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Wie können Sie so sicher sein, dass nicht Sie selbst das Böse sind?

Über Alice Munro

Vieles spricht dafür, dass Alice Munros Erzählungen das Beste sind, was die zeitgenössische Literatur Nordamerikas zu bieten hat. Leider hat Munro außerhalb Kanadas, wo ihre Bücher die Bestsellerlisten anführen, bisher keine große Leserschaft gefunden. Auf die Gefahr hin, wie jene Leute zu klingen, die sich für den einen oder anderen unterschätzten Schriftsteller einsetzen – vielleicht haben Sie gelernt, diese Bemühungen zu erkennen und sich ihnen zu entziehen? So wie Sie gelernt haben, Postwurfsendungen von wohltätigen Organisationen gar nicht erst zu öffnen? Eine großzügige Spende an Dawn Powell? Mit nur fünfzehn Minuten pro Woche könnten Sie dazu beitragen, Joseph Roth seinen verdienten Platz im Kanon der Literatur der Moderne zu sichern? –, möchte ich anlässlich von Alice Munros neuestem, wunderbarem Buch Tricks einige Vermutungen darüber anstellen, warum ihr Bekanntheitsgrad in einem so eklatanten Missverhältnis zu ihren schriftstellerischen Qualitäten steht.


1. Alice Munros Werk spiegelt in erster Linie die Freude am Erzählen wider.

Das Problem ist, dass viele Käufer anspruchsvoller Belletristik offenbar von Bedeutung durchbebte, im lyrischen Gewand daherkommende Pseudoliteratur bevorzugen.


2. Wenn Sie Alice Munro lesen, lernen Sie dabei nichts über Geschichte und Gesellschaft.

Alice Munros Thema sind Menschen. Menschen, Menschen und noch mal Menschen. Bei der Lektüre eines lehrreichen Romans über die Kunst der Renaissance oder einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte unseres Landes haben Sie die Gewissheit, etwas Produktives zu tun. Doch wenn Sie etwas lesen, das in der modernen Welt spielt, wenn die Gedanken und Beweggründe der Protagonisten Ihnen vertraut und Sie von dem Buch so gefesselt sind, dass Sie es nicht aus der Hand legen können, dann laufen Sie Gefahr, lediglich unterhalten zu werden.


3. Alice Munro gibt ihren Büchern keine wuchtigen Titel wie Kanadisches Idyll, Canadian Psycho, Ein kanadisches Wochenende, In Kanada oder Die Verschwörung gegen Kanada.

Außerdem weigert sie sich, entscheidende dramatische Augenblicke auf leichtverdauliche, diskursive Weise zusammenzufassen. Ihre rhetorische Zurückhaltung, ihr ausgezeichnetes Ohr für Dialoge und ihr beinahe pathologisches Einfühlungsvermögen in die Protagonisten – das alles hat einen hohen Preis: Es lässt das Ego der Autorin oft seitenlang in den Hintergrund treten. Darüber hinaus zeigen die Fotos auf dem Umschlag sie liebenswürdig lächelnd, als wäre der Leser ihr Freund, wohingegen wirklich ernstzunehmende literarische Intentionen doch einen düsteren, mürrischen Gesichtsausdruck erfordern.


4. Die Königlich Schwedische Akademie vertritt einen klaren Standpunkt.

Offenbar ist man in Stockholm zu dem Schluss gekommen, dass bereits zu viele Kanadier und zu viele reine Kurzgeschichtenautoren den Nobelpreis erhalten haben. Es reicht!


5. Alice Munro schreibt Belletristik, und die ist schwieriger zu rezensieren als ein Sachbuch.

Nehmen wir zum Beispiel Bill Clinton. Er hat ein Buch über sich selbst geschrieben. Wie interessant. Wie überaus interessant. Der Autor selbst ist interessant – wer eignet sich besser dazu, ein Buch über Bill Clinton zu schreiben, als Bill Clinton selbst? –, und jeder hat eine Meinung über Bill Clinton und fragt sich, was Bill Clinton in seinem neuen Buch wohl über sich sagt oder nicht sagt, wie er dies ins rechte Licht rückt und jenes widerlegt, und ehe man es sich versieht, hat sich die Rezension praktisch von selbst geschrieben.

Aber wer ist Alice Munro? Sie ist die ferne Lieferantin äußerst angenehmer persönlicher Erfahrungen. Und da ich nicht vorhabe, die Marketingkampagne für ihr neues Buch zu beurteilen oder unterhaltsam bissige Kommentare auf ihre Kosten zu machen, und da ich des Weiteren nicht darauf aus bin, über die konkrete Bedeutung ihres neuen Werkes zu schreiben, denn das gelingt kaum, ohne zu viel über die Handlung preiszugeben, ist es wahrscheinlich besser, ein paar hübsche, zitierfähige Sätze für den Verlag zu schreiben –

«Vieles spricht dafür, dass Alice Munro die beste zeitgenössische Erzählerin Nordamerikas ist. Tricks ist ein literarisches Wunderwerk

– und den Redakteuren der Times Book Review vorzuschlagen, ein möglichst großes Foto der Autorin an prominenter Stelle zu platzieren, dazu vielleicht ein paar kleinere, die ein gewisses voyeuristisches Interesse wecken könnten (ihre Küche? ihre Kinder?), und außerdem aus einem ihrer seltenen Interviews zu zitieren –

Denn es gibt, wenn man sein eigenes Werk betrachtet, so eine Art Erschöpfung oder Verblüffung … Eigentlich ist das Einzige, was man hinterlassen hat, das, woran man gerade arbeitet. Und darum ist man viel dünner angezogen. Man ist wie jemand, der mit einem kurzen Hemdchen oder so herumläuft – damit meine ich die Arbeit, an der man gerade sitzt, und die seltsame Identifikation mit allem, was man zuvor getan hat. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich als Schriftstellerin nicht in der Öffentlichkeit auftrete. Ich glaube, das könnte ich nur, wenn ich eine große Betrügerin wäre.

– und es dabei zu belassen.


6. Denn, schlimmer noch, Alice Munro ist eine reine Kurzgeschichtenautorin.

Und Kurzgeschichten stellen den Rezensenten vor noch größere Herausforderungen. Gibt es in der Weltliteratur eine einzige Kurzgeschichte, die durch die typische Zusammenfassung nicht ihres Reizes beraubt wird? (Ein gelangweilter Ehemann macht auf einer Promenade in Jalta zufällig die Bekanntschaft einer Dame mit einem Hündchen … In einer kleinen Stadt dient die jährliche Lotterie einem recht überraschenden Zweck … Ein Dubliner in mittleren Jahren verlässt eine Party und ergeht sich in Betrachtungen über das Leben und die Liebe …) Oprah Winfrey rührt Bücher mit Kurzgeschichten nicht an. Die Diskussion über Erzählungen ist derart schwierig, dass man Charles McGrath, dem ehemaligen Herausgeber der New York Times Book Review, seine kürzliche Bemerkung beinahe verzeihen kann: Er verglich junge Kurzgeschichtenautoren mit «Menschen, die Golf spielen lernen, sich aber nie auf den Platz wagen, sondern immer auf der Drivingrange bleiben». Soll heißen: Das eigentliche Spiel ist der Roman.

Beinahe alle kommerziellen Verleger teilen McGraths Vorurteil. Für sie ist eine Kurzgeschichtensammlung fast immer der unangenehme und wirtschaftlich erfolglose erste Bestandteil eines Vertrages über zwei Bücher, von denen das zweite auf keinen Fall eine weitere Kurzgeschichtensammlung sein darf. Und obgleich – oder vielleicht gerade weil – die Kurzgeschichte ein Aschenputteldasein fristet, gehört ein großer Prozentsatz der aufregendsten Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre – das, was mir sofort einfällt, wenn man mich fragt, was ich großartig finde – diesem Genre an. Da ist zum einen natürlich die große Meisterin selbst. Außerdem Lydia Davis, David Means, George Saunders, Amy Hempel und Raymond Carver – allesamt reine oder beinahe reine Kurzgeschichtenautoren – sowie eine größere Gruppe von Schriftstellern, die in den verschiedensten Genres Großes geleistet haben (John Updike, Joy Williams, David Foster Wallace, Lorrie Moore, Joyce Carol Oates, Denis Johnson, Ann Beattie, William T. Vollmann, Tobias Wolff, Annie Proulx, Michael Chabon, Tom Drury, Andre Dubus), Autoren, die aber meiner Meinung nach in ihren kürzeren Werken am entspanntesten und am unverfälschtesten sie selbst sind. Selbstverständlich gibt es auch einige sehr gute reine Romanciers. Doch wenn ich die Augen schließe und über die Literatur der vergangenen Jahrzehnte nachdenke, sehe ich eine Landschaft im Dämmerlicht, in der die Lichter, die mich am freundlichsten einladen, doch wieder einmal vorbeizuschauen, von bestimmten Kurzgeschichten ausgehen.

Ich mag Kurzgeschichten, weil sie dem Autor keinen Ort lassen, an dem er sich verstecken kann. Er kann sich nicht wortreich aus der Klemme ziehen; in ein paar Minuten werde ich die Geschichte zu Ende gelesen haben, und wenn er nichts zu sagen hat, werde ich es merken. Ich mag Kurzgeschichten, weil sie gewöhnlich in der Gegenwart oder in der lebendigen Erinnerung spielen; es ist, als widerstehe das Genre dem historischen Impuls, der viele zeitgenössische Romane so kurzlebig und ausgezehrt erscheinen lässt. Ich mag Kurzgeschichten, weil man überaus talentiert sein muss, um neue Charaktere und Situationen zu erfinden und dabei doch immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen. Alle Autoren von erzählender Literatur leiden darunter, dass sie nichts Neues zu sagen haben, aber am meisten leiden die Autoren von Kurzgeschichten. Wie gesagt: Man kann sich nicht verstecken. Die gewitztesten alten Hasen – Alice Munro oder William Trevor zum Beispiel – versuchen es gar nicht erst.

Die Geschichte, die Alice Munro immer wieder erzählt, geht ungefähr so: Eine intelligente, sexuell leidenschaftliche junge Frau wächst im ländlichen Ontario auf. Die Familie hat wenig Geld, die Mutter ist krank oder tot, der Vater ist Lehrer, seine zweite Frau ist schwierig. Die junge Frau flieht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus der Provinz, sei es mit Hilfe eines Stipendiums oder durch eine entschlossene, eigennützige Tat. Sie heiratet jung und zieht nach British Columbia, sie bekommt Kinder und ist keineswegs schuldlos am Scheitern ihrer Ehe. Vielleicht hat sie Erfolg als Schauspielerin, als Schriftstellerin oder als Fernsehmoderatorin; sie erlebt amouröse Abenteuer. Als sie – wie könnte es anders sein – nach Ontario zurückkehrt, findet sie die Landschaft ihrer Kindheit beunruhigend verändert. Obgleich sie es war, die ihrer Heimat den Rücken kehrte, trifft es sie in ihrem Narzissmus schwer, dass man sie nicht herzlich willkommen heißt und dass die Welt ihrer Jugend mit ihren altmodischeren Sitten und Moralvorstellungen nun ein Urteil über die modernen Entscheidungen fällt, die sie getroffen hat. Ihr Versuch, als unversehrter, unabhängiger Mensch zu bestehen, hat zu schmerzhaften Verlusten und Störungen geführt; sie hat andere verletzt.

Und das war’s, im Großen und Ganzen. Das ist der kleine Strom, der Alice Munros Werk seit mehr als fünfzig Jahren speist. Wie Clare Quilty tauchen dieselben Elemente immer wieder auf. Ebendiese Vertrautheit des Materials macht Alice Munros künstlerische Entwicklung in Selected Storys und mehr noch in den danach veröffentlichten Büchern so deutlich und atemberaubend sichtbar. Nichts weiter als diese kleine Geschichte – und man sehe sich an, was Alice Munro daraus entstehen lässt; je öfter sie dorthin zurückkehrt, desto mehr findet sie. Sie ist keine Golferin auf der Drivingrange. Sie ist eine Turnerin im schlichten schwarzen Trikot, allein auf dem nackten Boden, und sie sticht sie alle aus, die Romanautoren mit ihren bunten Kostümen, ihren Peitschen, ihren Elefanten und Tigern.

«Die Komplexität der Dinge – der Dinge in den Dingen – ist geradezu endlos», sagte sie in einem Interview. «Ich meine, nichts ist leicht, nichts ist einfach.»

Damit formulierte sie das grundlegende Axiom der Literatur und verwies auf den Kern dessen, was ihren Reiz ausmacht. Und wenn ich eine Dosis echter Literatur brauche, eine gute, starke Mixtur aus Paradox und Komplexität, dann finde ich das, aus welchen Gründen auch immer – sei es die Fragmentierung der Zeit, die mir zum Lesen zur Verfügung steht, sei es das moderne Leben mit seinen zahllosen Ablenkungen und Zersplitterungen oder der tatsächliche Mangel an fesselnden Romanen – am ehesten in kurzen Werken. Neben Tricks waren Wallaces Geschichten in den Bänden In alter Vertrautheit und Vergessenheit sowie eine überwältigende Kurzgeschichtensammlung der britischen Schriftstellerin Helen Simpson das Fesselndste, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Simpsons Buch, eine Reihe komischer Ausbrüche zum Thema «Die moderne Mutter», erschien ursprünglich unter dem Titel Hey Yeah Right Get a Life (dt. Gleich, Schätzchen) – ein Titel, an dem es, sollte man meinen, nichts zu verbessern gibt. Was die Marketingfachleute des amerikanischen Verlages allerdings nicht daran hinderte, es dennoch zu versuchen. Und was war ihr Vorschlag? Getting a Life. Denken Sie an dieses grässliche Gerundium, wenn Ihnen das nächste Mal ein amerikanischer Verleger erzählt, Kurzgeschichtensammlungen seien unverkäuflich.


7. Alice Munros Kurzgeschichten sind noch schwieriger zu rezensieren als die anderer Autoren.

Mehr als jeder andere Schriftsteller seit Tschechow erkämpft und erreicht Alice Munro in ihren Geschichten eine gestalthafte Vollkommenheit in der Abbildung eines Lebens. Sie ist von jeher ein Genie, wenn es um die Entwicklung und Darstellung von Augenblicken der Erkenntnis geht. In den nach Selected Storys (1996) erschienenen Kurzgeschichtensammlungen jedoch hat sie den wirklich großen Sprung in die Weltklasse gemacht und ist zur Meisterin der Spannung geworden. Sie schildert jetzt nicht mehr Augenblicke der Erkenntnis, sondern Augenblicke schicksalhaften, unumkehrbaren, dramatischen Handelns. Und das bedeutet, dass man im Hinblick auf den Sinn der Geschichte so lange im Dunkeln tappt, bis man ihren sämtlichen Windungen gefolgt ist; erst auf den letzten Seiten wird alles erhellt.

Mit wachsendem schriftstellerischem Ehrgeiz scheint sie immer weniger daran interessiert, mit ihrem Können zu prahlen. Große Gesten, exzentrische Details und ungewöhnliche Redewendungen finden sich nur in ihrem Frühwerk (zum Beispiel in der 1977 erschienenen Geschichte Eine fürstliche Abreibung). Doch nun, da ihre Geschichten klassischen Tragödien in Prosaform ähneln, hat sie keine Verwendung mehr für Unwesentliches, ja mehr noch: Es ist, als wäre jede Spur ihres schriftstellerischen Egos eine Kontamination, eine Beeinträchtigung der Stimmung, ein ästhetischer oder moralischer Verrat an der reinen Geschichte.

Wenn ich Alice Munro lese, stellt sich jener Zustand stiller Reflexion ein, in dem ich über mein eigenes Leben nachdenke, über die Entscheidungen, die ich getroffen, über die Dinge, die ich getan oder unterlassen habe, darüber, was für ein Mensch ich bin, über meinen Tod. Sie gehört zu den wenigen Schriftstellern – manche von ihnen leben noch, die meisten sind tot –, an die ich denke, wenn ich sage, dass die Literatur meine Religion ist. Wenn ich in eine Munro-Geschichte eintauche, bringe ich einem ganz und gar erfundenen Protagonisten dieselbe feierliche Achtung, dasselbe tiefe Interesse entgegen wie mir selbst in meinen besseren Momenten als menschliches Wesen.

Spannung und Reinheit sind ein Geschenk an den Leser, doch den Rezensenten stellen sie vor Probleme. Im Grunde ist Tricks so gut, dass ich mich an dieser Stelle gar nicht darüber auslassen möchte. Zitate werden dem Buch ebenso wenig gerecht wie eine Zusammenfassung. Man kann ihm nur gerecht werden, indem man es liest.

In Erfüllung meiner Rezensentenpflicht möchte ich Ihnen stattdessen diese kleine Kostprobe aus der letzten Geschichte in der zuvor veröffentlichten Sammlung Himmel und Hölle geben: Fiona, eine Frau, die in relativ jungen Jahren an Alzheimer erkrankt, wird in einem Pflegeheim untergebracht. Als ihr Mann sie nach Ablauf der vierwöchigen Eingewöhnungszeit besucht, hat sie unter den anderen Heimbewohnern einen «Freund» gefunden und ist an ihrem Mann nicht interessiert.

Kein schlechter Einstieg für eine Geschichte. Aber zu einer Munro-Geschichte wird sie durch die Tatsache, dass Grant, Fionas Mann, in den sechziger und siebziger Jahren eine Affäre nach der anderen hatte. Erst jetzt und zum ersten Mal ist der Betrüger der Betrogene. Bereut Grant nun seine Seitensprünge? Nein, ganz und gar nicht. Aus dieser Phase seines Lebens ist ihm «hauptsächlich eine gewaltige Steigerung seines Wohlbefindens» in Erinnerung. Nie hat er sich lebendiger gefühlt als zu der Zeit, als er Fiona betrog. Natürlich schmerzt es ihn zutiefst, bei seinen Besuchen im Pflegeheim zu sehen, dass Fiona und ihr «Freund» so ungeniert zärtlich miteinander umgehen, während sie ihm gegenüber vollkommen indifferent ist. Noch mehr schmerzt es ihn jedoch, dass die Ehefrau des Freundes diesen aus dem Heim nach Hause holt. Fiona ist untröstlich, und Grant ist es ebenfalls, denn er leidet mit ihr.

Hier zeigt sich, wie schwer es ist, eine Munro-Geschichte zusammenzufassen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass ich Ihnen erzählen will, was als Nächstes geschieht: Grant geht zu der Frau des Freundes und bittet sie, ihren Mann hin und wieder in das Heim zu bringen, damit er Fiona besuchen kann. Und nun begreift man, dass das, was man für den Kern der Geschichte hielt – die bedeutungsschwangeren Elemente Alzheimer, eheliche Untreue und spätes Liebesglück –, lediglich die Exposition waren: Die große Szene der Geschichte ist die Begegnung zwischen Grant und der Frau des Freundes. Die Frau lässt nicht zu, dass ihr Mann Fiona wiedersieht. Vordergründig sind ihre Motive praktischer Natur, in Wirklichkeit jedoch spielen Moral und Gehässigkeit die Hauptrolle.

Mein Versuch einer Zusammenfassung scheitert, denn wie soll ich die Großartigkeit dieser Szene jemandem vermitteln, der kein plastisches Bild von den beiden Personen, ihrer Art zu denken und zu sprechen hat? Die Frau – Marian – ist engstirniger als Grant. Sie lebt in einem perfekten, makellosen Vorstadthaus, das sie sich nicht mehr wird leisten können, falls ihr Mann ins Heim zurückkehrt. Nicht Liebe ist für sie wichtig, sondern das Haus. Weder in ökonomischer noch in emotionaler Hinsicht hat sie dieselben Vorteile genossen wie Grant, und dieser offensichtliche Mangel lässt Grant auf dem Heimweg in eine typisch munroeske Innenschau eintauchen.

[Ihr Gespräch] erinnerte ihn an Gespräche, die er mit Mitgliedern seiner eigenen Familie geführt hatte. Seine Verwandten, seine Onkel, wahrscheinlich sogar seine Mutter hatten so gedacht, wie Marian dachte. Sie hatten geglaubt, wenn andere Leute nicht so dachten, dann, weil sie sich etwas vormachten – sie waren zu weltfremd oder zu blöde, aufgrund ihres leichten und behüteten Lebens oder ihrer Bildung. Sie hatten den Anschluss an die Wirklichkeit verloren. Gebildete Leute, Literaten, einige Reiche wie Grants sozialistische Schwiegereltern hatten den Anschluss an die Wirklichkeit verloren. Infolge eines unverdienten Glücksfalls oder einer angeborenen Beschränktheit. …

Was für ein Trottel, dachte sie jetzt wohl.

Gegenüber einer solchen Person fühlte er sich mutlos, entnervt, schließlich nahezu allein gelassen. Warum? Weil er nicht sicher war, sich gegenüber dieser Person selbst treu bleiben zu können? Weil er Angst hatte, dass diese Menschen am Ende recht hatten?

Ich breche nur ungern ab. Ich würde gern weiterzitieren, nicht bloß einzelne Sätze, sondern ganze Passagen, denn es zeigt sich, dass das Mindeste, was meine Zusammenfassung leisten müsste, um der Geschichte, den «Dingen in den Dingen», dem Wechselspiel von Klasse und Moral, von Verlangen und Treue, von Charakter und Schicksal gerecht zu werden, eben das ist, was Munro bereits geschrieben hat. Die einzige adäquate Zusammenfassung des Textes ist der Text selbst.

Womit ich wieder bei dem einfachen Rat bin, den ich Ihnen eingangs gegeben habe: Lesen Sie Alice Munro! Lesen Sie Alice Munro!

Allerdings muss ich Ihnen sagen – ich kann es jetzt, da ich davon angefangen habe, nicht verschweigen –, dass Grant nach der vergeblich vorgetragenen Bitte zu Hause eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter vorfindet – eine Nachricht von Marian, die ihn zu einem vom Veteranenverein veranstalteten Tanzabend einlädt.

Und auch dies: dass Grant bereits Marians Brüste und ihre Haut gemustert und sie in Gedanken mit einer alles andere als befriedigenden Litschifrucht verglichen hat: «Das Fleisch mit seiner merkwürdig künstlichen Konsistenz, seinem chemischen Geschmack und Geruch, eine dünne Schicht über dem umfangreichen Kern, dem Stein.»

Und: dass sein Telefon einige Stunden später, während er noch immer Betrachtungen über Marians körperliche Reize anstellt, abermals läutet. Er nimmt den Hörer nicht ab, sondern lässt die Nachricht vom Anrufbeantworter aufzeichnen:

«Grant. Hier ist Marian. Ich war unten im Keller und hab die Wäsche in den Trockner gesteckt, und dann hörte ich das Telefon, aber bis ich oben war, hatte der, der dran war, schon aufgehängt. Also hab ich gedacht, ich muss sagen, dass ich hier war. Wenn Sie es waren, und wenn Sie zu Hause sind.»

Und das ist noch immer nicht das Ende der Geschichte. Sie umfasst (in der deutschen Ausgabe) 82 Seiten – für Alice Munro ausreichend, um ein ganzes Leben zu umreißen – und hält noch eine weitere Wendung bereit. Aber wie viele «Dinge in den Dingen» hat Alice Munro, in der Figur des Grant, bereits freigelegt: den liebenden Ehemann; den Ehebrecher; den Ehemann, der so loyal ist, dass er bereit ist, seine Frau zu verkuppeln; den Verächter anständiger Hausfrauen; den Zweifler, der sich eingesteht, dass anständige Hausfrauen vielleicht recht haben, wenn sie ihn verachten. Doch erst Marians zweiter Anruf offenbart die ganze Bandbreite von Alice Munros schriftstellerischem Können. Wer einen solchen Anruf erfindet, kann nicht allzu empört sein über Marians moralische Engstirnigkeit. Oder allzu schamerfüllt wegen Grants Freizügigkeit. Vielmehr muss er imstande sein, jedem zu vergeben und niemanden zu verdammen. Denn sonst würde er übersehen, was entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein Leben vollständig umwälzen kann – beispielsweise die Möglichkeit, dass sich Marian in ihrer Einsamkeit zu einem albernen Mann mit liberalen Ansichten hingezogen fühlt.

Und das ist nur eine Geschichte. In Tricks gibt es Geschichten, die noch besser sind als diese – kühner, blutiger, tiefer, breiter – und die ich mit Freuden zusammenfassen werde, sobald Munros nächstes Buch erschienen ist.

Oder nein, warten Sie – noch ein ganz kurzer Blick auf Tricks: Was, wenn der Mensch, der Anstoß nimmt an Grants Liberalität, an seiner Gottlosigkeit, Hemmungslosigkeit, Eitelkeit, Albernheit, nicht irgendeine unglückliche Fremde ist, sondern seine eigene Tochter? Eine Tochter, deren Urteil wie das einer gesamten Kultur, eines ganzen Landes ist, eines Landes, das seit neuestem ein Faible für das Absolute entwickelt hat?

Was, wenn das große Geschenk, das Sie Ihrer Tochter gemacht haben, persönliche Freiheit ist, und was, wenn diese Tochter, kaum dass sie volljährig wird, dieses Geschenk gegen Sie richtet und zu Ihnen sagt: Ich finde deine Freiheit zum Kotzen und dich ebenfalls?


8. Hass ist unterhaltsam.

Das ist die große Erkenntnis der Extremisten des Medienzeitalters. Wie anders ließe sich die Wahl so vieler widerwärtiger Eiferer erklären, das Verschwinden des politischen Anstands, der Erfolg von Fox News? Erst macht der Fundamentalist Bin Laden George Bush ein gewaltiges Geschenk – seinen Hass –, und dann verstärkt Bush diesen Hass durch seinen eigenen Fanatismus. Inzwischen glaubt die eine Hälfte des Landes, dass Bush einen Kreuzzug gegen das Böse führt, während die andere Hälfte (und der größte Teil der übrigen Welt) glaubt, dass Bush selbst das Böse ist. Es gibt kaum noch jemanden, der nicht irgendeinen anderen hasst, und niemanden, der nicht von irgendeinem anderen gehasst wird. Wenn ich über Politik nachdenke, schnellt meine Pulsfrequenz hoch, als würde ich gerade das letzte Kapitel eines billigen Reißers lesen oder die letzten, entscheidenden Minuten eines Spiels der Red Sox gegen die Yankees sehen. Es ist wie Entertainment als Albtraum, der im Gewand des ganz normalen Lebens daherkommt.

Kann eine bessere Literatur die Welt retten? Es gibt zwar immer einen winzigen Hoffnungsschimmer (schließlich geschehen die merkwürdigsten Dinge), aber die Antwort lautet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: Nein, kann sie nicht. Es liegt jedoch durchaus im Bereich des Möglichen, dass sie Ihre Seele retten kann. Wenn Sie unglücklich sind über den Hass, der in Ihrem Herzen entfacht worden ist, stellen Sie sich vor, derjenige zu sein, der Sie hasst; Sie könnten auch die Möglichkeit erwägen, dass tatsächlich Sie das Böse sind; sollte Ihnen das schwerfallen, dann versuchen Sie doch einfach, ein paar Abende mit der Bedenklichsten aller Kanadierinnen zu verbringen. Die am Ende ihrer klassischen Erzählung Das Bettlermädchen – in der Rose, die Heldin, ihren Exmann in einer Flughafenhalle sieht, worauf der ihr eine kindische, grässliche Fratze schneidet und Rose sich fragt:

Wie konnte irgendjemand Rose so sehr hassen, ausgerechnet in dem Augenblick, da sie bereit war, auf ihn zuzugehen, voll guten Willens, mit dem lächelnden Eingeständnis ihrer Erschöpfung, mit ihrem schüchternen Glauben an zivilisierte Begrüßungen?

– zu Ihnen und zu mir spricht, genau hier, genau jetzt.


(Übersetzt von Dirk van Gunsteren)