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Der chinesische Papageitaucher

Der Papageitaucher war ein Weihnachtsgeschenk von meinem Bruder Bob. Er steckte in einer unbeschrifteten Plastikhülle und sollte wohl eine Art Puppe oder Plüschtier sein. Er hatte einen flauschigen Körper und einen großen, orangefarbenen Schnabel, der danach schrie, gedrückt zu werden, und seine Augen saßen in schwarzen Felldreiecken, was ihm eine gewisse Trauer, Sorge oder beginnende Missbilligung verlieh. Der Vogel sprach mich sofort an. Ich stattete ihn mit einer komischen Stimme und Persönlichkeit aus und belustigte damit die Kalifornierin, mit der ich zusammenlebe. Ich schickte Bob einen begeisterten Dankesbrief, auf den hin er mir mitteilte, der Papageitaucher sei kein Spielzeug, sondern ein Golfzubehör. Er hatte ihn im Proshop vom Bandon Dunes gekauft, einem Golfhotel im Südwesten Oregons, um mich daran zu erinnern, wie viel Freude ich mit Golfspielen und Vogelbeobachten in Oregon haben könnte, wo er lebt. Der Papageitaucher war eine Golfschlägerhaube.

Mein Problem mit Golf ist, dass mir, obwohl ich es aus Geselligkeitsgründen ein-, zweimal im Jahr spiele, fast alles daran missfällt. Der Sinn dieses Spiels scheint mir in der methodischen Einschläferung arbeitstagsgroßer Zeitbrocken wohlhabender weißer Männer zu bestehen. Golf frisst Land, säuft Wasser, vertreibt Wildtiere, fördert Zersiedelung. Mir missfällt die Selbstgefälligkeit der Etikette, die aufgeblasene Ehrfurcht der Fernsehkommentatoren. Vor allem missfällt mir, wie schlecht ich Golf spiele. Rückwärts gelesen wird aus Golf «flog», was im Englischen prügeln, (Zeit) totschlagen heißt.

Immerhin besitze ich einen Satz billiger Schläger, aber es war ausgeschlossen, meinen Papageitaucher auf einen draufzustülpen. Die Kalifornierin pflegte ihn jeden Abend im Bett an sich zu drücken. Überhaupt hatte der Papageitaucher sich schnell zu einem kleinen Mitglied der Hausgemeinschaft gemausert. Draußen, in der Welt der Natur, litten die echten Papageitaucher (wie viele andere Seevögel) stark unter der Überfischung der Ozeane und der Verschlechterung ihrer Nistplätze, doch von New York aus konnte Natur etwas Kaltes und Abstraktes, nicht unbedingt Liebenswertes sein. Das Spielzeug war plüschig und konkret.

In Jane Smileys großartigem Roman Die Grönland-Saga findet sich die Geschichte von einem altnordischen Bauern, der ein Eisbärjunges bei sich aufnimmt und wie einen Sohn großzieht. Zwar lernt der Bär Lesen, aber er bleibt eben doch ein Bär und hat den gewaltigen Appetit eines Bären, und nach und nach frisst er alle Schafe des Bauern auf. Der Bauer weiß, dass er den Bären loswerden muss, aber er bringt es nicht über sich, weil der Bär (dem Refrain der Geschichte zufolge) so ein schönes weiches Fell und so schöne dunkle Augen hat. Für Smiley ist der Bär die Metapher für eine destruktive Leidenschaft, zu angenehm, als dass man ihr widerstehen könnte. Aber die Geschichte funktioniert auch als schlichte Warnung vor sentimentaler Vergötterung. Der Homo sapiens ist dasjenige Tier, das entgegen dem rauen Naturgesetz glauben will, andere Tiere seien Teil seiner Familie. Ich kann ziemlich gute ethische Argumente für unsere Verantwortung gegenüber anderen Arten anführen, und dennoch frage ich mich manchmal, ob meine Sorge um die Artenvielfalt und das Wohlergehen der Tiere nicht vielleicht eine Art Regression in mein Kinderzimmer und dessen Gemeinschaft der Plüschtiere ist: eine Phantasie von Knuddeligkeit und artenübergreifender Harmonie. Smileys leidgeprüfter Bauer sieht sich schließlich gezwungen, seinem unersättlichen Bärenkind das Fleisch seines eigenen Arms anzubieten.

Im Spätherbst letzten Jahres, als die Times eine Serie langer Artikel über Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, Versteppung, Artensterben und Entwaldung in China brachte und ich es nicht schaffte, jeweils mehr als fünfzig Wörter zu lesen, gab es bei Football-Übertragungen einen irren Werbespot für den neuen Jeep. Ich meine den, in dem ein Eichhörnchen, ein Wolf, zwei Ohrenlerchen und ein Geländewagenfahrer auf einem leeren Highway durch unberührten Wald fahren und zusammen ein Lied singen. Besonders gut gefiel mir die Stelle, wo der Wolf eine der Lerchen verschlingt, sie auf einen missbilligenden Blick des Geländewagenfahrers hin unverletzt wieder ausspuckt und in das Lied einstimmt. Ich wusste sehr wohl, dass Geländewagen für Ohrenlerchen weit gefährlicher waren als Wölfe, ich wusste, dass meine Begehrlichkeiten hier dieselben wie die des wilden Tiers waren, das die Naturwelt in China und anderswo in Asien verschlang, und dennoch gefiel mir die Jeep-Werbung. Mir gefielen die sorgenvollen Augen und das weiche Fell meines Golfzubehörs. Ich wollte nicht wissen, was ich wusste. Und dennoch: Es nicht zu wissen ertrug ich auch nicht. Eines Nachmittags ging ich mit einer grimmigen Vorahnung ins Schlafzimmer, packte den Papageitaucher an den Flügeln, hielt ihn unter eine helle Lampe und drehte ihn auf links, und tatsächlich, da war das Etikett: HANDMADE IN CHINA.

Ich beschloss, jenen Teil der Welt aufzusuchen, aus dem der Papageitaucher kam. Das industrielle System, das den falschen Vogel geschaffen hatte, zerstörte echte Vögel, und ich wollte an einem Ort sein, an dem dieser Zusammenhang sich nicht verbergen ließ. Im Grunde wollte ich wissen, wie schlecht die Dinge standen.

Ich rief die amerikanische Firma auf dem Papageitaucher-Etikett an – Daphne’s Headcovers in Phoenix, Arizona – und redete mit der Chefin, Jane Spicer. Ich befürchtete, sie würde sich bezüglich ihrer chinesischen Quellen eher bedeckt halten, zumal im Lichte der jüngsten Skandale um chinesisches Spielzeug, doch weit gefehlt. Gleich bei unserem ersten Telefongespräch erzählte sie mir von ihrem Golden Retriever Aspen, ihrer zugelaufenen Katze Mango, ihrer verstorbenen Mutter Daphne (mit der sie, im Alter von zehn Jahren, die Firma gegründet hatte), ihrem Mann Steve, der den Produktionsbereich leitete, und von ihrem berühmtesten Kunden, Tiger Woods, dessen kuschelige Tiger-Schlägerhaube, Spitzname Frank, in einer Serie von Nike-Fernsehwerbespots 2003 und 2004 mitgewirkt hatte. Sie erzählte mir, dass Daphne, die aus England eingewandert war, Wert darauf gelegt habe, die Schlägerhauben von Einwanderern nähen zu lassen, und dass sie, Jane, einmal einige Arbeiterinnen an eine Frau ausgeliehen habe, die Katzenspielzeug herstellte und ihre Arbeiterinnen verloren hatte und unbedingt ihre Aufträge fertigstellen musste, und dass die Frau Jahre später, nachdem sie reich geworden war und Jane sie längst vergessen hatte, auf den rätselhaften Wegen des Karma bei Jane anrief und fragte: «Erinnern Sie sich an mich? Sie haben damals meine Firma gerettet. Ich habe mir überlegt, wie ich mich revanchieren kann, und möchte Sie gern mit einigen Freunden aus China bekannt machen.»

Daphne’s ist bei Tier-Schlägerhauben Weltmarktführer. Als ich die Zentrale in Phoenix, Arizona, besuchte, stellte Jane mir die Arbeiterinnen vor, die sie die «Zoo-Crew» nannte; sie prüfen die Schlägerhauben und sortieren sie nach Tierart in mit Plastik ausgeschlagene Kartons ein. Sie half mir bei der Suche nach den Papageitauchern, die, gestapelt in ihren Kartons, ungefähr so süß und lebendig wie Schmutzwäsche waren. Im Musterraum zeigte sie mir Kartons mit Imitaten und bündelweise angehefteten juristischen Dokumenten. «Die allermeisten Prozesse führen wir gegen amerikanische Unternehmen», sagte sie. «Häufig wissen die chinesischen Hersteller gar nicht, dass sie Gesetze brechen.» Der Tiger und die Taschenratte (die an Gopher aus dem Film Caddyshack – Wahnsinn ohne Handicap erinnerte) waren besonders beliebte Objekte geistigen Diebstahls. Auch eine Walross-Schlägerhaube war dabei, gefertigt aus dem dichten braunen Fell des echten Tiers. «Das sollte noch auf dem Tier sein, zu dem es gehört», sagte Jane streng. «Der Kerl, der das gemacht hat, wird vom Karma ereilt, aber erst kriegt ihn unser Anwalt zu fassen.»

Auf meine Frage, ob ich mich vielleicht sogar mit ihren Lieferanten in China treffen könne, antwortete Jane vage. In jedem Fall müsse ich wissen, dass die Arbeiter der chinesischen Lieferanten im Durchschnitt das Doppelte oder fast das Doppelte des örtlichen Mindestlohns verdienten. «Perfektion lassen wir uns etwas kosten», sagte sie, «und wir wollen dort ein gutes Karma – wir wollen glückliche Arbeiterinnen in einer glücklichen Fabrik.» Sie und Steve machten noch ein paar Entwürfe, aber mittlerweile überließen sie ihren chinesischen Partnern immer mehr. Steve maile von Phoenix aus eine Zeichnung, und eine Woche später hielten sie den Plüschprototypen in der Hand. Wenn er nach China reise, könne das Team dort noch vor dem Mittagessen einen Prototypen und am Ende des Arbeitstages einen überarbeiteten Prototypen herstellen. Die Sprache sei meistens kein Problem, allerdings habe Steve einmal Schwierigkeiten gehabt, dem chinesischen Team die «Seepocken» eines Grauwals zu erklären, und einmal sei ein Angestellter mit einer merkwürdigen Frage zu ihm gekommen: «Warum möchten Sie, dass alle Tiere zornig aussehen?» Steve antwortete, nein, im Gegenteil, er und Jane wollten, dass die Tiere glücklich aussähen und die Leute, die sie anfassten, glücklich würden. Das Wort, das jemand mit zornig falsch übersetzt hatte, war realistisch.


«Erst die Arbeit, dann das Vergnügen», ermahnte mich David Xu fröhlich an meinem ersten offiziellen Tag in China. Xu war vom Amt für Auswärtige Angelegenheiten in der boomenden Stadt Ningbo, rund zweihundert Kilometer südlich von Shanghai, und unsere «Arbeit» bestand darin, in einem Miet-Van von einer Fabrik zur nächsten zu rasen. Von der Rückbank aus hatte ich den Eindruck, dass jeder Zentimeter des Großraums Ningbo sich simultan im Bau oder Wiederaufbau befand. Mein extrem neues Hotel war im Hinterhof eines lediglich sehr neuen, nur wenige Meter entfernten Hotels errichtet worden. Die Straßen waren modern, aber sehr löcherig, als wäre allen klar, dass sie ohnehin bald wieder aufgerissen würden. Die Landschaft gärte von Neuerungen; in manchen Dörfern war kaum ein Haus zu finden, vor dem kein Sandhaufen oder Backsteingebinde lag. Auf Ackerland sprossen Fabriken, und vor den weniger neuen Fabriken stiegen die eingerüsteten Stützsäulen künftiger Überführungen empor. Die Wachstumsrate, die Ningbo in den letzten Jahren hatte – rund vierzehn Prozent –, erschöpfte einen schnell, allein vom Hinsehen.

Wie um mich mit frischer Energie zu versorgen, drehte Xu sich auf dem Vordersitz um und betonte mit einem breiten Lächeln: «China ist Entwicklungsland.» Xu hatte schöne Zähne. Er hatte die modisch eckige Brille und den gewinnenden Eifer eines Literaturprofessors mit befristeter Stelle, und er war reizend und offen für jedes nur denkbare Thema – den Mangel selbst rudimentärer Fahrkenntnisse unseres Fahrers, die lange und wechselvolle Geschichte der Homosexualität in China, die unheimliche Plötzlichkeit, mit der alte Viertel in Ningbo geschleift und ersetzt wurden, selbst die Dummheit der Drei-Schluchten-Talsperre am Jangtse. Xu enthielt sich sogar freundlicherweise der Frage, was ich zwischen meiner Ankunft in Shanghai vor sieben Tagen und meinem offiziellen Eintreffen in Ningbo am vorigen Nachmittag getan hätte. Um diese Freundlichkeit zu erwidern, bemühte ich mich, gesteigertes Interesse selbst an den ganz offensichtlich unrepräsentativen Fabriken zu zeigen, zu denen er mich brachte, wie etwa der des Automobilherstellers Geely, eines stolzen Pioniers grüner Produktionsmethoden wie «Wasser-Schmelz»-Lackierung («‹Grün› bedeutet umweltfreundlich», sagte Xu), und des Spritzgießmaschinenherstellers Haitian, wo die Arbeiter durchschnittlich neuntausend Dollar jährlich mit nach Hause nähmen (Xu: «Das ist das Doppelte von dem, was ich verdiene!») und viele mit dem eigenen Wagen pendelten.

Das Vergnügen nach der Arbeit, das Xu mir versprochen hatte, bestand in einer VIP-Fahrt über die fast fertiggestellte Brücke über die Hangzhou-Bucht – mit sechsunddreißig Kilometern die längste Meeresbrücke der Welt. Doch bevor wir sie erreichten, mussten wir uns noch ansehen, wie Karosserieteile von Geländefahrzeugen lackiert, Motorradräder gefräst und in der blühenden Stadt Cixi «Baumwoll»-Fasern aus Acryl extrudiert und genial verarbeitet wurden; in dieser Stadt, wo sich der Export im Vorjahr auf vier Milliarden Dollar belief, gibt es zwanzigtausend Privatfirmen und nur ein staatliches Unternehmen, und so viele Einheimische besitzen oder leiten Fabriken, dass die Zahl der Wanderarbeiter, die die niederen Arbeiten verrichten müssen, fast jener der ansässigen Bevölkerung entspricht. Ich hatte viel über Wanderarbeiter gelesen, und ich wusste, dass sehr viele von ihnen noch keine zwanzig waren, trotzdem war ich nicht darauf gefasst, wie jung sie wirkten. In der Acrylfaserfabrik hätten die vier Arbeiter, die das Kommandozentrum bedienten, auch aus einem Klassenzimmer der Zehnten stammen können. Sie saßen da und starrten auf Flachbildschirme, auf denen Flussdiagramme und Streaming-Daten flirrten, zwei Jungen und zwei Mädchen in Jeans und Turnschuhen, die nicht viel mehr kommunizierten als den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden.

Die Sonne ging schon unter, als wir die Brücke über die Hangzhou-Bucht erreichten. Der Großteil ihrer Gesamtkosten (rund 1,7 Milliarden Dollar) wurde von der Stadt Ningbo bestritten, die ein riesiges neues Industriegebiet unmittelbar im Osten erschloss. Die Brücke wird die Fahrtzeit zwischen Shanghai und Ningbo halbieren; nach ihrer offiziellen Eröffnung im Mai [2008] wird das olympische Feuer auf ihr hinübergetragen, Richtung Peking, zur grünen Olympiade. Das einzige Tier- oder Pflanzenleben, das ich auf unserer Hin- und Rückfahrt entdeckte, war ein Möwenpaar, das schnell davonflog. Alle fünf Kilometer wechselte die Farbe des Geländers, zur Bekämpfung der Monotonie. Auf der Mitte der Brücke stieg ich aus und betrachtete die aufgewühlte graue Tide, die gegen Betonpfeiler brandete, auf denen ein Restaurant und ein Hotel gebaut wurden. Ich bekam große Sehnsucht danach, weitere Vögel zu sehen, egal welche.

Laut meinem Visumantrag war der Zweck meiner Reise nach Ningbo die Erkundung der chinesischen Warenproduktion für den amerikanischen Export, aber ich hatte Xu wohlweislich auch mein großes Interesse an Vögeln mitgeteilt. Um mir eine Freude zu machen und den Tag abzurunden, dirigierte er nun unseren Fahrer von der Brücke nach Westen in ein Gelände aus Schilfbeeten und Teichen, das die Stadtverwaltung von Cixi als Naturfläche bewahrt hatte. Ein Großteil des Gebiets war kürzlich niedergebrannt worden, und alles sei, so Xu, für die Umwandlung in einen «Feuchtgebietpark» vorgesehen.

Einer dieser Feuchtgebietparks war mir schon Anfang der Woche in Shanghai begegnet. Ich mühte mich nach Kräften, begeistert zu klingen.

«Normalerweise sieht man hier Mandschurenkraniche», versicherte Xu mir auf dem Vordersitz. «Die Regierung pflanzt Bäume an, um den Vögeln Schutz vor den Elementen zu bieten.»

Ich hatte das Gefühl, dass er ein wenig improvisierte, aber ich war ihm dankbar dafür. Wir fuhren an Wattgebieten von derartiger Ödnis vorbei, dass man meinen konnte, sie stammten noch aus der Zeit vor der Entstehung mehrzelligen Lebens. Wir überquerten einen breiten Kanal, auf dem ich vier Enten oder Haubentaucher zu sehen glaubte, aber es waren nur Plastikflaschen. Wir kamen an einer «Öko-Farm» vorbei, die aus Fischteichen bestand, darum herum Ferienhäuschen. Endlich störten wir im schwindenden Licht einen Schwarm Nachtreiher aus einem dicht bewachsenen Sumpf auf. Wir verließen den Wagen und sahen ihnen zu, wie sie immer näher zu uns her kreisten. David Xu war außer sich vor Freude. «Jonathan!», schrie er. «Sie wissen, dass du Vogelbeobachter bist! Sie heißen dich willkommen!»


In der Woche davor, nach meiner Ankunft in Shanghai, war mein erster Eindruck, dass China das fortgeschrittenste Land war, das ich je betreten hatte. Die Dimensionen von Shanghai, das aus der Luft ausgesehen hatte wie eine vollkommen platte Ebene mit Zehntausenden säuberlich aufgereihten rechteckigen Häusern – von denen sich jedes bei näherem Hinsehen als großer Wohnblock erwies –, und dann, auf der Erde, die brutal neuen Wolkenkratzer, die fußgängerfeindlichen Straßen und die künstliche Abenddämmerung des raucherfüllten Winterhimmels: Das alles hatte was. Es war, als hätten die Götter der Weltgeschichte gefragt: «Will jemand mal so richtig in der Scheiße sitzen?», und diese Stadt hätte die Hand gehoben und gesagt: «Ja!»

Eines Nachmittags war ich in einem Mietwagen mit drei einheimischen chinesischen Vogelbeobachtern in den Norden von Shanghai gefahren. Die künstliche Abenddämmerung hatte schon vor Stunden begonnen, aber richtig dunkel wurde es just in dem Moment, als wir uns am Rand des Naturreservats Yancheng aus dem Wagen zwängten und dem Vogelführer namens M. Caribou auf einem kleinen Feldweg folgten. Die Temperatur lag unter null. Die einzigen Farben waren verschieden dunkle Blaugrautöne. Ein nicht zu identifizierender Vogel brach aus Sträuchern hervor und flog tiefer in die Nacht hinein.

«Wohl eine Ammer», spekulierte Caribou.

«Es ist ja ziemlich dunkel», sagte ich schlotternd.

«Wir wollen das letzte Licht nutzen», sagte die schöne junge Frau, die sich Stinky nannte.

Es wurde noch dunkler. Unmittelbar vor mir stöberte der junge Mann namens Shadow einen, wie er sagte, Fasan auf. Ich hörte es und schaute mich hektisch um, versuchte, Konturen zu unterscheiden. Caribou führte uns an dem Wagen vorbei, in dem unser Fahrer bei voll aufgedrehter Heizung saß. Wir liefen blindlings eine Böschung hinab in ein Wäldchen aus stockartigen Bäumen, deren bleiche Rinde das Unterholz noch dunkler erscheinen ließ.

«Und was machen wir hier?», sagte ich.

«Könnten Waldschnepfen sein», sagte Caribou. «Die mögen feuchten Boden, wo die Bäume nicht zu dicht beieinanderstehen.»

Wir polterten in der Dunkelheit herum und hofften auf Waldschnepfen. Oben auf der Straße, zehn Meter von uns entfernt, rauschten Minibusse und Kleinlaster vorbei, schlingernd, hupend und Staub aufwirbelnd, den ich zwar schmeckte, aber nicht sah. Wir blieben stehen und horchten angespannt auf ein zwitscherndes Lied, das sich aber als Kugellagergeräusch eines nahenden Fahrrades erwies.

Stinky, Shadow und M. Caribou gebrauchten ihre Netz-Namen, wenn sie Englisch redeten. Stinky war Mutter einer Fünfjährigen und hatte vor zwei Jahren angefangen, Vögel zu beobachten. Per E-Mail hatten sie und ich einen Besuch des größten Naturreservats an der chinesischen Küste, Yancheng, vereinbart, und sie hatte mich überredet, statt eines offiziellen Führers ihren Freund Caribou zu engagieren, der für die Vogelsuche siebzig Dollar pro Tag verlangte. Ich hatte Stinky gefragt, ob ich sie tatsächlich Stinky nennen solle, und sie hatte es bejaht. Mit schwarzer Fleecemütze, Nylonmantel und Tourenhose, ebenfalls aus Nylon, war sie zu meinem Hotel gekommen. Ihr Freund Shadow, ein Biologiestudent mit einer geliehenen Wildkamera und jeder Menge Zeit, trug einen Daunenparka und eine dünne Kordhose. Die Fahrt führte uns zunächst durchs Herz des Jangtse-Deltas, das inzwischen fast zwanzig Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Eine riesige Ebene mit Industrieanlagen, mittelhohen Wohnblocks und isolierten Streifen Ackerbau folgte auf die andere. Am südlichen Horizont zeigte sich beständig, gleich einer Fata Morgana in dem Winterlicht, ein mythisch überdimensionaler Bau – ein Kraftwerk, ein gläserner Finanztempel, ein steroidal aufgeblähter Restaurant-Hotel-Komplex, ein … Getreidespeicher?

Caribou, auf dem Vordersitz, suchte den Horizont mit gedämpfter Wachsamkeit ab. «Das Wort öko ist heutzutage in China sehr beliebt, man begegnet ihm überall», kommentierte er. «Aber richtig öko ist es gar nicht.»

«Bis vor vier, fünf Jahren hat in China überhaupt noch niemand Vögel beobachtet», sagte Stinky.

«Nein – das ist länger her», sagte Shadow. «Zehn Jahre!»

«Aber nur vier oder fünf Jahre in Shanghai», sagte Stinky.

Nördlich des Jangtse, in der Region mit Namen Subei, fuhren wir lange durch dichtbevölkerte, heruntergekommene Vorstädte, bis ich begriff, dass es sich gar nicht um Vorstädte handelte, sondern dass Subei eben so aussah. Die Häuser waren klotzig, ungestrichen, aufdringlich; nur die Dachlinien, die durchweg in einem kümmerlichen fernöstlichen Aufwärtsschwung endeten, boten ansatzweise ästhetische Erleichterung. Wir fuhren an Kanälen entlang, die mit dicken Schichten treibenden Mülls überzogen und zu beiden Seiten mit noch dickeren Ablagerungen gesäumt waren; Weiß und Rot waren die dominierenden Farben des Mülls, aber es gab auch sonnengebleichte Plastikäquivalente in jeder anderen Grundfarbe. Nur selten sah ich einen Baum, dessen Durchmesser mehr als zwanzig Zentimeter betrug. Gemüse war in engen Reihen auf Straßenböschungen, in den Gängen zwischen den zahlreichen Stockbäumen, auf Verkehrsdreiecken und bis dicht an die Wände eines jeden Gebäudes angepflanzt.

Nachdem selbst Caribou zugeben musste, dass es Nacht geworden war, verließen wir das Reservat und fuhren in das Dorf Xinyanggang. Die zweistöckigen Häuser bestanden aus schmucklosem Beton und Ziegeln. Was es an Licht gab, kam hauptsächlich von schwachen Lampen in Geschäften, deren Auslagen zur Straße hin lagen. Beim Essen – in einem Raum, wo der Heizlüfter an der Decke bitterkalte Luft ausstieß – erzählte mir Caribou, wie er zu einem der ersten professionellen Vogelführer der Volksrepublik geworden war. Schon als Kind, sagte er, habe er Tiere gemocht und dann als Student manchmal Vögel gezeichnet und seine Naturnotizen an Studienkollegen gemailt. Aber ohne ein vollständiges, illustriertes Handbuch der chinesischen Vögel könne man unmöglich ein echter Vogelbeobachter sein, und das erste, nämlich das von John MacKinnon und Karen Phillipps, sei erst 2000 erschienen. Caribou kaufte es sich 2001. Zwei Jahre später trat er eine Stelle als Fluglotse in Shanghai an. «Das war ein toller Job», ergänzte Stinky. Caribou selbst war aber nicht der Meinung gewesen. Er fand die langen Nächte und die ständigen Streitereien mit den Piloten und den Chefs der Fluglinien schrecklich; sogar mit Passagieren, die ihn von ihrem Handy aus anriefen, hatte er sich auseinandersetzen müssen. Am meisten klagte er aber darüber, dass der Beruf mit ernsthafter Vogelbeobachtung unvereinbar war. «Manchmal, eine oder sogar zwei Wochen lang», sagte er, «kam ich überhaupt nicht zum Schlafen, es gab immer nur Vögel und Arbeit.»

«Aber du konntest kostenlos in andere Städte fliegen!», sagte Stinky.

Das sei richtig, räumte Caribou ein. Aber sein Dienstplan habe ihm nie mehr als einen ganzen Tag in einer Stadt gestattet, daher habe er gekündigt. Während der letzten zweieinhalb Jahre hatte er sich seinen Unterhalt als freiberuflicher Vogelforscher und -führer verdient. Stinky, die unlängst Facebook entdeckt hatte, versuchte Caribou dazu zu bringen, eine Seite einzurichten, damit er auch im Ausland Werbung für sich machen konnte. Vielen Europäern und Amerikanern, sagte sie, sei nicht klar, dass es so etwas wie chinesische Vogelbeobachter überhaupt gebe, von chinesischen Vogelführern mal ganz abgesehen. Als ich Caribou fragte, wie viele Tage er 2007 als Führer gearbeitet habe, rechnete er stirnrunzelnd nach. «Weniger als fünfzehn», sagte er.

Am nächsten Morgen um halb sieben, nach einem Frühstück aus Nudeln und mit pikantem Gemüse gefüllten Reisküchlein, fuhren Stinky, Shadow, Caribou und ich wieder ins Reservat. Wie viele chinesische Reservate ist das von Yancheng aufgeteilt in einen stark geschützten «Kernbereich» und einen größeren «Außenbereich», in dem Besucher mit Fernglas geduldet werden und Einheimische wohnen und arbeiten dürfen. In ganz Ostchina gibt es sehr wenige unberührte Lebensräume, in Yancheng finden sich gar keine. Der Außenbereich wird offenbar bis auf den letzten Hektar für Fischfarmen, Reisfelder, Straßenplanierungen, Gräbenbau, Schilfschneiden, Hausumbauten, alle möglichen größeren Erdarbeiten und Betongießen genutzt. Caribou führte uns zu Mandschurenkranichen (buschiger Schwanz, majestätisch, gefährdet), Jangtsepapageischnäbeln (winzig, lustiges Gesicht, bedroht) und meiner Zählung nach vierundsiebzig weiteren Vogelarten. Wir suchten nach Ammern an einem Kanal, der von einer Arbeiterbrigade verbreitert und befestigt wurde; sie kamen auf Motorrädern herangeknattert und fragten, ob wir Fasane jagten. Das ist eine übliche Frage in China, wo Vogelbeobachter es auch gewohnt sind, dass man sie mit Landvermessern verwechselt oder ihnen sagt: «Hier gibt’s keine Vögel», und sie fragt: «Ist der Vogel, den ihr da anseht, teuer?»

Neben einem Transparent, das unheilverheißend dazu aufforderte: DAS LAND ENTWICKELN, DIE FEUCHTGEBIETE SCHÜTZEN, ZUR WIRTSCHAFT BEITRAGEN, und einem Bauern, der das Fundament für eine Scheune mit der Schaufel aushob, sahen wir einen Keilschwanzwürger. Wir fielen in den Garten einer Familie ein, die herausgekommen war, um zwei Männern zuzusehen, die sich an einer Transformatorenstation zu schaffen machten, während sieben Meter entfernt, bei einem Haufen Schlackensteine, ein phantastischer, schwarz-weiß gestreifter Wiedehopf mit einer irren Haube im Gras stöberte. Auf dem Gelände eines Reservoirs, wo Caribou gerade zwei Monate zuvor Wasservögel gesichtet hatte, hielten wir neben einem sehr gut aussehenden Mann auf einem Motorrad, der uns unerbittlich anlächelte, während Caribou befand, dass das Gelände für Fischfarmen planiert und nun von Vögeln entvölkert war. Wir beendeten den Tag damit, nahe dem Touristenzentrum des Reservats zwischen Bäumen und Buschwerk umherzustreifen. Dort gab es auf einer Straßenseite kostenlos einen einsamen Straußen zu sehen, und auf der anderen konnte man für vier Dollar ein paar zahme Mandschurenkraniche betrachten, die teilnahmslos in einem Gatter mit gelbem Gras und schmutzigem Wasser standen, und einen Turm ersteigen, von dem aus der Kernbereich des Reservats in der Ferne zu sehen war.

«Das ist kein Feuchtgebiet hier, das ist ein Ödland», kommentierte Caribou verbittert das Besucherzentrum. «Das Problem mit den Naturreservaten in China ist, dass die Einheimischen sie nicht unterstützen. Die Leute, die in ihrer Nähe leben, denken: Wegen der Schutzgebiete können wir nicht reicher werden, können keine Fabriken bauen, keine Kraftwerke bauen. Die wissen nicht, was ein Reservat oder ein Feuchtgebiet ist. Yancheng sollte einen Teil des Kernbereichs der Öffentlichkeit zugänglich machen, um ein Interesse dafür zu wecken. Damit sie den Mandschurenkranich kennenlernen. Dann können die Leute das hier auch unterstützen.»

Das Bußgeld fürs Betreten des Kernbereichs beträgt nominell vierzig Dollar, es kann aber, je nach Laune des Polizisten, bis auf siebenhundert steigen. Theoretisch ist der Kernbereich geschlossen, um die Störung seltener Zugvögel durch Menschen zu minimieren, würde man es aber an einem Vormittag Ende Februar trotzdem betreten, dann träfe man auf lange, laute Konvois blauer Laster, die auf Feldwegen kreuz und quer durch Staubwolken und Dieselschwaden rumpeln. Die Laster fahren leer hinein und haushoch und straßenbreit mit abgeerntetem Schilf beladen wieder hinaus. Es wäre ein Leichtes, bedrohte Arten wie den Jangtsepapageischnabel zu finden, weil ihre Populationen auf schmale Streifen Vegetation inmitten riesiger Schlickwattflächen – viele Quadratkilometer weit bis zum Horizont – vertrieben wurden, die bis auf den Boden gerodet sind. Mit etwas Glück könnte man auch einen der weltweit noch rund zweitausend Exemplare zählenden Schwarzstirnlöffler sehen, der in seichtem Wasser neben gefährdeten Schwarzschnabelstörchen und gefährdeten Kranichen Nahrung sucht, während auf einer Landzunge unmittelbar hinter ihnen Arbeiter Schilfbündel auf einen Laster werfen.

Einem Verwalter des Reservats zufolge gestatten die örtlichen Bestimmungen, Schilf vor und nach dem Durchzug von Zugvögeln zu schneiden. Als das Reservat Mitte der achtziger Jahre eingerichtet wurde, hatte ihm die Zentralregierung nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt, sodass die Bauern fürs Schilfschneiden eine Gebühr entrichten mussten; heute wird das Schneiden als Brandschutzmaßnahme ausgegeben. «Globale NGOs möchten, dass China seinen Naturschutz wie der Westen organisiert, aber sie wollen nicht, dass auch jeder Chinese ein Auto fährt», sagte mir der Leiter eines anderen Küstenreservats. «Deshalb müssen wir die Dinge auf die chinesische Art regeln.» Es leuchtete mir nicht ein, dass für die Mandschurenkraniche des Yancheng Feuer ein größeres Risiko darstellen sollte als die Rodung des Kernbereichs zweimal im Jahr, aber ich wusste, dass in China noch vieles unter der Parole der achtziger Jahre, «Erschließung vor Umweltschutz», läuft. Ich fragte Caribou, ob es, da Chinas Wirtschaft ja weiterhin wachse, für die Vögel einfach immer nur schlimmer werde.

«Ganz eindeutig», sagte Caribou. Er führte einige Arten auf – Baikalente, Schuppensäger, Baerente, Schwarzhalsibis, Schwefelammer, Mönchskranich –, die in Ostchina brüteten oder überwinterten und im Verschwinden begriffen seien. «Noch vor zehn Jahren konnte man sie in viel größerer Zahl sehen», sagte er. «Das Problem ist nicht bloß Wilderei. Das größte Problem ist der Verlust des Lebensraums.»

«Das ist ein Trend, daran können wir nichts ändern», sagte Stinky.

Ein Stück hinter dem Besucherzentrum an der Straße, es war fast dunkel, rief Shadow, er habe vier Krickenten und eine Schnepfe entdeckt.


Stinky suchte offiziell nach einer Arbeit im Bereich Marketing oder PR, aber sie wollte eine Stelle, bei der sie keine Überstunden machen musste, und in China wurden heutzutage bei jeder Arbeit Überstunden verlangt. Sie und ihr Mann hatten zwei Jahre in den Staaten gelebt. Obwohl sie das Leben dort, verglichen mit dem in China, letztlich zu langweilig und vorhersehbar fanden, hielten sie sich nun für weniger «flexibel» als ihre Freunde, die nicht weg gewesen waren. «Es fällt uns beiden ein wenig schwerer, unsere Prinzipien aufzugeben», sagte Stinky. «Zum Beispiel sagen die Leute in China wie in den USA, die Familie stehe an oberster Stelle. Aber in den USA meinen sie das wirklich so. In China dreht sich jetzt alles um Karriere und Aufstieg.» Sie und ihr Mann hatten sich schon eine Wohnung für ihren Ruhestand in der sichuanesischen Hauptstadt Chengdu gekauft, wo die Menschen in dem Ruf stehen, das Leben entspannt zu genießen, aber noch machte ihr Mann Überstunden in Suzhou und kam nur ein paar Abende die Woche nach Hause nach Shanghai, und Stinky war bei ihrem neuen Hobby kaum weniger fleißig. Seit ihrer Teilnahme an einer von der Shanghaier Wildvogelgesellschaft veranstalteten Tour zwei Jahre eher hatte sie die Buchführung für die Gesellschaft gemacht, mehrere Projekte geleitet, als aktive Online-Posterin örtliche Vogelzählungen ins Netz gestellt und im Sommer davor, in der Provinz Fujian, eine der seltensten Arten der Welt gesehen, die Bernsteinseeschwalbe.

An einem Sonntagvormittag ging ich mit ihr zum Jahrestreffen der Wildvogelgesellschaft. Vierzig Mitglieder, darunter ein Dutzend Frauen, hatten sich in einem Schulungsraum im neunzehnten Stock eines Gebäudes der Forstbehörde eingefunden. Die neuesten Mitglieder waren leicht auszumachen – es waren die Schüchternen, die kleine glänzende Vogelanstecker tauschten. Stinky, in modischer schwarzer Jeans, die dichten Haare offen auf den Schultern, trat aus einer Gruppe Freunde und gab mit Hilfe von Tabellen – darauf ein niedliches Carbon-Sparschwein, in das Münzen fielen – einen klaren, geschliffenen Finanzbericht. (Im Jahr 2007 hatte die Finanzierung hauptsächlich aus einer Spende über neunhundert Dollar der Hongkonger Vogelgesellschaft bestanden, mit der man das alljährliche Shanghaier Vogelfestival bezahlte.) Dieses Jahr wurde der Vorstand der Gesellschaft erstmals direkt von den Mitgliedern gewählt, anstatt vom staatlichen Sponsor, dem Shanghaier Büro für den Schutz von Wildtieren, bestimmt zu werden. Ein älteres Mitglied erhob sich und trug witzig-sarkastische Kurzbios von neun Nominierten vor, darunter ein «Supermodel» (Stinky), ein «Student, der äußerst jung ist» (Shadow) und ein «netter Kerl, sehr umgänglich» (der beste Amateur-Vogelbeobachter Shanghais). Mitglieder lächelten in Kameras, während sie mit halbernstem Zeremoniell reihum rosa Wahlzettel in den Schlitz einer Kiste steckten.

Chinas politisches System lässt keine Umweltbewegung im westlichen, aktivistischen, integrierten Sinn einer Bewegung zu. Die Drei-Schluchten-Talsperre am Jangtse brachte tatsächlich so etwas wie einen organisierten nationalen Widerstand hervor, aber das lag zum Teil daran, dass die Regierung bei dem Projekt selbst gespalten war und dass die Talsperre zu einem Sammelplatz für politisch Unzufriedene ganz allgemein wurde. Unlängst musste die Regierung sich zu ihrer Schande der Verschmutzung des Tai-Sees nahe der Stadt Wuxi zuwenden, aber nicht wegen des lauten (und daraufhin inhaftierten) Bürgers, der das Problem publik gemacht hatte, sondern deshalb, weil eine Algenblüte den Trinkwasservorrat von Wuxi verschmutzt hatte. In China finden sich durchaus prominente und unerschrockene Umweltaktivisten, viele davon ehemalige Journalisten, und Privatbürger inszenieren häufig (dem Sankt-Florians-Prinzip entsprechende) «NIMBY»-Proteste gegen bestimmte Umweltbedrohungen. (NIMBY steht für «Not In My Backyard», nicht in meinem Garten oder Hinterhof.) Die «Aktivisten gegen Bürokratie»-Dynamik ist indes weniger wichtig als die Spannung zwischen der Regierung in Peking, die sich prinzipiell für einen starken Umweltschutz einsetzt, und den eindeutig wachstumsfreundlichen lokalen und Provinzregierungen. Nichtregierungsorganisationen wie der Shanghaier Wildvogelgesellschaft ist es nicht gestattet, Bündnisse einzugehen oder Anweisungen von einer überregionalen Gruppe zu befolgen, und eine jede braucht einen staatlichen Sponsor. Sie sind ein bisschen so, wie unsere Audubon-Ortsgruppen es wären, wenn es links von ihnen keine überregionalen Gruppierungen gäbe – keinen Sierra-Club, der in Washington agitiert. Fast alle diese Gruppen gibt es noch nicht länger als zehn Jahre, und ihre Zielsetzung ist daher in erster Linie eine erzieherische.

Naturschutzproteste nach westlichem Muster sind, wenn sie denn laut werden, zumeist spontan, lokal und ineffektiv. Noch vor vier Jahren war das Feuchtgebiet Jiangwan – acht Quadratkilometer unterschiedlicher Habitate auf dem Gelände eines stillgelegten Militärflugplatzes – die größte Naturfläche im Zentrum Shanghais und ein Magnet für die dortigen Vogelbeobachter. Als diese erfuhren, dass das Gelände für den Wohnungsbau erschlossen werden sollte, taten sie sich mit Forschern aus der Gegend zusammen, ersuchten die Regierung, das Projekt aufzugeben oder zu modifizieren, und gewannen Journalisten, die ihre Kampagne verbreiteten. Als Reaktion darauf stornierte die Regierung die Ausgabe einer Feuchtgebiet-Briefmarke, auf der, in Caribous abschätzigen Worten, «vielleicht ein paar Amseln oder ein kleiner Reiher zu sehen waren». Ansonsten ging das Projekt wie geplant weiter.

Stinky vereinte bei der Vorstandswahl die meisten Stimmen auf sich, wurde auf achtunddreißig von vierzig Wahlzetteln genannt. Der äußerst junge Shadow gehörte zu den Durchgefallenen. Nach dem Mittagsbuffet sahen wir eine Diaschau vom netten, umgänglichen und besten Vogelbeobachter Shanghais, der kürzlich die Provinz Yunnan mit ihrer großen Artenvielfalt bereist hatte. («Da», sagte er und klickte weiter, «da wurde ich von einem Egel angefallen.») Stinky betrachtete die Präsentation verzückt. Sie wollte selbst zu einer zweiwöchigen Vogelexpedition durch Yunnan aufbrechen, ohne ihren Mann und ihre Tochter, dafür mit Caribou, und sie hoffte, wenigstens auf hundert Vogelarten zu treffen, die sie noch nicht gesehen hatte. Ich hatte sie gefragt, wie ihr Mann ihr Hobby findet. «Er denkt, ich hab’s richtig gut», sagte sie.

Von den Fenstern des Schulungsraums aus konnte ich die obere Hälfte des Jin Mao Tower sehen – die Hälfte, in der das Hotel war, in dem ich wohnte. Bis vor wenigen Monaten war der Jin Mao das fünfthöchste Gebäude der Welt gewesen, dann eröffnete das viel höhere Shanghai World Financial Center gegenüber und trat seine Herrschaft als Asiens höchstes Gebäude an, bis im übernächsten Jahr ganz in der Nähe ein noch höheres fertiggestellt wird. In meinem Hotelzimmer im siebenundsiebzigsten Stock, mein Blick auf Sourcing geeicht, der Himmel in meinen Fenstern weiß von Kohlensmog, forderte mich jede blinkende Installation auf, die Energie zu betrachten, derer es bedurfte, um ihre Rohmaterialien zu fördern, sie zu bearbeiten, nach Shanghai zu schaffen und gut dreihundert Meter über den Erdboden zu heben. Nach der Kälte und Dunkelheit von Subei erschien mir das Zimmer empörend luxuriös, mit Ausnahme allerdings des Leitungswassers, von dessen Genuss den Gästen abgeraten wurde.

«Alle Arten, die Sie nicht im Wald finden», witzelte der oberste Vogelbeobachter in Shanghai, «finden Sie auf dem Markt, wo sie in Käfigen sitzen.»

Bei dem Treffen erboten sich zwei junge Männer, Yifei Zhang und Max Li, mich am nächsten Vormittag im Mündungsdelta des Jangtse herumzuführen. Yifei war ein schlanker ehemaliger Journalist mit feinen Zügen, der jetzt für den World Wildlife Fund in Shanghai arbeitete. Max war gebürtiger Shanghaier, der in Swarthmore Maschinenbau studiert hatte und als veganer Vogelbeobachter in sein Heimatland zurückgekehrt war, um ökologisch tätig zu werden. («Ich versuche es ja, aber als Veganer ist man hier hoffnungslos verloren», sagte Max, während er uns bei einem Straßenhändler ein Frühstücksomelett kaufte.) Nach einem Vormittag in einem Naturreservat auf der Insel Chongming wollten Yifei und Max mir einen Feuchtgebietpark am Rand von Shanghai zeigen. Für chinesische Umweltschützer hat das Wort Feuchtgebietpark ungefähr dieselbe Wertigkeit wie Streichelzoo. Diese Parks bestehen in der Regel aus Baggerseen und fotogenen Inseln, die von breiten, Vögel verscheuchenden Holzpromenaden durchzogen sind. Der Park in Shanghai lag unmittelbar neben einer Militärbasis, deren Salven vom Schießstand so laut waren, dass es wie in einer Videospielhalle klang; am Himmel sauste Leuchtspurmunition über unsere Köpfe hinweg. Auch gab es bunte Scheinwerfer, Felsattrappen, aus denen chinesische Popmusik drang, und dichte, schnurgerade Reihen mit Stiefmütterchen. Yifei blickte auf die Stiefmütterchen und sagte: «Blöd.»

Wir überquerten den Jangtse auf einer alten, langsamen Fähre. Das Wasser hatte die Farbe nassen Zements. Als wir uns dem Ufer näherten, drückten sich Hunderte Passagiere gegen die Spanten der Fähre, quetschten sich durch schmale Türen auf eine enge Plattform und eine steile, schmale Eisentreppe hinab. Obwohl mir das Tempo des Landes gefiel – die Chinesen verlassen ein Düsenflugzeug wunderbar schnell, und chinesische Aufzugtüren springen nur so auf –, wurde ich doch ungern so dicht auf leiterartige Treppen zu gedrängt. Ich war von New York her Menschenmengen gewohnt, aber nicht solche. Ein Unterschied war auch das Tempo, in dem der kleinste Vorteil, das leiseste Zögern ausgenutzt wurde. Noch verblüffender aber war, mit welcher Scheuklappen-Neigung des Kopfes die Frauen (es waren überwiegend Frauen) um mich herum schubsten und stießen. Mit so einer Neigung überblickte man auf dem Boden genau einen Schritt, und sie bewirkte bei mir nicht, dass ich mich herausgefordert oder abgelehnt fühlte (so, wie es meinen Blutdruck in der Lexington-Avenue-Linie erhöhte), sondern dass es mich irgendwie leblos machte. Ich war nichts weiter als ein dunkel erspürtes Hindernis.

Ich fragte Max und Yifei nach der scheinbaren Gleichgültigkeit, die die meisten Chinesen der Umweltkrise, besonders der Tierwelt entgegenbrachten.

«Hier gibt es eine lange Tradition, in ‹Harmonie mit der Natur› zu leben», sagte Max. «Diese Ideen haben Tausende von Jahren überdauert, und sie können sich nicht einfach verflüchtigt haben. Sie sind nur in dieser Generation vorübergehend verlorengegangen. Unter Mao wurden alle möglichen traditionellen Werte zerstört. Und heute denken die Leute nur: Ich will schnell reich werden. Je reicher man wird, desto mehr wird man respektiert. Und die Ersten, die wirklich reich wurden, in den neunziger Jahren, das waren die Kantonesen. Dann kopierten die Leute in anderen Provinzen den Lebensstil der Kantonesen, zu dem unter anderem gehört, dass man viele Meeresfrüchte isst, um zu zeigen, wie reich man ist.»

«Wir haben nicht genügend Forscher, die untersuchen, was da umweltmäßig passiert», sagte Yifei. «Und die Forscher, die wir haben, machen den Mund nicht auf. In den Büros, sogar in der Akademie der Wissenschaften, überlegt jeder nur, was er sagen kann, damit es dem Boss gefällt. Statt echter Informationen gibt es jede Menge falsche – Sätze wie ‹China hat eine Fülle von Naturressourcen›. Die allgemeine Entwicklung des Landes ist gut – hin zu größerer geistiger Freiheit –, aber sie ist doch noch immer sehr beschränkt. Letztendlich interessiert sich jeder nur dafür, was er für sich selbst herausholen kann. Das Ziel ist persönliches Überleben.»


In Ningbo hatte ich darum gebeten, eine Golfschlägerfabrik zu besichtigen, und der unermüdliche David Xu mit seinem schönen Lächeln hatte mir meinen Wunsch erfüllt. Bis zu dem Augenblick, in dem wir in der Fabrik eintrafen, telefonierte er mit dem Firmenchef und versicherte ihm, ich sei wirklich Schriftsteller und er, Xu, arbeite tatsächlich im Außenministerium. Im Vorjahr hatte ein Konkurrent der Firma als Journalisten getarnte Spione in die Fabrik geschickt.

Moderne Golfschläger mögen ultra-hightech aussehen, aber ihre Herstellung ist unumgehbar arbeitsintensiv. Die Fabrik in Ningbo beschäftigt rund fünfhundert Arbeiter, die meisten aus Zentral- und Westchina. Sie leben im Fabrikwohnheim, sie essen in der Fabrikcafeteria, und Lawyrance Luo zufolge, dem jungen Vertriebsleiter der Firma, verstehen sie von den Gegenständen, die sie herstellen, im Großen und Ganzen nicht viel. Luo sagte, er selbst spiele nur wenige Male im Jahr Golf, wenn die Firma neue Produkte testen müsse. Die meisten in der Fabrik hergestellten Schläger gehen im Set und mit voluminöser Tasche an große Einzelhandelsgeschäfte in Amerika. Der nackte Beton und die einfache Beleuchtung mochten ein Jahr oder fünfzig Jahre alt gewesen sein. Ebenso die fettgeschwärzten Maschinen, von Arbeitern bedient, die Rohstahlröhren verjüngten und in den dabei entstehenden Schaft saubere Crimpringe pressten. Arbeiterinnen bestrichen Graphitverbundstreifen mit Klebstoff, die sodann auf die Schäfte gerollt und mittels Heißklebeverfahren aufgetragen wurden. Eine mächtige Maschine stampfte Blechstahl zu hohlen Schlägerköpfen; an einer anderen legten Männer zu beiden Seiten mit Pinzetten Schlagflächen hinein, die Maschine presste horizontale Rillen auf, dann holten die Männer sie wieder heraus. Nach dem Pressen wurden die Schlägerköpfe von muskulösen Männern mit Schutzmasken in einem matt erhellten Raum voller wassergekühlter Schleifmaschinen gefräst; Luo versicherte mir, das Wasser hier werde recycelt und die Ventilation sei viel besser als früher, aber die Szenerie war doch ziemlich infernalisch. Oben, in einem Raum voll haarsträubend intensiver Lackdämpfe, inspizierten robust wirkende Mädchen mit dichten Haaren und extremen Stiefeln und Strümpfen die Verarbeitung der Schlägerschäfte und schliffen kleine Fehler weg. Andere junge Leute sandstrahlten Schlägerköpfe, klebten Abziehbilder auf Schäfte, bemalten die Rillen der Logos per Hand und spritzten Leim in Driver-Köpfe, damit der darin verbliebene Schleifstaub nicht rasselte. In einem überfüllten Raum im Erdgeschoss, in dem sich die fertigen Produkte stapelten, ragten ganze Wälder schimmernder Schlägerköpfe über Grate farbenfroher Taschen und ausgedehnte Schilfbeete, in denen Schäfte die Stiele waren und gepolsterte Griffe die Köpfe des Schilfs.

Wie Chinas Naturreservate wurde auch diese Firma von Schwierigkeiten eingeengt. Die monatliche Lohnsumme, die sich gegenwärtig auf rund zweihundert Dollar pro Arbeiter belief, stieg Jahr für Jahr, und es gab neue Bundesgesetze, die, theoretisch jedenfalls, den Mindestlohn erhöhten und die Firmen verpflichteten, alle bis auf die Kurzarbeiter zu versichern und ihnen Abfindungen zu zahlen. Da die Zentralregierung unbedingt auch das Landesinnere erschließen wollte, mussten Arbeitgeber in Küstenstädten wie Ningbo starke Anreize bieten, um Arbeiter aus ihrer Heimat anzulocken und sie zu halten. Derweil waren Chinas Steuergutschriften bei Exporten weniger großzügig geworden, die Kosten für Rohstoffe stiegen im Monatsrhythmus, die amerikanische Wirtschaft stagnierte, der US-Dollar war ein Flop, und dennoch konnte die Fabrik ihre gesteigerten Kosten nicht an ihre Kunden weitergeben – die amerikanischen Einkäufer gingen sonst einfach zur Konkurrenz.

«Unsere Profitmarge ist sehr, sehr dünn geworden», sagte Luo. «Sie ist genauso wie vor zehn Jahren, als die taiwanesischen Hersteller herzogen. Jetzt wandern immer mehr Unternehmen nach Vietnam ab.»

«Vietnam ist sehr klein», konterte David Xu mit einem breiten Lächeln.

Als wir aufbrachen, stießen wir beim Ausgang auf eine riesige Golftasche voller Schläger in Plastikhüllen.

«Das sind unsere besten Schläger», sagte mir Luo. «Das Spitzenmodell. Der Direktor möchte sie Ihnen zum Geschenk machen, weil Sie sich für Golf interessieren.»

Ich schaute auf Xu und meine Dolmetscherin, Miss Wang, aber beide konnten mir kein klares Zeichen geben, was ich tun sollte. Wie im Traum sah ich zu, wie die Schläger im Heck unseres Wagens verstaut wurden. Und wie die Kofferraumtür zuschlug. Bestimmt gab es hierfür doch irgendeinen bekannten Journalistenkodex?

«Ach, ich weiß nicht», sagte ich. «Ich weiß nicht recht.»

Aber da winkte Luo schon zum Abschied, und wir fuhren fort in den Vormittagsdunst. Ein kräftiger, warmer, rauchgeschwängerter Wind war aufgekommen; plötzlich war die Luft sehr schlecht. Womöglich wäre mir eine Ablehnung des Geschenks gelungen, hätte ich mich in der chinesischen Geschäftsetikette nur sicherer gefühlt. Zugegeben, im entscheidenden Moment war ich auch noch vom Wohlgeschmack des Wortes «Spitzenmodell» und von der Vorstellung, diese schimmernden, sexy, modernsten Golfschläger in Händen zu halten, gelähmt gewesen; die ausgedehnte Fabrikbesichtigung hatte mir Lust auf das fertige Produkt gemacht. Erst jetzt fiel mir ein, dass es da zwischen Ningbo und New York einiges zu schleppen gäbe. Und: Nachdem ich so ein hübsches Geschenk angenommen hatte, wäre es da nicht unverschämt von mir, über die intensiven Lackdämpfe am Arbeitsplatz zu schreiben? Und: Missfiel mir Golf nicht eigentlich?

«Ich überlege, ob wir nicht umkehren und die Schläger zurückgeben sollten», sagte ich. «Ginge das? Wäre der Direktor dann gekränkt?»

«Jonathan, du musst die Schläger behalten», sagte Xu. Aber auch er klang nicht ganz überzeugt. Ich erklärte, was für ein Umstand es wäre, mit Übergepäck zu reisen, und Miss Wang, die selbst nicht viel größer als die Schlägertasche war, erbot sich, sie für mich nach Shanghai zurückzutragen und bis zu meiner Abreise aufzubewahren. «Ich muss abnehmen», sagte sie.

«Sie werden ein Andenken an diese Reise sein», sagte Xu.

«Sie müssen sie unbedingt behalten», pflichtete Miss Wang ihm bei.

Ich dachte an die Reise nach Oregon, die ich einen Monat zuvor unternommen hatte. Aus Anlass eines runden Geburtstags meines Bruders war ich schließlich doch mit ihm ins Bandon Dunes gefahren. Im Proshop des Golfhotels hatte ich ganze Körbe voller besorgt dreinschauender Papageitaucher gesehen, und mit wachsender Ungeduld hatte ich achtzehn herrliche Löcher versemmelt, während Bob einen Monsterputt nach dem anderen versenkte. Um von Bobs Wohnort zum Bandon zu gelangen, waren wir mit dem öffentlichen Nahverkehr der Stadt Portland zum Flughafen gefahren. Wollen Sie sich einmal strahlend weiß, männlich und müßiggängerisch fühlen, gibt es kaum etwas Besseres, als eine ethnisch gemischte Menge Werktätiger zu bemühen, im morgendlichen Berufsverkehr um Ihre Golfbags herumzusteigen.

Ich sagte zu David Xu, ich wolle ihm meine neuen Golfschläger zum Geschenk machen. Er protestierte: «Ich bin bisher noch nicht mal am Eingang zu einem Golfplatz gewesen!» Aber schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzunehmen. «Sie werden die Erinnerung an dich wachhalten», sagte er philosophisch, «und meinem Leben eine wunderbare, farbenfrohe Würze geben.»


Unter den vielen jüngsten Postings auf der Website der Jiangsu Wild Bird Society – mit Sitz in Nanjing, der Hauptstadt der Provinz Jiangsu, die an Shanghai angrenzt – gab es einen Thread, der damit begann, dass ein neues Mitglied der Gruppe, Xiaoxiaoge, Vogelbilder postete, die er in einem Zoo aufgenommen hatte. Er musste dafür viel Kritik einstecken. Xiaoxiaoge schoss zurück:

Ich habe noch nie gehört, dass eine Tierschutzorganisation eine negative Meinung über Zoos bekundet. … Sind denn nicht auch sogenannte «Wildtierreservate» nur ein Ort, der eingerichtet wurde, um Tiere «einzusperren», damit sie geschützt sind?

Er fuhr fort:

Ist ein Zoo denn nicht der einzige Ort, an dem man Vögel mit einer einfachen Kamera aus der Nähe fotografieren kann? Sonst müsste man doch Tausende [für eine Fotoausrüstung] ausgeben, um Vögel fotografieren zu können, und wäre es dann nicht eine Oberschichtaktivität? … Diese Leute vertiefen sich in die Freude an der Schönheit der Vögel und kommen nicht wieder heraus; sie alle vertiefen sich in die Freude darüber, irgendwo eine neue Art zu finden, und kommen nicht wieder heraus.

Würden den Vogelbeobachtern die Vögel wirklich am Herzen liegen, schrieb Xiaoxiaoge, dann würden sie weniger Energie darauf verwenden, hübsche Bilder zu machen, und mehr Zeit damit verbringen, die Natur gegen die Bedrohung durch den Menschen zu verteidigen.

Als Antwort auf Xiaoxiaoge verwies ein Poster darauf, dass Nanjings allererster Vogelbeobachter

ein durchschnittliches Fernglas für 200 Yuan benutzt hat, um Vögel zu beobachten, und ein landesweit bekannter Experte geworden ist. Fünf Jahre lang benutzte er dieses Fernglas, bis er es dieses Jahr schließlich gegen ein neues eintauschen musste.

Ein anderer Poster ergriff die Gelegenheit, um das Profitmotiv von chinesischen Zoos zu beklagen:

Besucht man westliche Zoos, stellt man fest, dass die Tiere in einem richtigen Zoo ein viel besseres Leben haben als in der freien Natur. Neulich habe ich mit Leuten gesprochen, die aus Übersee zurückgekommen sind, oder mit Freunden aus Übersee, und nun bin ich noch mehr der Überzeugung, dass der Unterschied in unserem Land der ist: Wir machen nie etwas so, wie es gemacht werden müsste. Alles ist irgendwie ein Geschäft, nur ein egoistisches Geschäft.

Und noch ein anderer Poster schrieb über seinen inneren Konflikt:

Ich persönlich mag Zoos nicht und auch nicht Menschen, die Tiere einsperren. Im Herzen möchte ich die Käfige zerstören, habe aber nicht den Mut dazu. Sie zu zerstören ist eindeutig ein Verbrechen.

Die längste, geduldigste und gründlichste Antwort auf Xiaoxiaoges Provokation stammte von einem Poster, der sich asroma13 nannte (eine Anspielung auf den italienischen Fußballclub). Asroma13 räumte ein, dass Zoos, sofern sie gut geführt seien, besonders für Einsteiger nützlich sein könnten. Er erklärte den Unterschied zwischen einem Zoo und einem Reservat: Ein Reservat schütze vor allem einen Ort. Xiaoxiaoge entgegnete er, er, asroma13, habe viele Fotos von «Umweltzerstörung, Vogelfang und anderen schädlichen Phänomenen» gepostet, aber das könne nicht der einzige Blickpunkt der Website sein. Zu Xiaoxiaoges Genusssucht-Vorwürfen meinte er, nicht viele beschäftigten sich mit Vogelbeobachtung oder Vogelfotografie aus einem umweltschützerischen Impuls heraus, doch befürworteten letztlich die meisten, die diesem Hobby nachgingen, den Schutz der Umwelt. Weiter schrieb er:

Wenn Vogelbeobachter und Vogelfotografen die Freude an der Schönheit und das Entdecken neuer Arten nicht genießen sollen – wenn wir über der Schönheit eines Vogels nicht gefühlvoll aufseufzen dürfen –, woher sollen wir dann die Gründe und die Leidenschaft nehmen, sie zu schützen?

Asroma13 hatte zwei Jahre davor, im Alter von zwanzig Jahren, die Jiangsu Wild Bird Society ins Leben gerufen. Auf Englisch nannte er sich Shrike, Würger. Ich traf mich mit ihm an einem Sonntagvormittag in Nanjing, und während der Fahrt im Taxi zum Botanischen Garten, der auf den dicht bewaldeten Purpurbergen liegt, wurde im Autoradio zufällig von einer Schar durchziehender Schwäne berichtet, die die Wildvogelgesellschaft auf einem See südlich von Nanjing beobachtet habe. Shrike hatte Lokalredakteure während der letzten zwei Jahre mit einem steten Strom von Vogelinformationen versorgt. «Kann man einen Sender oder eine Zeitung für eine Geschichte interessieren, interessieren sich die anderen auch dafür», sagte er.

Shrike war ein großer, sehr jung wirkender Mann mit hohen Backenknochen, der Biomedizintechnik studierte. Er sagte, er kenne jedes Detail einer jeden Vogelart in Nanjing, und ich glaubte es ihm. An einem kalten grauen Tag, auf zwei sehr langsamen Runden durch den Botanischen Garten – wir waren sechs Stunden lang dort – brachte er einen städtischen Park dazu, fünfunddreißig Arten preiszugeben. (An einer Müllkippe stießen wir auch auf drei wildlebende Katzen, die einzigen Säugetiere, die ich in meinen Wochen in China frei herumlaufen sah.) Eine auf ein Stativ montierte Kamera auf der Schulter – wie ein kleines Kreuz, das er für die Natur trug –, führte Shrike mich im Unterholz herum, bis wir einen Huamei, einen Augenbrauenhäherling, zu Gesicht bekamen, einen der charismatischsten und beliebtesten Singvögel Chinas. Das Gefieder des Huamei war ein kräftiges Braun mit Ausnahme der irren weißen Brille, von der sich sein Name herleitet (wörtlich: «gemalte Augenbraue»). Er scharrte in gefallenem Laub wie eine Grundammer, nervös, uns wachsam beobachtend. Anderswo in den Purpurbergen, sagte Shrike, würden Netze ausgelegt, um den Huamei zu fangen, aber der Zaun um den Botanischen Garten halte Wilderer fern.

Shrike war in Nanjing aufgewachsen, als einziges Kind eines Professors für Maschinenbau und einer Fabrikarbeiterin. Mit sechzehn kaufte er sich ein Fernglas und sagte sich: «Ich sollte rausgehen und mir Tiere ansehen.» Auf den Umschlag eines Notizbuchs schrieb er «ÖKOLOGISCHE AUFZEICHNUNGEN» und ging damit in den Botanischen Garten. Der erste Vogel, den er sah, war eine Kohlmeise (eine farbenfrohe Verwandte der Schwarzkopfmeise). Ein halbes Jahr später radierte er das Wort «ÖKOLOGISCHE» auf dem Notizbuch aus und schrieb «VOGEL-» hin. 2005 kam er übers Internet in Kontakt mit einem anderen Vogelbeobachter, einem Kadetten der Polizeiakademie. Die beiden schlossen sich zu einem Forum zusammen, aus dem dann die Jiangsu Wild Bird Society wurde. Die Gruppe hatte inzwischen rund zweihundert Mitglieder, darunter zwanzig, die Shrike als «sehr aktiv» bezeichnete, aber anders als ihr Pendant in Shanghai existierte sie offiziell gar nicht. «Wir sagen im Spaß, dass wir eine Untergrundorganisation sind, die überall entlarvt ist», sagte Shrike. «Jetzt kennen uns immer mehr Leute in der Stadt, weil in den Nachrichten oft über uns berichtet wird. Manchmal, wenn wir unterwegs sind und Vögel beobachten und Leute vorbeigehen, hören wir sie zueinander sagen: ‹Oh, die beobachten Vögel.›»

Die größte Bedrohung für Vögel in China neben Verschmutzung und Verlust von Lebensraum ist die Jagd. Es ist weit verbreitet, wenn auch illegal, sie mit Netzen und Gift zu fangen, um sie dann zu verspeisen. In manchen alten Städten, auch in Nanjing, werden Wildvögel oft als Haustiere verkauft oder an Buddhisten, die sie bei Festen fliegen lassen, da sie glauben, freigelassene Vögel erzeugten ein gutes Karma. (Eine Nonne aus einem Kloster nahe Nanjing sagte mir, die Mönche seien bei der Art der Tiere, die sie freiließen, nicht wählerisch, es zähle nur die Menge.) Shrike zufolge können die Gesetze gegen den Verkauf von Wildvögeln nicht durchgesetzt werden, ohne «gesellschaftliche Instabilität» zu riskieren, daher versuchten er und seine Gruppe stattdessen, die Käufer zu erziehen. «Unsere Botschaft bei unseren Werbeaktionen ist: ‹Wer Vögel liebt, sperrt sie nicht ein – lasst sie frei am Himmel fliegen›», sagte er. «Wir informieren die Leute auch über die ganzen Parasiten und Viren, die sie bekommen können. Wir versuchen, sie zu überzeugen, aber wir bedrohen sie auch!»

Shrike erklärte sich ziemlich widerwillig bereit, mit mir auf den Vogelmarkt von Nanjing zu gehen. Dort sahen wir in einem Gewirr von Gassen nördlich des Qinhuai-Flusses frisch gefangene Feldlerchen, die sich gegen die Gitterstäbe ihres Käfigs warfen. Wir sahen einen Jungen, der einen Spatzen an einer Leine zähmte, indem er ihm den Kopf streichelte. Wir sahen Berge von Vogelscheiße. Am wenigsten verstörten mich die Käfige mit Wellensittichen und Bronzemännchen, die vermutlich schon in Gefangenschaft groß geworden waren. Am nächstwenigsten verstörten mich die farbenfrohen Exoten – Fulvettas, Blattvögel, Yuhinas –, die aus einem geschädigten Wald im Süden geholt und nach Nanjing verfrachtet worden waren. Ich sah sie zwar nicht gern dort, aber sie wirkten nur halb real, weil ich sie in ihrem natürlichen Habitat gar nicht kannte. Es war wie der Unterschied zwischen dem Anblick eines obskuren Fremden in einem Porno und dem Anblick des besten Freundes: die verstörendsten Gefangenen waren die vertrautesten – die Kernbeißer, die Drosseln, die Sperlinge. Mich schockierte, wie viel kleiner und überhaupt abgerissener und geschwächter sie in den Käfigen aussahen als im Botanischen Garten. Es war genauso, wie Shrike zu Xiaoxiaoge gesagt hatte: dass ein Naturreservat einen Ort schützte. Nahezu im selben Maße, wie das Tier zum Ort gehörte, gehörte der Ort zum Tier.

Die beiden beliebtesten Wildvögel in Nanjing, beides Sänger, waren der winzige, edelsteinartige Japan-Brillenvogel und der bedauernswerte Huamei. Frisch gefangene Singvögel gingen für gerade mal einen Dollar fünfzig weg, aber nach einem Jahr Zähmen und Trainieren konnte ein einziger Vogel auch dreihundert Dollar erzielen. Die Brillenvögel waren in eleganten, halbwegs geräumigen Käfigen untergebracht. Man konnte sich wenigstens vorstellen oder es hoffen, dass die Haft sich ungefähr wie Hausarrest anfühlte. Die meisten Huameis, die ich sah, wurden dagegen in üblen Holzzellen mit massiven Wänden aufgezogen, so klein, dass das Tier sich darin kaum umdrehen konnte. An der Vorderseite war immerhin ein Fenstergitter, durch dessen Stäbe die Huameis mit ihren weißen Brillen stumm hinausblickten, während ihr Geldwert abgeschätzt wurde.


Das Erste, was David Xu mit seinen neuen Golfschlägern unternahm, war, dass er sie mir auslieh. Wir beendeten einen weiteren langen Tag («Erst die Arbeit, dann das Vergnügen») mit einem Besuch des älteren der beiden Golfplätze von Ningbo. Die Luft wurde zwar stündlich schlechter, doch wir gelangten schließlich in einen hübschen Teil der Stadt. Auf einmal war es auf den Straßen weniger voll, der Ackerbau wirkte etwas fakultativer, der Bauschutt war diskret verborgen statt einfach an den Bordstein gekippt, die Reklametafeln versprachen Neubauten mit Namen wie Tuscany Lake Valley. China ganz allgemein – mit seinem ungestümen Streben nach Geld, mit seinen sagenhaften Millionären, einer riesigen Unterschicht und einem durchlöcherten sozialen Sicherungsnetz, mit seiner sicherheitsbesessenen Zentralregierung, die geschickt den Nationalismus ausnutzte, um ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen, mit Wirtschafts- und Umweltvorschriften, die inzestuösen Konsortien aus Unternehmen und Gemeinderegierungen übertragen waren –, dieses China hielt ich längst für den republikanischsten Ort, an dem ich je gewesen war. Und hier, eingebettet zwischen einem streng geschützten Bergwald und der strahlend blauen Süßwasserweite des Dongqian Hu – wörtlich: Ostgeld-See –, lag der Ningbo Delson Green World Golf Club.

Den Platz hatte ein pensionierter Geschäftsmann angelegt, der 1995 von einer chinesischen Stadt zur nächsten geflogen war, um herauszufinden, was er mit seinem Reichtum anstellen könnte. In einem Düsenjet Richtung Ningbo fiel ihm die Brille herunter; der Mann, der sie ihm aufhob, erwies sich als der Bürgermeister von Ningbo. Ningbo hatte unlängst beschlossen, dass es einen Golfplatz brauchte, und war bereit, dafür ein ordentliches Stück naturgeschützten Wald zu einem attraktiven Preis zu verkaufen.

Die Vorsitzende des Clubs, eine hübsche Frau namens Grace Peng, fuhr uns in einem Elektrowagen herum. Die Fairways waren schmal und grün und von einem Zoysia-artigen Gras umgeben, das im Winter fast weiß wird. Wellige blonde Hügel wichen in den Dunst zurück wie Sanddünen in der Wüste; die Caddies, überwiegend weiblich, trugen weiße Tücher überm Hut und um den Hals, wie bei T. E. Lawrence. Wir sahen drei Gruppen Spieler auf den vorderen neun Löchern, aber keine auf den hinteren neun. «Golf ist in China noch immer etwas für Reiche und Geschäftsleute – etwas für Privatpersonen», sagte Peng. Eine lebenslange Mitgliedschaft koste sechzigtausend Dollar; lege man noch eine Million drauf, könne man eine Villa in einer angrenzenden bewachten Wohnanlage kaufen. Peng sagte, viele der zweihundertfünfzig Mitglieder auf Lebenszeit, darunter auch der Fabrikbesitzer, der mir die Golfschläger geschenkt hatte, spielten hier selten oder nie. Manche hingegen kämen sogar fünfmal pro Woche und hätten einstellige Handicaps. Am höchsten Punkt des Platzes, oben am Waldreservat, sahen wir drei Stammgäste auf einem langen, gnadenlosen Loch abschlagen. Einer von ihnen schlug seinen Ball krachend über das wellige Fairway hinweg ins hohe Rough, worauf Peng ihm zurief: «Ha ha! Nicht sehr gut!»

Ich hatte vorgehabt, mit David Xu auf die Drivingrange des Platzes zu gehen und ihm ein wenig Unterricht mit seinen neuen Schlägern zu geben, doch als Peng meinte, ich könne doch selbst ein paar richtige Löcher spielen, verlor ich jedes Interesse an Pädagogik. Ein Caddie machte sich daran, das Plastik von unseren Golfschlägern zu pellen, während ein Angestellter am Miettresen nach Golfschuhen kramte, die groß genug für mich waren. Peng verwies auf das neue Clubhaus, das neben dem sehr komfortablen, zehn Jahre alten gebaut wurde. «Reiche Leute in Ningbo sind sehr jung», erklärte sie. «Es ist nicht so wie in den USA, wo die Reichen eher älter sind. In China verändert sich alles so schnell, da muss man schnell bauen. Man muss seine Sachen sehr schnell erneuern, um die neuen Leute zu kriegen.»

Xu, Miss Wang und ich folgten dem Caddie zum Loch zehn. Es war ein Par-5-Dogleg, das einen beängstigenden Abschlag über frontales Wasser erforderte. Ich musterte die leeren, dünenartigen Hügel und die gezackte Kammlinie dahinter – ein schwacher schwarzer Ausschnitt. Der Driver, den mir der Caddie reichte, war bonbonrot, schimmernd, leicht wie Luft. Und das war, wie mir nun klar wurde, Golf vom Feinsten: exotische Landschaft, nagelneue Spitzenschläger und keine Menschenseele auf den hinteren neun, nur ich und mein Gefolge, bestehend aus zwei Leuten, die von mir bezahlt wurden, und einem dritten, den die Regierung bezahlte, damit er nett zu mir war. Xu, Miss Wang und der Caddie hatten sich in respektvollem Abstand aufgestellt. Ich spürte, wie sie wünschten, ich möge gut sein, und mich überwältigte die Verantwortung, gut zu sein. Nur keinen Slice – wenigstens einmal im Leben. Den Schläger die Arbeit machen lassen. Den Kopf unten halten, durch den Ball gehen und den Schwung auf dreizehn Uhr beenden. Ich machte mit dem jungfräulichen roten Driver ein paar Übungsschwünge. Dann ging mein Ball zweihundert Meter Carry und blieb Mitte Fair liegen.

«Schön-ah!», rief der Caddie.

«Jonathan, du bist ja richtig gut!», sagte Xu.

Ich hatte als Golfer die Gewohnheit, auf einen starken Schlag acht oder zehn grausame folgen zu lassen, und die nächsten beiden Schläge mit einem Holz 3 trafen beinahe nur Luft, und das im Ningbo Delson Green World Golf Club. Meine Annäherung lief jedoch bis auf achtzig Meter vor das Grün, und mein Pitch lag dann tot an der Fahne.

«Schön-ah!», sagte der Caddie.

Die Eisen, die ich geschenkt bekommen hatte, waren phantastisch ausgewogen. Wie feine chirurgische Instrumente. Am elften Loch gelang mir ein Dreiputt zum Doppelbogey, aber nicht einen mit schlechtem Gefühl. Jetzt bereute ich es zutiefst, dass ich die Schläger Xu geschenkt hatte. Mein Abschlag auf der Zwölf slicete nach rechts – «Slice-ah!», rief der Caddie –, aber das Rough federte gnädig, und ich notierte eine lockere Vier. Ich freute mich richtiggehend auf das nächste Tee.

«Jonathan», sagte Xu sanft, «ich glaube, wir müssen jetzt los.»

Ich sah ihn schmerzerfüllt an. Ich wusste, dass wir Pläne fürs Abendessen mit seinem Chef hatten, aber ich konnte es nicht fassen, dass das beste Golf meines Lebens schon nach dem dritten Loch zu Ende sein sollte. Ich hielt Xu meinen Putter hin und sagte, er solle es einmal versuchen, zu putten, Golf zu spielen. Prüfend fasste er den Schläger am Griff und kicherte. Ich warf einen Ball drei Meter von der Fahne hin. Er machte ein paar wilde Schwünge zu ihm hin, hob dann den Schläger ans Gesicht und kicherte weiter. Ich meinte, er solle sich doch näher an den Ball stellen. Er schlug noch einmal danach, als wäre der Ball ein kleines Tier, dem er Angst einjagen, das er aber nicht töten wollte. Der Ball rollte ein paar Zentimeter. Xu hielt die Hand vors Gesicht und kicherte hilflos. Dann riss er sich zusammen und schlug den Ball kräftiger. Der hoppelte los, traf den Stock und versteckte sich im Loch. Xu stieß einen hohen Schrei aus und krümmte sich, hysterisch kichernd.

Wir sprachen nicht viel, als wir ins verstopfte Zentrum von Ningbo zurückfuhren. Ich schaute trübselig in die ausgedehnte Vorabenddämmerung, die bodennahen Dinge lagen schon im Zwielicht, die Sonne stand noch recht hoch am Himmel, aprikosenfarben, man konnte gefahrlos hineinschauen. Bei den Baustellen, dem Verkehr und der Betriebsamkeit in alle Richtungen – jeder in China packt noch immer mit bewundernswertem Fleiß, wenn nicht gar Optimismus an – ergriff mich wieder das Gefühl, das ich an meinem ersten Abend in Shanghai gehabt hatte. Aber was ich da als Fortgeschrittenheit hatte beschreiben wollen, war, wie ich jetzt fand, eher schlichte Verspätung: die Traurigkeit der Moderne, eine Phase hinausgezögerter, verstörender Erhellung vor Einbruch der Dunkelheit.


Ji, der Hersteller der Papageitaucher, war in Subei aufgewachsen, nicht weit vom Naturreservat Yancheng. Seine Eltern hatten sich als Teenager kurz vor der Kulturrevolution in Nanjing kennengelernt. Wie so viele junge Städter ihrer Generation wurden sie aufs Land geschickt, damit sie von den Bauern den Wert der Arbeit lernten. In Subei bauten sie eine Hütte aus Lehm und Stroh, als Fenster dienten ausgesparte Schlitze. Ji wurde 1969 geboren und zwei Jahre lang von seinen Großeltern in Nanjing aufgezogen, aber seine Mutter vermisste ihn und holte ihn zurück nach Subei. Jedes Jahr im Frühling, wenn das Familienschwein geschlachtet und gegessen war, wurde der Hunger der Familie so groß, dass sie zu nichts anderem fähig war, als wochenlang im Bett zu liegen, sich von Reisschleim zu ernähren und auf die Weizenernte zu warten.

Mit vierzehn bewarb sich Ji um einen der dreihundert Plätze bei der örtlichen Oberschule und wurde auf einer Liste von fünfzehnhundert Bewerbern die Nummer 302. Aber dann wurden drei Schüler vor ihm disqualifiziert, und so rutschte er hinein. Ein Jahr danach rutschte er in eine bessere Oberschule in Nanjing, und zwei Jahre danach rutschte er in die Universität Chengdu. Dort geriet er in die Reformbewegung der Studenten, marschierte auf der Straße, protestierte gegen Korruption und hatte – wieder mal – Glück, weil er im Juni 1989, beim Massaker auf dem Tiananmen-Platz, nicht in Peking war. Wie viele andere begabte Studenten jener Zeit wandte er sich von der Politik ab und den Geschäften zu und landete schließlich in der Spielwarenabteilung einer Import-Export-Firma in der Provinz. 2001 liehen er und seine Frau sich Geld von Freunden, erhielten eine Bankbürgschaft von Hallmark Cards und gründeten ihren eigenen Betrieb. Heute besitzen sie vier Fabriken und beschäftigen zweitausend Menschen. Zu ihren Kunden gehören Hallmark, Gund und Russ Berrie – die oberste Marktliga –, und unlängst wurde Ji von seiner Gemeinde zum Modellbürger in der Kategorie Arbeitsintensive Industrie ernannt.

«Ich bin ein wahrer Glückspilz», sagte Ji. Er hatte sich bereit erklärt, mir seine Zentrale zu zeigen, vorausgesetzt, ich verwendete nicht seinen wahren Namen. («Warum soll ich für mich werben?», sagte er. «Wenn ich expandieren will, brauche ich nur zu erwähnen, dass wir Hallmark Cards beliefern.») Seine Büroräume lagen an einem hübschen, baumgesäumten Fluss mit Betonbett in einer Industrievorstadt in Ostchina. Ji schritt fröhlich federnd aus, als er mich durch die kleinen Produktionsanlagen führte, die er dort noch hat. Während der vergangenen vier Jahre ist ein Großteil seiner Produktion ins Landesinnere gezogen, in die Provinz Anhui, wo die Arbeiter, wie er sagte, erheblich niedrigere Löhne akzeptierten, um näher bei ihrer Familie zu sein. Natürlich profitiert Ji finanziell von niedrigen Löhnen und geringer Arbeiterfluktuation, aber er ist der Überzeugung, dass auch die Gesellschaft daraus Nutzen zieht – weil Ehen gestärkt und die Kinder besser versorgt würden, wenn die Eltern näher am Wohnort lebten, und dass es für China ein nachhaltigeres Wirtschaftsmodell sei, die Fabriken zu den Landarbeitern zu bringen statt die Landarbeiter zu den Fabriken.

Ji zeigte mir eine selbstentwickelte Robotermaschine, die Kunstfell mit Lasern schneidet. Bei einem kleineren Gegenstand wie dem Papageitaucher wird der Stoff per Hand geschnitten. In der Design-Abteilung zeigte man mir, wie die Stücke, mit der Innenseite nach außen, maschinell zusammengenäht werden, wie man die spitzen Plastikstiele der Tieraugen durch das Fell stößt und mit Unterlegscheiben befestigt und wie man das Tier dann dramatisch umstülpt – sodass aus langweiligem Stoff ein pelziger Freund wird. Durch eine Öffnung am Rücken wird Polyesterflaum in seinen Kopf gestopft, die Öffnung per Hand zugenäht, jede Naht beschnitten, das Fell gebürstet und ein Daphne’s-Etikett angesetzt. Für den gesamten Prozess benötigt eine Arbeiterin durchschnittlich zwanzig Minuten. Ji überreichte mir drei fertige Papageitaucher, einen davon zierte der Name meines Bruders.

«Ich könnte mir denken, dass in China ein Panda als Haube beliebt wäre», sagte ich beiläufig.

«In China?» Ji lachte kopfschüttelnd. «Die Chinesen wollen vielleicht einen Seeadler als Schlägerhaube. Oder das Gesicht von George Bush.»

Als Liberaler mit schlechtem Gewissen empfand ich eine gewisse Enttäuschung darüber, dass ich nicht auf größere Industriesünden bei der Produktion meines Papageitauchers gestoßen war. Seine amerikanische Anbieterin war eine Tiernärrin, sein chinesischer Hersteller ein Modellbürger. Nicht einmal der Verschmutzungsaspekt war offenkundig schrecklich. Eine Woche davor hatte ich in Nanjing zwei Fabriken besucht, die zu Nice Gain gehörten, einem Marktführer bei Fellimitaten (oder, wie es in der Branche heißt, «Polware»), und von bestimmten Vorteilen erfahren, die synthetische Fasern gegenüber natürlichen haben. Das Nice Gain’sche Fellimitat beginnt als großer, baumwollartiger Ballen Acrylfaser, aus Japan importiert, der zu einem flauschigen Faden kardiert und in computergesteuerte Jacquardwebstühle eingeführt wird, die ihn zu breiten, streichelweichen Fellbahnen verarbeiten. Das Rohmaterial der Acrylfaser ist in erster Linie Erdöl – also keine durstigen Baumwollfelder, keine Überweidung und eine bessere Verwendung von Öl als bei der Verbrennung in Gelände-Jeeps –, und der Färbeprozess ist bei Acryl viel sauberer als bei Wolle oder Baumwolle, die mit diversen Proteinen kontaminiert sind. «Wenn die Farbe, die da herauskommt, schmutzig ist, können wir das Produkt nicht exportieren; es bedeutet, mit der Farbe hat man es vergeigt», sagte der Direktor von Nice Gains, Tong Zheng. Da Zheng wie Ji Marktführer war und sich einen sauberen Betrieb leisten konnte, kaufte er seine Naturfasern vorgefärbt und stellte seinen Zulieferern gar keine Fragen zum Färbeprozess. («Eines weiß ich», sagte er. «Wenn man es nach Vorschrift macht, ist man der wettbewerbsuntauglichste Player auf dem Markt. Als guter Bürger ist man da bald nicht mehr im Geschäft.») Das Fell meines Papageitauchers bestand gänzlich aus Acryl, und wenn die Acrylfaserfabrik in Japan auch nur annähernd der in Cixi entsprach, die von den Teenagern geleitet wurde, gab es dort auch keine großen Umweltsünden zu entdecken. Der Papageitaucher war offenbar doch ein luxuriöseres Ding, als ich gedacht hatte.

Ich fragte Ji, wie er selbst zu Tieren stehe, wo er doch Hersteller von Spielzeug sei, das Tiere abbilde. Darauf erzählte er mir die Geschichte von einem der Schweine, die seine Familie gehabt hatte, als er ein Junge war. Dieses Schwein, sagte er, habe gelernt, sich durch den Schlamm und das Stroh seines Kobens hindurchzugraben und auszureißen. Schließlich sei sein Vater wütend geworden und habe dem Schwein das Maul mit drei, vier Eisenringen durchstochen, woraufhin es nie wieder ausgerissen sei. «Heute ist das ein Running Gag zwischen mir und meinen Kindern», sagte Ji. «Ihr solltet euch lieber keinen Ring durch die Nase oder den Bauchnabel stecken, weil mich das sonst an mein Schwein erinnert!»

Nasenringe geben Grund zur Sorge, weil seine Kinder in Nordamerika aufwachsen. Ji und seine Frau hätten sie schon immer in einer, wie er es nannte, «westlichen Umgebung» groß werden lassen wollen, und der letzte Anstoß sei vor zwei Jahren gekommen, kurz nachdem Ji zum Modellbürger wurde. Wegen Chinas Bevölkerungspolitik kann ein Modellbürger eines nicht, nämlich mehr als ein Kind haben. Ji hatte schon einen Jungen aus einer früheren Ehe und seine Frau eine Tochter ebenfalls aus einer früheren Ehe. Sie erwarteten nun ihr erstes gemeinsames Kind, was für Ji dann das zweite Kind gewesen wäre. Eines Abends, seine Frau war im sechsten Monat, beschlossen die beiden, dass sie nach Kanada gehen sollte, um das Kind dort zu bekommen. Ein Vierteljahr später kam es in Vancouver zur Welt, und Ji konnte weiterhin Modellbürger bleiben.


Über den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Umweltschutz in Entwicklungsländern gibt es zwei konkurrierende Theorien. Die eine, im Hinblick auf Geschäftsinteressen sehr bequeme, besagt, dass eine Gesellschaft sich erst dann Gedanken über die Umwelt macht, wenn es ihr gestattet war, den schmutzigen Weg zu Reichtum, Muße und den Ansprüchen der Mittelschicht zu gehen. Der anderen Theorie zufolge hat die entwicklungsmäßige Reife die westliche Gesellschaft nicht eben davon abgehalten, mit Ressourcen Raubbau zu treiben und die Natur zu zerstören; die Verfechter dieser Theorie, die apokalyptischen Schwarzmaler, raufen sich die Haare, wenn sie an China, Indien und Indonesien denken, die dem westlichen Vorbild nacheifern.

Verfechter der «Erst Wachstum, dann Umwelt»-Theorie könnten sich davon ermutigt fühlen, wie rasch das Auftauchen westlich gesinnter Naturfreunde auf die Explosion von Chinas BIP folgte. Das Problem ist jedoch, dass China so wenig gutes Land hat und sich so rasant verändert. Eine neue Generation mag Naturschutz lernen, aber nicht so schnell, wie die Lebensräume verschwinden. Schon jetzt werden Chinas Nationalparks von einer zunehmend mobilen Mittelschicht zu Tode geliebt. In Nordamerika kann man noch immer mit einer Busladung Schüler in ein Naturreservat fahren und sie einen Tag oder eine Woche lang Tiere beobachten lassen. In Shanghai, dessen Bevölkerung bald zwanzig Millionen betragen wird, gibt es nur ein zugängliches Naturschutzgebiet – Dongtan –, auf der Schwemmlandinsel Chongming im Jangtse gelegen. Das Reservat wird gut geführt, ist aber stark von Fischern und Verschmutzung stromaufwärts belastet. Das ganze nördliche Drittel ist von vogelfeindlichem invasivem Reisgras umschlossen (einer Legende zufolge wurde das Gras auf Drängen von Premier Zhou Enlai eingeführt, der seine Experten beauftragt hatte, eine Pflanze ausfindig zu machen, die Chinas Fläche vergrößern könnte), und an seinem Westrand wird ein riesiger Feuchtgebietpark errichtet, der auch eine «Ferienhauszone» und einen «Feuchtgebiet-Golfplatz» enthält. Mit Beginn des Jahres 2010 soll ein System aus Brücken und Tunneln die Insel direkt mit dem Zentrum Shanghais verbinden. Dann wird es möglich sein, jedes Shanghaier Kind für einen Tag in die Natur nach Dongtan auf Chongming zu karren, allerdings würden die Busse dann dicht an dicht über dem Jangtse stehen.

Erfolgreiche chinesische Bemühungen um den Umweltschutz übergehen heutzutage oft die breite Öffentlichkeit und zielen stattdessen direkt auf das Eigeninteresse der Regierung ab. In Shanghai versucht Yifei Zhang, der ehemalige Journalist und jetzige WWF-Mitarbeiter, die Stadtregierung dazu zu bewegen, über eine vertretbare Obergrenze der Einwohnerschaft und ihre künftigen Trinkwasserquellen nachzudenken. Die Stadt sieht dafür gegenwärtig das Mündungsdelta des Jangtse vor, doch droht der steigende Meeresspiegel, das Wasser zu versalzen. Yifei möchte die Stadt dazu bringen, eine Alternative zu entwickeln, indem sie nämlich den Nebenfluss Huangpu reinigt und sein Einzugsgebiet wiederherstellt – wodurch als zusätzlicher Nutzen ein neues Wildreservat entstehen würde. «Wir verzweifeln nie, weil wir keine hohen Erwartungen haben», sagte Yifei. Flussaufwärts von Shanghai, wo Hunderte Seen dauerhaft vom Jangtse abgetrennt wurden, setzte der WWF sich 2002 zum Ziel, die Regierung von Hubei zu überreden, wenigstens einen der Seen wieder mit dem Jangtse zu verbinden. «Keiner glaubte, das könne möglich sein», sagte Yifei. «Es war nur ein Traum – ein Luftschloss. Aber wir gründeten eine Demonstrationsstelle, und nach zwei, drei Jahren hatten wir die örtliche Regierung so weit, dass sie die Schleusentore saisonal öffnete, damit die jungen Fische in den See konnten. Und es hat funktioniert! Dann konnten wir den örtlichen Regierungen kleine Geldbeträge für Pilotprogramme zukommen lassen. Unser erstes Ziel war ein See gewesen. Und heute sind wieder siebzehn Seen verbunden.»

In Peking traf ich mich mit einem außerordentlich effektiven Basisaktivisten namens Hai-xiang Zhou. Zhou hatte zwanzig Jahre lang in großem Stil, aber als Amateur Vögel fotografiert – er sah sich als nationaler Vorreiter darin –, war aber erst kürzlich zum Aktivisten geworden. Im Herbst 2005 hatte er gehört, dass in der Nähe der Gegend, wo er seine Kindheit verbracht hatte, in der Provinz Liaoning, die Vogelgrippe ausgebrochen war und dass die Behörden behaupteten, die Grippe werde von Wildvögeln übertragen. Eine überflüssige Massentötung befürchtend, nahm er Urlaub und eilte nach Liaoning, wo er sah, dass Wasservögel und Zugkraniche an gewöhnlicheren Ursachen starben – Jagd, Gift, Hunger.

Zhous Brille war so groß, dass sie fast sein halbes Gesicht bedeckte. «Wenn eine NGO hier etwas tun will, dann geht das nur zusammen mit der Regierung», sagte er. «Vogelbeobachter und Umweltschützer können Dinge untersuchen, aber damit auch wirklich etwas getan wird, braucht man einen Ansatzpunkt. Die Leute vor Ort wollen immer mehr Gebiete erschließen lassen, während die Regierung offiziell nachhaltige Erschließung und Umweltschutz will. Da die Ressourcen sehr begrenzt sind, freuen sich die Regierungsvertreter, wenn man ihnen hilft, damit sie zeigen können, dass sie auch wirklich das tun, wozu sie sich offiziell verpflichtet haben. Wenn ein Umweltprojekt gut geworden ist, erhalten Bezirkspolitiker ein positives Feedback und erlangen viel Ansehen.»

Auf einem Laptop zeigte mir Zhou Fotos von lächelnden Würdenträgern auf einer Naturbeobachtungsplattform, die sie in seiner Heimatstadt errichtet hatten. Zhou arbeitete jetzt an einem neuen Projekt im Naturreservat Laotieshan auf der Halbinsel Liaodong. In jedem Herbst drängt sich die gesamte Zugvogelpopulation Nordostchinas auf ihrem Weg nach Süden über diese Halbinsel, auf der dann einheimische Wilderer auf öffentlichem Boden Tausende von Netzen aufstellen, um sie zu fangen und zu töten. Am meisten bringen die großen Greifvögel ein, von denen viele gefährdet oder bedroht sind. Einige der Vögel würden gleich dort gegessen, sagte Zhou, die meisten jedoch in die südlichen Provinzen gebracht, wo sie als Delikatesse gelten. Zhou und seine Tochter, die ehrenamtlich im Reservat arbeitet, sammeln Daten, um sie der Zentralregierung vorzulegen, damit diese die Maßnahmen vor Ort koordinieren kann. Seine Fotos zeigten Aufseher, die Wilderer bei Tag und im Scheinwerferlicht jagten. Sie zeigten Bäume, die von Wilderern gefällt worden waren, um die Pick-ups der Aufseher aufzuhalten. Sie zeigten konfiszierte Motorräder. Ein Zimmer, randvoll mit zusammengeknüllten Netzen jeder Farbe – von den Aufsehern an einem einzigen Vormittag erbeutet. Käfige mit kleinen Vögeln als Köder für die größeren. Baumstämme, die senkrecht auf die Spitzen anderer Bäume gesetzt wurden, damit die Netze sich auf Adlerhöhe befanden. Kleinere Adlerfallen, die an hohen Ästen aufgehängt und mit Holzklötzen beschwert waren. Haushohe Netze mit verletzten Tauben, Seeadlern, Sakerfalken darin. Noch lebende Vögel, die Flügel mehrfach gebrochen, mit herausstehenden Knochen, in grausigen Winkeln abgeknickt. Einen konfiszierten Netzwäschesack, vollgestopft mit Falken und Eulen, viele tot, viele nicht, alle hineingestopft wie dreckige Unterwäsche. Einen Wilderer in Handschellen, er trägt ein hübsches Hemd und neue Turnschuhe, das Gesicht verpixelt. Schweißperlen auf dem Gesicht eines Aufsehers, der einen Falken aus einem Netz befreit. Einen Haufen von siebenundvierzig toten Habichten und Adlern, allesamt an einem Vormittag beschlagnahmt. Einen kleineren Haufen aus blutigen Köpfen, die am selben Vormittag auf der Erde herumlagen.

«Die Leute, die das tun, sind nicht arm», sagte Zhou. «Es dient nicht dem Lebensunterhalt – es ist Tradition. Mein Ziel ist es, die Leute zu erziehen und zu versuchen, den Brauch zu ändern. Ich will den Leuten beibringen, dass die Vögel ihr natürlicher Reichtum sind, und für den Ökotourismus als alternativen Lebensunterhalt werben.»

Die Zugvögel, die den Laotieshan unversehrt passieren, fliegen natürlich überwiegend nach Südostasien, eine Region, die auf dem besten Weg ist, durch Rodung und Tagebau zu einer riesigen Schlammgrube zu werden, denn China selbst ist hoffnungslos knapp an natürlichen Rohstoffen für seine Fabriken, die wiederum uns beliefern. Das chinesische Volk mag Hauptleidtragender der chinesischen Umweltverschmutzung sein, doch die Schädigung der Artenvielfalt wird auf die ganze Welt reexportiert. Und es scheint vom chinesischen Volk doch ziemlich viel verlangt, dass es sich nicht nur um den Schutz des Laotieshan und die Bereitstellung annehmbarer Atemluft, trinkbaren Wassers und nachhaltiger Erschließungen bemühen, sondern auch noch die Zerstörung Südostasiens, Sibiriens, Zentralafrikas und des Amazonas-Beckens im Blick haben soll. Da ist es schon beachtlich, dass es Leute wie Shrike, Hai-xiang Zhou und Yifei Zhang überhaupt gibt.

«Mit ansehen zu müssen, wie etwas zerstört wird, und nichts dagegen tun zu können, das ist manchmal schon sehr traurig», sagte Shrike. Wir standen an einem stark verschmutzten Fluss bei Nanjing und blickten in eine Landschaft, die noch vor zwei Jahren ein Feuchtgebiet gewesen war und in der jetzt neue Fabriken standen. Aber es gab noch ein kleines, bisher nicht erschlossenes Areal, und das wollte Shrike mir zeigen.


(Übersetzt von Eike Schönfeld)