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Der Mann im grauen Flanell

Über den Roman von Sloan Wilson

Ein klassischer Schauplatz der Literatur, eine kleine Welt, so beruhigend wie das kaiserliche St. Petersburg oder das viktorianische London, ist das vorstädtische Connecticut der fünfziger Jahre. Schließt man die Augen, sieht man Herbstlaub über stille Straßen wehen, sieht man Pendler mit Filzhut, die über die Bahnsteige der New-Haven-Linie strömen, hört man die ersten abendlichen Martinigläser klirren, und dann, nach Mitternacht, hört man die hässlichen Kräche und riecht den verzweifelten oder zweiflerischen Sex.

Die Annehmlichkeiten wie auch die Frustrationen dieser kleinen Welt finden sich in Der Mann im grauen Flanell. Der Roman, Sloan Wilsons erster, erschien 1955. Er verkaufte sich extrem gut und wurde bald verfilmt, mit Gregory Peck in der Hauptrolle, doch in den Jahrzehnten seither war er nicht mehr lieferbar. Heute erinnert man sich an ihn vor allem wegen seines Titels, der zusammen mit David Riesmans Die einsame Masse und William H. Whytes Herr und Opfer der Organisation zu einem Schlagwort für den Konformismus der fünfziger Jahre wurde.

Vielleicht verurteilen Sie diesen Konformismus ja, vielleicht haben Sie eine heimliche Sehnsucht danach. Wie auch immer, Der Mann im grauen Flanell liefert Ihnen die pure Fifties-Dosis. Die Hauptfiguren, Tom und Betsy Rath, sind ein attraktives WASP-Paar, das sich in traditioneller Arbeitsteilung eingerichtet hat; Betsy bleibt zu Hause bei den drei Kindern, Tom pendelt zu einem schrecklich faden Job nach Manhattan. Die Raths fügen sich ein, aber nicht gern. Betsy schimpft auf die Ödnis ihrer Straße, sie träumt davon, ihren streberhaften Nachbarn (die ebenfalls unzufrieden sind) zu entfliehen, sie ist alles andere als eine Supermutti. Als eine ihrer Töchter eine Wand mit einem Tintenfässchen verunstaltet, haut Betsy ihr erst eine runter und legt sich dann mit ihr ins Bett; am Abend findet Tom sie «eng umschlungen», beider Gesichter mit Tinte verschmiert.

Wie Betsy wird auch Tom durch seine Schwächen sympathisch. «Der Mann im grauen Flanell» ist für ihn ein Objekt von Furcht und Verachtung, und doch sucht er, da sein Leben als Brotverdiener in vorstädtischer Häuslichkeit sich so radikal von seinem Leben als Fallschirmspringer im Zweiten Weltkrieg unterscheidet, bewusst Zuflucht in grauem Flanell. Als er sich um eine lukrative neue PR-Stelle bei der United Broadcasting Corporation bewirbt, erfährt er, dass der Vorstandsvorsitzende der Firma, Hopkins, ein nationales Komitee für psychische Gesundheit plant. Ob Tom sich für psychische Gesundheit interessiert?

«Allerdings!», sagte Tom energisch. «Für psychische Gesundheit habe ich mich schon immer interessiert!» Das klang ein wenig töricht, aber ihm fiel nichts ein, womit er es retten konnte.

Konformismus ist die Droge, mit der Tom hofft, seine eigenen Probleme mit der psychischen Gesundheit zu kurieren. Obwohl von Natur aus ehrlich, versucht er alles, um sich als Zyniker zu geben. «Mein ganzer Lebenszweck ist es, im Dienst der psychischen Gesundheit zu arbeiten», scherzt er eines Abends mit Betsy. «Ich selbst bin völlig unwichtig. Ich bin ein aufopferungsvoller Mensch.» Als Betsy ihn wegen seines Zynismus schilt und sagt, er solle nicht für Hopkins arbeiten, wenn er ihn nicht möge, antwortet Tom: «Ich mag ihn. Ich bewundere ihn. Mein Herz gehört ihm.»

Im moralischen und emotionalen Zentrum von Der Mann im grauen Flanell steht Toms mehr als vierjähriger Militärdienst. Ob er nun feindliche Soldaten umbrachte oder sich in ein verwaistes italienisches Mädchen verliebte, als Soldat empfand Tom Rath sein Leben als sehr intensiv. Seine Kriegserinnerungen bilden nun einen schmerzlichen Kontrast zu dem «angespannten und hektischen» Friedensleben, in dem, wie Betsy klagt, «nichts mehr besonders Spaß macht». Vielleicht ist Tom durch seine Kampfeinsätze traumatisiert, vielleicht sehnt er sich aber gerade nach der Atmosphäre von Aufregung und mannhaftem Tun, die ihm nach dem Krieg verlorengegangen ist. In jedem Fall zieht er Betsys Vorwürfe auf sich: «Seit du wieder da bist», sagt sie, «willst du eigentlich nicht mehr viel. Du arbeitest hart, aber im Grunde versuchst du es gar nicht richtig.»

Tom Rath steckt tatsächlich in einer Klemme des Konsumzeitalters. Bei drei Kindern, die er zu versorgen hat, wagt er sich nicht auf den Weg von Anomie, Ironie und Entropie, den Beat-Weg, den Kerouac propagierte und dem Pynchon folgte. Doch die Tretmühle des Konsumismus, das bequeme Konzept, die Waren zu begehren, die jeder andere auch begehrt, scheint kaum weniger gefährlich. Tom sieht durchaus, dass er, wenn er in die hedonistische Tretmühle steigt, tatsächlich zum Mann im grauen Flanell wird und mechanisch noch höheren Gehältern nachjagt, um sich «ein teureres Haus und einen besseren Gin» leisten zu können. Und so schwanken Stimmung und Tonfall in der ersten Hälfte des Romans, wo er sich zwischen gleichermaßen unattraktiven Alternativen windet, heftig zwischen Müdigkeit, Wut und Angeberei, zwischen Zynismus, Verzagtheit und prinzipientreuer Entschlossenheit, und Betsy, die überhaupt nicht erkennt, warum ihr Mann unglücklich ist, schwankt mit ihm mit.

Die erste Hälfte des Buchs ist die sehr viel bessere. Die Raths sind reizvoll, eben weil viele ihrer Ansichten es nicht sind. Und die Nebenfiguren vom Anfang sind, als wollten sie die Sprunghaftigkeit der Raths spiegeln, häufig komisch und faszinierend; da ist der Personalchef, der sich hinter seinem Schreibtisch flach auf den Boden legt, der Arzt auf Hausbesuch, der Kinder hasst, die kurzzeitig eingestellte Haushälterin, die die kleinen Racker der Raths auf Vordermann bringt. Die erste Hälfte des Buchs macht Spaß. Taucht man in Wilsons altmodische Gesellschaftsroman-Erzählweise ein, dann ist es wie eine Spritztour in einem Oldsmobile; man ist verblüfft über seinen Komfort, seine Geschwindigkeit und seine Fahrweise; vertraute Anblicke wirken frisch, wenn man sie durch seine kleinen Fenster sieht.

Die zweite Hälfte des Buchs gehört Betsy – Toms besserer Hälfte. Obwohl ihre Beziehung aus drei Jahren Schwärmerei, gefolgt von viereinhalb Jahren Lügen in Kriegszeiten und Getrenntsein, gefolgt von weiteren neun Jahren Liebe «ohne Leidenschaft» und Familienleben «ohne ein Gefühl außer Sorge» besteht, hält Betsy zu ihrem Mann. Sie legt ein Programm zur Familienoptimierung auf. Es gelingt ihr, Tom für die Lokalpolitik zu interessieren. Sie verkauft das verhasste Haus und führt ihre Familie aus dem tristen Exil in exklusivere Gegenden. Sie entscheidet sich für ein Leben des risikoreichen Vollzeit-Unternehmertums. Am wichtigsten aber ist, dass sie Tom unablässig dazu anhält, ehrlich zu sein. Die Handlung driftet folglich ganz allmählich von «Paar mit interessanten Fehlern ringt mit Fünfziger-Jahre-Konformismus» zu «Schuldbeladener Mann lässt sich passiv von großartiger Frau helfen». Zwar gibt es auf der Welt so großartige Menschen wie Betsy, allerdings taugen sie nicht zu großartigen Romanfiguren. In einem Vorwort bedankt sich Sloan Wilson überschwänglich bei der eigenen besseren Hälfte, seiner ersten Frau Elise («Viele der Gedanken, auf denen dieses Buch gründet, stammen von ihr»), sodass man sich ein wenig fragt, ob der Roman nicht eine Art Liebesbrief von Wilson an Elise ist, eine Feier seiner Ehe mit ihr, vielleicht sogar der Versuch, die eigenen Zweifel an seiner Ehe zu zerstreuen, sich selbst zur Liebe zu überreden. Jedenfalls spielt sich im weiblichen Teil des Buches etwas Dubioses ab. Und trotz der vielen Konflikte chez les Raths lässt Wilson seine Figuren nie auch nur in die Nähe der Möglichkeit wahren Unglücks gelangen.


Eine der deutlichen impliziten Aussagen von Der Mann im grauen Flanell ist, dass die Harmonie der Gesellschaft von der Harmonie jedes einzelnen Haushalts abhängt. Der Krieg hat die Vereinigten Staaten krank gemacht, indem er zwischen Männer und Frauen einen Keil trieb; der Krieg hat Millionen Männer in fremde Länder geschickt, um zu morden, dem Tod zu begegnen und mit einheimischen Mädchen zu schlafen, während Millionen amerikanischer Ehefrauen und Verlobte stillvergnügt zu Hause warteten, ihren Glauben an ein Happy End nährten und die Last der Unwissenheit schulterten, nun können nur noch Ehrlichkeit und Offenheit das Band zwischen Männern und Frauen wieder reparieren und eine angeschlagene Gesellschaft heilen. Wie Tom sagt: «Am Zustand der Welt kann ich nichts ändern, aber mein Leben kann ich in Ordnung bringen.»

Glaubt man an Liebe und Treue, Wahrheit und Gerechtigkeit, hat man am Ende von Der Mann im grauen Flanell möglicherweise Tränen in den Augen. Aber noch während einem das Herz schmilzt, ärgert man sich möglicherweise darüber, dass man dieser Regung nachgibt. Wie Frank Capra in seinen klebrigeren Filmen möchte Wilson uns glauben machen, dass ein Mann, wenn er nur wahren Mut und Ehrlichkeit zeigt, die perfekte Stelle in Fußnähe seines Hauses angeboten bekommt, der örtliche Immobilienmakler ihn nicht betrügt, der Richter am Ort immer nur Recht spricht, der unbequeme Schurke zum Teufel gejagt wird, der Industriekapitän seine Anständigkeit und seinen Bürgersinn offenbart, die Wähler der Gemeinde sich um der Kinder willen mehr Steuern auferlegen, die ehemalige Geliebte in Übersee ihre Grenzen kennt und keinen Ärger macht und die Martini-Ehe gerettet wird.

Ob man ihm das nun abkauft oder nicht, dem Roman gelingt es jedenfalls, den Geist der Fünfziger einzufangen – den unbehaglichen Konformismus, die Flucht vor Konflikten, den politischen Quietismus, den Kult der Kleinfamilie, die Annahme von Klassenprivilegien. Die Raths sind um einiges flanellgrauer, als ihnen offenbar klar wird. Was sie von ihren «langweiligen» Nachbarn unterscheidet, sind letztlich nicht ihre Leiden oder Verschrobenheiten, sondern ihre Tugenden. Auf den ersten Seiten des Buchs spielen die Raths mit Ironie und Widerstand, aber auf den letzten sammeln sie fröhlich Reichtum an. Der lächelnde Tom Rath aus Kapitel 41 wäre für den verwirrten Tom Rath aus Kapitel 1 ein Bild der Selbstgefälligkeit, ein Objekt von Furcht und Verachtung. Derweil bestreitet Betsy Rath emphatisch die Vorstellung, die Malaise der Vorstädte könnte systemische Ursachen haben. («Heutzutage verlassen sich zu viele auf Erklärungen», denkt sie, «und nicht genug auf Mut und Tat.») Tom ist nicht verwirrt und unglücklich, weil der Krieg eine moralische Anarchie schafft oder weil das Unternehmen seines Arbeitgebers aus «Seifenopern, Werbespots und quasselndem Studiopublikum besteht». Toms Probleme sind rein persönlicher Natur, so wie Betsys Aktivismus strikt lokal und häuslich ist. Auf die tieferen existenziellen Fragen, die vier Jahre Krieg (oder vier Wochen im Büro von United Broadcasting oder vier Tage Mutterschaft in einer langweiligen Straße in Westport) aufwerfen, wird verzichtet: vielleicht ein unvermeidliches Opfer der Dekade selbst.

Der Mann im grauen Flanell ist ein Buch über die Fünfziger. Die erste Hälfte lässt sich noch immer zum Vergnügen lesen, die zweite als Ausblick auf die darauffolgenden Sechziger. Schließlich vermachten die Fünfziger den Sechzigern ihren Idealismus – und ihre Wut.


(Übersetzt von Eike Schönfeld)