Vorwort: Wir sind ganz oben!

Im Alter von sechs Jahren war ich ziemlich sicher, gemeinsam mit meinem Sandkastenfreund Krischi nach Hiddensee auszuwandern, sobald wir nur das Geld für zwei Fahrkarten zusammenhätten. Ich wollte dort Sanddornpflückerin werden, Krischi Bernsteinjäger. Die Farbe Orange hatte es uns offensichtlich angetan, denn wenn Hiddensee eine Farbe oder ein Geschmack wäre, dann sanddornartig. Wir stellten uns vor, in einem der weiß leuchtenden Reetdachhäuser zu wohnen, die aus der Ferne wie ins Gras geworfene Perlen aussahen.

Doch unsere Zukunftsvisionen verblassten, je älter wir wurden. Plötzlich hockten wir in nirvanaesken Kordhosen und Holzfällerhemden im Goldenen Anker unter Bojen- und Fischernetzdeko, warfen Geld in die Jukebox, die abwechselnd Junge komm bald wieder, Nachts auf der Reeperbahn und Für mich soll’s rote Rosen regnen dudelte, tranken Störtebeker Starkbier oder Stralsunder Pils und konnten es kaum erwarten, möglichst bald möglichst weit weg von hier zu kommen, wo man von einer roten Stadtmauer aus Backstein umgeben war und jeder, aber auch jeder Schulausflug ins hiesige Meeresmuseum oder das etwas weiter entfernte Kernkraftwerk Greifswald/Lubmin führte.

Als wir dann schließlich in Städten wohnten, die doppelt und dreifach so viel Einwohner hatten wie unser gesamtes Bundesland, da sehnten wir uns zurück nach Sanddorn und Bernstein und Backstein und vielleicht auch unter das große Walgerippe, das an der Decke des Meereskundemuseums baumelt und etlichen Stralsundern noch heute das Gefühl gibt, im Besitz von etwas ganz Besonderem zu sein.

Den Fischgestank wird man wohl nicht los, kommentierte mein Dozent Uwe Johnson in den Jahrestagen. Obwohl der Anklamer Johnson bereits in Amerika lebte, ließ er seine Protagonistin sagen: Das Fischland ist das schönste Land der Welt. Das Schönste am schönsten Land der Welt ist und bleibt der Fischgestank. Tatsächlich lag gleich hinter dem Schulhof meiner Grundschule der Hafen, und im Hafen standen große Räucheröfen, deren Qualm herüberzog und im Pionierhalstuch und in den gespendeten Zelten für Nicaragua hängen blieb. Wenn ich nach Hause kam, säuberte mein Großvater Barsche oder Aale und hängte sie in den eigenen Räucherschuppen, und am Abend kamen die Nachbarn und brachten Rollmops oder Flundern, und niemand hätte sich je vorstellen können, dass anderen Menschen Bananen oder Kiwis oder Ketchup irgendwas bedeuten könnten.

Und die Ruhe, wie einem die Ruhe fehlen kann, wenn man Mecklenburg-Vorpommern verlässt. Sicher ist es kein Zufall, dass sich Menschen wie der dänische Stummfilmstar Asta Nielsen oder Angela Merkel (die schon mit den Worten Ich schätze das Schweigen zitiert worden ist) bei uns pudelwohl fühl(t)en. In der Ruhe liegt Kraft. Schon das vorpommersche Kind merkt schnell, dass Sprechen weder dazu da ist, eine gesellige Runde akustisch zu untermalen, noch um unnötige Informationen weiterzugeben. Plaudern und schwatzen sind Worte, die dort oben bis heute nicht zum aktiven Wortschatz zählen. Ich habe sie zum ersten Mal gehört, als ich zwanzig Jahre alt war. Ihr Klang hatte in meinen Ohren etwas Unanständiges.

Sollte ein Fremder in Mecklenburg-Vorpommern auf die Idee kommen, jemanden anzusprechen, zum Beispiel eine Verkäuferin hinter der Theke des Rügenbacks, in etwa so: Ich hätte gern ein Roggenbrot oder etwas mit Sonnenblumen. Haben Sie so was da?, wird die Bäckerin dem Fremden stumm etwas einpacken und ebenso stumm den Preis in ihre Kasse tippen. Hat sie nichts dergleichen vorrätig, wird sie keine Alternative vorschlagen, sondern antworten: Nee.

Ich war verwundert und zutiefst verunsichert, als ich in Leipzig ankam und fortan ein Redeschwall auf mich einprasselte, wenn ich nur ein Stück Kuchen kaufen wollte. Ich hatte das Gefühl, alle quatschen mich zu und bringen mich ständig in den Zugzwang, etwas sagen zu müssen, aber niemand hatte mir beigebracht, was man erwidert, wenn ein bisschen geplaudert wird. Plaudern auf mecklenburgisch geht nämlich so:

In den Himmel blickend: Klärchen (Sonne) lässt sich wohl nicht mehr blicken.

Schulterzuckend:.

Schulterzuckend: Wat soll’s!?

Vom Redepartner wegdrehend: Wird schon wieder kommen, wenn se wat will.

Ebenfalls umdrehend: Jo.

(Ungekürzt.)

Aber weil sich in Mecklenburg-Vorpommern, entgegen allen Vorurteilen, die Dinge doch verändern, wenn auch, zugegeben, etwas langsamer, haben einige Dienstleister begriffen, dass eine kleine Unterhaltung mit dem Kunden durchaus verkaufsfördernd wirken kann. Dabei verzichtet der Meck-Pommer auf Lug und Trug, redet nicht lang um den heißen Brei herum, sondern ist kompromisslos ehrlich. Wenn mir unter einem der grünen Wernesgrüner-Sonnenschirme auf dem Alten Markt in Stralsund die Bedienung auf meinen Hinweis, dass der Milchkaffee irgendwie seltsam schmeckt, antwortet: Ja, ich habe auch schon eine Minute daran gerochen. Die Milch ist eben schon ewig auf, ich habe auch probiert, war mir aber nicht sicher oder wenn einem in einem Rostocker Café nach Bestellung eines Glas Leitungswassers ein Brief vom Chef vor die Nase gehalten wird, in dem es heißt: Gehen Sie nach Hause, stellen Sie die Heizung ab, drehen Sie die Glühbirnen raus und entnehmen Sie Ihr Getränk der Regentonne. Dann haben Sie alles umsonst und belasten nicht unsere Wirtschaft mit Ihrer Einstellung, dann frage ich mich schon, wie solche doch brutal offenen Äußerungen wohl auf den unvorbereiteten Touristen wirken. Wird er Mecklenburg-Vorpommern für unwirtlich halten, nur weil jemand ehrlich ist?

Aber was zählt ein Milchkaffee oder ein Glas Wasser, wo Wildgänse und Kraniche geräuschvoll über leuchtend gelbe Rapsfelder hinwegfliegen, wo sich Emmas (so heißen laut Tucholsky alle Möwen) in die See stürzen, wo man in gastronomischen Einrichtungen ein spannendes Crossover aus maritimem Chic mit spanischen oder französischen Elementen und sozialistischen Kunstblumen erwarten darf? Was zählt ein unvereistes Eis, wenn man aus einer ihresgleichen nicht findenden Bandbreite an Sanddornprodukten wählen kann? Ein unvereistes Eis ist im Vergleich zu Ostsee satt und dem bis 1647 vierthöchsten Kirchturm (Marienkirche Stralsund) der Welt nichts, aber auch gar nichts wert. Alte Hansestädte mit Seefahrercharme, der mancherorts in Mecklenburg-Vorpommern fälschlicherweise mit Ostcharme verwechselt wird, brauchen kein unvereistes Eis. Kulinarisch ist man hier sowieso etwas weniger anspruchsvoll.

Als ich zum fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter für die Verwandtschaft ein französisches Menü kochen wollte, bekniete sie mich verzweifelt, es sein zu lassen. Versau es mir bitte nicht! Du weißt doch, dass sie nur Fisch- und Käsebrötchen und Bockwurst wollen. Wir machen das nun mal immer so!

Ja, keine Extrawürschte, für niemanden. So machen wir’s immer. Als 1991 Angela Merkel meinen Bruder, der sich gerade in der Kochausbildung befand, fragte, ob sie sich zwei Bockwürste vom Büfett einpacken dürfe, antwortete er: Aber nur zwei, die anderen sind für Ines’ Hund . Angela wagte keinen Widerspruch und packte sich für den steinigen Weg, der zweifelsohne vor ihr lag, zwei Bockwürste in Alufolie. Als Dank für die Güte meines Bruders schleppt sie noch heute regelmäßig hohen Besuch ins Land, der auch nicht mit einem französischen Menü, sondern mit Spanferkel oder Zander, dem bestenfalls eine Zitrone im Maul steckt, verköstigt wird. Bodenständigkeit nennt man das. Authentizität. Auch die Bundeskanzlerin weiß, wenn Mecklenburg-Vorpommern einen erst mal am Wickel hat, lässt es einen nicht mehr los, dann gerät man schnell in die Versuchung zu behaupten, das Fischland wäre das schönste Land der Welt. Nicht dem Stress allzu vieler Konventionen unterworfen zu sein macht Mecklenburg-Vorpommern zu einer ungemein entspannten Region, in der man den Blick für Wesentliches, zum Beispiel die Natur, behält. Als sich die Medien weltweit fragten, ob der Zaun, der zum G-8-Gipfel um das älteste deutsche Seebad Heiligendamm herum errichtet wurde, die Sicherheit der Politiker garantieren kann, versicherte die mecklenburgische Polizei der Presse: Wenn ein Hase davor hoppelt, merken wir das.

Mecklenburg-Vorpommern, gekrönt mit dem Werbeslogan MV tut gut, gehört mittlerweile nicht mehr nur bei amerikanischen Präsidenten und G8-Gegnern zu den beliebtesten Zielen im Land. Was genau an Mecklenburg-Vorpommern guttut, lässt sich pauschal nicht sagen. Es ist für jeden etwas anderes, und jeder muss es selbst herausfinden. Der eine knattert mit seinem Motorrad über das Kopfsteinpflaster der uralten Kastanienalleen, während sich ein anderer das Kopfstein per Kutsche gibt. Einer stellt sich in den Wind, der am Pommesstand des Kreidefelsens weht, und der andere setzt sich in die gemütliche Teeschale in Prerow auf dem Darß und futtert selbst gebackenen Rhabarberkuchen. In diesem Sinne ist es ganz und gar ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Schon Bismarck meinte: Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Mecklenburg, denn da geht sie fünfzig Jahre später unter. Die Uhren an den Kirchtürmen, Juweliergeschäften und Sparkassen ticken hier anders. Ümmer mit de Rauh mien Schieter, pflegte man mir auf Nachfragen jeglicher Art zu antworten. Schieter, also Scheißer, werden in Vorpommern all die genannt, die einem besonders am Herzen liegen – Das lässt tief blicken, findet meine Freundin. Wegen der anders tickenden Uhren, sollte sich der gemeine Tourist auch nicht wundern, wenn er einen ganzen Tag auf einem leeren Amt verbringt, um eine Touristenangelerlaubnis zu bekommen. Dabei sollte er sich stattdessen bewusst machen, dass es von Mecklenburg-Vorpommern sehr fortschrittlich ist, auch Menschen ohne eine bestandene Fischereiprüfung das Angeln zu erlauben. Und spätestens wenn dann die Billigangel im Sund hängt und man darauf wartet, dass ein Hecht anbeißt, erkennt man, dass Warten hier System hat. Man wartet, und es tut gut, weil man weiß, irgendwann wird schon irgendwie irgendwas klappen.

Als ich es geschafft hatte, dem platten Land zu entkommen, dachte ich, ich würde fünfzig Jahre nicht mehr nach Mecklenburg gehen. Aber allein wegen des orangefarbenen Hiddensees dauerte es nicht mal fünf Monate, bis ich wieder vor der Tür stand. Der Fischgestank klebt an mir wie eine Lederhose am Bayern oder eine Maultasche am Schwaben.

Mecklenburg-Vorpommern besteht nicht nur aus Zeltplätzen, auf denen Randalierer ihr Unwesen treiben und sich mit Wernesgrüner besaufen. Nicht alle Meck-Pommer sind kahlköpfige Nazis, deren Mütter in Kittelschürze am Gartentor stehen. So will es nur das ein oder andere Klischee. Und in Mecklenburg-Vorpommern, liebe Otterndorfer Lyonsclubmitglieder, die ihr mich einst eingeladen und ausgefragt habt, spricht man auch kein Sächsisch. Mecklenburg-Vorpommern ist nicht nur eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Künstler, sondern auch Muse vieler Vorurteile. Doch, ich bin schon überrascht von den Vorstellungen über Mecklenburg und Vorpommern, die mir immer wieder in absurden Fragen und auch Feststellungen begegnen.

Wow! Leute! Von der Schweiz nach McPom umziehen, das ist so, als wenn man von Monaco in den Kosovo zieht. Alle Achtung – da muss man schon missionarisch drauf sein, oder? Gruß, Brande (Internetforum).

Mir scheint mein Bundesland für andere ein einziges Rätsel zu sein. Wo fahren die denn hin, wenn sie mal shoppen wollen? Es gibt ja nur eine Großstadt. Warum heißt das Bier Störtebeker, und wer war Wallenstein? Warum soll man nach Hiddensee, wenn es Sylt gibt? Wo trifft sich Merkel mit ihren mächtigen Männern zum Spanferkelessen? Warum sieht es beim Kreidefelsen nicht so aus wie auf dem Caspar-David-Friedrich-Gemälde? Was ist der Unterschied zwischen Mecklenburgern und Vorpommern? Sagt man Meecklenburg, Mäcklenburg, StralSund, Strahlsund oder Roschtock?

Roschtock, sagt meine Oma. Ausschreitungen in Roschtock. Sei froh, dass du nicht mehr hier bist. Hier ist was los! In der Tat scheint seit meinem Weggang vor zehn Jahren in Mecklenburg-Vorpommern eine Aufregung nach der anderen durchs Land zu ziehen. Ein jeder kommt hierher. Dagmar Frederik und George W. Bush geben sich die Klinke in die Hand. Und ich bin nicht mehr dabei. Ich sitze in einer großen Stadt und falle auf das arrogante Augenrollen meiner Freunde und Feinde herein, wenn ich meine Herkunft erwähne. Dann roll ich mit den Augen mit, obwohl ich es besser wissen müsste. Denn in Mecklenburg-Vorpommern muss man doch nur wissen, den Blick dahin zu richten, wo die Natur schön genug und das Verhalten der Menschen skurril genug ist. Schönheit und Skurrilität liegen immer im Auge des Betrachters. Also mich wundert’s nicht, wenn Stralsunder den Real Allkauf und die Weiland-Buchhandlung Goethe-Buchhandlung nennen. Ich weiß, dass zehn Jahre knapp bemessen sind, um sich an einen neuen Namen zu gewöhnen. Hingegen selbst mich irritiert, wenn ich noch immer das Wort Flachstrecke für Kommode oder Sideboard höre, dessen Verfallsdatum schon deutlich länger abgelaufen sein dürfte.

Ich glaube, es hat noch niemand so recht verstanden, dass in Zukunft hier die Musik spielen wird. Denn gegen die Natur kommt keiner an. In den hektischen Zeiten, die vor uns liegen – fünf Minuten mit dem Handy zu telefonieren schüttet so viel Stresshormone aus wie ein fünfzehnminütiger Streit –, werden sich die G8 und andere schon bald zurück in die Mecklenburger Landschaft und die Seebäder Vorpommerns sehnen.

Und trotzdem habe ich meine Sanddornpflückerkarriere an den Nagel gehängt, bevor sie wirklich begonnen hat, und Krischi jagt anstatt Bernstein vorerst rauchende Schüler auf einem niedersächsischen Schulhof. Wir tun so, als machten wir alles richtig. Sprechen wir über Stralsund, können wir nicht oft genug betonen, wie froh wir sind, dort nicht mehr zu wohnen. Da kommt ja keiner in die Pötte. Ihr Dilemma ist die Unflexibilität. Und es ist nichts, absolut nichts los da oben. Wir wissen, dass wir lügen. Die Leute haben neuerdings Scharfschützen in ihren Wohnzimmern, verschweißte Briefkästen, müssen ihr Grundstück für Zaun-aufstellen-Üben hergeben, rufen bei toten Vögeln gleich das BKA an, vermieten – nahezu jeder tut das – im Sommer eines ihrer Betten an Sachsen oder Saarländer oder irgendwas anderes. Und meine Nachbarin ist davon überzeugt, dass sie eines Tages die deutschen Saunameisterschaften, die alljährlich in Stralsund ausgetragen werden, gewinnen wird. Und wenn sie diesen Titel erst einmal ausgesessen hat, dann ist der Beweis erbracht, dass da oben nun wirklich alles möglich ist.