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Der leergefegte Himmel

Im Südosten der Republik Zypern hat der Tourismus in den vergangenen Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen. Große Hotelanlagen, spezialisiert auf Pauschalurlaube für Deutsche und Russen, stehen an Stränden mit ordentlich aufgereihten Liegestühlen und Sonnenschirmen, und das Mittelmeer leuchtet besonders blau. Man kann hier eine sehr angenehme Woche verbringen, auf neuen Straßen fahren und das gute zypriotische Bier trinken, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass die Jagd auf Singvögel in dieser Gegend so intensiv betrieben wird wie nirgendwo sonst in der Europäischen Union.

Am letzten Tag im April fuhr ich in das blühende Touristenstädtchen Protaras und traf mich mit vier Mitgliedern des Komitees gegen den Vogelmord (CABS), einer deutschen Aktionsgemeinschaft, die in den Mittelmeerländern «Vogelschutzcamps» organisiert. Hauptsaison für die Singvogeljagd auf Zypern ist der Herbst, wenn die südwärts ziehenden Vögel nach einem Sommer im Norden wohlgenährt sind. Deshalb befürchtete ich, wir würden nichts zu tun bekommen, doch schon der erste Hain, den wir betraten, an einer vielbefahrenen Straße gelegen, war voller Leimruten: geraden, etwa siebzig Zentimeter langen Stangen, die mit einem klebrigen Sirup aus syrischen Pflaumen bestrichen und als einladende Rastplätze kunstvoll an den Zweigen niedriger Bäume befestigt sind. Die CABS-Männer, angeführt von einem drahtigen jungen Italiener mit Vollbart namens Andrea Rutigliano, schwärmten aus, pflückten die Leimruten von den Bäumen, rollten sie auf der Erde hin und her, um den Klebstoff unschädlich zu machen, und zerbrachen sie. An allen Stangen klebten Federn. In einem Zitronenbaum hing ein Halsbandschnäppermännchen kopfüber von einer Leimrute, wie eine gefiederte Frucht. Der Schwanz, die Beine und die schwarzweißen Flügel waren verklebt. Der Vogel flatterte und drehte den Kopf hin und her, während Rutigliano ihn aus verschiedenen Winkeln filmte und Dino Mensi, ein älterer italienischer Helfer, ihn fotografierte. «Die Fotos sind wichtig», sagte Alex Heyd, der Geschäftsführer des Komitees, ein nüchterner Deutscher, «denn diesen Krieg gewinnt man nicht in der Natur, sondern in der Presse.»

In der prallen Sonne machten sich die beiden Italiener daran, den Schnäpper zu befreien. Vorsichtig trugen sie Seifenlauge auf, um den Klebstoff zu lösen, und verzogen schmerzhaft das Gesicht, wenn dabei eine Feder verlorenging. Besonders sorgfältig widmete sich Rutigliano den winzigen Füßen des Vogels. «Man muss alles Klebrige vollständig entfernen», sagte er. «Im ersten Jahr habe ich mal ein bisschen am Fuß eines Vogels übersehen, und als ich ihn dann fliegen ließ und er sich auf einen Zweig setzte, klebte er gleich wieder fest. Ich musste auf den Baum klettern.» Rutigliano gab mir den Schnäpper in die Hände, und als ich sie öffnete, flog er in niedriger Höhe durch den Hain davon und setzte seine Reise nach Norden fort.

Wir standen, umgeben von Verkehrslärm, zwischen Melonenfeldern, Baustellen und Hotelanlagen. David Conlin, ein stämmiger britischer Ex-Soldat, warf die zerbrochenen Leimruten in ein Gebüsch und sagte: «Es ist erschreckend – die Dinger findet man hier einfach überall.» Ich sah zu, wie Rutigliano und Mensi einen weiteren Vogel befreiten, einen wunderschönen Waldlaubsänger mit gelber Kehle. Es kam mir falsch vor, diesen Vogel, den man sonst nur mit einem guten Fernglas beobachten kann, aus nächster Nähe zu sehen. Es war geradezu enttäuschend. Ich wollte zu dem Laubsänger sagen, was Franz von Assisi beim Anblick eines gefangenen wilden Tiers gesagt haben soll: «Warum hast du dich fangen lassen?»

Als wir den Hain verließen, schlug Rutigliano vor, Heyd solle sein T-Shirt mit dem CABS-Aufdruck auf links wenden, damit wir aussahen wie gewöhnliche Touristen. Auf Zypern darf man jedes nicht eingezäunte Stück Land betreten, und jede Form der Singvogeljagd ist seit 1974 verboten, und dennoch erschien mir unser Tun ziemlich kühn und möglicherweise gefährlich. In ihrer dunklen Kleidung wirkten die Männer des Teams nicht wie Touristen, sondern wie Mitglieder eines Einsatzkommandos. Eine Zypriotin, vielleicht die Besitzerin des Hains, sah uns ausdruckslos nach, als wir auf einen Feldweg abbogen. Dann überholte uns ein Pick-up, und die Männer folgten ihm im Trab, denn sie fürchteten, der Fahrer könnte uns zuvorkommen und seine Leimruten abnehmen und verstecken.

Im Garten des Mannes entdeckten wir zwei Paar etwa sechs Meter lange Metallstangen, parallel auf Liegestühlen platziert: eine kleine Leimrutenmanufaktur, mit der ältere Zyprioten, die sich im Geschäft mit dem Vogelfang auskennen, gutes Geld verdienen können. «Er stellt die Dinger her und behält welche für sich», erklärte Rutigliano. Er und die anderen sahen sich ungeniert in den Hühner- und Kaninchenställen des Mannes um, nahmen einige leere Leimruten ab und legten sie auf die Stangen. Dann gingen wir über einen Hügel in einen mit Bewässerungsschläuchen durchzogenen Garten voller gefangener Vögel. «Questo giardino è un disastro!», sagte Mensi, der nur Italienisch sprach.

Ein Mönchsgrasmückenweibchen hatte bereits fast alle Schwanzfedern verloren. Es klebte nicht nur an beiden Füßen und Flügeln, sondern auch am Schnabel fest, den es, sobald Rutigliano ihn von der Leimrute gelöst hatte, aufriss, um lauthals zu schimpfen. Nachdem er die Grasmücke ganz von Klebstoff befreit hatte, träufelte er ihr etwas Wasser in den Rachen und setzte sie auf die Erde. Sie fiel vornüber und flatterte erbärmlich. Ihr Kopf sank zu Boden. «Sie hat so lange da gehangen, dass die Beinmuskeln überdehnt sind», sagte er. «Wir behalten sie über Nacht und lassen sie morgen fliegen.»

«Auch ohne Schwanz?», fragte ich.

«Na klar.» Er nahm den Vogel und steckte ihn in eine Außentasche seines Rucksacks. Mönchsgrasmücken sind in ganz Europa weit verbreitet. Auf Zypern gelten sie als traditionelle Delikatesse, die als ambelopoulia angeboten wird. Die zypriotischen Vogelfänger haben es hauptsächlich auf Mönchsgrasmücken abgesehen, doch der Beifang ist enorm: seltene Würger, andere Grasmückenarten, größere Vögel wie Kuckuck und Pirol, ja sogar kleinere Falken und Eulen. In diesem zweiten Garten fanden wir fünf Halsbandschnäpper, einen Haussperling, einen Grauschnäpper (früher sehr verbreitet, inzwischen in weiten Teilen Nordeuropas selten geworden) sowie drei weitere Mönchsgrasmücken. Nachdem die Männer die Vögel befreit hatten, einigten sie sich nach kurzer Diskussion auf eine Gesamtzahl von 59 Leimruten auf diesem Grundstück.

Etwas weiter landeinwärts, in einem trockenen, unkrautüberwucherten Hain mit Blick auf das blaue Meer und die goldfarbenen Doppelbogen des neuen McDonald’s, entdeckten wir eine Leimrute, an der ein lebender Vogel hing. Es war ein Sprosser, eine grau gefiederte Art, die ich erst ein Mal zuvor beobachtet hatte. Er war über und über mit Leim verschmiert und hatte sich einen Flügel gebrochen. «Der Bruch ist zwischen zwei Knochen – das verheilt nicht mehr», sagte Rutigliano, nachdem er den Flügelbug durch die Federn hindurch vorsichtig abgetastet hatte. «Wir müssen ihn leider töten.»

Vermutlich hatte der Vogelfänger am Morgen beim Einsammeln seiner Leimruten den Sprosser übersehen. Während Heyd und Conlin sich berieten, ob man am nächsten Morgen früh aufstehen und dem Fallensteller hier in einem «Hinterhalt» auflauern sollte, streichelte Rutigliano den Sprosser. «Er ist so schön», sagte er wie ein kleiner Junge. «Ich kann ihn nicht töten.»

«Was sollen wir tun?», fragte Heyd.

«Wir könnten ihn einfach laufen lassen – vielleicht stirbt er dann von allein.»

«Wohl eher nicht», sagte Heyd.

Rutigliano setzte den Vogel auf den Boden und sah zu, wie er unter einen Dornbusch huschte, eher wie eine Maus als wie ein Vogel. «Vielleicht kann er in ein paar Stunden besser laufen», sagte er, doch das war wenig realistisch.

«Soll ich es entscheiden?», fragte Heyd.

Wortlos ging Rutigliano den Hügel hinauf und verschwand. «Wo ist der Sprosser?», fragte Heyd mich.

Ich zeigte auf den Busch. Heyd griff von beiden Seiten hinein, fing den Vogel und hielt ihn vorsichtig in den Händen. Er sah Conlin und mich an. «Sind wir uns einig?», fragte er auf Deutsch.

Ich nickte, und mit einer Drehung des Handgelenks riss er dem Vogel den Kopf ab.

Die Sonne schien inzwischen über den gesamten Himmel und hatte sein Blau weiß überstrahlt. Als wir erkundeten, wo wir uns am besten auf die Lauer legen sollten, konnten wir kaum noch sagen, seit wann wir unterwegs waren. Sooft ein Zypriot in einem Wagen oder auf einem Feld zu sehen war, duckten wir uns, versteckten uns hinter Felsen oder zwischen Disteln, deren Dornen durch die Hosenbeine drangen, denn wir fürchteten, man könnte den Besitzer des Grundstücks vor uns warnen. Es ging hier nur um ein paar Singvögel, der Hügel war nicht vermint, und doch hatte die glutheiße Stille etwas Bedrohliches, als befänden wir uns in einem Krieg.

Auf Zypern ist die Vogeljagd mit Leimruten mindestens seit dem 16. Jahrhundert weit verbreitet. Für die Bauern waren die Zugvögel eine wichtige Eiweißquelle, und ältere Männer erinnern sich, dass ihre Mütter ihnen sagten, sie sollten hinausgehen und etwas zum Abendessen fangen. In den vergangenen Jahrzehnten sind Ambelopoulia für wohlhabende Stadtbewohner zu einer Art nostalgischer Delikatesse geworden – man bringt ein Glas eingelegter Singvögel als Gastgeschenk mit oder bestellt zu besonderen Gelegenheiten im Restaurant einen Teller gebratene Vögel. Mitte der neunziger Jahre, zwei Jahrzehnte nach dem Verbot der Vogeljagd, wurden bis zu zehn Millionen Singvögel pro Jahr getötet. Als die traditionelle Jagd mit Leimruten durch das Aufspannen großer Netze ergänzt wurde, um die Nachfrage der Restaurants zu decken, ging die zypriotische Regierung, die sich um die Aufnahme in die Europäische Union bemühte, streng gegen die Vogelfänger vor. 2006 war die Zahl der getöteten Vögel auf etwa eine Million gesunken.

Inzwischen ist Zypern Mitglied der Europäischen Union, und seit einigen Jahren sieht man in den Restaurants wieder Schilder, auf denen die eigentlich verbotenen Ambelopoulia angepriesen werden. Die Zahl der Fangplätze nimmt zu. Die zypriotische Jagdlobby, die die Interessen von fünfzigtausend Jägern vertritt, unterstützt in diesem Jahr zwei Vorlagen mit dem Ziel, die Gesetze gegen Wilderei aufzuweichen: Das Anbringen von Leimruten wäre dann nur noch ein Bagatelldelikt, und der Einsatz elektronischer Aufnahmen von Vogelstimmen, mit denen Vögel angelockt werden, stünde gar nicht unter Strafe. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Zyprioten die Vogeljagd zwar ablehnt, dieses Thema aber nicht für besonders wichtig hält. Und viele essen Ambelopoulia gern. Als die Schutzorganisation Cyprus Game Fund in Restaurants, die diese Spezialität anboten, Protestaktionen organisierte, war das Medienecho eindeutig negativ. Man berichtete von einer Schwangeren, der das Essen aus den Händen gerissen wurde.

«Essen ist hier etwas Heiliges», sagte Martin Hellicar, der Kampagnenmanager von BirdLife Cyprus, einer Organisation, die weniger provokant auftritt als das CABS. «Ich glaube nicht, dass jemals einer verurteilt wird, der solche Sachen isst.»

Hellicar und ich verbrachten einen Tag damit, die Gegenden im Südosten der Insel zu besichtigen, wo die Jagd mit Netzen betrieben wird. In jedem kleinen Olivenhain kann man Vogelnetze aufstellen, aber die wirklich großen Fangplätze liegen in Akazienplantagen. Diese Bäume sind auf Zypern nicht heimisch, und ihre Bewässerung lohnt sich nur, wenn man dort Vögel fangen will. Überall gibt es solche Akazienpflanzungen. Zwischen den Baumreihen werden lange Streifen aus billigem Teppichboden ausgelegt und Hunderte Meter hauchfeiner, beinahe unsichtbarer Netze gespannt, befestigt an Stangen, die meist in mit Beton ausgegossenen alten Autoreifen verankert sind; in der Nacht werden dann sehr laut Aufnahmen von Vogelstimmen abgespielt, um Zugvögel anzulocken, damit sie sich in den dichtbelaubten Akazien niederlassen. Im Morgengrauen werfen die Wilderer Händevoll kleine Kieselsteine in die Baumkronen – die Vögel stieben auf und verheddern sich in den Netzen. (Ein verräterischer Hinweis auf solche Plätze sind Steinhaufen am Wegrand.) Da die Wilderer dem Aberglauben anhängen, freigelassene Vögel verdürben den Fangplatz, dreht man allen unverkäuflichen Tieren den Hals um, oder man lässt sie in den Netzen, wo sie verenden. Ein verkäuflicher Vogel bringt bis zu fünf Euro ein, und an einem gut ausgestatteten Platz kann man an einem Tag tausend Vögel oder mehr fangen.

Am schlimmsten ist die Situation auf dem Gelände der britischen Militärbasis Dhekelia. Die Briten mögen die größten Vogelfreunde Europas sein, doch der Stützpunkt, der seine ausgedehnten Schießplätze an zypriotische Bauern verpachtet, befindet sich in einer diplomatisch heiklen Position; als das Militär einmal entschlossen gegen Wilderer vorging, zerstörten aufgebrachte Bauern zweiundzwanzig britische Hoheitszeichen. Außerhalb des Stützpunkts wird die Durchsetzung durch logistische und politische Hindernisse erschwert. Wilderer stellen nächtliche Wachtposten auf und errichten auf den jeweiligen Grundstücken kleine Hütten, denn die Mitarbeiter des Cyprus Game Fund müssen erst einen Durchsuchungsbeschluss vorweisen, bevor sie einen solchen «Wohnsitz» inspizieren dürfen, und bis sie den beibringen, können die Wilderer ihre Netze abbauen und die Lautsprecheranlagen verstecken. Die Wilderei in großem Stil wird mittlerweile von Kriminellen betrieben, und so fürchten die Vogelschützer auch gewaltsame Angriffe. «Das größte Problem ist, dass niemand, nicht mal ein Politiker, aufsteht und sagt, dass es falsch ist, Ambelopoulia zu essen», erklärte mir Pantelis Hadjigerou, der Direktor des Game Fund. Tatsächlich hat ein populärer Politiker aus Nordzypern einen Rekord aufgestellt, indem er vierundfünfzig Ambelopoulia auf einen Sitz verspeiste.

«Am besten wäre es, wenn eine bekannte Persönlichkeit öffentlich sagen würde: ‹Ich esse keine Ambelopoulia, denn das ist falsch›», sagte Clairie Papazoglou, die Direktorin von BirdLife Cyprus. «Aber es gibt hier eine Art Pakt, und der besagt, dass alles, was ein schlechtes Licht auf uns werfen könnte, unter uns bleiben muss.»

«Vor dem Eintritt in die EU», bemerkte Hellicar, «sagten die Wilderer: ‹Wir halten uns einfach eine Weile zurück.› Heute ist die Wilderei für die Achtzehn-, Neunzehnjährigen ein patriotischer Akt, mit dem sie ihre Männlichkeit beweisen. Das Wildern ist ein Symbol des Widerstands gegen den Big Brother EU.»

Was für mich nach Orwell klang, war in Wirklichkeit zypriotische Innenpolitik. Seit der türkischen Besetzung des nördlichen Teils der Insel im Jahr 1974 hat der griechisch dominierte Süden einen enormen Aufschwung genommen, doch in den Inlandsnachrichten ist das Zypernproblem noch immer das alles beherrschende Thema. «Alles andere wird unter den Teppich gekehrt, alles andere ist unwichtig», erklärte mir der zypriotische Sozialanthropologe Yiannis Papadakis. «Sie sagen: ‹Wie könnt ihr es wagen, uns für etwas so Unwichtiges wie Vögel vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen? Wir bringen die Türkei vor Gericht!› Es gab nie eine ernsthafte Debatte über den Beitritt zur EU – der wurde lediglich als ein Mittel zur Lösung der Zypernfrage betrachtet.»

Das wichtigste Instrument der Europäischen Union ist die bahnbrechende Vogelschutzrichtlinie, die 1979 in Kraft trat und die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle europäischen Vogelarten zu schützen und ausreichende Lebensräume für sie zu erhalten. Seit seinem Beitritt zur EU ist Zypern wegen Verstößen gegen diese Richtlinie wiederholt von der Europäischen Kommission verwarnt worden, doch bislang wurden weder Urteile gesprochen noch Strafen verhängt; solange die Umweltschutzgesetze eines Mitgliedstaats auf dem Papier mit der Richtlinie konformgehen, greift die Kommission nicht gern in nationale Befugnisse ein.

Zyperns nominell kommunistische Regierungspartei tritt entschieden für private Erschließungen ein. Das Tourismusministerium unterstützt Pläne für den Bau von vierzehn neuen Golfanlagen mit dazugehörigen Wohnkomplexen (bisher gibt es auf der Insel drei Golfplätze), obwohl das Land nur über sehr begrenzte Wasserressourcen verfügt. Jeder, dessen Grundstück über eine Straße zu erreichen ist, darf darauf bauen, infolgedessen ist das Land bemerkenswert zersiedelt. Ich suchte die vier bedeutendsten Naturschutzgebiete im Südosten der Insel auf, die theoretisch besonderen Schutz durch EU-Richtlinien genießen. Sie befanden sich allesamt in einem deprimierenden Zustand. Der große Trockensee bei Paralimni etwa, in dessen Nähe ich mit den CABS-Leuten auf Patrouille ging, ist eine lärmende, staubige Mulde, in der man einen illegalen Schießplatz und einen ebenso illegalen Motocross-Parcours eingerichtet hat. Überall liegen Patronenhülsen, Bauschutt, ausrangierte Haushaltsgeräte und Sperrmüll herum.

Und trotzdem kommen noch immer Vögel nach Zypern; sie haben keine andere Wahl. Auf dem Rückweg in die Stadt, als der Himmel nicht mehr blendend weiß war, hielten die Männer der CABS-Patrouille an, um eine Kappenammer zu bewundern, einen prächtigen kleinen Vogel in Gold, Schwarz und Kastanienbraun, der auf den obersten Zweigen eines Strauches saß und sang. Für einen Augenblick löste sich unsere Anspannung, und wir waren nur noch Vogelbeobachter, die ihre Begeisterung in den jeweiligen Muttersprachen zum Ausdruck brachten. «Ah, che bello!»

«Fantastic!»

«Unglaublich schön!»

Zum Abschluss des Tages wollte Rutigliano an einem Obstgarten halten, wo ein CABS-Mitarbeiter im Jahr zuvor von Vogelfängern zusammengeschlagen worden war. Als wir in unserem Mietwagen von der Straße auf den Feldweg abbogen, kam uns ein roter Pick-up entgegen, dessen Fahrer die Geste des Halsabschneidens machte. Er fuhr auf die Hauptstraße, und zwei Insassen beugten sich aus den Fenstern und zeigten uns den gereckten Mittelfinger.

Heyd, der nüchterne Deutsche, wollte gleich umkehren, doch die anderen wandten ein, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass die Männer in nächster Zeit zurückkommen würden. Wir fuhren bis zu dem Obstgarten, in dem wir vier Halsbandschnäpper und einen Waldlaubsänger fanden, der nicht mehr fliegen konnte; Rutigliano reichte ihn mir, damit ich ihn in meinem Rucksack verstaute. Als wir alle Leimruten unschädlich gemacht hatten, drängte Heyd abermals und deutlich nervöser zum Aufbruch, doch es gab einen anderen, etwas weiter entfernten Hain, den sich die beiden Italiener noch ansehen wollten. «Ich hab ein gutes Gefühl», sagte Rutigliano.

«Wie heißt es so schön: ‹Fordere dein Glück nicht heraus›», sagte Conlin.

In diesem Augenblick tauchte der rote Pick-up wieder auf und hielt fünfzig Meter entfernt mit einem Ruck. Drei Männer sprangen heraus und kamen auf uns zugerannt, wobei sie mit tennisballgroßen Steinen nach uns warfen. Ich hatte immer angenommen, es könne nicht so schwer sein, ein paar geworfenen Steinen auszuweichen, doch leicht war es nicht. Sowohl Conlin als auch Heyd wurden getroffen. Rutigliano filmte, Mensi machte Fotos, und alle riefen wild durcheinander – «Film weiter, film weiter!» «Ruf die Polizei an!» «Wie ist die Nummer?» Mit Rücksicht auf den Laubsänger in meinem Rucksack und weil ich nicht für ein CABS-Mitglied gehalten werden wollte, folgte ich Heyd, der sich über den Hügel zurückzog. In nicht ganz sicherer Entfernung blieben wir stehen und sahen, wie zwei der Männer sich auf Mensi stürzten und versuchten, ihm Rucksack und Kamera zu entreißen. Die beiden waren braungebrannt und in den Dreißigern, und sie riefen: «Warum tut ihr das? Warum macht ihr Fotos?» Mensi schrie laut, unter dem T-Shirt zeichneten sich seine Muskeln ab, und er presste die Kamera an seinen Bauch. Die Männer knöpften ihn sich vor, warfen ihn zu Boden und fielen über ihn her; es entstand ein heftiges Handgemenge. Ich konnte Rutigliano nicht sehen, erfuhr aber später, dass man ihn ins Gesicht geschlagen, zu Boden gestoßen, gegen die Beine und in die Rippen getreten hatte. Die Männer zerschmetterten seine Videokamera auf einem Stein und schlugen Mensi damit auf den Kopf. Conlin stand in beeindruckend soldatischer Haltung mitten in dem Durcheinander, hielt zwei Handys in den Händen und versuchte, die Polizei anzurufen. Hinterher erzählte er mir, er habe den Männern zugerufen, dass er sie, sollten sie ihn auch nur anrühren, vor den Kadi zerren werde.

Heyd hatte sich weiter zurückgezogen, was, wie ich fand, sehr vernünftig war. Als ich sah, dass er sich umdrehte, erbleichte und blindlings losrannte, geriet ich ebenfalls in Panik.

Wer vor einer Gefahr flieht, läuft anders als sonst: Man achtet nicht auf seine Schritte. Ich sprang über eine Mauer, rannte durch ein Feld voller Dornbüsche, stolperte in einen Graben, prallte mit dem Kinn gegen einen Draht und fand, nun sei es genug. Ich sorgte mich um den Laubsänger in meinem Rucksack. Heyd durchquerte einen großen Garten, sagte etwas zu einem mittelalten Mann und rannte dann, mit noch immer ängstlichem Gesicht, weiter. Ich ging zum Besitzer des Gartens und versuchte, ihm die Situation zu erklären, doch er sprach nur Griechisch. Besorgt und misstrauisch zugleich holte er seine Tochter, die mir auf Englisch mitteilte, dass ich mich im Garten des Bezirkschefs von Greenpeace befand. Sie bewirtete mich mit Wasser und zwei Tellern voller Kekse, bevor sie meine Geschichte ihrem Vater erzählte, der nur ein einziges wütendes Wort äußerte. «Barbaren!», übersetzte seine Tochter.

Zurück am Mietwagen, unter regenschweren Wolken, betastete Mensi vorsichtig seine Rippen und untersuchte die Schnitte und Abschürfungen an den Armen; Kamera wie Rucksack waren ihm gestohlen worden. Conlin zeigte mir die zerstörte Videokamera, und Rutigliano, der seine Brille verloren hatte und stark hinkte, gestand mir in sachlichem Fanatismus: «Ich wollte ja, dass so was passiert – nur nicht, dass es so schlimm wird.»

Ein zweites CABS-Team war eingetroffen, die Männer liefen mit grimmigen Gesichtern herum. In ihrem Wagen befand sich ein leerer Weinkarton, in den ich, gerade als neben uns ein Polizeiwagen hielt, den Waldlaubsänger setzte, der zwar verschreckt, aber eigentlich nicht sonderlich mitgenommen wirkte. Ich hätte mich angesichts seiner Rettung noch besser gefühlt, wenn ich nicht auf meinem Handy die Nachricht eines zypriotischen Freundes gesehen hätte, der unsere Verabredung zu einem heimlichen Ambelopoulia-Essen für den nächsten Abend bestätigte. Ich versuchte mir einzureden, dass ich mich wie ein guter Journalist auf das Beobachten beschränken und selbst keinen Vogel essen würde; wie ich das allerdings anstellen sollte, war mir nicht ganz klar.


Jedes Frühjahr ziehen etwa fünf Milliarden Vögel von Afrika nach Europa und Asien, um dort zu brüten, und alljährlich werden Hunderte Millionen absichtlich von Menschen getötet, hauptsächlich entlang der Vogelzugrouten über das Mittelmeer. Mit Sonargeräten und Schleppnetzen hat man das Meer leer gefischt, und der Himmel darüber wird mit extrem effektiver Technologie – nämlich elektronischen Aufnahmen von Vogelgesang – leergefegt. Dank der Vogelschutzrichtlinie sowie anderer Schutzverordnungen hat sich die Situation einiger stark gefährdeter Vogelarten seit den 1970er Jahren leicht entspannt, doch das Treiben der Jäger im Mittelmeerraum droht diese marginale Verbesserung zunichtezumachen. Zypern hat versuchsweise die Frühjahrsjagd auf Wachteln und Turteltauben eingeführt, Malta hat im April 2009 die Frühjahrsjagd erlaubt, und im Mai desselben Jahres beschloss das italienische Parlament ein Gesetz zur Verlängerung der Jagdzeit im Herbst. Während die europäischen Regierungen sich gern als Vorreiter in Sachen Umweltschutz gebärden – jedenfalls belehren sie die USA und China hinsichtlich der CO2-Emissionen, als wären sie die reinsten Musterknaben –, sind die Populationen vieler europäischer Stand- und Zugvögel in den vergangenen zehn Jahren alarmierend geschrumpft. Man muss kein Vogelbeobachter sein, um den Ruf des Kuckucks, das Kreisen der Kiebitze über den Feldern und den Gesang der Grauammer auf den Telefondrähten zu vermissen. Die durch Lebensraumverluste und intensive Landwirtschaft bereits stark belastete Vogelwelt treibt dank Jägern und Vogelfängern in erhöhtem Tempo der Ausrottung entgegen. In der Alten Welt wird der Frühling vermutlich viel eher stumm sein als in der Neuen.

Die Republik Malta besteht aus mehreren dicht bevölkerten Kalksteininseln, deren Fläche zusammengenommen etwa so groß ist wie München, und ist das vogelfeindlichste Gebiet in ganz Europa. Zwölftausend registrierte Jäger gibt es auf Malta (sie machen etwa drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus), und viele von ihnen betrachten es als ihr Geburtsrecht, zu jeder Jahreszeit und ohne Rücksicht auf den Schutzstatus jeden Vogel zu schießen, dessen Route ihn unglücklicherweise über diese Inselgruppe führt. Die Malteser schießen Bienenfresser, Wiedehopfe, Pirole, Sturmtaucher, Störche und Reiher. Sie stehen am Zaun des internationalen Flughafens und schießen zur Übung auf Schwalben. Sie schießen von Flachdächern und den Seitenstreifen vielbefahrener Straßen. Sie drängen sich in engen, in die Steilküsten gebauten Unterständen und mähen ganze Schwärme ziehender Falken nieder. Sie schießen gefährdete Greifvögel wie Schreiadler und Steppenweihen, für deren Schutz in weiter nördlich gelegenen Ländern Millionen von Euros ausgegeben werden. Seltene Exemplare werden ausgestopft und der Trophäensammlung hinzugefügt; nicht so seltene lässt man einfach liegen oder versteckt sie unter Steinen, damit sie den Schützen nicht verraten. Wenn italienische Vogelbeobachter einen Zugvogel sehen, dem Schwung- oder Schwanzfedern fehlen, sprechen sie von «Malteser Gefieder».

In den 1990er Jahren, als man über den Beitritt zur EU verhandelte, begann die Regierung, eine bereits bestehende Verordnung zum Schutz nicht jagdbarer Tiere auch durchzusetzen. Das erregte Aufsehen, selbst bei weit entfernt tätigen Organisationen wie der britischen Royal Society for the Protection of Birds, die zur Unterstützung der Behörden sogleich Freiwillige entsandte. «Die Situation ist nicht mehr verzweifelt, sondern nur noch übel», sagte mir einer von ihnen. Doch maltesische Jäger stehen auf dem Standpunkt, ihr Land sei viel zu klein, um europäischen Vogelpopulationen ernsthaft Schaden zuzufügen, und lehnen diese fremde Einmischung in ihre «Tradition» vehement ab. Der nationale Jagdverband Federazzjoni Kaċċaturi Nassaba Konservazzjonisti schrieb im April 2008 in seinem Rundbrief: «Der FKNK ist der Ansicht, dass die Polizeiarbeit von der maltesischen Polizei erledigt werden sollte und nicht von überheblichen Extremisten aus dem Ausland, die glauben, weil Malta in der EU ist, gehöre es ihnen.»

Als die Vogelschutzorganisation BirdLife Malta 2006 den Türken Tolga Temuge, der zuvor Greenpeace-Aktionen geleitet hatte, mit einer aggressiven Kampagne gegen die illegale Jagd beauftragte, fühlten sich die Jäger an die Belagerung Maltas durch die Türken im Jahr 1565 erinnert und reagierten mit unverhüllter Wut. Lino Farugia, der Generalsekretär des FKNK, wetterte gegen «den Türken» und seine «maltesischen Lakaien», Personal und Eigentum von BirdLife wurden bedroht und angegriffen. Einem Mitarbeiter wurde ins Gesicht geschossen; drei Wagen, die freiwilligen Helfern von BirdLife gehörten, wurden in Brand gesetzt; in einem Wiederaufforstungsgebiet wurden mehrere tausend junge Bäume ausgerissen, da der entstehende Wald als Konkurrenz zu dem einzigen anderen Wald der Insel gesehen wurde, in dem die Jagd auf rastende Vögel erlaubt ist. Eine vielgelesene Jagdzeitschrift erklärte im August 2008: «Man sollte die moralischen Bindungen und Werte maltesischer Familien nicht unbegrenzt strapazieren; irgendwann wird ihr südländisches Blut überkochen, und man kann nicht erwarten, dass sie in feigem Rückzug ihr Land und ihre Kultur preisgeben.»

Und doch ist, im Gegensatz zu Zypern, die öffentliche Meinung in Malta eindeutig gegen die Jagd. Neben dem Bankwesen ist Maltas Haupteinnahmequelle der Tourismus, und in den Zeitungen gibt es oft wütende Leserbriefe von Touristen, die von Jägern bedroht oder Zeugen grausiger Vogelmassaker wurden. Das maltesische Bürgertum ist keineswegs erfreut, dass die sehr begrenzte freie Natur überlaufen ist von schießwütigen Jägern, die auf öffentlichem Land «Zutritt verboten»-Schilder aufstellen. Im Gegensatz zu BirdLife Cyprus ist es BirdLife Malta gelungen, für eine Medienkampagne mit dem Slogan «Hol dir DEIN Land zurück» Prominente zu gewinnen, darunter auch den Besitzer der Hotelgruppe Radisson.

Malta hat jedoch ein Zweiparteiensystem, und weil gewöhnlich wenige tausend Stimmen die Wahlen entscheiden, können es sich weder die Labour Party noch die Nationalisten leisten, ihre jagdwütigen Wähler so vor den Kopf zu stoßen, dass sie den Urnen fernbleiben. Daher wird die Einhaltung der Jagdgesetze nur sehr lax überwacht: Man stellt so wenige Beamte wie möglich dafür ab, viele Polizisten sind mit Jägern befreundet, und auch gutwillige Polizisten reagieren auf Beschwerden oft nur langsam. Und selbst wenn Verstöße geahndet werden, verhängen maltesische Gerichte gewöhnlich Geldstrafen in Höhe von nur ein paar hundert Euro.

In diesem Jahr hat die von den Nationalisten geführte Regierung die Frühjahrsjagd auf Wachteln und Turteltauben erlaubt, was im Widerspruch steht zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom Herbst zuvor. Laut der Vogelschutzrichtlinie der EU dürfen Mitgliedstaaten «Teilaufhebungen» beantragen, die eine begrenzte Jagd auf eine geschützte Spezies erlauben, sofern ein «angemessener Grund» vorliegt, sei es das Eindämmen von Vogelschwärmen in der Nähe von Flughäfen, sei es die Subsistenzjagd traditionell orientierter ländlicher Gemeinschaften. Die maltesische Regierung hat eine solche Teilaufhebung beantragt zur Pflege der «Tradition» der Frühjahrsjagd, die normalerweise verboten ist, und der Gerichtshof stellte fest, dass Malta drei der vier vorgeschriebenen Kriterien nicht erfüllte: strikte Einhaltung der Jagdzeit, geringe Abschusszahlen sowie Parität mit anderen EU-Mitgliedern. Im Hinblick auf das vierte Kriterium – die Frage, ob es «Alternativen» gibt – präsentierte Malta Zählungen, aus denen hervorgeht, dass die Herbstjagd auf Wachteln und Turteltauben im Vergleich zur Frühjahrsjagd weniger ertragreich ist. Obgleich man weiß, dass solche Zählungen nicht sehr zuverlässig sind (der Generalsekretär des FKNK hat öffentlich zugegeben, dass die tatsächliche Jagdstrecke zehnmal höher sein könnte, als die offiziellen Zahlen besagen), vertraut die Europäische Kommission im Allgemeinen auf die von Regierungen der Mitgliedstaaten vorgelegten Zahlen. Des Weiteren argumentierte Malta, strikte Schutzmaßnahmen seien nicht erforderlich, da Wachteln und Turteltauben nicht weltweit gefährdet seien (in Asien gibt es sie noch zahlreich). Die Anwälte der Kommission versäumten es, darauf hinzuweisen, dass das Entscheidende der Status der Spezies innerhalb der EU ist, und dort gehen ihre Zahlen tatsächlich dramatisch zurück. So entschied der Gerichtshof zwar gegen Malta und die Frühjahrsjagd, räumte jedoch ein, dass eines der vier Kriterien erfüllt sei. Und in Malta erklärte die Regierung, man habe einen «Sieg» errungen, und gab Anfang April die Jagd frei.

Ich begleitete Tolga Temuge, einen Mann mit Pferdeschwanz, der gern und ausgiebig flucht, am ersten Tag der Jagdsaison bei einer frühmorgendlichen Patrouille. Wir rechneten nicht damit, auf viele Jäger zu treffen, denn der FKNK hatte, verärgert über die Vorgaben der Regierung – die Saison dauerte nicht wie sonst sechs bis acht Wochen, sondern nur sechs halbe Tage, und es wurden nur 2500 Jagdscheine ausgegeben –, zu einem Boykott aufgerufen und drohte, jeden Jäger, der einen Jagdschein beantragte, «zu benennen und der Schande preiszugeben». Als wir durch das dunkle, staubige Labyrinth des maltesischen Straßensystems fuhren, sagte Temuge: «Die Europäische Kommission hat versagt. Die europäischen Jagdverbände und BirdLife International haben in harten Verhandlungen arterhaltende Jagdbeschränkungen ausgearbeitet, und dann tritt Malta der EU bei und droht, als kleinster Mitgliedstaat, das ganze Gebäude der ausgezeichneten Vogelschutzrichtlinie zum Einsturz zu bringen. Maltas Ausscheren schafft einen Präzedenzfall für andere Mitgliedstaaten, besonders für die am Mittelmeer.»

Als es hell wurde, hielten wir auf einem mit Kalkstein gepflasterten Feldweg zwischen von Mauern eingefassten gelben Heuwiesen und lauschten auf Schüsse. Ich hörte Hundegebell, einen krähenden Hahn, das Brummen von Lastwagen und, irgendwo in der Nähe, elektronischen Wachtelgesang. An anderen Stellen der Insel patrouillierten sechs weitere Teams, die hauptsächlich aus ausländischen Freiwilligen und einigen bezahlten Sicherheitsleuten aus Malta bestanden. Die Sonne ging auf, und in der Ferne hallten Schüsse, aber es waren nicht viele; das Land schien an diesem Morgen praktisch frei von Vögeln zu sein. Wir kamen durch ein Dorf, ein paar Schüsse erklangen. «Verdammt noch mal, es ist doch nicht zu glauben!», rief Temuge. «Und das in einer geschlossenen Ortschaft, verdammt noch mal!» Wir gingen weiter durch den Irrgarten aus Mauern – das, was Malta an offener Landschaft zu bieten hat. Weitere Schüsse lockten uns zu einem kleinen Feld, auf dem zwei Männer um die dreißig mit einem Funkgerät standen. Sobald sie uns sahen, nahmen sie ihre Hacken und bearbeiteten die üppig wachsenden Reihen von Zwiebeln und Bohnen. «Sie wissen Bescheid, wenn einer von uns im Jagdgebiet ist», sagte Temuge. «Alle wissen Bescheid. Wer ein Funkgerät dabeihat, ist mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein Jäger.» Für Feldarbeit war es, wie mir schien, tatsächlich noch sehr früh, und solange wir dort standen, hörten wir keine weiteren Schüsse. Vier leuchtend gelbe männliche Pirole flogen vorüber. Sie hatten das Pech, Malta als Zwischenstation gewählt zu haben, und das Glück, dass wir dort standen. In einem niedrigen Baum entdeckte ich ein Buchfinkenweibchen. Buchfinken sind in Europa weit verbreitet, kommen in Malta wegen der allgegenwärtigen Finkenfallen jedoch so gut wie gar nicht mehr vor. Als ich Temuge den Vogel zeigte, wurde er ganz aufgeregt. «Ein Buchfink!», sagte er. «Es wäre unglaublich, wenn sich Buchfinken wieder als Brutvögel hier ansiedeln würden.» Es war, als wäre in Nordamerika jemand verwundert, ein Rotkehlchen zu sehen.

Die maltesischen Jäger sind in einer schwachen Position, denn sie fordern etwas, das Malta große und kostspielige Schwierigkeiten mit der EU einbringen könnte: die Erlaubnis, auf Vögel zu schießen, die zu ihren Brutgebieten unterwegs sind. Die Führer des FKNK haben kaum eine andere Wahl, als kompromisslos auf ihren Forderungen zu beharren und ihre Haltung mit Aktionen wie dem erwähnten Boykott zu unterstreichen. Das weckt falsche Hoffnungen unter den Mitgliedern und fördert Frustrationen und das Gefühl, verraten worden zu sein, wenn die Regierung diese Hoffnungen enttäuschen muss. In dem beengten, unaufgeräumten Büro des FKNK traf ich mich mit dem Sprecher der Organisation, Joseph Perici Calascione, einem nervösen, aber wortgewandten Mann. «Wie kann irgendjemand, der nur ein bisschen Phantasie besitzt, annehmen, dass wir mit einer Frühjahrsjagd zufrieden sind, in der achtzig Prozent der Jäger keinen Jagdschein bekommen können? Wir haben schon zwei Jahre lang auf eine Jagd verzichtet, die Teil unserer Tradition, Teil unseres Lebens ist. Wir hatten nicht erwartet, dass die Jagdzeit so sein würde wie vor drei Jahren, aber doch wenigstens angemessen lang. Das hat die Regierung uns vor dem EU-Beitritt klar versprochen.»

Ich fragte nach illegalen Abschüssen. Perici Calascione bot mir einen Scotch an. Als ich dankend ablehnte, schenkte er sich ein Glas ein. «Wir sind absolut gegen illegale Abschüsse bedrohter Arten», sagte er. «Wir sind bereit, Jagdaufseher auszuschicken, damit diese Leute gestellt und aus unserem Verband ausgeschlossen werden können. Das hätten wir jetzt schon getan, wenn wir eine ausreichende Jagdsaison gekriegt hätten.» Perici Calascione gab zu, er sei nicht ganz einverstanden mit den aufrührerischen Reden seines Generalsekretärs, versuchte aber, sichtlich bekümmert, mir zu vermitteln, wie viel ihm die Jagd bedeutete; eigenartigerweise klang er wie ein gequälter Umweltschützer. «Alle sind frustriert», sagte er mit bebender Stimme. «Psychiatrische Zwischenfälle häufen sich, unter unseren Mitgliedern hat es Selbstmorde gegeben – unsere Kultur ist in Gefahr.»

Inwiefern die Jagd im maltesischen Stil eine «Kultur» oder eine «Tradition» ist, wirft Fragen auf. Während die Frühjahrsjagd und das Abschießen und Ausstopfen seltener Vögel zweifellos eine lange Tradition hat, scheint das Phänomen des wahllosen Abschlachtens erst in den 1960er Jahren aufgekommen zu sein, in einer Zeit, als Malta unabhängig wurde und Geld ins Land kam. In der Tat erscheint Malta wie eine glatte Widerlegung der Theorie, dass zunehmender Wohlstand einer Gesellschaft mit zunehmender Sorge für die Umwelt einhergeht. In Malta jedenfalls ging der Wohlstand mit besseren Waffen, mehr Geld für den Tierpräparator und mehr Wagen und Straßen einher, wodurch das Land für die Jäger noch besser erschlossen wurde. Die Jagd war einst eine Tradition, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde, doch nun entwickelte sie sich zum Zeitvertreib junger Männer, die in laut prahlenden Gruppen unterwegs waren.

Auf einem Stück Land, wo ein Hotel einen Golfplatz anlegen möchte, traf ich mich mit einem Jäger alter Schule, der sich über das schlechte Benehmen seiner Landsleute und die Toleranz des FKNK gegenüber diesen Auswüchsen entrüstete. Er sagte mir, das wahllose Abschießen liege den Maltesern «im Blut», und es sei blauäugig zu erwarten, sie würden sich anders verhalten, nur weil das Land der EU beigetreten sei. («Wenn deine Mutter eine Hure ist», sagte er, «wird aus dir keine Nonne.») Doch er sah die Schuld zum großen Teil bei den jungen Männern und sagte, die Senkung des Mindestalters von einundzwanzig auf achtzehn Jahre habe es nur noch schlimmer gemacht. «Und jetzt, wo sie die Frühjahrssaison verkürzt haben», sagte er, «können gesetzestreue Leute nicht mehr auf die Jagd gehen. Aber die anderen, die wahllos herumballern, jagen eben doch, denn es gibt nicht genug Polizisten. Ich bin in diesem Frühjahr drei Wochen auf dem Land gewesen und habe nicht einen einzigen Polizeiwagen gesehen.»

Das Frühjahr sei in Malta immer die Hauptjagdzeit gewesen, und der Jäger sagte, wenn es die nicht mehr gebe, dann werde er wahrscheinlich im Herbst jagen, solange seine Hunde noch lebten, doch dann wolle er aufhören und Vögel nur noch beobachten. «Und es passiert noch etwas anderes», sagte er. «Wo sind die Turteltauben? Als ich jung war und mit meinem Vater hinausging, sahen wir zum Himmel, und da waren Tausende. Wir haben jetzt den Höhepunkt der Saison; gestern war ich den ganzen Tag draußen und habe zwölf Turteltauben gesehen. Seit zwei Jahren habe ich keinen Ziegenmelker mehr gesehen, seit fünf Jahren keinen Steinrötel. Im vergangenen Herbst bin ich jeden Morgen und Nachmittag mit den Hunden rausgegangen und wollte Waldschnepfen schießen. Ich habe drei gesehen und auf keine einzige geschossen. Und das ist ebenfalls ein Teil des Problems: Die Leute sind frustriert. ‹Wenn ich keine Waldschnepfe erwische, dann schieße ich eben einen Turmfalken.›»

An einem späten Sonntagnachmittag standen Temuge und ich im Schutz einiger Büsche auf einer Anhöhe und beobachteten durch ein Teleskop zwei Männer, die den Himmel und die Umgebung mit Ferngläsern absuchten. «Das sind eindeutig Jäger», sagte Temuge. «Sie haben die Gewehre versteckt und holen sie erst hervor, wenn sie was sehen, das sie schießen können.» Doch eine Stunde verging, und kein Vogel ließ sich blicken. Die Männer nahmen ihre Harken und begannen, einen Gemüsegarten zu bearbeiten. Nur hin und wieder sahen sie durch ihre Ferngläser. Es verging eine weitere Stunde, und sie arbeiteten konzentrierter, denn es gab keine Vögel.


Für Zugvögel ist Italien ein einziger langer Spießrutenlauf. In der norditalienischen Region Brescia fangen Wilderer jährlich eine Million Singvögel für Restaurants, auf deren Speisekarte Pulenta e osei steht, Polenta mit kleinen Vögeln. In den Wäldern Sardiniens wimmelt es von Drahtschlingen, auf den Marschen des Veneto werden überwinternde Enten abgeschlachtet, und in Umbrien, der Heimat des heiligen Franziskus, gibt es mehr registrierte Jäger im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung als irgendwo sonst. In der Toskana schießen Jäger ihre jährliche Quote an Waldschnepfen, Ringeltauben und vier weiteren jagdbaren Singvogelarten, darunter auch Singdrossel und Feldlerche; doch im morgendlichen Dunst ist es schwer, jagdbare Arten von geschützten zu unterscheiden, und wen kümmert es schon? Im Süden, in der weitgehend von der Camorra beherrschten Campania, liegt der einladendste Rastplatz für durchziehende Schwimm- und Stelzvögel auf Feldern, die von der Camorra geflutet und für bis zu tausend Euro pro Tag an Jäger verpachtet werden; Großhändler aus Brescia fahren mit Kühllastern in den Süden, um die Beute von kleinen Wilderern einzusammeln; weite Teile der Campania sind vollgestellt mit Fallen für fünf besonders schön singende Finkenarten, und auf den illegalen Vogelmärkten bezahlen wohlhabende Camorristi viel Geld für gute Sänger. Weiter südlich, in Kalabrien und Sizilien, ist die Frühjahrsjagd auf durchziehende Wespenbussarde, über die viel berichtet wurde, infolge der energischer auftretenden Polizei und der Überwachung durch Freiwillige stark zurückgegangen, doch vor allem in Kalabrien gibt es zahlreiche Wilderer, die, wenn sie sich sicher fühlen, auf alles schießen, was fliegt.

Ein eigenartiges altes Gesetz, erlassen von den Faschisten, die so den Umgang mit Feuerwaffen erleichtern wollten, billigt italienischen Jägern – und nur ihnen – das Recht zu, bei der Verfolgung des Wildes fremde Grundstücke zu betreten, ganz gleich, wem sie gehören. In den 1980er Jahren machten mehr als zwei Millionen registrierte Jäger die ländlichen Regionen Italiens unsicher, deren Bevölkerung durch Abwanderung in die Städte zunehmend ausgedünnt war. Die meisten Stadtbewohner lehnen die Jagd jedoch ab, und so kam es, dass das italienische Parlament 1992 eines der restriktivsten Jagdgesetze Europas verabschiedete, laut dem – ein äußerst radikaler Einschnitt – sämtliche wilden Tiere ausschließliches Eigentum des italienischen Staates sind. Das heißt, dass für die Ausübung der Jagd eine besondere Genehmigung erforderlich ist. In den zwanzig Jahren, die seither vergangen sind, haben sich einige Populationen italienischer Großtierarten, darunter auch Wölfe, spektakulär erholt, während die Zahl der registrierten Jäger auf unter 800000 gesunken ist. Diese beiden Trends bewogen Franco Orsi, einen zu Silvio Berlusconis Partei gehörenden Senator aus Ligurien, eine Gesetzesvorlage einzubringen, die den Gebrauch von Lockvögeln erlauben, Jagdgebiete ausweiten und Schonzeiten verkürzen würde. Ein zweites, mit Rücksicht auf die EU erlassenes Gesetz, mit dem Italien die Vorgaben der Vogelschutzrichtlinie erfüllen und sich Hunderte Millionen Euro an Strafgeldern ersparen wollte, ist 2010 vom Parlament verabschiedet worden und bedeutet zumindest in einer Hinsicht einen klaren Sieg für die Jagdlobby: Die Jagdzeit für bestimmte Vogelarten ist auf den Februar verlegt worden.

Ich traf Orsi am Vorabend der Regionalwahlen, die Berlusconis Koalition weitere Zuwächse bescherten, im Büro seiner Partei in Genua. Orsi, ein gutaussehender Mittvierziger mit sanften Augen, ist ein passionierter Jäger, der seinen Urlaubsort danach aussucht, welche Tiere man dort schießen kann. Seine Argumente für eine Änderung des Gesetzes von 1992 lauten, es habe zu einer sprunghaften Zunahme von Schädlingen geführt; italienische Jäger sollten dasselbe tun dürfen wie französische oder spanische; private Landbesitzer könnten den Wildbestand besser regulieren als der Staat, und das Jagen sei eine gesellschaftlich und spirituell nützliche Tätigkeit. Er zeigte mir ein Zeitungsfoto von einem Wildschwein, das über eine Straße in Genua spazierte, er sprach von Starenschwärmen, welche die Flugsicherheit bedrohten und große Schäden in Weinbergen anrichteten. Als ich ihm zustimmte und sagte, die Zahl von Wildschweinen und Staren müsse natürlich begrenzt werden, fuhr er fort, Jäger gingen nicht gern in der vorgeschriebenen Zeit auf die Wildschweinjagd. «Und überhaupt halte ich es für falsch, die Jagd auf Wildschweine, Biberratten und Stare zu beschränken», sagte er. «Um die kann sich die Armee kümmern.»

Ich fragte Orsi, ob er dafür sei, bei allen Vogelarten die für die Erhaltung der Art maximal zulässigen Abschusszahlen auszuschöpfen.

«Stellen wir uns die Tierwelt als Kapital vor, das jedes Jahr Zinsen abwirft», sagte er. «Wenn ich lediglich die Zinsen verbrauche, bleibt das Kapital unangetastet, und die Zukunft sowohl der Art als auch der Jagd ist gesichert.»

«Aber es gibt doch auch die Investmentstrategie, einen Teil der Zinsen zu reinvestieren, um das Kapital zu vergrößern», wandte ich ein.

«Das kommt auf die jeweilige Tierart an. Für jede gibt es eine optimale Populationsdichte, die entweder über- oder unterschritten wird. Da ist die Jagd das geeignete Regulativ.»

Bei früheren Italienbesuchen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass die Populationsdichte praktisch aller Vogelarten suboptimal war. Da Orsi anderer Meinung zu sein schien, fragte ich ihn, welchen Nutzen die Gesellschaft aus der Jagd auf harmlose Vögel ziehe. Zu meiner Überraschung zitierte er Peter Singer, den Autor von Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, und sagte, wenn jeder Mensch die Tiere, die er essen wolle, töten müsste, wären wir alle Vegetarier. «In unserer verstädterten Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Mensch und Tier, in der es immer Elemente der Gewalt gab, verlorengegangen», sagte Orsi. «Als ich vierzehn war, befahl mein Großvater mir, ein Huhn zu schlachten – das war eine Familientradition –, und jetzt denke ich jedes Mal, wenn ich ein Hähnchen esse, dass dieses Fleisch einmal ein Tier war. Und um auf Peter Singer zurückzukommen: Der übermäßige Fleischverzehr in unserer Gesellschaft korrespondiert mit dem übermäßigen Verbrauch von Ressourcen. Auf gewaltigen Flächen wird ressourcenintensive, industrialisierte Landwirtschaft betrieben, weil wir unser ländliches Lebensgefühl verloren haben. Wir sollten nicht glauben, dass Jagen die einzige Gewalt ist, die Menschen der Natur antun. Und in diesem Licht betrachtet, ist die Jagd etwas Sensibilisierendes.»

Ich musste Orsi in diesem Punkt recht geben, doch für die italienischen Umweltschützer, mit denen ich sprach, bewies seine Rhetorik nur, wie geschickt er im Umgang mit Journalisten war. Hinter der Initiative zur Liberalisierung der Jagdgesetze steht nach Ansicht der ambientalisti vor allem Italiens große Waffen- und Munitionsindustrie. Einer sagte: «Wenn dich jemand fragt, was du eigentlich herstellst, sagst du dann: ‹Landminen, die bosnischen Kindern die Beine abreißen›, oder sagst du: ‹Handwerklich hochwertige Schrotflinten für Leute, die gern bei Morgengrauen in den Marschen auf die Enten warten›?»

Niemand weiß, wie viele Vögel in Italien vom Himmel geholt werden. Die Zahl der jährlich abgeschossenen Singdrosseln beispielsweise wird mit drei bis sieben Millionen angegeben, aber Fernando Spina, führender Wissenschaftler bei der italienischen Umweltschutzbehörde, hält diese Schätzungen für «äußerst konservativ»: Nur die gewissenhaftesten Jäger tragen ihre Beute korrekt auf der Jagdkarte ein, die örtlichen Forstbehörden haben nicht genug Leute, um die Jäger zu kontrollieren, die Datenbestände der Provinzen sind noch kaum digital erfasst, und die meisten ländlichen Jagdgenossenschaften ignorieren sämtliche Anfragen und Bitten um eine Übermittlung von Daten. Unbestritten ist, dass Italien ein höchst bedeutendes Durchzugsland ist. Man hat dort beringte Vögel aus allen anderen europäischen sowie achtunddreißig afrikanischen und sechs asiatischen Ländern gefunden. Und in Italien beginnt die Rückwanderung nach Norden bereits sehr früh, bei einigen Arten schon Ende Dezember. Die Vogelschutzrichtlinie der EU schützt alle Vögel, die sich auf der Rückwanderung befinden, und erlaubt die Jagd nur im Rahmen der natürlichen herbstlichen Sterblichkeitsrate. Daher sind die meisten verantwortungsbewussten Jäger der Ansicht, die Jagdzeit solle am 31. Dezember enden. Italiens neues Gesetz geht in die entgegengesetzte Richtung und verlängert die Jagdsaison bis in den Februar hinein. Da die Vögel, die am frühesten zurückkehren, gewöhnlich die stärksten ihrer Art sind, gibt das neue Gesetz ausgerechnet die zum Abschuss frei, die eigentlich die besten Aussichten hätten, eine Brut großzuziehen. Eine verlängerte Jagdzeit begünstigt auch die Wilderer, die es auf geschützte Arten abgesehen haben, denn ein unerlaubter Schuss klingt nicht anders als ein erlaubter. Und ohne gesicherte Daten kann niemand sagen, ob die regional festgelegten Abschusszahlen für eine Art die jeweilige natürliche Sterblichkeitsrate übersteigen. «Die Abschusspläne werden von den örtlichen Behörden erstellt und sind vollkommen willkürlich», sagte Spina. «Sie stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Beständen.»

Zwar ist der Verlust von Lebensräumen der gravierendste Grund für den Kollaps der europäischen Vogelpopulationen, aber die italienische Art der Jagd (caccia selvaggia, «die wilde Jagd», wie sie euphemistisch genannt wird) vergrößert den Schaden erheblich. Als ich Fulco Pratesi, einen ehemaligen Großwildjäger, der die italienische Sektion des World Wildlife Fund gegründet hat und das Jagen inzwischen als «Manie» bezeichnet, fragte, warum italienische Jäger so versessen darauf seien, Vögel zu töten, sprach er von der Liebe seiner Landsleute zu Waffen, von ihrem Festhalten an einer «männlichen Haltung», von ihrem Vergnügen daran, Gesetze zu brechen, und seltsamerweise auch von ihrer Liebe zur Natur. «Ein italienischer Jäger ist wie ein Vergewaltiger, der Frauen liebt, aber seine Liebe nur auf perverse, gewalttätige Weise ausdrücken kann. Vögel, die bloß zweiundzwanzig Gramm wiegen, werden mit Schrotladungen von zweiunddreißig Gramm geschossen.» Italiener, fuhr er fort, könnten sich leicht für «symbolische» Tiere wie Wolf oder Bär begeistern, und tatsächlich würden diese Arten hier effektiver geschützt als in anderen europäischen Ländern. «Aber Vögel sind unsichtbar», sagte er. «Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Im Norden kann man die Ankunft der Zugvögel sehen und hören, und das beglückt die Menschen. Hier aber leben die Leute in Städten, in großen Wohnanlagen, und die Vögel fliegen buchstäblich über sie hinweg.»

Fast immer in seiner Geschichte wurde Italien im Frühling und im Herbst zur Zwischenstation für zahllose fliegende Eiweißpäckchen, und im Gegensatz zu Nordeuropa, wo man den Zusammenhang zwischen Überjagung und verminderten Erträgen recht bald erkannte, schienen die Bestände in den Mittelmeerländern unerschöpflich. Noch erbittert wegen des Verbots der Jagd auf Wespenbussarde, sagte ein Wilderer aus Reggio de Calabria: «In Reggio haben wir im Frühjahr von insgesamt sechzig- bis hunderttausend Bussarden, die hier durchgezogen sind, bloß ungefähr zweitausendfünfhundert geschossen – das war wirklich keine große Sache.» Der einzige Zusammenhang, in dem er das Verbot seines Zeitvertreibs sehen konnte, war ein finanzieller. Er erklärte mir allen Ernstes, gewisse Organisationen hätten es auf staatliche Gelder abgesehen und sich dem Vogelschutz verschrieben, und allein die Tatsache, dass sie Wilderer bräuchten, die sie verfolgen könnten, habe zur Verabschiedung dieser Schutzgesetze geführt. «Und jetzt werden diese Leute reich mit Geld vom Staat», sagte er.

In einer der süditalienischen Provinzen lernte ich einen jungenhaft wirkenden Ex-Wilderer namens Sergio kennen. Er hatte das Wildern erst in mittleren Jahren aufgegeben, weil er fand, er sei dieser Lebensphase entwachsen, und nun erzählte er zur Unterhaltung eine lustige Geschichte von seinen «Jugendsünden». Nachts auf die Jagd zu gehen, sagte er, sei natürlich schon immer verboten, aber nie ein Problem gewesen, jedenfalls nicht in Begleitung des Gemeindepfarrers und des Chefs der örtlichen Polizei. Besonders Letzterer habe sich als nützlich erwiesen, weil er dafür gesorgt habe, dass in ihrem Jagdgebiet keine Wildhüter unterwegs gewesen seien. Eines Nachts, als er mit dem Brigadiere auf Jagd war, sahen sie im Scheinwerferlicht des Jeeps eine Schleiereule geblendet und in Schockstarre auf der Erde sitzen. Der Brigadiere sagte zu Sergio, er solle sie schießen, doch der wollte nicht. Der Brigadiere nahm eine Schaufel, trat von hinten an die Eule heran und schlug ihr auf den Kopf. Dann legte er den Vogel in den Laderaum.

«Warum?», fragte ich Sergio. «Warum hat er die Eule getötet?»

«Weil wir zum Wildern unterwegs waren!»

Als der Brigadier am Ende der Nacht den Laderaum öffnete, flog die Eule, die nur betäubt gewesen war, heraus und griff ihn an – Sergio demonstrierte es mit ausgebreiteten Armen und lächerlich wutverzerrtem Gesicht.

Für Sergio war der Sinn des Wilderns immer die Beschaffung von Fleisch gewesen. Er zitierte ein Sprichwort in seinem Heimatdialekt, das ungefähr so lautete: Willst du Federvieh, fang dir eine Krähe, willst du ein gutes Herz, nimm dir eine alte Frau. «Eine Krähe kann man sechs Tage kochen, und sie ist immer noch zäh», sagte er. «Aber sie gibt eine ganz gute Brühe. Ich habe auch Fuchs und Dachs gegessen – ich habe alles gegessen.» Der einzige Vogel, der anscheinend nie auf italienischen Tellern landet, ist die Möwe. Selbst der Wespenbussard, den süditalienische Familien gern als Trophäe ausgestopft im Wohnzimmer ihres Hauses präsentieren (die Bezeichnung dafür ist adorno, «Zierrat»), wurde im Frühjahr als Delikatesse verspeist; der Wilderer in Reggio gab mir ein Rezept für ein süß-saures Bussardfrikassee.

Italienische Wilderer, die diesem Zeitvertreib im Gegensatz zu Sergio nicht entwachsen sind und sich über sinkende Populationen und zunehmende staatliche Restriktionen ärgern, suchen inzwischen andere Mittelmeerländer auf, um ihrem Hobby zu frönen. An der kampanischen Küste sprach ich mit einem Wilderer – alt und mit vielen Zahnlücken, aber jugendlich, fröhlich und unbekümmert wirkend –, der sich nun, da er am Strand keinen getarnten Unterstand aufbauen und beliebig viele eintreffende Zugvögel mehr erlegen konnte, auf seinen Urlaub in Albanien freute, wo man gegen eine geringe Gebühr noch immer schießen darf, was man will und wann man will. Es gibt zwar viele Jäger, die ins Ausland reisen, doch die italienischen gelten weithin als die schlimmsten. Die reichsten fliegen im Frühjahr, zur Balzzeit, nach Sibirien, um Waldschnepfen bei ihren Schauflügen zu schießen, oder nach Ägypten, wo man, wie ich gehört habe, einen Polizisten dafür anheuern kann, die erlegte Beute einzusammeln, während man Ibisse und weltweit gefährdete Enten schießt, bis die Arme erlahmen; im Internet gibt es Fotos von ausländischen Jägern, die neben meterhohen Bergen von Vogelkadavern stehen.

Verantwortungsbewusste italienische Jäger hassen Wilderer; sie hassen Leute wie Franco Orsi. «Wir haben in Italien einen Kulturkampf zwischen zwei Jagdanschauungen», sagte Massimo Canale, ein junger Jäger aus Reggio di Calabria, zu mir. «Die einen, die Orsis, sagen: ‹Wir müssen alle Gesetze und Regulierungen abschaffen.› Auf der anderen Seite stehen die Leute, die sich für das Land, in dem sie leben, verantwortlich fühlen. Ein Jäger, der den Bestand regulieren will, braucht mehr als einen Jagdschein. Er muss sich auch mit Biologie, Physik und Ballistik auskennen. Man greift in den Bestand von Rehen und Wildschweinen ein – man spielt eine bestimmte Rolle.» Canale hat seinen Raubtierinstinkt als Junge entdeckt. Damals begleitete er seinen Großvater, der auf alles schoss, was ihm vor die Flinte kam, und er ist froh, dass er Menschen kennengelernt hat, die ihm eine andere Sichtweise zeigten. «Es macht mir nichts aus, an irgendeinem Tag mal nichts zu schießen», sagte er, «aber im Grunde geht es natürlich darum, etwas zu töten – ich würde lügen, wenn ich das bestreiten würde. Mein Raubtierinstinkt steht in krassem Widerspruch zur Vernunft, und die selektive Jagd ist mein Versuch, diesen Instinkt zu bändigen. Meiner Meinung nach ist das die einzige Art, auf die man heutzutage die Jagd betreiben kann. Und Orsi weiß das nicht, oder es ist ihm egal.»

Diese beiden Anschauungen von der Jagd finden im Großen und Ganzen ihre Entsprechung in den beiden Gesichtern Italiens: Es gibt das offen kriminelle Italien der Camorra und ihrer Komplizen und das quasi-kriminelle Italien von Berlusconis Kumpanen, aber es gibt auch noch l’Italia che lavora, das arbeitende Italien. Die Italiener, die gegen die Wilderei vorgehen, sind motiviert durch ihren Abscheu gegen die Gesetzlosigkeit im Land, und sie fühlen sich angewiesen auf die Mithilfe verantwortungsbewusster Jäger wie Massimo Canale, die frustriert sind, wenn sie keine Wachteln schießen können, weil diese allesamt den verbotenen elektronischen Lockrufen gefolgt sind. In Salerno, der am wenigsten chaotischen Provinz der Campania, schloss ich mich einer Gruppe von WWF-Wildhütern an, die mich zu einem trockengelegten künstlichen See führten, wo sie kürzlich den Vorsitzenden eines örtlichen Jagdverbands bei der Verwendung illegaler Lockrufaufnahmen ertappt hatten. Zwischen Feldern, die durch Abdeckungen aus langen weißen Kunststoffplanen wie verödet wirkten, erhob sich unweit des Sees ein erodierender Hügel aus «Ökokugeln»: zu Ballen gepresstem und mit durchsichtiger Folie umhülltem neapolitanischen Müll, der überall in der Campania herumlag und zum Symbol der italienischen Umweltkrise geworden war. «Es war das zweite Mal in zwei Jahren, dass wir den Burschen erwischt haben», sagte der Anführer der Gruppe. «Er saß in dem Komitee, das die Jagd in der Region regelt, und er ist Vorsitzender des Jagdverbands geblieben, obwohl eine Anklage gegen ihn lief. Es gibt noch andere regionale Verbandsvorsitzende, die dasselbe tun, aber die sind schwerer zu erwischen.»

Ein leuchtendes Beispiel für das andere, das arbeitende Italien ist das erfolgreiche Vorgehen gegen den illegalen Abschuss von Wespenbussarden an der Straße von Messina. Seit 1985 stellt die nationale Forstpolizei ein zusätzliches Team ab, das mit Hubschraubern entlang der kalabrischen Seite der Meeresenge patrouilliert. Die Situation in Kalabrien hat sich insgesamt etwas verschlechtert – dieses Jahr war das Team kleiner und blieb kürzer, und die Zahl der Abschüsse war mit vierhundert doppelt so hoch wie in den Jahren zuvor –, aber auf der sizilianischen Seite der Meeresenge wirkt Anna Giordano, eine berühmte Vorkämpferin gegen die Wilderei, und hier gibt es kaum illegale Abschüsse. Schon 1981, mit fünfzehn Jahren, überwachte Giordano die Betonunterstände, aus denen Greifvögel zu Tausenden abgeschossen wurden, wenn sie tief über die Berge bei Messina dahinglitten. Im Gegensatz zu den Kalabriern, die Bussarde aßen, schossen die Sizilianer sie nur aus Tradition, aus Lust am Wettkampf und um Trophäen zu erbeuten. Manche feuerten auf alles, was flog, andere beschränkten sich auf Wespenbussarde («den Vogel», wie sie sagten), es sei denn, es tauchte eine echte Seltenheit auf, ein Steinadler etwa. Anna Giordano eilte dann zur nächsten Telefonzelle, von wo sie die Forstpolizei anrief, und wieder zurück zum Unterstand. Obwohl man ihren Wagen demolierte, sie ständig beschimpfte und bedrohte, wurde nie jemand gewalttätig – vermutlich, weil sie eine junge Frau war. (Das italienische Wort für «Vogel», uccello, ist ein Slangwort für «Penis», was Gelegenheit für viele obszöne Wortspiele bot, doch an der Wand ihres Büros hing ein Poster, das die Sache umdrehte: «Deine Männlichkeit? Ein toter Vogel.») Als sie mehr und mehr Erfolge erzielte, erst recht nach dem Ausbau der Mobilfunknetze, zwang sie die Forstpolizei, gegen die Wilderer vorzugehen, und ihr wachsender Ruhm brachte ihr die Aufmerksamkeit der Medien und zahllose freiwillige Helfer. In den vergangenen Jahren lag die Zahl der von den Mitarbeitern berichteten Schüsse im einstelligen Bereich.

«Anfangs», sagte Anna Giordano, als ich neben ihr auf einem Hügel stand und vorbeifliegenden Falken nachsah, «haben wir es bei unseren Greifvogelzählungen nicht einmal gewagt, Ferngläser zu benutzen, denn wenn die Wilderer bemerkten, dass wir irgendwohin sahen, fingen sie gleich an zu schießen. In unseren Aufzeichnungen aus jener Zeit steht oft ‹nicht identifizierte Greifvögel›. Und jetzt können wir hier den ganzen Nachmittag stehen und die Zeichnungen einjähriger Weihenweibchen studieren und hören dabei keinen einzigen Schuss. Vor ein paar Jahren kam einer der schlimmsten Wilderer, ein gewalttätiger, dummer, vulgärer Kerl, der uns immer und überall Ärger gemacht hat, und fragte, ob er mit mir reden könne. Ich sagte: ‹Oho, interessant! Also gut.› Er fragte mich, ob ich mich erinnern könne, was ich vor fünfundzwanzig Jahren zu ihm gesagt hätte. Ich sagte, ich könne mich kaum an das erinnern, was ich gestern gesagt hätte. Er sagte: ‹Sie haben gesagt, eines Tages würde ich die Vögel nicht mehr töten, sondern lieben. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie recht gehabt haben. Wenn ich früher mit meinem Sohn rausgegangen bin, hab ich ihn gefragt: Hast du dein Gewehr dabei? Heute frage ich ihn: Hast du dein Fernglas dabei?› Da habe ich ihm – einem Wilderer! – mein Fernglas gegeben, damit er einen Wespenbussard betrachten konnte, der über uns dahinflog.»

Anna Giordano ist klein, dunkelhaarig und energisch. In letzter Zeit hat sie die Provinzregierung angegriffen, weil diese es versäumt, die Baulanderschließung rings um Messina zu regulieren, und außerdem – als wollte sie unbedingt immer zu viel zu tun haben – hilft sie in einem Heim für Wildtiere aus. Ich hatte bereits einmal ein Tierheim besucht, das auf dem Grundstück einer psychiatrischen Klinik in Neapel stand, und dort die Röntgenaufnahme eines mit Bleikugeln gespickten Falken gesehen, mehrere genesende Greifvögel in großen Käfigen sowie eine Möwe, deren linker Fuß durch Säure schwarz verätzt war. In Giordanos Tierheim auf einem Hügel bei Messina sah ich, wie sie rohes Putenfleisch an einen kleinen Adler verfütterte, der durch Schrotkugeln sein Augenlicht verloren hatte. Sie packte seine Klauen mit einer Hand und drückte ihn an ihren Bauch. Seine Schwanzfedern waren zerrupft, die Augen blickten streng und doch leer, und er ließ es zu, dass sie ihm den Schnabel öffnete und Fleisch hineinstopfte, bis sein Schlund überquoll. Der Vogel war ganz Adler und doch kein Adler mehr. Ich wusste nicht, was er war.


Wie die meisten zypriotischen Restaurants, die Ambelopoulia servieren, verfügte das, in dem ich mich mit einem Bekannten und dessen Freund traf (ich nenne die beiden Takis und Demetrios), über ein Nebenzimmer, in dem die kleinen Vögel diskret verzehrt werden konnten. Wir gingen durch den Gastraum, in dem aus dem Fernseher eine jener in Zypern so beliebten brasilianischen Telenovelas dröhnte, und nahmen Platz zu einem Mahl aus zypriotischen Spezialitäten: Es gab geräucherten Schinken, gegrillten Käse, eingelegte Kapernzweige, wilden Spargel, Pilze mit Eiern, weingetränkte Wurst und Couscous. Der Wirt brachte uns auch einen Teller mit drei gebratenen Singdrosseln, die wir nicht bestellt hatten, und blieb neben dem Tisch stehen, als wollte er sich vergewissern, dass ich meine auch wirklich aß. Ich dachte daran, dass Franz von Assisi einmal im Jahr, zu Weihnachten, seine Tierliebe zurückgestellt und Fleisch gegessen hatte. Ich dachte an einen Jungen namens Woody, der mir bei einer Wanderung, die wir als Teenager unternommen hatten, ein Stück gebratenes Rotkehlchen angeboten hatte. Ich dachte an einen prominenten italienischen Umweltschützer, der gesagt hatte, Singdrosseln seien «verdammt lecker». Der Umweltschützer hatte recht. Das Fleisch war dunkel und schmeckte sehr würzig, und der ganze Vogel war so viel größer als eine Ambelopoulia, dass ich ihn für ein normales Gericht und mich für einen normalen Restaurantgast halten konnte.

Als der Wirt gegangen war, fragte ich Takis und Demetrios, was das für Leute seien, die gern Ambelopoulia äßen.

«Das sind Leute», sagte Demetrios, «die auch in Cabarets gehen, in Bars, wo es Poledance und Frauen aus Osteuropa gibt. Also keine Leute mit hohen moralischen Maßstäben. Mit anderen Worten: die meisten Zyprioten. Eins unserer Sprichwörter lautet: ‹Was immer man sich in den Mund stecken kann, was immer im Arsch Platz hat …›»

«Soll heißen: Das Leben ist kurz», sagte Takis.

«Die Leute kommen nach Zypern und denken, sie sind in einem europäischen Land, weil wir in der EU sind», sagte Demetrios. «Dabei sind wir in Wirklichkeit ein Land des Nahen Ostens, das nur zufällig zu Europa gehört.»

Am Abend zuvor hatte ich auf der Polizeiwache von Paralimni eine Zeugenaussage gemacht. Der junge Polizist, der sie aufnahm, hätte, wie mir schien, gern gehört, dass die Männer, die die CABS-Mitarbeiter angegriffen hatten, einfach nicht hatten gefilmt und fotografiert werden wollen. «Für die Leute hier», erklärte er, als alles zu Protokoll genommen war, «ist die Jagd auf Singvögel eine alte Tradition, und das kann man nicht von heute auf morgen ändern. Man muss mit ihnen reden und es ihnen verständlich machen, das ist viel besser als dieses aggressive Vorgehen des CABS.» Vielleicht hatte er sogar recht, aber diese Bitte um Geduld hatte ich überall am Mittelmeer gehört, und mittlerweile klang sie in meinen Ohren wie eine leicht abgeänderte Version dessen, was die moderne Konsumgesellschaft im Hinblick auf die Natur sagt: Wartet nur ein Weilchen, bis wir alles verbraucht haben, dann könnt ihr Naturschützer kriegen, was übrig ist.

Während Takis, Demetrios und ich auf das Dutzend Ambelopoulia warteten, das wir bestellt hatten, berieten wir, wer sie essen sollte. «Vielleicht nehme ich einen kleinen Bissen», sagte ich.

«Ich mag das Zeug nicht mal», sagte Takis.

«Ich auch nicht», sagte Demetrios.

«Also gut», sagte ich. «Wie wär’s, wenn ich zwei esse und ihr jeder fünf?»

Sie schüttelten den Kopf.

Nur zu bald erschien der Wirt mit einer Platte voller Ambelopoulia, die im harten Licht aussahen wie ein Dutzend gelblich-graue, glänzende Kothaufen. «Sie sind mein erster amerikanischer Gast», sagte er. «Wir hatten hier schon viele Russen, aber noch keinen Amerikaner.» Ich legte einen Vogel auf meinen Teller, und der Wirt versicherte mir, schon ein einziges dieser Vögelchen wirke wie zwei Viagra-Pillen.

Als wir wieder allein waren, schrumpfte mein Blickfeld auf ein paar Zentimeter, wie damals, in der neunten Klasse, als ich im Biologieunterricht einen Frosch seziert hatte. Ich zwang mich, die beiden mandelgroßen Brustmuskeln zu essen, die das einzige erkennbar Essbare zu sein schienen; der Rest bestand aus fettigen Knorpeln, Innereien und winzigen Knochen. Ich konnte nicht sagen, ob das Fleisch tatsächlich so bitter schmeckte oder ob dieser Geschmack nur dem Wissen geschuldet war, dass dafür ein so wunderbares Geschöpf wie diese Mönchsgrasmücke hatte sterben müssen. Takis und Demetrios machten mit ihren Vögeln kurzen Prozess, nagten die Knochen ab und sagten, Ambelopoulia seien viel besser als in ihrer Erinnerung, eigentlich ziemlich gut. Ich zerlegte einen weiteren Vogel, und da mir etwas übel war, wickelte ich die übrigen beiden in Papierservietten und steckte sie in die Tasche. Der Wirt kehrte zurück und fragte, ob mir die Vögel geschmeckt hätten.

«So lala», sagte ich.

«Wenn Sie sie nicht ausdrücklich bestellt hätten», sagte er bedauernd, «hätte ich Ihnen heute Abend das Lamm empfohlen.»

Ich antwortete nicht, doch der Wirt, wie durch meine Komplizenschaft ermuntert, wurde gesprächig: «Die jungen Leute heutzutage essen sie nicht mehr. Früher hat man jung damit anfangen und einen Geschmack dafür entwickelt. Mein kleiner Sohn kann zehn davon essen.»

Takis und Demetrios wechselten einen skeptischen Blick.

«Es ist eine Schande, dass sie verboten sind», fuhr der Wirt fort. «Früher waren sie eine schöne Touristenattraktion – jetzt fühlt man sich beinahe wie ein Drogenhändler. Ein Dutzend Vögel kosten mich sechzig Euro. Diese verdammten Ausländer kommen her und zerreißen die Netze, und wir haben uns ihnen gefügt. Die Jagd auf Ambelopoulia war eine der wenigen Möglichkeiten, wie die Leute hier Geld verdienen konnten.»

Wieder draußen, ging ich zum Rand des Parkplatzes, zu einem Gebüsch, wo ich zuvor Ambelopoulia hatte singen hören, und grub mit den Händen ein Loch. Die Welt kam mir ganz besonders sinnlos vor, und das Beste, was ich gegen dieses Gefühl tun konnte, war, die beiden toten Vögel auszuwickeln, in das Loch zu legen und mit Erde zu bedecken. Takis führte mich zu einer nahe gelegenen Taverne, vor der auf einem Holzkohlegrill mittelgroße Vögel lagen. Es war ein billiges Etablissement, und kaum hatten wir am Tresen Bier bestellt, da setzte sich eine der Hostessen, eine moldawische Blondine mit dicken Beinen, zu uns.


Das Blau des Mittelmeers hat für mich seine Schönheit verloren. Die von Urlaubern gepriesene Klarheit des Wassers ist die eines sterilen Swimmingpools. An den Stränden nimmt man kaum Gerüche wahr, man sieht und hört nur wenige Vögel, und das Meer selbst wird bald leer sein; was man in Europa an Fisch verzehrt, wird zum großen Teil illegal vor der westafrikanischen Küste gefangen. Ich blicke auf das Blau und sehe kein Meer, sondern eine Postkarte, dünn wie Papier.

Und doch ist es das Mittelmeer, insbesondere Italien, das uns den Dichter Ovid geschenkt hat, der in den Metamorphosen den Verzehr von Tieren beklagte, und den Vegetarier Leonardo da Vinci, der einen Tag kommen sah, an dem das Leben eines Tiers ebenso hoch eingeschätzt werden würde wie das eines Menschen, und den heiligen Franziskus von Assisi, der den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches bat, am Weihnachtstag Korn auf die Felder streuen zu lassen, damit die Haubenlerchen einen Festschmaus hätten. Franziskus sah in den Haubenlerchen, deren unscheinbar braunes Gefieder mit der spitzen Federhaube an das braune Habit seiner Minderen Brüder erinnert, ein Vorbild für seinen Orden: Sie ziehen so leicht wie Luft umher, sie legen keine Vorräte an, begnügen sich mit dem Lebensnotwendigen und singen und singen. Er bezeichnete sie als seine Schwestern. Einmal predigte er am Wegesrand in Umbrien den Vögeln, die sich angeblich still um ihn scharten und ihm aufmerksam zuhörten, und danach tadelte er sich, weil ihm dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war. Ein andermal, als er zu Menschen predigen wollte, machte ein Schwalbenschwarm einen solchen Lärm, dass er – zornig oder höflich, die Quellen sind nicht eindeutig – rief: «Ihr Schwestern Schwalben habt gesagt, was ihr zu sagen hattet. Nun schweigt still und lasst mich sprechen.» Der Legende nach verstummten die Schwalben sogleich.

Ich suchte die Stelle, wo der heilige Franziskus den Vögeln predigte, mit Guglielmo Spirito auf, einem Franziskaner, der zugleich ein leidenschaftlicher Tolkien-Experte ist. «Schon als Kind», sagte er, «wusste ich: Wenn ich je in einen Orden eintreten würde, dann in den der Franziskaner. Was mich in meiner Jugend am meisten angezogen hat, war seine Beziehung zu den Tieren. Seine Lehre ist für mich dieselbe wie die der Märchen: Dass das Einssein mit der Natur nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich ist. Er ist ein Beispiel für die wiedergewonnene Ganzheit, eine Ganzheit, die auch wir erlangen können.» Der kleine Schrein, der an die Vogelpredigt erinnert, liegt gegenüber einer Tankstelle an einer vielbefahrenen Straße und vermittelt nichts von dieser Ganzheit; ich hörte ein paar Krähen krächzen und Meisen zwitschern, doch hauptsächlich hörte ich Verkehrslärm.

In Assisi jedoch führte Guglielmo mich zu zwei anderen franziskanischen Orten, die mich mehr verzauberten: die Heilige Hütte, ein Gebäude aus roh behauenen Steinen, in dem Franziskus und seine ersten Anhänger in freiwilliger Armut gelebt und den Orden gegründet hatten, und die winzige Kapelle Santa Maria degli Angeli, vor der in der Nacht, als Franziskus starb, seine Schwestern, die Lerchen, gesungen haben sollen. Beide Gebäude sind inzwischen von später errichteten, größeren und reicher geschmückten Kirchen umschlossen; einer der Architekten, ein pragmatischer Italiener, hatte es für nötig erachtet, mitten in der Heiligen Hütte eine dicke Marmorsäule aufzustellen.

Seit Jesus hat niemand sein Leben so radikal nach der Lehre des Evangeliums ausgerichtet wie Franz von Assisi; und da er nicht die Bürde des Messias zu tragen hatte, ging er noch einen Schritt weiter als Jesus und bezog die ganze Schöpfung in seine Lehre ein. Falls Wildvögel im modernen Europa überleben, dann so, schien mir, wie diese uralten kleinen Franziskanergebäude, im Schutz einer prunksüchtigen und mächtigen Kirche: als geliebte Ausnahme von der Regel.


(Übersetzt von Dirk van Gunsteren)