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«I just called to say I love you»

Eines der großen Ärgernisse der modernen Technik ist, dass ich, wenn eine Neuerung mein Leben spürbar verschlechtert hat und immer neue Wege findet, es zu verkomplizieren, nur noch ein Jahr oder auch zwei darüber klagen darf, bevor die Coolness-Bestimmer mir erzählen: Wirst schon drüber wegkommen, Opa – so ist das Leben heute eben.

Ich bin nicht gegen technische Entwicklungen. Digitale Mailbox und Anruferkennung, die gemeinsam die Tyrannei des klingelnden Telefons gebrochen haben, sind für mich zwei der großen Erfindungen des späten 20. Jahrhunderts. Und wie lieb ist mir mein BlackBerry, mit dem ich lange, unwillkommene E-Mails in ein paar atemlosen telegraphischen Zeilen erledigen kann, für die der Empfänger gleichwohl dankbar sein muss, weil ich sie mit den Daumen gedrückt habe. Und meine lärmblockenden Kopfhörer mit ihrem frequenzversetzten weißen Rauschen, das selbst das resoluteste Dröhnen des Fernsehers beim Nachbarn überdeckt: großartig. Und die wunderbare Welt der DVD-Technik und der hochauflösenden Bildschirme, die mir schon so viele klebrige Kinoböden, so viele ungehörig flüsternde Kinogänger, so viele ungehemmt mampfende Popcorn-Knurpser erspart hat.

Für mich bedeutet Privatsphäre nicht, mein Privatleben vor anderen zu verbergen, sondern mir das Eindringen des Privatlebens anderer zu ersparen. Daher bin ich, obwohl meine Lieblings-Gadgets die Privatsphäre aktiv steigern, für so ziemlich jede Entwicklung aufgeschlossen, die mich nicht dazu zwingt, mich mit ihr zu befassen. Wenn Sie jeden Tag eine Stunde damit verbringen, an Ihrem Facebook-Profil zu basteln, wenn Sie keinen Unterschied darin sehen, Jane Austen auf einem Kindle oder als gedrucktes Buch zu lesen, oder wenn Sie Grand Theft Auto IV für das größte Gesamtkunstwerk seit Wagner halten, freue ich mich für Sie, solange Sie es für sich behalten. Was mir viel mehr Probleme bereitet, sind die Beleidigungen, die nicht aufhören wollen, die Verletzungen vergangener Jahre, die uns immer weiter quälen. Beispielsweise das Airport-TV: Ungefähr einer von zehn Reisenden verfolgt es aufmerksam (es sei denn, es gibt Football), für die übrigen neun dagegen ist es eine handfeste Belästigung. Jahr um Jahr, Flughafen um Flughafen, eine kleine, aber offenbar permanente Schmälerung der Lebensqualität des Durchschnittsreisenden. Oder, ein weiteres Beispiel, die geplante Veralterung richtig guter Software und ihre Ersetzung durch schlechte. Ich kann noch immer nicht akzeptieren, dass die beste jemals geschriebene Textverarbeitung, WordPerfect 5.0 für DOS, auf keinem heute erhältlichen Computer mehr läuft. Ja, klar, theoretisch kann man es noch in dem kleinen DOS-emulierenden Fenster auf Windows laufen lassen, aber diese Emulation ist so winzig und hat eine so grobe Graphik, dass es wie eine bewusste Beleidigung Microsofts all derjenigen ist, die nicht mit einem funktionsüberladenen Moloch arbeiten wollen. WordPerfect 5.0 war für Desktop-Publishing hoffnungslos primitiv, für Schreibende aber, die damit nur schreiben wollten, unübertroffen. Elegant, störungsfrei, von der Größe her zu vernachlässigen, wurde es von dem fettleibigen, aufdringlichen, monopolistischen, ständig abstürzenden Word verdrängt. Hätte ich in meinem Büroschrank nicht alte 386er und 486er PCs gesammelt, könnte ich jetzt gar nicht mehr mit WordPerfect schreiben. Inzwischen bin ich schon bei meinem letzten Reservecomputer angelangt! Und doch sind manche so dreist, mir zu verübeln, dass ich ihnen meine Texte nicht in einem für das allmächtige Word lesbaren Format schicke. Wir leben jetzt halt in einer Word-Welt, Opa. Wirst drüber wegkommen, entspann dich.


Doch das alles ist ja bloß lästig. Die technische Entwicklung aber, die dauerhaften Schaden von wirklich gesellschaftlicher Bedeutung angerichtet hat – und über die man nicht klagen kann, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben, obwohl der Schaden andauert –, ist das Handy.

Noch vor zehn Jahren war New York (wo ich lebe) reich an gemeinschaftlich erhaltenen öffentlichen Orten, an denen die Bürger der Gemeinschaft Respekt bezeigten, indem sie ihr banales Schlafzimmerleben für sich behielten. Vor zehn Jahren hatte das Gequassel die Welt noch nicht vollständig erobert. Es war noch möglich, den Gebrauch eines Nokia als Protzerei oder Affektiertheit Wohlhabender zu sehen. Oder, wohlwollender, als ein Gebrechen, eine Behinderung oder Krücke. Schließlich kam es dann Ende der neunziger Jahre in ganz New York zu einem nahtlosen Übergang von der Nikotin- zur Handykultur. Steckte am einen Tag noch eine Schachtel Marlboro in der Hemdtasche, war es am nächsten ein Motorola. Hielt die schutzlose, weil unbegleitete hübsche Frau am einen Tag noch Hände, Mund und Aufmerksamkeit mit einer Zigarette beschäftigt, führte sie am folgenden ein sehr wichtiges Gespräch mit einer Person, die nicht man selbst war. Scharten sich auf dem Spielplatz am einen Tag noch alle um den ersten Jungen mit einer Schachtel Lucky Strike, umlagerten sie am folgenden den ersten mit einem Farbdisplay. Zückten die Reisenden am einen Tag noch ihr Feuerzeug, sobald sie dem Flugzeug entstiegen waren, drückten sie am nächsten die Kurzwahltasten. Aus der Eine-Schachtel-am-Tag-Sucht wurden Mobilfunk-Rechnungen von hundert Dollar im Monat. Aus Rauchverschmutzung wurde Lärmverschmutzung. Das Ärgernis selbst veränderte sich über Nacht, doch das Leiden der selbstbeherrschten Mehrheit unter einer zwanghaften Minderheit blieb in Restaurants, Flughäfen und anderen öffentlichen Räumen auf unheimliche Weise konstant. Im Jahr 1998, ich hatte kurz zuvor das Rauchen aufgegeben, beobachtete ich in der U-Bahn Mitreisende, die nervös ihr Handy auf- und zuklappten oder an der zitzengleichen Antenne knabberten, die damals alle Handys hatten, oder ihr Gerät einfach still wie eine Mutterhand umfassten, und dann empfand ich fast so etwas wie Mitleid mit ihnen. Damals war für mich die Frage noch offen, wie weit der Trend gehen würde: ob New York wirklich zu einer Stadt aus Telefonjunkies werden wollte, die in abstoßenden kleinen Wolken aus Privatleben auf dem Gehweg schlafwandelten, oder ob die Vorstellung eines zurückhaltenderen öffentlichen Ichs sich doch irgendwie behaupten konnte.

Selbstredend fand ein Kampf nicht statt. Das Mobiltelefon war keine jener modernen Entwicklungen wie Ritalin oder übergroße Regenschirme, gegen die sich nennenswerte Nischen zivilen Widerstands ermutigend halten. Sein Triumph kam rasch und war total. Seine Missbräuche wurden in Essays, Kolumnen und allen möglichen Leserbriefen beklagt und bemeckert und, als die Missbräuche nur noch schlimmer zu werden schienen, noch bissiger beklagt und bemeckert, aber das war’s dann auch. Die Klagen waren registriert, es folgten ein paar kleine symbolische Anpassungen (der «ruhige Wagen» in Amtrak-Zügen, diskrete Schildchen in Restaurants und Fitnesscentern, die eindringlich um Zurückhaltung flehten), aber danach stand es der Mobiltechnologie frei, ihr Zerstörungswerk ohne Furcht vor weiterer Kritik fortzuführen, weil weitere Kritik ungeil und uncool gewesen wäre. Opa.

Aber nur weil uns das Problem jetzt vertraut ist, heißt das noch lange nicht, dass Autofahrer, die hinter einem Kerl festhängen, der auf der Überholspur in sein Handy plappert und dabei genau auf Höhe des Fahrzeugs rechts von ihm bleibt, nicht vor Wut kochen. Trotzdem: Alles in unserer Kommerzkultur sagt dem plappernden Fahrer, dass er im Recht ist, und uns anderen, dass wir im Unrecht sind – dass wir es nicht schaffen, das supergünstige Angebot von Freiheit, Mobilität und unbegrenzten Minuten zu nutzen. Die Kommerzkultur sagt uns, dass wir nur deshalb auf den plappernden Fahrer sauer sind, weil wir nicht so viel Spaß haben wie er. Was ist denn los mit uns? Warum können wir nicht ein wenig locker werden und selber zum Handy mit unserem Freunde-und-Familien-Tarif greifen und selber mehr Spaß haben, da auf der Überholspur?

Gesellschaftlich Retardierte verhalten sich nicht plötzlich erwachsener, wenn Gesellschaftskritiker unter Gruppendruck zum Schweigen gebracht werden. Sie werden nur unverschämter. Eine gegenwärtig sich verschlimmernde Landplage ist der Käufer, der während des Bezahlvorgangs an der Kasse einfach weitertelefoniert. Die typische Kombination in meinem Viertel in Manhattan ist eine junge Weiße, die gerade an irgendeinem teuren College ihr Examen gemacht hat, und eine Schwarze oder Hispanierin aus der Nachbarschaft, ungefähr im selben Alter, aber weniger begünstigt. Natürlich ist die Erwartung, dass die Kassiererin sich einem widmet oder sich darüber freut, wie gewissenhaft man gewillt ist, sich ihr zu widmen, eine liberale Eitelkeit. Angesichts ihrer monotonen und schlecht bezahlten Arbeit darf sie einen durchaus mal gelangweilt oder gleichgültig behandeln; schlimmstenfalls ist sie dann unprofessionell. Das entbindet einen jedoch nicht von der moralischen Pflicht, sie als Person zur Kenntnis zu nehmen. Und auch wenn es stimmt, dass es manche Kassiererinnen offenbar nicht stört, ignoriert zu werden, sind doch auffallend viele sichtlich irritiert, verärgert oder traurig, wenn eine Kundin sich nicht einmal für zwei Sekunden von ihrem Telefon losreißen kann, um sich ihr zuzuwenden. Selbstredend ist es der Übeltäterin, so wie dem plappernden Fahrer auf dem Highway, überhaupt nicht bewusst, dass jemand ihretwegen sauer ist. Meiner Erfahrung nach bezahlt sie, je länger die Schlange, ihren Einkauf von 1,98 Dollar desto wahrscheinlicher mit der Kreditkarte. Und zwar nicht mit einer Kreditkarte mit einem tap-and-go-Mikrochip, bei dem die Karte kurz auf ein Lesegerät gehalten wird, sondern mit einer Kreditkarte der Sorte Auf-die-ausgedruckte-Quittung-warten-und-dann-(erst-dann)-mit-zombieartiger-Umständlichkeit-das-Handy-vom-einen-Ohr-zum-anderen-verlagern-und-das-Handy-zwischen-Ohr-und-Schulter-klemmen-und-dabei-die-Quittung-unterschreiben-und-dabei-weiter-Zweifel-äußern-ob-ihr-wirklich-danach-ist-sich-am-Abend-mit-diesem-Morgan-Stanley-Typen-Zachary-in-der-Weinbar-Etats-Unis-zu-treffen.

Sicher, eine positive gesellschaftliche Konsequenz aus diesem sich verschlimmernden Benehmen gibt es. Die abstrakte Vorstellung zivilisierter öffentlicher Räume als rarer Ressourcen, die zu verteidigen sich lohnt, mag praktisch tot sein, dennoch findet sich Trost in den flüchtigen Ad-hoc-Mikrogemeinschaften Mitleidender, die schlechtes Benehmen hervorbringt. Durch das Autofenster sehen, wie ein anderer Fahrer vor Wut kocht, oder dem Blick einer angesäuerten Kassiererin begegnen und mit ihr gemeinsam den Kopf schütteln: Da kommt man sich etwas weniger allein vor. Weswegen von allen schlimmer werdenden Varianten schlechten Handy-Benehmens diejenige mich am meisten ärgert, die vermeintlich kein Opfer hat und deshalb niemanden sonst zu ärgern scheint. Ich spreche von der Angewohnheit, vor zehn Jahren noch ungebräuchlich, heute allgegenwärtig, Handygespräche mit einem gekrähten «LIEB DICH!» zu beenden. Oder, noch bedrückender und schriller: «ICH LIEBE DICH!» Da möchte ich dann am liebsten nach China auswandern, wo ich die Sprache nicht verstehe.

Die Handy-Komponente meines Ärgers ist einfach. Ich will eben nicht, während ich bei Gap Socken kaufe oder in einer Ticketschlange stehe und meinen privaten Gedanken nachhänge oder versuche, in einem Flugzeug, das gerade bestiegen wird, einen Roman zu lesen, imaginär in die klebrige Familienwelt eines Menschen in meiner Umgebung hineingezogen werden. Das Wesen der Scheußlichkeit des Handys als gesellschaftliches Phänomen – die schlechte Nachricht, die schlecht bleibt – ist eben, dass es ermöglicht und geradezu dazu ermutigt, das Private und Individuelle dem Öffentlichen und Gemeinschaftlichen aufzudrängen. Und es gibt keine großkalibrigere Äußerung als «Ich liebe dich» – nichts Schlimmeres, was eine Einzelperson einem gemeinschaftlichen öffentlichen Raum aufdrängen kann. Nicht einmal «Fick dich, du Arsch» ist zudringlicher, da es durchaus einmal von einem Wütenden in der Öffentlichkeit geschrien werden kann, und ebenso gut kann es an einen Fremden gerichtet sein.

Elisabeth, eine gute Freundin, versichert mir, dass die neue Landplage der «Lieb dich»s eine gute Sache sei: eine gesunde Reaktion auf die repressive Familiendynamik unserer protestantischen Kindheit einige Jahrzehnte zuvor. Was soll denn schlimm daran sein, fragt Elisabeth, seiner Mutter zu sagen, dass man sie liebt, oder von ihr zu hören, dass sie einen liebt? Wenn nun einer der beiden stirbt, bevor man noch einmal miteinander sprechen kann? Ist es nicht schön, dass man sich dergleichen heutzutage so frei sagen kann?

Ich räume hiermit die Möglichkeit ein, dass ich, verglichen mit allen anderen in einer Abflughalle, ein außergewöhnlich kalter und liebloser Mensch bin und die jähe, überwältigende Empfindung, jemanden zu lieben (einen Freund, eine Ehefrau, einen Vater, eine Schwester), die für mich eine derart wesentliche und ungeheure Empfindung ist, dass ich Mühe habe, die Worte, die sie am besten ausdrücken, nicht zu verschleißen, für andere offenbar so gebräuchlich und routinemäßig und leicht zu haben ist, dass sie an einem einzigen Tag ohne nennenswerten Kräfteverlust immer wieder aufs Neue erfahren und bekundet werden kann.

Möglich ist allerdings auch, dass eine allzu häufige habituelle Wiederholung Wörter ihres Sinns beraubt. Joni Mitchell verwies in der letzten Strophe von Both Sides Now auf das feierliche Erstaunen, «Ich liebe dich» right out loud, «ganz laut» zu sagen: ein so intensives Gefühl stimmlich hervorzubringen. Stevie Wonder singt siebzehn Jahre später in einem Lied davon, jemanden an einem stinknormalen Nachmittag anzurufen, um ihm «I love you» zu sagen, und da er Stevie Wonder ist (wahrscheinlich ein liebevollerer Mensch als ich), kann ich ihm die Aufrichtigkeit auch beinahe abnehmen – jedenfalls bis zur letzten Zeile des Chors, wo er es nötig findet hinzuzufügen: «And I mean it from the bottom of my heart.» Die Beteuerung von Aufrichtigkeit ist mehr oder weniger die Diagnose von Unaufrichtigkeit.

Und so kann ich, während ich bei Gap meine Socken kaufe und die Mami hinter mir in der Schlange in ihr kleines Telefon «Ich liebe dich» schreit, nicht umhin zu glauben, dass da etwas inszeniert wird, überinszeniert, öffentlich inszeniert, trotzig aufgedrängt wird. Ja, viel Familiäres, das nicht für den öffentlichen Gebrauch gedacht ist, wird öffentlich geschrien, ja, die Leute können sich nicht bremsen. Aber der Satz «Ich liebe dich» ist zu wichtig und befrachtet, und er wird als Schlusssatz zu bewusst benutzt, als dass ich glauben könnte, ihn rein zufällig mitzuhören. Hätte die Liebeserklärung der Mutter ein echtes, persönliches, emotionales Gewicht, würde sie dann nicht doch ein wenig darauf achten, es vor öffentlichem Mithören zu schützen? Wenn sie wirklich meinte, was sie da sagte, from the bottom of her heart, müsste sie es dann nicht leise sagen? Wenn ich als Fremder mithöre, habe ich das Gefühl, der aggressiven Behauptung eines Anspruchs teilhaftig zu werden. Zumindest scheint dieser Mensch mir und allen anderen in der näheren Umgebung zu sagen: «Meine Emotionen und meine Familie sind mir wichtiger als eure gesellschaftliche Ruhe.» Und oft genug argwöhne ich auch: «Ihr sollt alle wissen, dass ich, anders als viele, einschließlich meines kalten Schweins von Vater, ein Mensch bin, der seinen Nahestehenden immer sagt, dass er sie liebt.»

Oder ist es womöglich so, dass ich in meinem zugegeben jetzt ziemlich übergeschnappt klingenden Ärger das alles nur projiziere?


Am 11. September 2001 wurde das Mobiltelefon erwachsen. An dem Tag prägte sich unserem kollektiven Bewusstsein das Bild des Handys als Übermittler von Intimität zwischen Verzweifelten auf. Es fällt schwer, nicht in jedem zu lauten «Ich liebe dich», das ich heute höre, ebenso wie in der allgemeineren nationalen Orgie des Verbundenseins – des Imperativs für Eltern und Kinder, einmal, zweimal, fünf- oder zehnmal telefonisch miteinander verbunden zu sein –, ein Echo jener schrecklichen, vollkommen angemessenen, herzzerreißenden «Ich liebe dich»s zu hören, die in den vier todgeweihten Flugzeugen und den zwei todgeweihten Türmen ausgestoßen wurden. Und genau dieses Echo, die Tatsache, dass es ein Echo ist, das Sentimentale daran, ärgert mich so.

Ich selbst habe den 11. September anormal erlebt, also nicht vorm Fernseher. Morgens um neun Uhr rief mich mein Verleger an, der von seinem Büro aus gerade beobachtet hatte, wie das zweite Flugzeug in den Turm raste. Sofort ging ich zum nächsten Fernseher, im Besprechungsraum des Immobilienmaklers ein Stockwerk tiefer, und sah zusammen mit einer Gruppe Makler mit an, wie erst der eine und dann der andere Turm einstürzte. Dann kam meine Freundin nach Hause, und wir verbrachten den Rest des Tages damit, Radio zu hören, im Internet zu surfen, unsere Familien zu beruhigen und von unserem Dach aus und mitten auf der Lexington Avenue (die voller Fußgänger war, die Richtung Norden strömten) zu beobachten, wie Staub und Qualm im unteren Manhattan sich zu einem erschütternden Leichentuch ausbreiteten. Abends gingen wir zur 42nd Street, trafen uns mit einem Freund von außerhalb und fanden schließlich in den West Forties ein Restaurant, das tatsächlich Essen servierte. Alle Tische waren voll besetzt mit Leuten, die kräftig tranken; es herrschte eine Stimmung wie im Krieg. Als wir dann durch die Bar des Restaurants hinausgingen, erhaschte ich noch einen kurzen Blick auf einen Fernseher, in dem das Gesicht George W. Bushs zu sehen war. «Er sieht aus wie eine ängstliche Maus», sagte jemand. In einem Zug der Linie 6 am Grand Central, wir warteten darauf, dass er sich in Bewegung setzte, beschwerte sich ein New Yorker Pendler wütend bei einem Schaffner darüber, dass kein Expresszug in die Bronx fuhr.

Drei Tage später saß ich von elf Uhr nachts fast bis drei Uhr morgens bei ABC News in einem eisigen Raum, von dem aus ich meinen Mit-New-Yorker David Halberstam sehen und per Videoschaltung mit Maya Angelou und weiteren Schriftstellern von außerhalb sprechen konnte, während wir darauf warteten, Ted Koppel eine literarische Einschätzung der Angriffe vom Dienstagmorgen zu geben. Wir warteten ziemlich lange. Immer wieder wurden Aufnahmen der Angriffe und der nachfolgenden Einstürze und Brände gezeigt, dazwischen lange Beiträge über die emotionalen Auswirkungen auf Normalbürger und deren leicht zu beeindruckende Kinder. Immer wieder bekam dann der eine oder andere von uns Schriftstellern sechzig Sekunden, um etwas Schriftstellerisches zu sagen, bis die Berichterstattung weitere Schlachtfelder zeigte und herzzerreißende Interviews mit Freunden und Familien der Toten und Vermissten brachte. Während der dreieinhalb Stunden sagte ich viermal etwas. Beim zweiten Mal wurde ich gebeten, weit verbreitete Berichte zu bestätigen, dass die Angriffe vom Dienstag das Wesen der New Yorker tiefgreifend verändert hätten. Ich dachte an den wütenden Pendler und konnte diese Berichte nicht bestätigen. Ich erzählte von Leuten in meinem Viertel, die am Mittwochnachmittag Herbstsachen shoppen gegangen waren. Ted Koppel stellte in seiner Antwort darauf klar, dass ich an der Aufgabe, die zu erfüllen ich die halbe Nacht gewartet hatte, gescheitert sei. Stirnrunzelnd sagte er, sein Eindruck sei ein ganz anderer: Dass nämlich die Angriffe das Wesen der Stadt New York tiefgreifend verändert hätten.

Natürlich nahm ich an, dass ich die Wahrheit sagte und Koppel nur die gängige Meinung wiedergab. Doch Koppel hatte ferngesehen, ich aber nicht. Und weil ich keinen Fernseher hatte, begriff ich nicht, dass dem Land der schlimmste Schaden nicht vom Erreger, sondern von der massiven Überreaktion seines Immunsystems zugefügt wurde. Im Kopf verglich ich die Zahl der Opfer vom Dienstag mit anderen Zahlen gewaltsamer Tode – in den dreißig Tagen vor dem 11. September kamen 3000 Amerikaner bei Verkehrsunfällen ums Leben –, glaubte ich doch, da ich die Bilder nicht gesehen hatte, es komme auf die Zahl an. Ich verwandte einige Energie darauf, mir vorzustellen bzw. der Vorstellung zu widerstehen, wie grauenhaft es gewesen sein musste, auf einem Fensterplatz in einer Maschine zu sitzen, die tief über dem West Side Highway flog, oder im 95. Stockwerk eingeschlossen zu sein und zu hören, wie die Stahlkonstruktion darunter plötzlich ächzt und knarrt, während das übrige Land ein tatsächliches Echtzeittrauma erlebte, indem es dieselben Beiträge immer wieder sah. Und so bedurfte ich der nationalen Fernseh-Gruppentherapie nicht – war mir ihrer eine Zeitlang nicht einmal bewusst –, nicht der marathonartigen Techno-Umarmung, die sich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten als Reaktion auf das Trauma entwickelte, Fernsehbildern ausgesetzt zu sein.

Was ich hingegen sah, war die plötzliche, mysteriöse, katastrophale Sentimentalisierung des öffentlichen Diskurses in Amerika. Und genauso, wie ich die Schuld dafür, dass Leute elterliche oder kindliche Zuneigung in ihr Telefon gießen und jeden Fremden in Hörweite mit Grobheiten überschütten, nun mal der Mobilfunktechnik gebe, gebe ich die Schuld an der nationalen Betonung des Persönlichen nun mal der Medientechnologie. Anders als etwa 1941, als die Vereinigten Staaten auf einen furchtbaren Angriff mit kollektiver Entschlossenheit, Disziplin und Opferbereitschaft antworteten, hatten wir 2001 fürchterliche Bilder. Wir hatten Amateuraufnahmen und konnten sie Bild für Bild analysieren. Wir hatten Bildschirme, auf denen die Gewalt in ihrer ganzen Brutalität in jedes Schlafzimmer im Land gebracht wurde, die Mailbox, die verzweifelte letzte Anrufe der Todgeweihten aufzeichnete, und wir hatten die neueste Psychologie, die unser Trauma erklärte und heilte. Darüber aber, was die Angriffe tatsächlich bedeuteten und wie eine vernünftige Reaktion darauf aussehen könnte, gab es unterschiedliche Ansichten. Das war das Wunderbare an der digitalen Technologie: Jetzt fand keine verletzende Zensur von Gefühlen mehr statt! Jeder hatte das Recht, seine oder ihre Meinung zu sagen! Ob Saddam Hussein den Entführern persönlich die Flugtickets gekauft hatte oder nicht, blieb daher Gegenstand lebhafter Debatten. Stattdessen waren sich alle darin einig, dass die Familien der Opfer vom 11. September das Recht hatten, Pläne für das Denkmal an Ground Zero zu befürworten oder abzulehnen. Und alle konnten den Schmerz der Familien der gefallenen Cops und Feuerwehrleute teilen. Und alle waren sich darin einig, dass die Ironie erledigt war. Die faule, leere Ironie der neunziger Jahre war nach 9/11 schlicht «nicht mehr möglich»; wir waren in ein neues Zeitalter der Aufrichtigkeit eingetreten.

Gut war, dass die Amerikaner 2001 zu ihren Kindern um einiges besser «Ich liebe dich» sagen konnten als ihre Väter oder Großväter früher. Aber wirtschaftlich mithalten? Sich als Nation zusammenreißen? Unsere Feinde schlagen? Starke internationale Bündnisse schließen? Daran fehlte es vielleicht doch ein wenig.


Meine Eltern lernten sich zwei Jahre nach Pearl Harbor kennen, im Herbst 1943, und binnen weniger Monate schickten sie einander Karten und Briefe. Mein Vater arbeitete bei der Great Northern Railway und war oft in Kleinstädten unterwegs, inspizierte oder reparierte Brücken, während meine Mutter in Minneapolis blieb und als Empfangsdame arbeitete. Der älteste seiner in meinem Besitz befindlichen Briefe an sie ist vom Valentinstag 1944. Er war gerade in Fairview, Montana, und meine Mutter hatte ihm eine Valentinskarte geschrieben, die im Stil aller ihrer Karten aus dem Jahr, das ihrer Hochzeit voranging, gehalten war: niedliche gemalte Babys, Kleinkinder oder Tierbabys, die niedliche Empfindungen ausdrückten. Vorn auf der Valentinskarte (die mein Vater ebenfalls aufbewahrte) sind ein kleines Mädchen mit Zöpfen und ein errötender kleiner Junge zu sehen, sie stehen nebeneinander, die Blicke züchtig abgewandt, die Hände verschämt auf dem Rücken.

I wish I were a little rock,

’Cause then when I grew older,

Maybe I would find some day

I was a little «boulder».

Auf der Innenseite der Karte ist eine Zeichnung derselben Kinder, nun aber halten sie Händchen, und zu Füßen des Mädchens findet sich in Schreibschrift der Namenszug («Irene») meiner Mutter. Eine zweite Strophe lautet:

And that would really help a lot

It sure would suit me fine,

For I’d be «bould» enough to say,

«Please be my Valentine».

Der Antwortbrief meines Vaters trägt den Poststempel Fairview, Montana, 14. Februar.

Dienstagabend

Liebe Irene,

es tut mir leid, Dich am Valentinstag enttäuscht zu haben; ich habe noch daran gedacht, aber als ich dann im Drugstore keine fand, kam ich mir ein bisschen blöd vor, beim Kaufmann oder im Eisenwarenladen nachzufragen. Bestimmt haben sie auch hier schon vom Valentinstag gehört. Deine Karte hat perfekt zu der Situation hier gepasst, und ich weiß nicht, ob das Absicht oder Zufall war, aber ich glaube doch, dass ich Dir von unseren Schwierigkeiten mit den Steinen berichtet habe. Heute sind uns die Steine ausgegangen, daher wünsche ich mir kleine Steine, große Steine, Steine jeder Art, denn solange wir keine haben, können wir hier nichts tun. Ich kann hier ziemlich wenig machen, wenn die Baufirma arbeitet, und jetzt gar nichts. Heute bin ich zu der Brücke gelaufen, an der wir arbeiten, nur um die Zeit totzuschlagen und ein wenig Bewegung zu haben; sie ist ungefähr sechs Kilometer entfernt, was bei dem beißenden Wind ziemlich weit ist. Wenn wir morgen früh keine Steine geliefert bekommen, werde ich hier sitzen und was Philosophisches lesen; ich finde es nicht eben richtig, dass ich für einen solchen Tag auch noch bezahlt werde. Ungefähr die einzige andere Abwechslung hier besteht darin, in der Hotelhalle zu sitzen und den Stadttratsch mitzukriegen, und die alten Leute, die hierherkommen, haben einiges davon auf Lager. Du hättest Deine helle Freude daran, weil es hier so einen breiten Querschnitt des Lebens gibt – vom Landarzt bis zum Stadtsäufer. Und Letzterer ist wahrscheinlich am interessantesten. Wie ich gehört habe, hat er einmal an der Universität von N. D. unterrichtet, und er scheint wirklich ein ganz intelligenter Mensch zu sein, selbst wenn er betrunken ist. Normalerweise ist das Gerede hier ziemlich grob, ungefähr so, wie Steinbeck es als Vorlage genommen haben muss, aber heute Abend kam eine riesengroße Frau herein, die sich gleich häuslich einrichtete. Davon wird mir irgendwie klar, was für ein behütetes Leben wir Städter führen. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und fühle mich hier wie zu Hause, aber irgendwie sehe ich die Dinge jetzt anders. Du wirst noch mehr davon hören.

Ich hoffe, Samstagabend wieder in St. Paul zu sein, kann es jetzt aber noch nicht mit Sicherheit sagen. Wenn ich da bin, rufe ich Dich an.

In Liebe,

Dein Earl

Kurz davor war mein Vater neunundzwanzig geworden. Schwer zu sagen, wie meine Mutter in ihrer Unschuld und ihrem Optimismus den Brief damals aufnahm, aber ganz allgemein und mit Blick auf die Frau, die ich nach und nach kennenlernen sollte, kann ich sagen, dass es in keiner Weise der Brief war, den sie von ihrem Liebsten haben wollte. Dass das niedliche Wortspiel in ihrem Valentine-Gedicht wortwörtlich als Bezug auf Schotter verstanden wurde? Und sie, der es ihr ganzes Leben lang vor der Hotelbar graute, in der ihr Vater als Barmann gearbeitet hatte, sie sollte ihre helle Freude daran haben, vom Stadtsäufer «grobes Gerede» zu hören? Wo waren die Koseworte? Wo die träumerischen Liebesgespräche? Es war klar, dass mein Vater noch eine Menge über sie lernen musste.

Für mich dagegen steckt sein Brief voller Liebe. Voller Liebe zu meiner Mutter jedenfalls: Er hat versucht, eine Valentinskarte für sie zu besorgen, er hat ihre Karte sorgfältig gelesen, er hätte sie gern bei sich, er hat Ideen, die er ihr mitteilen möchte, er schreibt ihr, dass er sie liebt, er wird sie anrufen, sobald er da ist. Voller Liebe aber auch zur weiteren Welt: zu den vielfältigen Menschen darin, zu kleinen und großen Städten, zu Philosophie und Literatur, zu harter Arbeit und fairem Lohn, zu Gesprächen, zum Denken, zu langen Märschen im beißenden Wind, zu sorgfältig gewählten Worten und perfekter Rechtschreibung. Der Brief erinnert mich an die vielen Dinge, die ich an meinem Vater liebte, seinen Anstand, seine Intelligenz, seinen unerwarteten Humor, seine Neugier, seine Gewissenhaftigkeit, seine Zurückhaltung und Würde. Nur wenn ich den Brief neben die Valentinskarte meiner Mutter mit ihren großäugigen Babys und der puren Sentimentalität halte, schwenkt mein Blick auf die Jahrzehnte gegenseitiger Enttäuschung, die auf die ersten Jahre folgten, Jahre halbwegs ungetrübten Glücks.

Später beklagte sich meine Mutter bei mir, mein Vater habe ihr nie gesagt, dass er sie liebe. Und im wörtlichen Sinn mag es auch sein, dass er ihr die drei großen Worte nie gesagt hat – ich jedenfalls habe sie ihn nie sagen hören. Aber dass er die Worte nie geschrieben hat, stimmt eindeutig nicht. Ich brauchte Jahre, um den Mut zu fassen, ihre alten Briefe zu lesen, und das lag unter anderem daran, dass der erste Brief meines Vaters, auf den ich nach dem Tod meiner Mutter einen Blick warf, mit einem Kosenamen begann («Irenie»), den ich ihn in den 35 Jahren, die ich ihn kannte, nie habe sagen hören, und mit einer Erklärung endete («Ich liebe Dich, Irene»), deren Anblick ich nicht ertragen konnte. Das klang überhaupt nicht nach ihm, und so vergrub ich alle Briefe in einer Truhe auf dem Dachboden meines Bruders. Viel später, als ich sie wieder hervorholte und es schaffte, sie ganz durchzulesen, entdeckte ich, dass mein Vater ihr tatsächlich Dutzende Male seine Liebe erklärt hatte, und zwar mit den drei großen Worten, bevor und nachdem er meine Mutter geheiratet hatte. Aber vielleicht war er dennoch, sogar damals, außerstande gewesen, die Worte auszusprechen, und vielleicht hatte er sie deshalb in der Erinnerung meiner Mutter nie «gesagt». Möglich auch, dass seine schriftlichen Erklärungen schon in den vierziger Jahren so merkwürdig und für ihn untypisch geklungen hatten wie für mich heute und dass meine Mutter sich in ihren Klagen an eine tiefere Wahrheit erinnerte, die nun von seinen scheinbar liebevollen Worten überdeckt war. Möglich, dass er sich in schuldiger Reaktion auf den Gefühlssturm, der ihn aus ihren Briefen anwehte («Ich liebe Dich aus ganzem Herzen», «Mit ach so viel Liebe» usw.), verpflichtet fühlte, seinerseits romantische Liebe sichtbar werden zu lassen oder es zumindest zu versuchen, so wie er (irgendwie) versucht hatte, in Fairview, Montana, eine Valentinskarte zu kaufen.


Both Sides Now, in der Version von Judy Collins, war der erste Popsong, der sich in meinem Kopf festsetzte. Als ich acht oder neun war, lief er ständig im Radio, und sein Verweis darauf, die Liebe «right out loud» zu erklären, trug in Verbindung damit, dass ich mich in Judy Collins’ Stimme verknallt hatte, dazu bei, dass die primäre Bedeutung von «Ich liebe dich» für mich eine sexuelle war. Dann durchlebte ich die siebziger Jahre und war in seltenen Gefühlsanfällen imstande, meinen Brüdern und vielen meiner besten Freunde zu sagen, dass ich sie liebte. Doch die ganze Grundschule und Junior High hindurch hatten diese Worte für mich nur eine Bedeutung. «Ich liebe dich» war der Satz, den ich vom süßesten Mädchen in der Klasse auf einen Zettel geschrieben sehen oder im Wald bei einem Schulpicknick geflüstert hören wollte. Es geschah in diesen Jahren nur zweimal, dass mir ein Mädchen, das ich mochte, das sagte oder schrieb. Aber wenn es geschah, war es wie ein Adrenalinstoß. Noch als ich aufs College ging und Wallace Stevens las, der sich, in «Le Monocle de Mon Oncle», über wahllos Liebesuchende wie mich lustig machte –

Wär Sex denn alles, wir quiekten von jeder

zitternden Hand, wie Puppen, die ersehnten Worte –

signalisierten mir diese ersehnten Worte weiterhin das Aufgehen eines Mundes, die Hingabe eines Körpers, die Verheißung berauschender Intimität. Und so war es höchst peinlich, dass derjenige Mensch, von dem ich diese Worte ständig hörte, meine Mutter war. Sie war die einzige Frau in einem Männerhaushalt, und sie lebte mit einem solchen Übermaß an nicht erwiderbaren Gefühlen, dass sie eben zu romantischen Ausdrücken dafür griff. Die Karten und Koseworte, mit denen sie mich bedachte, waren im Geist identisch mit denen, die sie einst meinem Vater hatte zukommen lassen. Lange vor meiner Geburt schon hatte mein Vater ihre Ergüsse als unerträglich kindisch empfunden. Für mich dagegen waren sie nicht annähernd kindisch genug. Ich betrieb einen ungeheuren Aufwand, ihre Erwiderung zu vermeiden. Viele Abschnitte meiner Kindheit, die langen Wochen, in denen wir beide allein zu Hause waren, überstand ich, indem ich mich an wesentliche Unterschiede in der Intensität zwischen den Wendungen «Ich liebe dich», «Ich liebe dich auch» und «Lieb dich» klammerte. Das wirklich Entscheidende für mich war, niemals «Ich liebe dich» oder «Ich liebe dich, Mom» zu sagen. Die am wenigsten schmerzhafte Alternative war ein gemurmeltes, praktisch unhörbares «Lieb dich». «Ich liebe dich auch» dagegen, wenn rasch gesprochen und mit hinreichender Betonung auf dem «auch», was eine Routinereaktion implizierte, half mir über so manchen peinlichen Moment hinweg. Ich erinnere mich nicht, dass sie mich wegen meines Gemurmels je zur Rede gestellt oder mir das Leben schwer gemacht hätte, wenn ich (was zuweilen vorkam) als Antwort wenig mehr als ein ausweichendes Grunzen aufbieten konnte. Aber sie erklärte mir auch nie, dass sie einfach gern «Ich liebe dich» sagte, weil ihr Herz von Gefühlen überfloss, und ich nicht meinen solle, ich müsse darauf jedes Mal mit einem «Ich liebe dich» antworten. Und so höre ich bis zum heutigen Tag immer, wenn ich von einem ins Handy geschrienen «Ich liebe dich» überfallen werde, eine Nötigung.

Obwohl mein Vater Briefe voller Lebendigkeit und Neugier schrieb, fand er nichts Schlimmes daran, meiner Mutter vier Jahrzehnte lang Kochen und Hausputz aufzuzwingen, während er sich seiner Erwerbstätigkeit draußen in der Männerwelt erfreute. Anscheinend ist es, in der kleinen Welt der Ehe ebenso wie in der großen des amerikanischen Lebens, die Regel, dass diejenigen ohne eine Erwerbstätigkeit sentimental sind und umgekehrt. Die verschiedenen Hysterien nach dem 11. September, die Landplage der «Ich liebe dich»s ebenso wie die weit verbreitete Furcht vor den Muselmanen und der Hass auf sie, das alles waren Hysterien der Machtlosen und Überwältigten. Hätte meine Mutter größere Entfaltungsmöglichkeiten gehabt, dann hätte sie ihre Gefühle vielleicht realistischer auf deren Objekte einstellen können.

So kalt, verklemmt oder sexistisch mein Vater nach heutigen Maßstäben auch erscheinen mag, bin ich doch dankbar, dass er mir nie explizit gesagt hat, dass er mich liebt. Mein Vater liebte die Privatsphäre, was bedeutet: Er respektierte den öffentlichen Bereich. Er glaubte an Zurückhaltung, Protokoll und Vernunft, weil ohne das seiner Überzeugung nach eine Gesellschaft unmöglich debattieren und Entscheidungen zu ihrem Besten fällen kann. Es wäre schön gewesen, zumal für mich, wenn er gelernt hätte, seine Gefühle meiner Mutter gegenüber mehr zu zeigen. Aber jedes Mal, wenn ich heute eines dieser ins Handy geschrienen elterlichen «Ich liebe dich»s höre, empfinde ich es als Glück, den Vater gehabt zu haben, den ich hatte. Er liebte seine Kinder über alles. Und zu wissen, dass er es so empfand und es nicht sagen konnte, zu wissen, dass er darauf vertrauen konnte, dass ich wusste, dass dem so war, und nie von ihm erwartete, dass er es sagte: Das war der Kern, war die Substanz der Liebe, die ich für ihn empfand. Einer Liebe, die ihm laut zu erklären ich wiederum immer sorgsam vermied.

Und dennoch: Das war der leichte Teil. Zwischen mir und dem Ort, an dem mein Dad jetzt ist – dem Grab –, kann nur noch Schweigen übermittelt werden. Niemand hat eine größere Privatsphäre als die Toten. Mein Dad und ich sagen einander jetzt nicht sehr viel weniger, als wir es in manchen Jahren zu seinen Lebzeiten taten. Der Mensch, den ich aktiv vermisse – mit dem ich im Geiste streite, dem ich Sachen zeigen will, den ich gern in meiner Wohnung sähe, über den ich mich lustig mache, dem gegenüber ich reumütig bin –, ist meine Mutter. Der Teil von mir, der sich über Handy-Störungen ärgert, stammt von meinem Vater. Der Teil, der mein BlackBerry mag, der alles leichter nehmen und sich der Welt anschließen will, stammt von meiner Mutter. Sie war die modernere der beiden, und obwohl nicht sie, sondern er der Erwerbstätige war, war sie am Ende doch aufseiten der Sieger. Wäre sie heute noch am Leben und wohnte noch in St. Louis, und würden Sie zufällig im Lambert Airport neben mir sitzen und wie ich auf eine Maschine nach New York warten, dann müssten Sie womöglich ertragen, mich sagen zu hören, dass ich sie liebe. Aber ich würde es leise sagen.


(Übersetzt von Eike Schönfeld)