklasse, deren Geheimnis ich mittlerweile gelüftet habe: Extraklasse ist an den Veranstaltungen in Mecklenburg-Vorpommern immer das Drumherum. Als das Stralsunder Theater 2008 nach langer Umbauphase wiedereröffnete, war das allein klasse, aber wie Angela Merkel zur ersten Vorstellung erschien und den davor protestierenden Demonstranten gegen das geplante Kohlekraftwerk in Greifswald/Lubmin fröhlich euphorisiert zuwinkte, das war wieder ein schönes Extra.
Als beim internationalen Modepreis Usedomer Baltic Fashion Award, um den seit 2002 Designer aus den Anrainerstaaten der Ostsee wetteifern, Germany’s next Topmodel 2007, die rothaarige bayerische Barbara, in einem weißen Monsterkleid die Seebrücke entlangstakste, erklärte eine Dame neben mir extra für mich: Dat die sich so’n Quatsch anziehen und hier lang laufen, als wären sie Herr und Frau Professor. Nur weil die im Fernsehen war. Deshalb ist dat trotzdem albern, wat se an hat. Und dat is auch kein Kattwock (Catwalk), sondern eine Seebrücke.
Liebe Touristen, um im Dschungel der unzähligen Veranstaltungen nicht die Orientierung zu verlieren, solltet ihr euch zu den Eisbadepartys, BeachvolleyballTurnieren und Hafenfesten folgende der zweitausend Veranstaltungen notieren. Hier wird sich auch für das ungeübte Auge die Extraklasse zu erkennen geben. Uneingeschränkt empfehlenswert:
Für Musikbegeisterte:
Festspiele Mecklenburg-Vorpommern
Eldenaer Jazz
Stralsunder Brauereihoffest
Greifswalder Bachwochen
Für Boot- und Hafenfans:
Warnemünder Woche
Müritz Sail
Zeesbootregatta auf Fischland-Darß-Zingst
Wiecker Fischerfest Gaffelrigg bei Greifswald
Hanse Sail in Rostock
Schweriner Drachenbootsaison
Für alle:
Stralsunder Sundschwimmen
Stralsunder Wallensteintage
Störtebeker Festspiele in Ralswiek
Bad Doberaner Ostseemeeting auf der Galopprennbahn
Der Nackedei am Ostseestrand
No, ihr geht jo olle da naksch ins Wasso, ge?
Oh, wir sprechen da oben kein Sächsisch, antwortete ich irritiert.
Aber nackig macht ihr euch trotzdem so gern wie die da um Dresden rum, konterte der Herr, der es offensichtlich sehr genau wissen wollte. Es war einer derer, die sich im Anschluss an eine Lesung zu Autor und Veranstalter gesellen. So stand ich in einer Essener Buchhandlung und musste diese seltsame Unterhaltung führen. Zum Glück eilte mir die Dame vom Büchertisch zu Hilfe.
FKK ist nicht zu uns rübergeschwappt, wusste sie. Der erste Verein entstand nämlich hier in Essen.
Oh, da kennt sich jemand aus, schlussfolgerte der Herr.
Sie nickte und schob die Brille hoch. Auch den ersten Nacktbadestrand gab es bei uns, also auf Sylt.
Es folgte eine kleine Pause, in der sich niemand nach weiteren Details erkundigte, auch nicht der Herr. Dennoch fuhr sie fort: DAS FKK-Land überhaupt ist übrigens Frankreich und nicht die DDR. Wir verbringen unseren Urlaub dort, also in Frankreich. An der Ostsee fühlen wir uns wie Hunde, weil die FKK-Abschnitte immer neben den Hundestränden zu finden sind. Und Ostsee, da ist mir persönlich viel zu viel Textil.
Ansichtssache! Unter viel zu viel Textil verstehe ich bestenfalls die Bademode im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, die das Baden nur in geschlossenen, aus undurchsichtigem Stoff hergestellten Badeanzügen gestattete, die vom Hals bis zum Knie reichen (Warnemünde 1904). Auch wenn wir Norddeutschen gerne so tun – wir sind keine urzeitlichen Wasserratten und Nackedeis. Meer galt noch bis etwa 1800 als zum Baden völlig ungeeignet. Und auch danach gingen die Einheimischen selbst kaum ins Wasser. Meine Großeltern habe ich nie am Strand erlebt, schon gar nicht jauchzend zwischen den Wellen, die schlenderten höchstens in reichlich Textil die Promenade auf und ab und aßen Eis. Schuhe ausziehen und rein mit den nackten Füßen in den Sand? No way!
In den Zwanzigerjahren sprangen die ersten Herren nackt vom Steg, und Damen lagen frivol unbekleidet mir nichts dir nichts im Ostseesand. Ein unglaubliches Verhalten in Anbetracht dessen, dass sich gerade mal vom Badekarren emanzipiert worden war. Der Badekarren fuhr die ersten im Meer badenden Gäste in die See. Dort ließ der Kutscher die Markisen herunter, hinter denen sich die Herrschaften ins kühle Nass begeben konnten. Später schützten vor fremden Blicken hufeisenförmige Bauten, die auf Pfählen ins Meer hineinragten – Badeanstalten, die im Zweiten Weltkrieg dem Brennstoffmangel zum Opfer fielen. Das alles hat, hundert Jahre zurück, also mit FKK noch nicht viel zu tun. Auch die Zeit der nackten wilden Zwanziger war kurz. Denn bald wurde es den Nationalsozialisten zu nackt und zu bunt. So erließen sie 1932 den Zwickelerlass, der genau vorschrieb, wie man sich zu kleiden hatte. Öffentliches Nacktbaden war verboten. Erst die DDR-Bürger machten sich entlang der Ostseeküste wieder frei.
Die heutige Existenz der Nackten kann nicht geleugnet werden. Sie fühlen sich an der Ostsee pudelwohl, und am liebsten spielen sie Volleyball. Das sollte niemanden davon abhalten, seinen Urlaub hier zu verbringen. Haben Sie keine Angst, die Nackten halten sich nur in bestimmten Abschnitten auf. Und wenn Sie mit ihrem kleinen Jack Russell, mit dem sie am nebenan gelegenen Hundestrand herumtollen, doch etwas näher heran müssen, dann erfasst Sie vielleicht die Joplin’sche Philosophie: Freedom ist just another word for nothing left to loose, und Sie legen die Kleider ab und stürzen sich glücklich wie nie zuvor in die Fluten. Das ist zumindest das, was sich Mecklenburg-Vorpommern im Grunde seines Herzens von Ihnen wünscht. Erwartet jedoch wird hier gar nüscht.
Ohne das FKK-Baden wäre nichts, was es ist: Der Osten wäre nicht der Osten, die Nacktbadenden wären nicht nackt, und Gerhard Hauptmanns Bestseller wären keine Bestseller gewesen. Auf seiner Lieblingsinsel Hiddensee notierte der Schriftsteller … nicht geschrieben, hätte ich nicht jahrelang auf Hiddensee die vielen schönen, oft ganz nackten Frauenkörper gesehen und das Treiben dort beobachtet.
Vorschlag: Ein beliebter FKK-Abschnitt an der Ostsee ist zum Beispiel die kilometerlange Strecke zwischen Glowe und Juliusruh auf Rügen.
Das gottlose Volk
Ich wünschte, ich hätte damals den Horrorklassiker Das Omen ganz alleine geschaut. Ich wäre nicht in die Verlegenheit geraten in größerer Runde zu fragen: Hä?? Das Blut Christi? Wo soll er das denn herbekommen? Ratlos sah man mich an, bevor ein schallendes Gelächter über mich hereinbrach. Meiner Herkunft war geschuldet, dass ich zuvor noch nie etwas vom Blut Christi gehört hatte, und dass Rotwein für mich nie eine andere Bedeutung hatte, als die eines alkoholischen Getränkes. In der Kirche war ich als Kind nur, um oben vom Turm hinunterzuspucken. Für Beerdigungen stieg ich in ein Boot, von dem aus mit dem Schlag der Seeglocke und einem letzten seemännischen Gruß Asche ins Wasser gelassen wurde. Religionsunterricht hatte ich nicht, und die Mitschüler, die konfirmiert wurden, waren Freaks. Der ostdeutsche Atheismus sorgte dafür, dass in meinen Weihnachtsliedern nur in spärlichen Ausnahmen das Wort Christkind auftauchte und ich lange Zeit dachte, der Tannenbaum wird im Winter mir zu Ehren geschmückt. Gott hieß in meiner Welt bestenfalls Neptun oder Svantevit. Der vierköpfige Svantevit war die oberste Gottheit der slawisch-stämmigen Ranen auf Rügen. Von ihm hatte ich gelesen, und Neptun hieß jede dritte hafennahe Kneipe, aber von einem Gott, der angeblich zwei Menschen mit Namen Adam und Eva erschuf, hörte ich erst sehr viel später. So wie mir geht es vielen. Die meisten Meck-Pommer sind konfessionslos. Der Missionar Jakob Walter nahm sich vor, das zu ändern. Er ließ sich bei seiner Mission, zwischen den Meck-Pommern und Gott zu vermitteln, von einer Kamera begleiten. Der große Navigator heißt dieser Dokumentarfilm, in dem eine Horde mecklenburgischer Punks lautstark verkündet: Unser Gott heißt Bier! So zog der Missionar einige Zeit später wenig erfolgreich wieder von dannen. Er kann nur darauf hoffen, dass Leute meiner Generation irgendwann nicht mehr in Situationen wie meine Omen-Situation geraten wollen und sich früher oder später eine Kinderbibel zur Hand nehmen. Das schafft uns Meck-Pommern dann auch die Grundlagen, um unter anderem Brecht-Gedichte oder religiöse Konflikte zu verstehen.
Der Künstler im Rapsfeld
Ich lernte Doris auf dem Fischland in Ahrenshoop kennen, einem der edelsten, vielleicht elitärsten Seebäder entlang der meck-pommerschen Ostseeküste, das bereits zu DDR-Zeiten seinen Millionenhügel erhielt. Auf einer Anhöhe vor der Düne am Hohen Ufer durfte sich die DDR-Schickeria ihre reetgedeckten Villen errichten, die inzwischen von dicken Sanddornhecken eingewachsen sind. Ahrenshoop, das Kaff der Kulturschaffenden.
Alles an Doris wehte im Spätsommerwind – ihr silbergraues Haar, ihr blutroter Seidenschal und selbst ihre Stimme. Vor dem Kunstkaten (eine der ältesten Galerien Norddeutschlands) sprach sie ins Telefon, als sie an mir vorüberwehte. Kunstkaten, hörte ich sie hinter mir noch mal deutlich wiederholen.
Zwei Stunden später traf ich Doris zum zweiten Mal. Ich erkannte sie an ihrer Lederjacke mit einem großen gelben Punkt vorne auf der Brust. Sie betrat das Café Buhne 12, in dem ich bereits einen Pflaumenkuchen vor mir stehen hatte, der so groß war wie ein kleiner Geschenkkarton. Platzknappheit zwang Doris an meinen Tisch. Sie erzählte, dass sie aus Dortmund stamme und einmal im Jahr mit ihrer Freundin Ute nach Ahrenshoop käme, wegen der Inspiration. Und ich sagte: Oh. Doris erzählte weiter, dass Ute mehr so Landschaftsmalerin sei und sie mehr so fürs Porträt und dass man hier in Ahrenshoop die Möchtegernkünstler ja an ihren Schals erkenne. Ich gehe davon aus, Doris verbuchte das blutrote Ding über ihrer Schulter unter Tuch. Sie wollte von mir hören, ob ich es auch so fürchterlich fände, dass man aus der Rostocker Kunsthalle ein Autohaus machen wolle.
Davon habe ich bisher nichts mitbekommen.
Ich denke, du bist von hier!?
Ja, aber über die Kunstszene, weißt du Doris, in der Zeitung steht eher, wo ein Auto beim Einparken ein anderes beschädigt hat. Kunst, das wird hier ein bisschen stiefmütterlich behandelt. Obwohl es ja ziemlich viele …
Plötzlich hob Doris ihre grobe große Hand. Ihre Freundin, die Landschaftsmalerin, gesellte sich zu uns. Ute – Ute, ebenfalls aus Dortmund, kam ohne Tuch, ohne Schal und ohne Punkt, dafür in den Landesfarben Ultramarineblau (Poloshirt), Weiß (Hose), Gelb (das Haar blond) und Zinnoberrot (Sandalen). Ute bestellte einen Kakao mit sehr viel Sahne und öffnete mir die Augen für die Farben meines Bundeslandes (danke, Ute!). Sie schwärmte von den leuchtend gelben Rapsfeldern, den roten Mohntupfern und blauen Kornblumen darin, den dunkelgrünen Baumtunneln der Alleen, den silbernen Blättern, sie schwärmte vom Himmelblau, von dem himmlischen Blau, den schneeweißen Wolken, den schiefergrauen Steinen, von der lilafarbenen Heide, von dem dunkelroten Abendhimmel, dem Orangerot der Hagebutten, dem Nebelgrauweiß des Morgens, den schmutzig weißen Schaumkronen und dem Türkis des Meeres, dem Tiefblau des Meeres, dem Schwarz des Meeres, dem Grün des Meeres, dem Kobaltblau des Meeres, dem Braun des Meeres, dem Braun des Schwemmholzes, das sich in dem tiefgrünlichbräunlichen Seetang verfangen hat, im dunkelazurblauen Wasser. Als Doris etwas gelangweilt schnaufte, behauptete ihre Freundin: Weißt du, Doris, in Dortmund gibt es nicht eine einzige dieser Farben, nicht eine einzige, und du kannst das überhaupt nicht beurteilen, denn von Farben verstehst du nichts.
Ab ungefähr 1880 zog eine neue Generation von Malern in die Natur. In Ahrenshoop entstand die erste Künstlerkolonie. Seither lebt der Ort von seinem Künstlerruf und man muss sich vor den wehenden Schals der Maler, Komponisten, Schriftsteller und Bildhauer in acht nehmen, damit sie einem nicht ständig ins Gesicht flattern. Überall sieht man die Stipendiaten des Künstlerhauses Lukas oder wehende Dorise und unbetuchte Utes sinnierend und kräftig einatmend den Deich auf und ab wandern.
Künstler lassen sich allerorts in Mecklenburg-Vorpommern von den Farben, der Landschaft und auch von den schönen Mecklenburgern inspirieren. Während Edvard Munch an der Ostsee von einer schweren Lebenskrise gesundete, standen ihm für sein monumentales Bild Badende Männer zwei Warnemünder Badewärter Modell. Munch hatte sich in Warnemünde in einem kleinen Fischerhaus beim Lotsen Carl Nielsen eingemietet (Am Strom 53). Dort vervollständigte er unter anderem auch den Zyklus Das grüne Zimmer.
As uns Herrgott de Welt erschaffen ded, fung hei bi Meckelnborg an, und tworsten von de Ostseesid her, und makte dat eigenhännig fahrig. (Fritz Reuter)
Unsere Berühmtesten: Phillip Otto Runge und Caspar David Friedrich.
Die Jugend auf der Flucht
O mein Gott, das hier ist irreal , sagte ein Freund, als wir auf der Suche nach einer Tankstelle in einem kleinen Ort nahe Anklam landeten. Etwa das Gleiche hatte er zwei Jahre zuvor schon mal gesagt, da liefen wir zusammen durch Amsterdam. Nun befanden wir uns aber aus Versehen in Butzow. Mein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, vom Ostseebad über die Autobahn direkt nach Berlin zurückzufahren. So machen das viele, und so muss man das machen, wenn man zart besaitet ist und von blinden Fenstern und resigniert im Wind hängenden Langnese-Fahnen der Snackerias in eine tiefe Depression gestürzt werden kann. Cafés: Samstags geschlossen.
Es gibt sie, die ostdeutschen Geisterstädte, die fahlen grauen Häuser hinter verwitterten Zäunen, an denen die Übriggebliebenen mit fahlen grauen Gesichtern peu à peu zu verwittern drohen. Etwa 30 Kilometer hinter den weißen Bädervillen beginnt der Osten. Zwar ist diese Region landschaftlich durchaus reizvoll (Mecklenburgische Schweiz), aber man ahnt trotzdem, warum der Anklamer Otto Lilienthal fliegen wollte und hier seine ersten Flugversuche unternahm. Man möchte mit Farbeimern um sich werfen und die Musik laut aufdrehen. Man möchte den drei Jugendlichen an der Bushaltestelle ein Ticket nach Barcelona schenken. Aber das haben sie längst in der Tasche, für nach dem Schulabschluss. Und wenn nicht für Barcelona, dann wenigstens für Kiel, Hamburg oder Berlin. Sicher ist, wer Arbeit sucht, kann hier kaum bleiben. Im Landesinneren, zwischen den touristischen Regionen Ostsee und Seenplatte, ist beinahe niemand, dem man ein Ferienzimmer hübsch herrichten könnte, niemand, der Ostseedorsch mit Petersilienkartoffeln serviert bekommen mag, und niemand, der einen braucht, um ein Containerschiff zusammenzubasteln. Verkauft werden in Butzow und Co. Tabakwaren und Brötchen. Wer es wagt, eröffnet vielleicht ein Quellegeschäft oder hilft seinem Vater mit dem Bestellen der Felder. Hundertfünfzigtausend Menschen haben sich in den letzten Jahren buchstäblich vom Acker gemacht.
Man wählt in Mecklenburg-Vorpommern Butzow-Orte nicht als Kontrastprogramm zum stressigen Job in einer nahe gelegenen Großstadt, wie es in anderen Bundesländern üblich ist. Es gibt keine nahe gelegene Großstadt und erst recht keinen Job. Nach der Wende galt Mecklenburg-Vorpommern als jüngstes Bundesland, mittlerweile ist jung etwas, das sich vorwiegend auf die Fach- und Hochschulstädte beschränkt. Sucht man abseits derer eine Tankstelle, könnte man wie mein Freund zu der Überzeugung gelangen: In zwanzig Jahren werden diese Häuser von Hasen, Füchsen und Bussarden bewohnt. Und ich wette, die streichen wenigstens die Fassaden und pflanzen bunte Blumen.
Die Agentur MV4you möchte nicht, dass Mecklenburg-Vorpommern nur noch von Hasen und Bussarden bewohnt wird. Sie arbeitet daran, verlorene Landeskinder zurückzuholen, indem sie ihnen Stellen, zumeist für hoch qualifizierte Kräfte, zu vermitteln versucht. Nur hat die Praxis gezeigt, dass die Vermittlung eines Rückkehrers im Schnitt über 6000 Euro kostet. Ein ehrenwertes Projekt, in der Durchführung leider etwas zweifelhaft.
Und so sitzen die drei Jugendlichen in ihren Bushaltestellen, denken Fucking Ånklåm und warten auf den Tag, da ein Bus kommt, um sie nach Barcelona zu bringen. Wer schwanger wird, hat Glück gehabt, der Rest muss leider gehen.
Achtung! Anklam und Demmin sind keine Weizensorten. Diese Information kann bares Geld wert sein, denn hätte sich der Wer-wird-Millionär-Kandidat bei Günther Jauch statt für Weizensorten für Hansestädte entschieden, wäre er jetzt um mindestens 15 500 Euro reicher.
Arm, aber sexy
Don’t tell me something, sagte ich zu dem amerikanischen Austauschschüler, der Mitte der Neunziger erzählte, er habe gehört, da, wo er jetzt hinginge (Mecklenburg-Vorpommern), gebe es kein elektrisches Licht. Als dein gesamter Kontinent entdeckt wurde, erklärte ich, war diese Stadt schon fast dreihundert Jahre alt, aber von Geschichte, da versteht ihr ja nichts. Also don’t tell me something about electric lights! (Und: NO, dear Americans, Warnemuende is NOT the harbor of Berlin!)
Wäre Mecklenburg-Vorpommern wenigstens sexy, stöhnt der Einwohner, dessen Region mangels Industrie traditionell zu den Ärmeren der Republik zählt. Wird wie beispielsweise 2008 im Spiegel eine farbliche Statistik der Topverdiener erstellt, erscheint die Deutschlandkarte schön bunt, leuchtet hier gelb, dort lila, mittendrin orange und oben rechts in der Ecke, da bleibt alles blütenweiß.
Der Meck-Pommer sieht den Wald jedoch vor lauter Bäumen nicht, denn Mecklenburg-Vorpommern besitzt nicht nur eine funktionierende Elektrik, sondern ist auch durchaus sexy. Inmitten der hügeligen Landschaft hat offenbar noch ein alter verfallender mecklenburgischer Kuhstall Ausstrahlung und Anziehungskraft genug, um ein Brüderpaar zu bezirzen. In dem Fall die Hamburger Laufschuh-Experten-Brüder Lunge. Flirten auch alle anderen mit Asien, die Lunges zieht es in den Düssiner Kuhstall of Mecklenburg-Western Pomerania, um qualitativ hochwertige Laufschuhe herzustellen. Kaum eine Schuhfabrik produziert noch in Deutschland, aber die Lunges entschieden sich für den Standort Mecklenburg-Vorpommern. Gleiches taten in der Vergangenheit zunehmend Telefonfirmen und Callcenter, weil in kaum einem anderen Teil Deutschlands so sexy hochdeutsch sprechende Stimmen durch die weltweit modernste Telekommunikationsinfrastruktur geschickt werden können.
Neben Stimme und Ausstrahlung gehören zum festen Fundament des Sexappeals bekanntlich noch Erfolg und Köpfchen. Beides ist selbstverständlich hier vorhanden. In Mecklenburg-Vorpommern formiert sich derzeit eines der größten Netzwerke der Biomedizin und Biotechnologie: das BioCon Valley. Über siebzig Unternehmen dieser Branche haben sich inzwischen in Mecklenburg-Vorpommern angesiedelt. Was sie dort tun, wird die Welt voraussichtlich in wenigen Jahren erfahren. Ein anderes Netzwerk, bestehend aus Wissenschaftlern, Pflanzenzüchtern, Medizinern, Bauern, Lebensmittelherstellern und Verfahrenstechnikern, braucht nur eine einzige Pflanze zum Erfolg: die blaue Lupine. Bislang nur als Tierfutter genutzt, soll sie schon bald weltweit von sich reden machen. Zum Soja des Nordens soll sich die attraktive blaue Dame mausern und die Wurst knackig machen.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass hier trotz zum Teil einer absurd hohen Arbeitslosenquote (27 Prozent) erfolgreich und mit Köpfchen gearbeitet wird. Der Ruf der Hochschulen ist ausgezeichnet. So wurde unter anderem an der Stralsunder Fachhochschule, als seinerzeit (WS 2000/2001) einzigartig, der duale Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen erfolgreich eingeführt und mit dem Bildungspreis in der Kategorie Hochschule prämiert. Im Winter wird an der Hochschule studiert, im Sommer werden gewonnene Kenntnisse in den Unternehmen praktisch umgesetzt. Das führt unweigerlich zu einer ungeheueren Attraktivität für erfolgsorientierte BWL-Studenten. Und wie sie dann mit ihren gelben Helmen und der dunkelblauen Arbeitskleidung im Sommer das Areal der Stralsunder Volkswerft durchstreifen – sexy!
Dabei will Mecklenburg-Vorpommern gar nicht sexy sein, sondern, laut Aussage der damaligen Finanzministerin in der Financial Times, einfach nur stinknormal.
Der Nazi überall
Also ich habe in Mecklenburg-Vorpommern noch keinen Nazi gesehen, habe ich früher steif und fest behauptet, wenn man mich mit dem Ruf der Fremdenfeindlichkeit meines Bundeslandes konfrontierte, was besonders oft 1992 nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen passierte. Ehrlich, schwor ich, ich kenne bei uns nur Zecken. Und Gothic-Typen. Und Rocker. Aber keine Nazis. Die sind doch alle in Sachsen-Anhalt.
Ich erkannte die Nazis nicht, weil nicht alle Nazis Glatzen haben und eine grobe Gestalt. Und weil sie sich nicht alle auf meinem Stralsunder Gymnasium tummelten und erst recht nicht in meiner Zecken-Kneipe Speicher.
Mancherorts in Mecklenburg-Vorpommern erhält die NPD 30 Prozent Wählerstimmen, nicht nur von Kahlköpfigen, sondern vor allem auch vom meck-pommer-schen Protestwähler, der seiner Meinung nach kaum noch etwas zu verlieren hat. Alles den Bach runtergegangen nach der Wende. Enttäuscht, belogen, verarscht. So fühlen sich viele auf dem Land, da, wo niemand Ost half aufzubauen. Wie ich damals gehen einige Meck-Pommer durch die Straßen und sagen: Ist natürlich doof, dass hier so viele NPD wählen, aber Nazis gibt es hier eigentlich nicht. Hier gibt’s nur ein paar Fidschies. Rassistisch? Nein, das bin ich nicht. Rassistisch nicht unbedingt, aber sehr unbedacht, auch in dieser Hinsicht ungebildet. Ich kann mich nur an einen einzigen Ausländer an meiner Schule erinnern, einen Halbgriechen in der Klasse unter mir. Ansonsten hatte ich bis zu meinem Weggang aus Mecklenburg-Vorpommern keinen Kontakt zu Menschen anderer Herkunft. Ich kannte die Russen vom Hörensagen (die tauschen Wodka gegen Fisch) und den einen Farbigen vom Sehen (begleitet mit dem Spruch: Kuck mal, Afrika kann ja gar nicht so weit weg sein).
Es gibt auch in der heutigen Zeit nur wenig Kontakt zu Ausländern. Die Fidschies verkaufen billige Lederhandschuhe, und nun kommen die Polen und putzen zu billig. Die Vorbehalte, aber auch die Gleichgültigkeit den Ausländern gegenüber ist sehr hoch. Das wiederum macht keinesfalls aus jedem Meck-Pommer einen Nazi, keinesfalls, und dennoch hat es die NPD in den Landtag geschafft und hat nur einen Sitz weniger als die FDP (Wahl 2006).
Laut Landestourismusverband kämen jährlich etwa vierhunderttausend Menschen mehr zu Besuch nach Mecklenburg-Vorpommern, wenn der Naziruf nicht dem Ruf der Schönheit des Landes vorauseilen würde.
Platt wie eine Flunder
Ich mag an Schleswig Holstein sehr, dass es so schön platt ist.
Wie bitte?, fragt man mich.
Ich mag, dass es so schön flach ist.
Aber bei dir in Mecklenburg-Vorpommern ist es doch auch schön flach.
Neeeehhhiiin, widerspreche ich inbrünstig. Das ist absolut hügelig.
Mecklenburg-Vorpommern ist wellig, nicht nur auf dem Wasser, sondern auch zu Land. Eine eiszeitlich modellierte Landschaft, in der es wie in einer Berg- und Talbahn für Achtjährige auf und ab geht. Mecklenburg-Vorpommern hat eine ganz buckelige Mitte, eine Mecklenburgische Schweiz nördlich der Seenplatte und die Helpter Berge, eine Hügelkette mit einer höchsten Erhebung von 179 Metern – immerhin.
Ich bleibe dabei, dass es in Mecklenburg-Vorpommern Berge gibt. Auch wenn ich mit dieser Behauptung schon Kinder zum Weinen gebracht habe. Siebenjährig hatte ich den Kindern sächsischen Besuchs versprochen, dass wir in die Berge zum Rodeln fahren würden. Eine für die Sachsenkinder aufregende Nacht lag zwischen meinem Versprechen und dem gemeinsamen Aufbruch zum Schlittenfahren. Die kleinen Sachsen konnten kaum schlafen, und auch ich freute mich auf die steile Abfahrt. Am nächsten Morgen fuhren wir ins 24 Kilometer entfernte Franzburg, in die dortigen Hellberge einer Endmoränen- und Sanderlandschaft, in der die Eismassen der letzten großen Kälteperiode Sand und Gestein bis zu 30 Meter hoch aufgetürmt haben. Ich jodelte von ganz oben ins Tal hinunter. Jauchzend rodelte ich das Gebirge hinab, während die kleinen Sachsen am Rand standen und heulten.
Die hat gesogt, mir rodeln in den Berschen. Mir wollen in die Bersche.
Und meine Eltern behaupteten: Aber es gibt hier keine Berge, nirgends.