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Schmerz bringt dich nicht um

Abschlussrede vor Absolventen

des Kenyon College, Mai 2011

Guten Morgen, Abschlussklasse des Jahres 2011. Guten Morgen, Verwandte, guten Morgen, Fakultät. Es ist mir eine große Ehre und Freude, heute hier zu sein.

Ich gehe davon aus, dass Sie alle wussten, worauf Sie sich einlassen, wenn Sie einen Schriftsteller bitten, diese Rede zu halten. Ich werde tun, was Schriftsteller tun, nämlich über mich selber reden, in der Hoffnung, dass meine Erfahrung einigen Widerhall in der Ihren findet. Ich möchte mich vorarbeiten zum Thema Liebe und deren Rolle in meinem Leben und zu der sonderbaren technokapitalistischen Welt, die man euch jungen Leuten hinterlässt.

Vor ein paar Wochen habe ich meinen drei Jahre alten BlackBerry Pearl durch einen viel leistungsstärkeren BlackBerry Bold ersetzt, mit Fünf-Megapixel-Kamera und 3G-Funktion. Selbstverständlich war ich beeindruckt vom technischen Fortschritt der vergangenen drei Jahre. Auch wenn ich gerade niemanden zum Anrufen, Simsen oder Mailen hatte, wollte ich meinen neuen Bold weiter liebkosen, die wunderbare Auflösung seines Displays, die seidige Führung seines winzigen Trackpads, seine schockierende Schnelligkeit und die betörende Eleganz seiner Graphik genießen. Kurz, ich war vernarrt in mein neues Gerät. Natürlich war ich in mein altes Gerät ebenso vernarrt gewesen, doch hatte unsere Beziehung über die Jahre an Glanz verloren. Es hatte Vertrauenskrisen gegeben, Rechenschaftskrisen, Kompatibilitätskrisen, und gegen Ende hatte ich sogar an der geistigen Gesundheit meines Pearls gezweifelt. Schließlich musste ich mir eingestehen, dass ich unserer Beziehung entwachsen war.

Muss ich extra darauf hinweisen, dass – abgesehen von einer wilden, vermenschlichenden Projektion, in der mein alter BlackBerry traurig war über das Schwinden meiner Liebe – unsere Beziehung gänzlich einseitig verlief? Lassen Sie mich dennoch darauf hinweisen. Lassen Sie mich weiter darauf hinweisen, dass das Wort sexy in der Beschreibung neuer Gadgets allgegenwärtig ist; dass die extrem coolen Sachen, die wir mit diesen Gadgets heutzutage anstellen können – sie mit beschwörenden Worten dazu bringen, etwas zu tun, oder dieses iPhone-Fingerspreizen, mit dem man Bilder größer macht –, auf die Menschen vor hundert Jahren wie magische Beschwörungen und Gesten gewirkt hätten; und dass wir, geht es um eine einwandfrei funktionierende erotische Beziehung, in der Tat von Magie sprechen. Lassen Sie mich – ausgehend von der Logik des Technokonsumismus, der zufolge die Märkte unsere größten Wünsche erkennen und erfüllen – die These in den Raum werfen, dass die Technik mit höchstem Geschick Produkte zu entwerfen gelernt hat, die unserem phantasierten Ideal einer erotischen Beziehung insofern entsprechen, als das Objekt der Begierde nichts fordert und alles gibt, sofort, und uns das Gefühl von Macht vermittelt und keine fürchterlichen Szenen macht, wenn man es durch ein noch begehrenswerteres Objekt ersetzt und in eine Schublade legt: dass es ganz allgemein das ultimative Ziel der Technik ist, das telos von techne, eine natürliche Welt, der unsere Wünsche gleichgültig sind – eine Welt der Hurrikans und des Leidens und der zerbrechlichen Herzen, eine widerständige Welt –, durch eine Welt zu ersetzen, die derart empfänglich ist für unsere Wünsche, dass sie im Grunde bloß eine Erweiterung des Ichs ist. Lassen Sie mich schließlich andeuten, dass die Welt des Technokonsumismus aus ebendiesem Grund Probleme mit der wahren Liebe hat und notgedrungen im Gegenzug der wahren Liebe Probleme macht.

Ihre erste Verteidigungsstrategie besteht darin, den Feind zu kommerzialisieren. Sie alle könnten hier Ihre liebsten, abstoßendsten Beispiele für die Kommerzialisierung der Liebe beibringen. Zu meinen zählen die Hochzeitsindustrie, Fernsehspots, die süße kleine Kinder zeigen oder Autos als Weihnachtsgeschenk empfehlen, und die besonders groteske Gleichsetzung von Diamanten und ewiger Liebe. Die Botschaft lautet in jedem Fall, dass man, wenn man jemanden liebt, ihm etwas kaufen sollte.

Ein verwandtes Phänomen, eine kleine Aufmerksamkeit von Facebook, ist die fortschreitende Verwandlung des Ausdrucks gefallen, etwas mögen, von einer Befindlichkeit in einen Akt, den man mit seiner Computermaus vollführt: von einem Gefühl in eine Erklärung des Konsumentenwillens. Und mögen ist, in der Regel, das Substitut der Konsumkultur für lieben. Das Bemerkenswerte an allen Konsumprodukten – ganz besonders an elektronischen Geräten und Anwendungen – ist, dass sie hergestellt werden, um ungeheuer zu gefallen. In der Tat ist das eben die Definition eines Konsumprodukts – im Gegensatz zu einem Produkt, das einfach nur es selbst ist und dessen Hersteller nicht darauf fixiert sind, dass es gefällt. Ich denke hier an Flugzeugmotoren, Laborausstattungen, ernsthafte Kunst und Literatur.

Doch wenn man das auf Menschen bezieht und sich jemanden vorstellt, der sich über den verzweifelten Wunsch zu gefallen definiert, was sieht man dann? Einen Menschen ohne Integrität, ohne eine Mitte. In eher pathologischen Fällen einen Narzissten – eine Person, die die Beeinträchtigung ihres Selbstbildes, die jedes Nichtgefallen mit sich bringt, nicht erträgt und sich menschlichen Kontakten deshalb entweder entzieht oder sich auf eine extreme, die eigene Integrität opfernde Weise zu gefallen bemüht.

Widmet man jedenfalls seine Existenz dem Gefallenwollen und nimmt deshalb alle möglichen coolen Persönlichkeitsmerkmale an, die gerade gefallen, dann hat man es wohl aufgegeben, als derjenige geliebt werden zu wollen, der man wirklich ist. Und wenn es einem gelingt, die anderen so zu manipulieren, dass man ihnen gefällt, wird es einem zu gegebener Zeit nicht schwerfallen, diese Leute zu verachten, eben weil sie auf einen hereingefallen sind. Diese Leute sind da, damit man sich mit sich selbst gut fühlt – aber wie gut kann dieses Gefühl sein, wenn es einem von Leuten vermittelt wird, die man nicht achtet? Da kann man dann schon mal depressiv werden oder Alkoholiker oder, wie Donald Trump, (vorübergehend) Präsidentschaftskandidat.

Produkte der Konsumtechnologie würden etwas so Unattraktives natürlich niemals tun, sind sie doch keine Menschen. Sie sind allerdings großartige Verbündete und Narzissmus-Helfer. Außer ihrem eingebauten Bestreben zu gefallen verfügen sie auch über das eingebaute Bestreben, uns gut aussehen zu lassen. Vom sexy Facebook-Interface gefiltert, sieht unser Leben gleich viel spannender aus. Wir spielen die Hauptrolle in unseren eigenen Filmen, wir fotografieren uns unablässig, wir klicken mit der Maus, und eine Maschine bestätigt unsere Überlegenheit. Und weil die Technik ja eigentlich nur eine Erweiterung unseres Ichs ist, müssen wir sie, anders als die echten Menschen, für ihre Manipulierbarkeit nicht einmal verachten. Alles ist eine große, endlose Schleife. Der Spiegel gefällt uns, und wir gefallen dem Spiegel. Sich mit jemandem anzufreunden bedeutet schlicht, diesen Jemand in unser Privatkabinett aus schmeichelnden Spiegeln zu integrieren.

Vielleicht übertreibe ich ein bisschen. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben Sie es satt, schrullige Einundfünfzigjährige auf die sozialen Netzwerke schimpfen zu hören. Ich möchte hier bloß einen Gegensatz aufbauen zwischen den narzisstischen Tendenzen der Technik und dem Problem der eigentlichen Liebe. Alice Sebold, eine gute Freundin von mir, spricht gern davon, «in die Grube einzufahren und jemanden zu lieben». Sie hat den Schmutz im Sinn, den die Liebe unausweichlich auf den Spiegel unserer Selbstachtung spritzt. Es ist eben so, dass der Versuch, ständig zu gefallen, mit Liebesbeziehungen unvereinbar ist. Früher oder später findet man sich doch in der schrecklichen Schreierei eines Streits wieder und hört Sachen aus dem eigenen Mund kommen, die einem ganz und gar nicht gefallen, Sachen, die das Selbstbild vom fairen, coolen, attraktiven, beherrschten, witzigen Menschen, der gefällt, zertrümmern. Da ist etwas, das wirklicher ist als die Möglichkeit zu gefallen, aus einem zum Vorschein gekommen, und auf einmal hat man ein richtiges Leben. Auf einmal geht es um eine echte Wahl, nicht eine künstliche Konsumentenentscheidung zwischen einem BlackBerry und einem iPhone, sondern um eine Frage: Liebe ich diesen Menschen? Und, auf den anderen bezogen: Liebt dieser Mensch mich? So etwas wie einen Menschen, von dessen wahrem Ich einem jeder Partikel gefällt, gibt es nicht. Deshalb ist eine Welt des Gefallens letztlich eine Lüge. So etwas wie einen Menschen, von dessen wahrem Ich man jeden Partikel liebt, aber gibt es. Und deshalb ist die Liebe für die technokonsumistische Ordnung eine so existenzielle Gefahr: Sie stellt die Lüge bloß.

Ermutigend an der Handy-Seuche in meiner Manhattaner Nachbarschaft ist, dass ich, neben all den SMS-Zombies und brabbelnden Party-Planern auf den Bürgersteigen, dann und wann neben einem Menschen hergehe, der einen waschechten Streit mit jemandem hat, den er liebt. Ich bin sicher, dass diese Leute lieber nicht auf offener Straße streiten würden, aber so ist es nun mal gekommen, und jetzt verhalten sie sich sehr, sehr uncool. Sie brüllen, machen Vorwürfe, betteln, beleidigen. Dergleichen lässt mich hoffen für die Welt.

Was nicht heißen soll, dass es in der Liebe nur ums Streiten ginge oder dass radikal ichbezogene Menschen nicht zu Vorwürfen und Beleidigungen fähig wären. Worum es in der Liebe wirklich geht, ist abgrundtiefe Empathie, geboren aus der Erkenntnis des Herzens, dass der andere haargenau so wirklich ist wie man selbst. Und deshalb ist die Liebe, wie ich sie verstehe, immer konkret. Der Versuch, die ganze Menschheit zu lieben, mag ehrenhaft sein, seltsamerweise jedoch konzentriert er sich auf das eigene Ich und dessen moralisches oder spirituelles Wohlergehen. Um einen konkreten Menschen zu lieben hingegen, sich mit seinen Nöten und Freuden zu identifizieren, als wären sie die eigenen, muss man ein Stück des eigenen Ichs aufgeben.

Als ich ein Senior im College war, belegte ich das erste Seminar, das dort je zur Literaturtheorie angeboten wurde, und verliebte mich in die brillanteste Studentin. Uns beiden gefiel das Gefühl von Macht, das uns die Literaturtheorie sogleich vermittelte – in dieser Hinsicht ähnelt sie der Konsumtechnologie –, und wir schmeichelten uns, wie viel intellektueller wir doch wären als die anderen Kids, die immer noch diese alten zähen Textinterpretationen machten. Aus diversen theoretischen Überlegungen heraus fanden wir es auch cool zu heiraten. Da tauchte meine Mutter auf, die zwanzig Jahre bemüht gewesen war, aus mir einen Menschen zu machen, der sich nach hingebungsvoller Liebe sehnt, und riet mir, ich solle meine Zwanziger «frei und ungebunden» verbringen, wie sie es ausdrückte. Da ich davon ausging, dass sie in allem falschlag, nahm ich natürlich an, dass sie auch hierin falschlag. Ich musste selbst und auf die harte Tour herausfinden, was für eine schmutzige Angelegenheit die Hingabe ist.

Das Erste, was wir über Bord warfen, war die Theorie. Wie meine zukünftige Frau nach einer misslichen Szene im Bett einmal unvergesslich bemerkte: «Du kannst nicht gleichzeitig dekonstruieren und dich ausziehen.» Wir verbrachten ein Jahr auf verschiedenen Kontinenten und begriffen ziemlich schnell, dass es zwar Spaß machte, seitenlange Briefe aneinander mit theoretischen Riffs zu füllen, aber längst nicht so viel Spaß, diese Seiten dann zu lesen. Doch was mir die Theorie wirklich verleidete – und mich vom obsessiven Nachdenken über meine Wirkung auf andere befreite –, war meine Liebe zur Literatur. Es mag eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen der Überarbeitung eines Stücks Literatur und der Aktualisierung der eigenen Internetseite oder des eigenen Facebook-Profils geben, doch eine Seite Prosa hat nicht diese polierte Oberfläche, die das Selbstbild zu schönen hilft. Wenn man das Geschenk, als das man die Literatur anderer begreift, zurückzugeben versucht, kann man am Ende das, was auf den eigenen Seiten verlogen oder aus zweiter Hand ist, nicht ignorieren. Diese Seiten sind auch ein Spiegel, und wenn man die Literatur wirklich liebt, wird man begreifen, dass nur die Seiten bewahrenswert sind, die zeigen, wie man wirklich ist.

Das Risiko besteht hier natürlich darin, zurückgewiesen zu werden. Dann und wann nicht gemocht zu werden, das halten wir alle aus, gibt es doch einen unendlich großen Pool potenzieller Möger. Doch das eigene Ich ganz zu exponieren, nicht nur die gefällige Oberfläche, und dann seine Zurückweisung zu erleben, kann katastrophal schmerzhaft sein. Die Aussicht auf Schmerz ganz allgemein, auf den Schmerz des Verlusts, der Trennung, des Todes macht die Versuchung so groß, die Liebe zu meiden und im sicheren Reich des Gefallens zu bleiben. Meine Frau und ich, die wir zu jung geheiratet hatten, gaben schließlich so viel von uns selbst auf und fügten einander so viel Schmerz zu, dass wir beide gute Gründe hatten zu bereuen, den Sprung jemals gewagt zu haben.

Und doch kann und will ich es nicht wirklich bereuen. Zum einen hat uns das Ringen um ein aktives Würdigen unserer Bindung als Menschen geformt; wir waren keine Helium-Moleküle, die träge durchs Leben schwebten; wir waren gebunden, und wir veränderten uns. Zum anderen – und das könnte heute meine zentrale Botschaft sein – tut Schmerz weh, aber er bringt dich nicht um. Bedenkt man die Alternative – einen narkotisierten, technisch begünstigten Traum von Selbstgenügsamkeit –, dann erscheint der Schmerz als das natürliche Produkt und der natürliche Indikator des Lebendigseins in einer widerständigen Welt. Ohne Schmerz durchs Leben zu kommen heißt, nicht gelebt zu haben. Sogar sich zu sagen: «Oh, zu dieser Herz-und-Schmerz-Geschichte komme ich später, vielleicht wenn ich so dreißig bin», heißt, sich zehn Jahre lang bloß darauf zu beschränken, einen Platz auf dem Planeten zu besetzen und dessen Ressourcen zu vernichten. Es heißt (und ich meine das wirklich im verdammenden Wortsinn), ein Konsument zu sein.

Was ich zuvor gesagt habe – dass die Bindung an etwas, das man liebt, einen dazu zwingt, sich dem zu stellen, der man wirklich ist –, mag insbesondere für das Schreiben gelten, aber es trifft auf so gut wie jede Arbeit zu, die einem viel bedeutet. Ich möchte hier schließen, indem ich über eine weitere Liebe von mir spreche.

Als ich im College war, und noch viele Jahre später, gefiel mir die Natur. Ich liebte sie nicht, aber ganz bestimmt gefiel sie mir. Sie kann sehr schön sein, die Natur. Und da ich für die Kritische Theorie entflammt war und nicht nur nach etwas suchte, was ich falsch finden konnte in der Welt, sondern auch nach Gründen, die dafür Verantwortlichen zu hassen, fühlte ich mich natürlich von der Umweltbewegung angezogen, denn in Sachen Umwelt lief doch gewiss jede Menge schief. Und je mehr ich auf das sah, was falsch war – eine explodierende Weltbevölkerung, explodierende Ressourcenvernichtung, steigende Temperaturen, Vermüllung der Ozeane, Abholzung unserer letzten Urwälder –, desto wütender und hasserfüllter wurde ich. Mitte der Neunziger schließlich, ungefähr zu der Zeit, als meine Ehe zerbrach und ich befand, Schmerz sei das eine, etwas ganz anderes aber sei es, für den Rest des Lebens immer wütender und unglücklicher zu werden, traf ich ganz bewusst die Entscheidung, mir keine Sorgen mehr um die Umwelt zu machen. Ich persönlich konnte nichts Bedeutsames zur Rettung des Planeten beitragen, und ich wollte mich den Dingen widmen, die ich liebte. Auf meinen CO2-Fußabdruck achtete ich nach wie vor, weiter jedoch konnte ich nicht gehen, ohne in Wut und Verzweiflung zurückzufallen.

Und dann passierte mir etwas Komisches. Es ist eine lange Geschichte, im Wesentlichen aber verliebte ich mich in die Vögel. Ich wehrte mich mächtig dagegen, denn Vögel zu beobachten ist uncool, weil alles, was wahre Leidenschaft verrät, per definitionem uncool ist. Stück für Stück jedoch, wider mich selbst, entwickelte ich diese Leidenschaft, und auch wenn die eine Hälfte einer Passion Obsession ist – die andere Hälfte ist Liebe. Und so, ja, führte ich eine pingelige Liste der Vögel, die ich gesehen hatte, und, ja, unternahm alles Erdenkliche, um weitere Arten zu sehen. Doch, und das ist nicht weniger wichtig, wann immer ich einen Vogel sah, irgendeinen Vogel, selbst eine Taube oder ein Rotkehlchen, spürte ich mein Herz vor Liebe überfließen. Und wie ich heute zu erklären versucht habe: Mit der Liebe fangen die Probleme an.

Denn nun, da mir die Natur nicht bloß gefiel, sondern ich einen konkreten und lebendigen Teil von ihr liebte, konnte ich gar nicht anders, als mich erneut um die Umwelt zu sorgen. Die Nachrichten von dieser Front waren nicht besser als damals, als ich entschieden hatte, mich nicht mehr um sie zu scheren – eigentlich waren sie sogar erheblich schlechter –, nur waren die bedrohten Wälder und Feuchtgebiete und Ozeane für mich nicht länger bloß eine schöne Szenerie, an der ich mich erfreute. Sie waren das Zuhause von Tieren, die ich liebte. Und an diesem Punkt kam es zu einem seltsamen Paradox. Meine Wut und mein Schmerz und meine Verzweiflung über den Planeten wurden durch meine Sorge um die wilden Vögel nur noch größer, und doch wurde es, während ich mich mit Artenschutz beschäftigte und mehr über die Gefahren erfuhr, denen Vögel ausgesetzt sind, seltsamerweise leichter, nicht schwerer, mit meiner Wut und meinem Schmerz und meiner Verzweiflung zu leben.

Wie kann das gehen? Zum einen, glaube ich, öffnete mir die Liebe zu den Vögeln die Tür zu einem wichtigen, weniger ich-zentrierten Teil meiner selbst, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Statt weiter durch mein Leben als Weltbürger zu driften, Gefallen zu finden und Missfallen zu hegen und mir meine Hingabe für später aufzusparen, war ich gezwungen, mich einem Ich zu stellen, das ich entweder vom Fleck weg zu akzeptieren oder rundheraus abzulehnen hatte. Das eben macht die Liebe mit einem Menschen. Denn für uns alle gilt nun einmal, dass wir eine Weile am Leben sind, aber in Kürze sterben werden. Diese Tatsache ist die Wurzel all unserer Wut und unseres Schmerzes und unserer Verzweiflung. Und vor dieser Tatsache kann man entweder weglaufen oder sie, über den Weg der Liebe, annehmen.

Wie gesagt, die Sache mit den Vögeln kam für mich sehr unerwartet. Bis dahin hatte ich nicht viele Gedanken auf Tiere verschwendet. Vielleicht ist es Pech, dass ich meinen Weg zu den Vögeln so relativ spät im Leben gefunden habe, vielleicht ist es Glück, dass ich ihn überhaupt gefunden habe. Aber wenn so eine Liebe einen erst einmal erwischt, wie spät oder früh auch immer, verändert sie die eigene Beziehung zur Welt. Ich zum Beispiel hatte nach ein paar frühen Experimenten den Journalismus aufgegeben, weil mich die Welt der Fakten nicht so sehr begeisterte wie die Welt der Fiktion. Doch nachdem mich meine Vogelkonversionserfahrung gelehrt hatte, auf meinen Schmerz und meine Wut und Verzweiflung zu- statt davor wegzulaufen, nahm ich eine andere Art journalistischer Aufträge an. Was immer mich zu einem bestimmten Zeitpunkt am meisten abstieß, wurde zu dem, worüber ich schreiben wollte. Im Sommer 2003, als die Republikaner dem Land Dinge antaten, die mich rasend machten, ging ich nach Washington. Ein paar Jahre später ging ich nach China, weil mein Zorn darüber, wie die Chinesen ihre Umwelt verwüsteten, mich nachts nicht schlafen ließ. Ich fuhr ans Mittelmeer, um Jäger und Wilderer zu interviewen, die ziehende Singvögel abschlachten. Und immer, wenn ich dem Feind begegnete, stieß ich auf Menschen, die ich wirklich mögen – in manchen Fällen geradezu lieben konnte. Urkomische, generöse, brillante schwule Mitarbeiter der Republikaner. Furchtlose, wundertätige junge chinesische Naturliebhaber. Einen waffenvernarrten italienischen Juristen mit sehr sanftem Blick, der den Tierrechtler Peter Singer zitierte. In jedem Fall fiel mir die pauschale Antipathie, die ich so leicht entwickelt hatte, nicht mehr so leicht.

Wenn man in seinem Zimmer bleibt und tobt oder spottet oder die Achseln zuckt, wie ich es viele Jahre lang getan habe, sind die Welt und ihre Probleme entmutigend. Wenn man aber rausgeht und sich in eine wirkliche Beziehung zu wirklichen Menschen oder auch nur wirklichen Tieren setzt, besteht die sehr reale Gefahr, einige von ihnen zu lieben. Und wer weiß, was dann mit einem geschieht?

Danke.


(Übersetzt von Wieland Freund)