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Interview mit New York (State)

Dieses Interview fand im Dezember 2007 auf der Upper East Side von Manhattan statt, nicht weit von dort, wo Bürgermeister Mike Bloomberg und der damalige Gouverneur Eliot Spitzer wohnten.

Pressesprecherin von New York (State): Es tut mir wahnsinnig leid! Heute Vormittag verzögert sich einfach alles, unser ehemaliger Präsident ist unerwartet vorbeigekommen, das macht er oft, und unsere Liebe, Gute kann anscheinend nie nein sagen zu Bill! Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihre halbe Stunde mit ihr kriegen, selbst wenn wir dafür den ganzen Nachmittag neu planen müssen. Es ist ganz reizend von Ihnen, dass Sie so viel Geduld mit uns haben.

JF: Wir hatten allerdings eine Stunde vereinbart.

Pressesprecherin von New York (State): Ja, ja.

JF: Ich habe mir hier neun bis zehn aufgeschrieben.

Pressesprecherin von New York (State): Ja. Und es geht um einen, hm, Reiseführer?

JF: Eine Anthologie. Die fünfzig Bundesstaaten. Von denen sie doch sicher am Ende nicht das kürzeste Kapitel abgeben möchte.

Pressesprecherin von New York (State): Nein, sicher nicht, obwohl, ha ha, sie ist ja auch die am meisten Beschäftigte von den fünfzig, es hätte also vielleicht sogar eine gewisse Logik, sich kurz zu fassen. Wenn Sie mir hier sagen wollen, dass sie nur Teil irgend so eines Fünfzig-Staaten-Vorsingens sein soll … mir war nicht ganz klar …

JF: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Ihnen –

Pressesprecherin von New York (State): Und es müssen definitiv fünfzig sein? Gingen nicht auch, ich sag mal, fünf? ‹Die Top fünf der Vereinigten Staaten› oder so was in der Art? Von mir aus auch die Top zehn? Um ein paar von den kleinen Fischen auszusortieren, dachte ich nur. Oder wenn Sie unbedingt alle fünfzig haben müssen, wie wär’s mit einem Anhang? So nach dem Motto: Hier sind die zehn wichtigsten Staaten, und dahinten, im Anhang, sind noch ein paar andere, die, Sie wissen schon, auch noch existieren. Wäre das eine denkbare Option?

JF: Leider nein. Aber vielleicht sollten wir einen neuen Termin ausmachen. An einem Tag, an dem sie nicht so viel zu tun hat.

Pressesprecherin von New York (State): Offen gesagt, Jon, bei ihr sieht jeder Tag so aus. Es wird höchstens immer schlimmer. Und da ich Ihnen heute eine volle halbe Stunde mit ihr verspreche, wären Sie meiner Meinung nach gut beraten zuzugreifen. Aber die Sache mit der Länge verstehe ich natürlich – vorausgesetzt, Sie sind wirklich fest entschlossen, die kleinen Fische einzubeziehen. Und deshalb würde ich Ihnen wahnsinnig gern ein paar phantastische neue Bilder zeigen, die sie von sich hat machen lassen. Es ist ein Projekt, das sie zusammen mit einer ihrer Stiftungen auf die Beine gestellt hat. Zwanzig der Top-Kunstfotografen der Welt ermöglichen die intimsten Einblicke in einen amerikanischen Staat, die bisher jemals zu haben waren. Einblicke, die wirklich anders, wirklich besonders sind. Ich will Ihnen natürlich nicht vorschreiben, wie Sie Ihre Arbeit zu tun haben. Aber wenn ich Sie wäre? Dann würde ich das in Betracht ziehen, vierundzwanzig Seiten einzigartige Weltklasse-Fotografie, gefolgt von einem ganz, ganz persönlichen kleinen Interview, in dem die größte Vertreterin unserer Nation ihre größte geheime Leidenschaft offenbart. Die da wäre … die schönen Künste! Ich meine, das ist doch New York. Denn sicher, offensichtlich: Die Liebe, Gute ist schön, sie ist reich, sie ist mächtig, sie ist glamourös, sie kennt jeden, sie hatte einen absolut phantastischen Werdegang. Aber in innerster Seele? Geht es ihr ausschließlich um die Kunst.

JF: Wow. Danke. Das wäre – danke! Das einzige Problem ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob das Format und das Papier dieses Buches für Fotos geeignet sind.

Pressesprecherin von New York (State): Jon, noch einmal, ich versuche nicht, Ihnen zu sagen, wie Sie Ihre Arbeit machen sollen. Aber solange Sie nicht wissen, wie Sie die vielbeschworenen tausend Wörter auf einer Seite unterbringen sollen, spricht eine ganze Menge für Bilder.

JF: Da haben Sie vollkommen recht. Ich werde mal mit Ecco Press sprechen und –

Pressesprecherin von New York (State): Wer, was? Echo was?

JF: Ecco Press. Bei denen kommt das Buch heraus.

Pressesprecherin von New York (State): Ach, du liebe Zeit. Ihr Buch kommt bei einem Kleinverlag heraus?

JF: Nein, nein, Ecco ist ein Imprint von HarperCollins. Und das ist ein großer Verlag.

Pressesprecherin von New York (State): Aha, ach so, HarperCollins.

JF: Ja. Ein sehr, sehr großer Verlag.

Pressesprecherin von New York (State): Weil, also, da haben Sie mir kurz einen Schrecken eingejagt.

JF: Nein, nein, riesig. Einer der größten Verlage der Welt.

Pressesprecherin von New York (State): Dann gehe ich jetzt mal nachsehen, wie die Dinge stehen. Eigentlich könnten Sie sich auch gleich mit Mr. van Gander besprechen, wenn Sie mir bitte folgen wollen. Nur, ja, gut, nehmen Sie Ihre Tasche mit. Hier entlang … Rick? Haben Sie mal eine Minute, um mit unserem, hm, «Schriftsteller» zu sprechen?

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Aber sicher! Super! Herein, herein, herein! Hallo! Rick van Gander! Hallo! Toll, Sie kennenzulernen! Großer Fan Ihrer Arbeit! Wie ist das Leben in Brooklyn so? Sie wohnen doch draußen in Brooklyn, oder?

JF: Nein, in Manhattan. Ich hab mal in Queens gelebt, aber das ist lange her.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Oh! Na, so was! Ich dachte, ihr Literaturleute wohnt heutzutage alle draußen in Brooklyn. Alle, die richtig angesagt sind, jedenfalls. Wollen Sie andeuten, dass Sie nicht angesagt sind? Also, jetzt, wo Sie’s erwähnen – Sie sehen auch nicht so aus. Entschuldigen Sie! Ich habe in der Times irgendwas davon gelesen, dass alle großen Schriftsteller in Brooklyn leben. Da hatte ich selbstverständlich angenommen …

JF: Ist ja auch ein sehr schöner alter Stadtteil.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Ja, und wunderbar für die Kunst. Meine Frau und ich versuchen, so oft wie möglich zur Brooklyn Academy of Music rauszufahren. Vor kurzem haben wir da ein Stück gesehen, das komplett auf Schwedisch aufgeführt wurde. Bisschen überraschend für mich, das gebe ich zu, da ich nun mal kein Schwedisch spreche. Aber wir hatten unseren Spaß! Mal was ganz anderes, als man es normalerweise in Manhattan erlebt, das steht fest! Aber schießen Sie los, was kann ich heute für Sie tun?

JF: Ich weiß es nicht genau. Mir war nicht klar, dass ich mit Ihnen reden würde. Ich dachte, ich hätte einen Termin für ein Interview mit New Y…

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Genau! Da haben Sie’s! Deshalb reden Sie mit mir! Was ich heute für Sie tun kann: Ihre Fragen prüfen.

JF: Meine Fragen prüfen? Machen Sie Witze?

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Sehe ich so aus?

JF: Nein, nur – ich bin ein bisschen verblüfft. Es war sonst immer ganz leicht, sich mit ihr zu treffen. Und einfach, Sie wissen schon, ein bisschen zusammenzusitzen und zu reden.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Sicher, sicher, ich verstehe. Früher war alles leicht. Es war leicht, Crack zu kaufen, Achtundneunzigste Ecke Columbus! Es war leicht, den Grund des Hudsons mit Leiterplatten und Schwermetallen zu pflastern. Oder die Adirondacks kahl zu schlagen und zuzusehen, wie die Flüsse an Mutterboden erstickten. Der Bronx das Herz herauszureißen und eine Schnellstraße mittendurch zu rammen. Am südlichen Broadway Ausbeutungsbetriebe mit asiatischen Sklaven zu führen. Eine Wohnung mit Mietpreisbindung zu bekommen, die so billig war, dass man den ganzen Tag nichts zu tun brauchte, als dem Vermieter lange Schmähbriefe zu schreiben. Früher war alles so leicht! Aber irgendwann wird auch ein Bundesstaat erwachsen und fängt an, besser auf sich aufzupassen, falls Sie wissen, was ich meine. Und genau dafür bin ich da: um unserer Guten dabei zu helfen.

JF: Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, inwiefern man das gleichsetzen kann – dass sie einen Jugendlichen aus dem Mittelwesten mit offenen Armen empfing und sich ihm von ihrer aufregenden, romantischen Seite zeigte, und dass sie den Hudson hat verschmutzen lassen.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Sie wollen sagen, Sie waren in sie verliebt.

JF: Ja! Und ich hatte das Gefühl, sie liebte mich auch. Als wartete sie nur darauf, dass Leute wie ich zu ihr kämen. Als brauchte sie uns.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Hm. Wann war das?

JF: Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Du lieber Gott. Ich hatte es befürchtet. Das waren in der Tat ein paar wilde und verrückte Jahre. Sie war damals nicht ganz bei klarem Verstand. Und Sie würden ihr einen großen Gefallen tun – sich selbst übrigens auch –, wenn Sie diese ganze Phase ihr gegenüber nicht erwähnen würden.

JF: Aber das sind genau die Jahre, über die ich mit ihr sprechen wollte.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Und genau deshalb prüfe ich Ihre Fragen! Glauben Sie mir, sie ist nicht gut auf dieses Thema zu sprechen. Noch heute kommt ab und zu mal jemand auf die Idee, Fotos von ihr aus besagten Jahrzehnten abzudrucken. Meistens in niederträchtiger Absicht – man begegnet ja immer ein paar widerlichen Paparazzi vor der Entzugsklinik, die nur darauf warten, einen Schnappschuss von einer ihnen um Klassen überlegenen Person in den Kasten zu kriegen, aufgenommen im einzigen bedauerlichen Moment in einem ansonsten fabelhaften Leben. Aber das ist nicht das Schlimmste. Ganz und gar unglaublich sind diejenigen, die aufrichtig überzeugt sind, sie habe damals besser ausgesehen, weil alles so leicht mit ihr war. Die denken, sie tun ihr eine Art Gefallen, wenn sie sie so zeigen: dreckig wie die Hölle, in alle Richtungen überbordend, total von der Rolle, Riesenhygieneprobleme, keinen müden Cent in der Tasche. Verbrechen, Müll, beschissene Architektur, verlassene Textilstädte, bankrotte Eisenbahngesellschaften, Love Canal, Son of Sam, Aufstände in Attica, Hippies auf einem matschigen Acker: Sie glauben nicht, wie viele Versager und gescheiterte Künstler hier ganz ergriffen und wehmütig reinspazieren und meinen, sie kennen noch die «echte» Version unserer Guten! Und dann rumjammern, sie sei nicht mehr die Alte. Was sie auch nicht mehr ist, verdammt richtig! Zum Glück! Machen Sie sich bitte mal klar, wie abgrundtief peinlich ihr das eigene Verhalten in jenen unglückseligen Jahren heute ist, wo sie ihr Leben wieder im Griff hat.

JF: Und damit befinde ich mich jetzt in der Gesellschaft der Versager und gescheiterten Künstler, oder was?

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Ach, Sie waren jung. Lassen wir’s dabei bewenden. Sagen Sie mir, was Sie sonst noch für Fragen haben. Hat Janelle unser tolles neues Fotoprojekt erwähnt?

JF: Ja, hat sie.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Dafür sollten Sie viel Zeit einplanen. Und was noch?

JF: Na ja, also, ehrlich gesagt hatte ich gehofft, sie und ich könnten ein eher persönliches Gespräch führen. Gemeinsam zurückblicken. Sie hat in all den Jahren viel für mich bedeutet. Vieles symbolisiert. Vieles beschleunigt.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Klar! Natürlich! Für uns alle! Und «persönlich» ist toll – verstehen Sie mich da nicht falsch. Aus nächster Nähe und «persönlich», das ist toll. Es geht bei ihr ja nicht nur um Macht und Geld, sondern auch um Zuhausesein, Familie und Romantik. Machen Sie das, auf jeden Fall, meinen Segen haben Sie. Sehen Sie nur zu, dass Sie gewisse Jahrzehnte meiden. Sagen wir, die Spanne von 65 bis 85, so ungefähr. An was denken Sie denn so aus der Zeit davor?

JF: An kaum etwas. Eigentlich nur an ein paar Bettelarmband-Anhänger. Sie wissen schon – der große Ball, der an Silvester pünktlich um Mitternacht am Times Square runtergelassen wurde, was im Mittelwesten schon um elf im Fernsehen kam. Und die Niagarafälle, die zu meinem großen Erstaunen jeden Abend abgestellt wurden. Und die Freiheitsstatue, von der man uns erzählte, sie sei aus Pennys gemacht, die französische Schulkinder gespendet hätten. Und das Empire State Building. Der Song «Fifteen Miles on the Erie Canal». Das war’s auch schon.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): «Das war’s auch schon?» Das war’s auch schon? Sie haben gerade fünf amerikanische Mega-Ikonen allererster Sahne genannt! Fünf! Nicht so übel, würde ich sagen! Gibt es irgendeinen Staat, der auch nur annähernd so viel vorzuweisen hat?

JF: Kalifornien?

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Abgesehen von Kalifornien?

JF: Aber das war doch alles nur Kitsch. Es hat mir nichts bedeutet. Viel besser habe ich New York durch Harriet – Spionage aller Art … kennengelernt, ein Kinderbuch. Die erste Figur aus der Literatur, in die ich mich verliebte, war ein Mädchen aus Manhattan. Und ich liebte sie nicht nur – ich wollte sie sein. Mein ganzes schönes Vorstadtleben wollte ich aufgeben, an die Upper East Side ziehen und Harriet M. Welsch sein, mit ihrem Notizbuch und ihrer Taschenlampe und ihren lockeren Eltern. Und noch heftiger verliebte ich mich, ein paar Jahre später, in ihre Freundin Beth Ellen aus dem Fortsetzungsband. Auch von der Upper East Side. Sie verbrachte jeden Sommer in Montauk. War reich, dünn, blond. Und so wunderschön unglücklich. Ich dachte, ich könnte Beth Ellen glücklich machen. Ich dachte, ich wäre der eine Mensch auf der Welt, der sie verstand und sie glücklich machen könnte, wenn ich nur jemals aus St. Louis wegkäme.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): So. Das klingt alles ein kleines bisschen, hm … bizarr. Ich meine den Minderjährigkeitsaspekt daran. Selbstverständlich ist New York sehr stolz auf die lange Tradition der Vielfalt und Toleranz – da fällt mir ein, Sekunde mal eben, ich habe eine Idee. (Wählt.) Jeremy? Ja, ich bin’s, Rick. Hören Sie, haben Sie eine Minute Zeit für einen Besucher? Ja, unser «Schriftsteller», genau, genau, macht eine Art Reiseführer. Wir sind gerade dabei, ihm ein paar Aspekte zu liefern, und – oh. Oh, fabelhaft, das war mir nicht klar. Toleranz und Vielfalt? Phantastisch! Ich bringe ihn gleich rüber. (Legt auf.) Unser Historiker hat was für Sie. Hat Ihnen ein ganzes Paket zusammengestellt. Hier tobt ein solcher Wahnsinn, dass die rechte Hand nicht mehr weiß, was die linke tut.

JF: Das ist sehr freundlich. Aber ich bin nicht sicher, ob ich so ein Paket brauche.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Glauben Sie mir, das da werden Sie haben wollen. Jeremy, hö hö, macht’s ganz ausgezeichnet. Und – ohne Ihre Illusionen zerstören zu wollen – wenn Sie erst Ihr Buch schreiben, wird es Ihnen vielleicht noch gute Dienste leisten. Für den Fall, dass das Interview nicht ganz hergibt, was Sie sich erhoffen. Sind wir uns übrigens über die Grundregeln einig? Würden Sie die noch mal wiederholen?

JF: Die interessanten Jahrzehnte umschiffen?

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Ja. Gut. Und auch Ihre Schwäche für die kleinen Mädchen.

JF: Aber ich war damals selbst noch ein Kind!

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Ich warne Sie ja nur, denn sie wird dafür nicht empfänglich sein. Aber Ihre Leidenschaft für sie und ihre aufregenden neuen Projekte? Ja! Absolut! Hingegen Ihre Leidenschaft für fiktive vorpubertäre Upper-East-Side-Küken in den rauen Sechzigern? Eher nicht. Bitte folgen Sie mir, hier entlang.

JF: Haben Sie eine ungefähre Vorstellung, wann ich sie endlich selbst sprechen kann?

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Jeremy? Ich möchte Sie mit unserem «Schriftsteller» bekannt machen. Interessanterweise aus Manhattan.

Historiker von New York (State): Toleranz … Vielfalt … Und zentrale Lage. Sind die drei Kennworte der Vorrangstellung des Bundesstaates New York.

Persönlicher Bevollmächtigter von New York (State): Ich lasse Sie beide dann mal allein, damit Sie ein wenig plaudern können.

Historiker von New York (State): Toleranz … Vielfalt … Zentrale Lage.

JF: Hallo! Nett, Sie kennenzulernen.

Historiker von New York (State): Im Norden: das puritanische Neuengland. Im Süden: die großen Plantagenkolonien mit ihrer Besitz-Sklaverei. Dazwischen: ein großartiger Tiefseehafen und ein System hervorragend schiffbarer Wasserwege, dazu noch Land, das mit einer Fülle natürlicher Ressourcen gesegnet und von den merkantilen, für ihre Toleranz bekannten Holländern besiedelt war. Sie gehörten zu den ersten Nationen, die offen die Verbindung zwischen Unternehmertum und persönlicher Freiheit ausgesprochen haben – zwischen materiellem Gewinn und Erkenntnisgewinn; und Neu-Niederland war ihr geistiges Kind. Die Niederländische Ostindien-Kompanie hatte Glaubensverfolgung ausdrücklich verboten – eine Einschränkung, gegen die der autokratische Gouverneur Peter Stuyvesant häufig tobte und eiferte. Die ersten Juden erreichten New York 1654, sie hatten sich Quäker-Immigranten aus England und puritanischen Abtrünnigen aus Massachusetts angeschlossen, darunter Anne Hutchinson und ihre Familie. Stuyvesant wurde von seiner Kompanie dafür gerügt, dass er die Juden und Quäker schikanierte. Bei seiner Verteidigung beschwerte er sich, Neu-Niederland sei, Zitat, «mit den Abfällen aller möglichen Nationalitäten bevölkert». Zum Glück für uns alle ist die wunderbare Enkelin Neu-Niederlands, unsere geliebte «Empire State», bis auf den heutigen Tag auf diese Art bevölkert. Sie ist die liebenswürdige und einzig vorstellbare Gastgeberin der Vereinten Nationen, die leidenschaftliche Verfechterin gleicher Rechte für Schwule, Lesben und Transsexuelle, die Schöpfkelle des Schmelztiegels, die Wiege des amerikanischen Feminismus. In einem einzigen Schulbezirk in Elmhurst, Queens, werden fast einhundertundfünfzig Sprachen gesprochen. Und doch sprechen alle die eine gleiche, universelle Sprache d–

JF: Des Geldes?

Historiker von New York (State): Der Toleranz. Aber natürlich auch des Geldes, ja. Das geht Hand in Hand. New Yorks gewaltiges Vermögen ist ein Beleg für diese Aussage.

JF: Genau. Und das ist auch durchaus interessant für mich, sprengt aber leider vollkommen den Rahmen meines –

Historiker von New York (State): Der Unabhängigkeitskrieg: eine einzige lange Ochsentour der Abnutzung und Zermürbung. Mit dem aalglatten General Washington, der sich ewig ums entschlossene Eingreifen gedrückt hat. Im Verlauf dieses langwierigen, nie richtig Krieg gewesenen Krieges, dieses hilflosen Versteck-dich-, Fang-mich-doch-, Nichts-wie-weg- und Kuckuck-Spiels, stechen vor allem zwei Schlachten als entscheidende Wendepunkte heraus. Beide aus der Anfangsphase des Krieges. Beide relativ unbedeutend, was die Zahl der Gefallenen angeht. Und beide fanden wo statt?

JF: Das ist, wow, das ist ja wirklich –

Historiker von New York (State): Ja, natürlich in New York. Im zentral gelegenen New York. Unsere erste wichtige Schlacht: Harlem Heights. Fatale Lage. Washington und seine wacklige Amateur-Armee gefährlich in Manhattan eingeschlossen. General William Howe mit einer veritablen Armada gerade im Hafen von New York eingetroffen – über dreißigtausend frische, gut ausgebildete Soldaten, einschließlich der sagenumwobenen Hessen. Unsere kontinentale Armee, durch schwere Verluste demoralisiert, leicht niederzuschlagen. Kritisches Gefecht: Harlem Heights, in der Nähe der heutigen Columbia Universität. Washingtons Truppen kämpfen gegen die Briten, Ausgang unentschieden, der General, dessen Armee mehr oder weniger intakt geblieben ist, kann sich nach New Jersey absetzen. Katastrophal verpasste Gelegenheit für die Briten, kolossal motivierender Durchbruch für Washington, der einen weiteren Tag gewonnen hat, an dem er kämpfen – oder den Kampf vermeiden! – kann.

JF: Entschuldigen Sie –

Historiker von New York (State): Zweite Schlacht: Bemis Heights, Saratoga. Das Jahr: 1777. Der Plan der Briten, wie sie den Krieg gewinnen wollen: simpel. Howes überwältigende südliche Expeditionsstreitmacht mit achttausend britischen Soldaten aus Kanada vereinen, unter der Führung von General John Burgoyne – dem sogenannten «Gentleman Johnny». Versorgungslinien schaffen, den Hudson und den Champlainsee kontrollieren, Neuengland von den Südkolonien abschneiden. Teilen und herrschen. Aber es ist der sumpfige Norden, der sumpfige Morast. Amerikanische Soldaten, viele nur auf Zeit, stoßen nach Bemis Heights in Saratoga vor, wo sie, von den Heldentaten Benedict Arnolds inspiriert, eine Serie von vernichtenden Angriffen auf Gentleman Johnny starten, der sich innerhalb einer Woche mit seiner gesamten Armee geschlagen gibt. Ein mitreißender Sieg von enormer strategischer Bedeutung! Die Nachricht ermutigt Frankreich, sich entschlossen an die Seite der Amerikaner zu stellen und England den Krieg zu erklären, und während der nächsten sechs Jahre erweist sich die beste Armee auf dem Planeten im Kampf gegen die Amerikaner erst recht als zögerlich und ineffektiv.

JF: Was?

Geologe von New York (State): Jeremy?

Historiker von New York (State): Die Lehre daraus? Beherrsche New York, und du beherrschst das Land. New York ist der Dreh- und Angelpunkt. Das brandheiße Zentrum. Der Haken, wenn Sie so wollen.

Geologe von New York (State): Jeremy, entschuldigen Sie, ich nehme unseren Gast mal kurz mit raus auf den Flur. Er sieht ein bisschen verstört aus.

Historiker von New York (State): Erste Hauptstadt der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika, wie in deren brillanter neuer Verfassung festgelegt? Schauplatz der Amtseinführung George Washingtons als des ersten Präsidenten der Republik? Sagte jemand … New York City? Und auch wenn unser damals noch in den Kinderschuhen steckender Bundesstaat die Hauptstadt nicht lange beherbergte, hatte er doch ein, zwei weitere Trümpfe im Ärmel! Im Westen der jungen Republik gelegen, bildete er einen Wall gegen die Atlantikküste: eine gewaltige Gebirgskette, die sich von Georgia bis hinauf nach Maine erstreckt. Nur drei Wege, um daran vorbeizukommen und das große wirtschaftliche Potenzial des Festlands anzuzapfen: ganz im Süden um Florida herum durch den Golf von Mexiko; ganz im Norden um Nova Scotia herum durch die ungastlichen kanadischen Gewässer des Sankt-Lorenz-Stroms; oder, zentral, zentral, durch eine Lücke, die der Hudson und der Mohawk in das Gebirge gefressen hatten. Man brauchte nur noch einen Kanal durch ein paar sumpfige Tiefebenen zu graben, und eine unerschöpfliche Flut von Holz, Eisen, Getreide und Fleisch würde durch New York City strömen, während eine Gegenflut von fabrizierten Waren den Fluss hinauf geschickt würde, um ihre Bürger für alle Zeit zu bereichern. Und siehe! Siehe!

Geologe von New York (State): Kommen Sie – hier entlang.

Historiker von New York (State): Siehe! Es geschah!

JF: Vielen Dank!

Geologe von New York (State): Wer hat Sie denn bitte zu Jeremy geschickt?

JF: Das war Mr. van Gander.

Geologe von New York (State): Ziemlicher Scherzkeks, dieser Rick van Gander. Ich bin übrigens Hal. Der Geologe. Hier draußen können wir etwas besser atmen. Möchten Sie ein Doughnut?

JF: Danke, nein. Ich möchte nur mein Interview machen. Dachte ich jedenfalls.

Geologe von New York (State): Klare Sache. (Wählt.) Janelle? Der Schriftsteller? Fragt wegen seines Interviews? … Okay, mach ich. (Legt auf.) Sie kommt und holt Sie ab. Wenn sie noch weiß, wo mein Büro ist. Kann ich Ihnen so lange irgendwie weiterhelfen?

JF: Danke. Ich fühle mich ein bisschen drangsaliert. Ich hatte die Vorstellung, dass ich mich mit New York in ein Café setzen und ihr erzählen könnte, wie sehr ich sie liebe und schon immer geliebt habe. Ganz informell, nur wir beide. Und dann wollte ich ihre Schönheit beschreiben.

Geologe von New York (State): Ha, so funktioniert das aber nicht mehr.

JF: Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich ganz hingerissen davon, wie grün und üppig alles war. Der Taconic Parkway, der Palisades Parkway, der Hutchinson River Parkway. Es war wie im Märchen, diese wunderschönen alten Brücken und Kilometer um Kilometer Wald und Parklandschaft zu beiden Seiten. So völlig anders als die flachen Asphaltstraßen und Kornfelder, die ich von zu Hause kannte. Und wie groß das alles war, wie alt.

Geologe von New York (State): Sicher.

JF: Die jüngere Schwester meiner Mutter hat lange in Schenectady gelebt, mit meinen beiden Cousinen und ihrem Mann, der für General Electric arbeitete. Irgendwann, als ich noch zur Schule ging, wurde er von der Fertigung in Schenectady an den Hauptsitz des Unternehmens versetzt, nach Stamford, Connecticut. In den letzten Jahren seiner Karriere war er der Leiter des Teams, dessen Aufgabe es war, das neue Unternehmenslogo zu entwerfen. Es sah dann fast genauso aus wie das alte.

Geologe von New York (State): Schenectady steht nicht mehr so gut da. Genau wie alle anderen alten Industriestädte.

JF: Meine Tante und mein Onkel flüchteten ins pseudokünstlerische Westport. In dem Sommer, als ich siebzehn wurde, besuchten meine Eltern und ich sie dort. Und prompt verknallte ich mich wie verrückt in meine Cousine Martha. Sie war achtzehn, groß, witzig, lebhaft, und sie konnte schlecht gucken, und weil wir verwandt waren, konnte ich sogar halbwegs entspannt mit ihr reden. Und irgendwie kam es zustande – aus unerfindlichen Gründen gaben meine Eltern ihre Einwilligung dazu –, dass Martha und ich nach Manhattan fuhren und einen Tag allein dort verbrachten. Das war im August 1976. Heiß, modrig, pollenschwer, gewitterschwül, alles voller Unkraut. Martha arbeitete als Babysitterin und Chauffeurin von drei Westport-Mädchen, deren Vater für zwei Monate mit seiner Frau und seiner Geliebten nach Südamerika gefahren war. Die Mädchen waren sechzehn, vierzehn und elf, alle drei unglaublich dünn und besessen vom Thema Körpergewicht. Die mittlere spielte Flöte und war frühreif und drängte Martha andauernd, sie zu Schulpartys mitzunehmen, damit sie ältere Jungs kennenlernen könne. Martha chauffierte sie in einer riesengroßen schwarzen Limousine. Irgendwann hatte sie eine solche bereits zu Schrott gefahren und dann im Büro ihres Arbeitgebers anrufen müssen, um eine neue zu organisieren. Mit hoher Geschwindigkeit fegten wir auf der linken Spur den Merritt Parkway entlang, alle Fenster offen, sodass kochend heiße Luft durch den Wagen blies, die drei Prinzessinnen hinten auf der Rückbank mehr liegend als sitzend – die beiden Älteren, die gar nicht so viel jünger waren als ich, so süß, dass ich den Mund kaum aufbekam. Nicht dass sie auch nur das geringste Interesse an mir gezeigt hätten. Wir landeten auf der Upper East Side, beim Kunstmuseum; unweit davon hatte die Großmutter der Mädchen eine Wohnung. Am meisten beeindruckte mich, dass die Mittlere zu diesem Tagesausflug in die Stadt ohne Schuhe mitgekommen war. Ich sehe sie noch barfuß über den heißen Fifth-Avenue-Gehweg laufen, in ärmellosem Top und knappen Shorts, die Flöte in der Hand. Darin kam eine so selbstverständliche Anspruchshaltung zum Ausdruck, wie ich sie noch nie erlebt, ja mir nicht einmal hatte vorstellen können. Es war jenseits meines Horizonts und gleichzeitig absolut berauschend. Meine Eltern waren Mittelwestler durch und durch und gingen mit ewigen Entschuldigungen und dem Gegenteil einer Anspruchshaltung durchs Leben. Und dann der diesige blaugraue Himmel, wissen Sie, mit den großen weißen Wolken, die über den Central Park ziehen. Und die Gebäude aus Stein mit den Portiers und die Fifth Avenue wie eine einzige, massive Kolonne von Yellow Cabs, die in die brombraune Dunstglocke entschwindet. Diese ganze gewaltige Urbanität. Und zusammen mit Martha dort zu sein, meiner aufregenden New Yorker Cousine, und einen Nachmittag lang mit ihr durch die Straßen zu wandern und dann zu Abend zu essen wie zwei Erwachsene und zu einem kostenlosen Konzert im Park zu gehen: Das Ich, das ich an jenem Tag zu sein glaubte, erkannte ich nur deshalb, weil ich mich so lange nach ihm gesehnt hatte. An meinem ersten Tag in New York begegnete ich in mir der Person, die ich sein wollte. Wir holten die Mädchen nachts gegen elf bei ihrer Großmutter ab und gingen zum Parkhaus des Kunstmuseums, und dort stellten wir fest, dass der rechte Hinterreifen platt war. Eine Pfütze aus schwarzem Gummi. Also arbeiteten Martha und ich Schulter an Schulter, schwitzend, wie ein Paar, und schafften es, den Wagen hochzubocken und den Reifen zu wechseln, während das mittlere Mädchen im Schneidersitz auf dem Kofferraum eines anderen Autos saß, die Fußsohlen schwarz von der Stadt, und Flöte spielte. Nach Mitternacht fuhren wir los. Die Mädchen schliefen hinten, als wären es Marthas und meine Kinder, und die Fenster waren offen, und die Luft, immer noch schwül, aber kühler jetzt, roch nach der Meerenge, und die Straßen waren voller Schlaglöcher und leer, und die Straßenlaternen verbreiteten ein geheimnisvoll natriumoranges Licht, anders als die bläulichen Quecksilberdampflampen, die es noch in St. Louis gab. Dann fuhren wir über die Whitestone Bridge. Und das war der Moment, in dem ich die entscheidende Vision hatte. Und New York unwiderruflich verfiel: als ich mitten in der Nacht Co-op City sah.

Geologe von New York (State): Gibt’s ja nicht.

JF: Im Ernst. Ich hatte den Tag in Manhattan verbracht, hatte die größte und stadtartigste Stadt der Welt bereits gesehen. Und jetzt entfernten wir uns seit fünfzehn oder zwanzig Minuten von ihr, was von St. Louis aus gereicht hätte, um zwischen stockdunklen, flussgrundschwarzen Kornfeldern zu landen, und plötzlich waren da diese riesigen Wohntürme, so weit das Auge reichte, jeder einzelne so hoch wie das höchste Gebäude in St. Louis, und mehr, als ich zählen konnte. Die, die am weitesten weg waren, standen drüben am Wasser und wirkten in dem Dunst wie von einem anderen Stern. Zehntausende von Stadtleben übereinandergestapelt und aneinandergepresst. Die schiere Anzahl von Wohnungen, die man da in der südöstlichen Bronx sehen konnte: Das alles erschien mir in dem Moment unergründlich und aufregend groß, genauso wie meine eigene Zukunft, mit Martha neben mir, die hundertzwanzig fuhr.

Geologe von New York (State): Und ist was daraus geworden? Aus Ihnen und ihr?

JF: Ich hab vier Jahre später mal auf ihrem Sofa gepennt. Wieder auf der Upper East Side. In irgendeinem anonymen Co-op-City-ähnlichen Wohnturm. Martha hatte gerade ihr Examen an der Cornell University gemacht. Sie teilte sich eine Dreizimmerwohnung mit zwei anderen Mädchen. Ich war mit meinem Bruder in der Stadt. Wir hatten uns in Chinatown zum Essen mit der Schwiegerfamilie meines anderen Bruders getroffen, der ein paar Jahre vorher sein eigenes Manhattan-Mädchen geheiratet hatte. Tom wollte bei einer seiner Freundinnen von der Kunsthochschule übernachten, und ich fuhr zu Martha. Ich weiß noch, dass sie am Morgen gleich als Erstes Robert Palmers «Sneakin’ Sally Through the Alley» im Wohnzimmer auflegte und die Lautstärke hochdrehte. Wir fuhren mit einem unglaublich vollen Zug der Linie 6 runter nach SoHo, wo sie für die SoHo News Anzeigenplatz verkaufte. Und ich dachte: Mann, was für ein Leben!

Geologe von New York (State): Und wieder ganz ohne Ironie, vermute ich.

JF: Genau.

Geologe von New York (State): New York is where I’d rather stay!/I get allergic smelling hay!

JF: Was soll ich Ihnen sagen? Es besteht eine besondere Verbindung zwischen dem Mittelwesten und New York. Nicht nur, dass New York den Markt für die Waren geboten hat, die den Mittelwesten zu dem gemacht haben, was er ist; und nicht nur, dass der Mittelwesten durch die Lieferung dieser Waren New York zu der gemacht hat, die sie ist. Vielmehr ist New York wie das wachsame Auge des Yang im Zentrum der anspruchslosen, bescheidenen mittelwestlichen Ebenen des Yin. Und der Mittelwesten ist wie das taufrische, romantische, hoffnungsvolle Auge des Yin im Zentrum von New Yorks brutalem, habgierigem Yang. Eine bestimmte Art von Mittelwestler geht an die Ostküste, um sich zu vervollkommnen, so wie ein bestimmter Typ New Yorker in den Mittelwesten geht, um neue Kräfte zu schöpfen.

Geologe von New York (State): Hm. Ganz schön tiefgründig. Und wissen Sie, was wirklich interessant ist – auch auf der Ebene der Geologie besteht eine Verbindung. Ich meine, überlegen Sie doch mal: New York State ist der einzige Staat an der Ostküste, der zugleich auf dem Gebiet der Großen Seen liegt. Glauben Sie, es war Zufall, dass der Erie-Kanal dort gegraben wurde, wo er ist? Sind Sie schon mal die Schnellstraße am Mohawk entlang nach Westen gefahren? In der Ferne, weit, weit weg, etliche Kilometer gen Süden hin, sieht man diese gewaltigen, schroffen Flussklippen. Und wissen Sie was? Diese Klippen waren früher mal die Ufer des Flusses. Damals, als er eine kilometerbreite verheerende Flut Gletscherschmelzwasser war, die aus dem Kontinent hervorbrach und zum Ozean abfloss. Das nämlich hat Ihren schönen Verbindungsweg in den Mittelwesten geschaffen: die Eiszeit.

JF: Die geologisch gesehen gerade erst stattgefunden hat, wenn ich richtig verstanden habe.

Geologe von New York (State): Gestern Nachmittag, geologisch gesehen. Es ist erst zehntausend Jahre her, dass im Bear Mountain State Park und in West Point Mastodonten und wollige Mammuts rumliefen. Es gab die verrücktesten Sachen – kalifornische Kondore oben bei Syracuse, Walrösser und Beluga-Wale an der kanadischen Grenze. Und all das erst vor kurzem. Mehr oder weniger gestern Nachmittag. Vor zwanzigtausend Jahren befand sich der gesamte Staat unter einer Eisdecke. Als das Eis sich allmählich zurückzog, in ganz Nordamerika, entstanden riesige Schmelzwasserseen, die nirgendwohin abfließen konnten. Und so stiegen und stiegen die Pegel, immer weiter, bis das Wasser einen katastrophischen Ausweg fand. Manchmal strömte es auf der westlichen Seite den Mississippi runter, aber manchmal traf es dort auf monumentale Eisdämme und musste sich einen Weg über den Osten bahnen. Und wenn ein Damm schließlich brach, dann brach er wirklich. Das war mehr als biblisch; das war ehrfurchtgebietend. Und es ist mitten im Bundesstaat New York passiert. Irgendwann führte der Ausweg für all das Wasser genau am heutigen Schenectady vorbei. Es formte die Klippen im Süden des Mohawk und das Hudson-Tal, ja sogar einen Canyon im Festlandsockel, der mehr als dreihundert Kilometer weit ins Meer hineinragt. Dann zog sich das Eis weiter und weiter gen Norden zurück, bis sich noch ein Ventil auftat: über die Gipfel der Adirondacks und um deren Ostseite herum hinunter zum Hudson, wo sich später der George-See und der Champlain-See bildeten. Was man heute vom Hudson sieht, ist also de facto ein naher Verwandter des Mississippi. Die beiden Flüsse waren die zwei wesentlichen südlichen Abflüsse für einen ganzen Kontinent geschmolzenen Eises.

JF: Da schwirrt einem ja der Kopf.

Geologe von New York (State): Der Kosmopolitanismus von New York City gründet, geologisch gesprochen, ebenfalls tief. Immerhin empfangen wir seit über einer halben Milliarde Jahren ausländische Gäste. Erwähnenswert hier vor allem der afrikanische Kontinent, der vor ungefähr dreihundert Millionen Jahren herüberkam, Amerika rammte, lange genug blieb, um die Allegheny Mountains aufzufalten, und wieder gen Osten abzog. Sehen Sie sich mal eine geologische Karte von New York an, sie erinnert stark an eine Karte der ethnischen Verteilung. Die felsige Geologie des Nordens ist fast uniform weiß – große Kalkablagerungen aus der Zeit, als New York ein flaches subtropisches Meer war. Aber weiter zum Hudson und zum Manhattan-Ausläufer hin werden die Felsformationen unglaublich heterogen, zerklüftet und fragmentiert. Man findet dort Überreste von allem möglichen Kram, der den Kontinent tektonisch gerammt hat, plus anderen Kram von diversen auf Grabenbrüche folgenden magmatischen Eruptionen, plus weiteren Kram, der von den Gletschern dorthin geschoben wurde. Im Süden sieht der Staat wie ein Schmelztiegel aus, in dem mal ordentlich umgerührt werden müsste. Und warum? Weil New York eben tatsächlich schon immer sehr zentral lag. Es liegt am äußersten südöstlichen Zipfel des ursprünglichen nordamerikanischen Schilds und am höchsten Punkt des appalachischen Faltengürtels und am westlichen Rand all des verwachsenen Vulkaninsel-Mistkrams von Neuengland, der dem Kontinent angefügt wurde, und in einer nordwestlichen Ecke unseres sich ständig ausbreitenden Atlantiks. Die Tatsache, dass New York eine Verbindung zwischen all diesen Dingen darstellt, erklärt zum Teil, warum dieser Bundesstaat zum offensten, gastlichsten Staat an der ganzen Küste geworden ist, mit seinen bequemen Routen rauf nach Kanada und rüber in den Mittelwesten. Denn in New York tobt seit Hunderten von Millionen Jahren ganz buchstäblich das Leben.

JF: Komisch, wenn ich Ihnen so zuhöre, kommt mir das alles so viel weniger historisch vor als meine eigenen frühen Zwanziger. Dreihundert Millionen Jahre sind nichts im Vergleich dazu, wie lange mein letztes Collegejahr her ist. Und selbst die Collegezeit scheint relativ nah im Vergleich zu den Jahren direkt danach. Den Jahren, als ich verheiratet war. Apropos gemarterte, tiefgründige Geologie.

Geologe von New York (State): Ich nehme nicht an, dass Sie Ihre lebhafte Cousine geheiratet haben?

JF: Nein, nein, nein. Aber eine New Yorkerin. So wie ich es mir immer erträumt hatte. Ihre Familie väterlicherseits lebte seit dem 17.  Jahrhundert in Orange County. Und ihre Mutter hieß Harriet. Und sie hatte zwei magere jüngere Schwestern, die mich sehr an die Mädchen auf der Rückbank von Marthas Limousine erinnerten. Und sie war wunderschön unglücklich.

Geologe von New York (State): Unglücklich war noch nie meine Vorstellung von wunderschön.

JF: Meine aus irgendeinem Grund schon. Vor dreihundert Millionen Jahren. Als wir mit dem College fertig waren, bezogen wir als Allererstes eine Wohnung an der West 110th Street, zur Untermiete und auf Zeit. Bis zum Ende des Sommers hatte ich mich derart in die Stadt verliebt, dass der Heiratsantrag, den ich meiner Freundin machte, sich fast von selbst ergab. Ein Jahr später heirateten wir tatsächlich, auf einem Berghang in Orange County, nicht weit von dort, wo der Palisades Parkway endet. Spät am Tag stiegen wir in unseren Chevy Nova, um nach Boston zurückzufahren, und überquerten den Hudson auf der Bear-Mountain-Brücke. Ich erzählte dem Mautbeamten, wir hätten gerade geheiratet, und er winkte uns durch. Ich kann, ohne zu übertreiben, sagen, dass wir damals glücklich waren und auch in den folgenden fünf Jahren – glücklich, in Boston zu sein, glücklich, New York zu besuchen, glücklich, uns aus der Ferne danach zu sehnen. Erst als wir beschlossen, dauerhaft dort zu leben, begannen unsere Probleme.

Pressesprecherin von New York (State) (von weit her): Hal? Hallo? Hal?

Geologe von New York (State): Oh – entschuldigen Sie. Janelle! Falsche Richtung! Hier sind wir! Janelle! Sie findet mich nie … Janelle!

Pressesprecherin von New York (State): Ach, das ist schrecklich, schrecklich! Jon, schon seit fünf Minuten hat sie Zeit für Sie, und ich irre und irre hier in diesem Labyrinth herum. Ich weiß, dass ich Ihnen eine halbe Stunde zugesagt hatte, aber ich fürchte, Sie werden sich nun wohl mit fünfzehn Minuten zufriedengeben müssen. Und, tut mir leid, aber wenn Sie sich hier hinten bei Hal verstecken, dann sind Sie auch ein bisschen selbst dran schuld. Ehrlich, Hal, Sie müssten hier mal eine Fluchtwegbeleuchtung installieren lassen oder so was.

Geologe von New York (State): Ich bin schon froh, dass ich überhaupt irgendwelche Mittel bekomme.

JF: War nett, mit Ihnen zu reden.

Pressesprecherin von New York (State): Kommen Sie, na kommen Sie schon. Wir müssen uns beeilen! Ich hätte Brotkrumen hinter mir ausstreuen sollen … Man könnte sich hier hinlegen und sterben, und es würde möglicherweise keiner merken. Sie mag es überhaupt nicht, wenn man sie auch nur fünf Sekunden warten lässt! Und Sie wissen, wem sie die Schuld geben wird, nicht wahr?

JF: Mir?

Pressesprecherin von New York (State): Nein! Mir! Mir! Oh, da sind wir ja, wir kommen-kommen-kommen-kommen schon, hier, gehen Sie nur rein, sie erwartet Sie – los – und vergessen Sie nicht, sie nach den Bildern zu fragen –

JF: Hallo!

New York (State): Hallo. Kommen Sie herein.

JF: Es tut mir furchtbar leid, dass ich Sie habe warten lassen.

New York (State): Mir auch. Es verkürzt die ohnehin begrenzte Zeit, die uns zur Verfügung steht.

JF: Ich bin seit halb neun hier, und in der letzten halben Stunde –

New York (State): Mhm.

JF: Wie auch immer, ich freue mich sehr. Sie sehen fabelhaft aus. Sehr, hm, gut beieinander.

New York (State): Danke.

JF: Es ist so lange her, dass wir miteinander allein waren, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

New York (State): Wir waren mal miteinander allein?

JF: Sie erinnern sich nicht?

New York (State): Vielleicht schon. Vielleicht können Sie es mir ins Gedächtnis rufen. Oder auch nicht. Manche Männer hinterlassen einen stärkeren Eindruck als andere. Die billigen Rendezvous vergesse ich meistens. War es ein billiges Rendezvous?

JF: Es waren schöne Rendezvous.

New York (State): Oh! Plural! Also mehr als eins.

JF: Ich meine, ich weiß schon, dass ich nicht Mort Zuckerman oder Mike Bloomberg oder Donald Trump bin –

New York (State): Der Donald! Der ist süß. (Kichert.) Ich finde ihn süß!

JF: O Gott.

New York (State): Ach, kommen Sie, geben Sie’s zu. Er ist wirklich ziemlich süß, finden Sie nicht? … Was? Sie finden das wirklich nicht?

JF: Tut mir leid, ich … ich muss das alles erst verdauen. Diesen ganzen Vormittag. Ich meine, ich wusste ja, dass es zwischen uns nie mehr so sein würde wie früher. Aber, mein Gott. Es dreht sich wirklich alles nur noch ums Geld, oder?

New York (State): Es drehte sich immer alles ums Geld. Sie waren bloß zu jung, um das merken.

JF: Also erinnern Sie sich doch an mich?

New York (State): Kann sein. Vielleicht stelle ich auch nur eine begründete Vermutung auf. Romantische junge Männer merken nie etwas. Meine Mutter fand sogar mal die Rotröcke hübsch, damals im Krieg. Was sollte sie auch sonst tun? Zulassen, dass sie alles verbrennen?

JF: Dann liegt das bei Ihnen wohl in der Familie!

New York (State): Ach, ich bitte Sie! Werden Sie erwachsen. Wollen Sie wirklich, dass wir unsere zehn Minuten auf diese Weise verbringen?

JF: Wissen Sie, ich war letzten Monat noch mal da. Auf dem Berghang, wo ich geheiratet habe – wo das Haus der Großeltern meiner Frau stand. Ich war unterwegs durch Orange County und habe versucht, es wiederzufinden. Ich hatte einen langen grünen Rasen in Erinnerung, der an einem Lattenzaun endet, und eine große, wuchernde Weide mit Bäumen rundherum.

New York (State): Ja, Orange County. Ein schöner Teil von mir. Ich hoffe, Sie haben sich etwas Zeit genommen, die vielen Quadratkilometer spektakulärer Parklandschaft rings um den Bear Mountain zu würdigen und sich bewusst zu machen, was für ein außerordentlich hoher Prozentsatz meiner gesamten Fläche garantiert öffentlich ist und «forever wild». Natürlich habe ich große Teile dieses Landes von sehr reichen Männern geschenkt bekommen. Vielleicht finden Sie, ich sollte so lauter und tugendhaft sein, es ihnen zurückzugeben, damit sie alles erschließen können?

JF: Ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wiedergefunden hatte, so verändert war die Gegend. Alles scheußlich zersiedelt, Verkehr, Baumärkte, Elektronikmärkte, Supermärkte. Neben der alten Backstein-Schule erhob sich so ein brandneues, pinkfarbenes flugzeugträgergroßes Gebäude mit Schildern am Eingang, auf denen BITTE FAHREN SIE VORSICHTIG, WIR LIEBEN UNSERE KINDER stand.

New York (State): Unsere kostbaren Freiheiten schließen auch die Freiheit mit ein, geschmacklos und blöd zu sein.

JF: Ich konnte es letztlich nur auf zwei Berghänge eingrenzen. Erdbaumaschinen, so groß wie Häuser, waren dabei, alles kahl und bloß zu scharren. Formten die Konturen des Landes um – gestalteten diese niedlichen, kleinen, künstlichen Senken und Winkel für scheußliche Gebäude neu, um sie an Sentimentalisten zu verkaufen, die voller Wut auf die Welt sind und ihr darum unbedingt mitteilen müssen – schriftlich, auf einem Straßenschild –, dass sie ihre Kinder lieben. Wolken von Dieselabgasen, große, umgeholzte Eichen, aufeinandergehäuft wie kleine Stöckchen, Vögel, die in Panik umhersausen. Ich habe die ganze graue, lauwarme Zukunft vor mir gesehen. Nichts Urbanes. Nichts Ländliches. Das ganze Land bloß eine Wüste des beschissen gebauten Weder-Nochs.

New York (State): Und doch – trotz alledem – bin ich immer noch ziemlich schön. Ist das nicht ungerecht? Was man mit Geld kaufen kann? Und Bäume haben es ja so an sich, nachzuwachsen. Glauben Sie etwa, dass es im 19. Jahrhundert auf Ihrem Berghang Eichen gab? Wahrscheinlich hatte man im ganzen Land keine tausend Eichen stehen lassen. Also lassen wir die Vergangenheit mal schön beiseite.

JF: Aber in der Vergangenheit habe ich Sie geliebt.

New York (State): Ein Grund mehr, nicht davon zu sprechen! Kommen Sie. Setzen Sie sich zu mir. Ich habe hier ein paar Bilder von mir, die ich Ihnen zeigen möchte.


(Übersetzt von Bettina Abarbanell)