[zur Inhaltsübersicht]

Weiter weg

Im Südpazifik, achthundert Kilometer vor der Küste von Chile, liegt eine verboten steile Vulkaninsel, zehn Kilometer lang und sechs Kilometer breit, die von Millionen Seevögeln und Tausenden Seebären bewohnt wird, aber frei von Menschen ist. Nur in den wärmeren Monaten fahren ein paar Fischer raus, um Hummer zu fangen. Will man die Insel, die offiziell Alejandro Selkirk heißt, erreichen, so fliegt man in einem Achtsitzer, der zweimal wöchentlich verkehrt, zunächst auf eine etwa hundertfünfzig Kilometer weiter östlich gelegene Insel. Dort steigt man in ein kleines offenes Boot und fährt von der Landepiste zum einzigen Dorf des Archipels, wartet darauf, dass man gelegentlich von einer der Barkassen auf die zwölfstündige Ausfahrt mitgenommen wird, und muss dann oft noch länger, manchmal tagelang warten, bis das Wetter es zulässt, dass man an der felsigen Küste an Land geht. In den sechziger Jahren haben chilenische Tourismusvertreter die Insel nach Alexander Selkirk umbenannt, dem schottischen Seemann, dessen Geschichte vom einsamen Leben auf dem Archipel wahrscheinlich die Grundlage für Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe war, aber die Einheimischen verwenden immer noch ihren ursprünglichen Namen, Más Afuera: Weiter weg.

Im Spätherbst des vergangenen Jahres war es mir ein ziemlich starkes Bedürfnis, weiter weg zu sein. Vier Monate lang war ich nonstop mit einem Roman auf Tour gewesen und willenlos meinem Terminkalender gefolgt, bis ich mich mehr und mehr wie die kleine Raute auf dem Ladebalken eines Mediaplayers fühlte. Wesentliche Teile meiner persönlichen Geschichte starben innerlich ab, weil ich zu oft über sie sprach. Und jeden Morgen die gleiche wiederbelebende Dosis Nikotin und Koffein; jeden Abend die gleiche Attacke auf die E-Mails in meinem Postfach; jede Nacht die gleiche Trinkerei für das gleiche hirnvernebelnde bisschen Behagen. Ab einem gewissen Punkt, nachdem ich über Más Afuera gelesen hatte, stellte ich mir vor, abzuhauen und dort, wie Selkirk, alleine zu sein, im Innern einer Insel, auf der niemand, nicht mal zeitweise, lebt.

Außerdem gefiel mir die Idee, in der Zeit dort noch einmal das Buch zu lesen, das gemeinhin als erster englischer Roman gilt. Robinson Crusoe war das großartige frühe Zeugnis eines radikalen Individualismus, die Geschichte des praktischen und psychischen Überlebens eines ganz normalen Menschen in völliger Isolation. Das mit dem Individualismus verbundene Projekt des Romans – die Suche nach Bedeutung in einer realistischen Erzählung – wurde für die nächsten dreihundert Jahre zur kulturell vorherrschenden Form. Wir hören Robinson Crusoes Stimme in der Stimme von Jane Eyre, in den Aufzeichnungen des Manns aus dem Kellerloch, der Erzählung des unsichtbaren Manns und in den Einträgen von Sartres Roquentin. All diese Erzählungen hatten mich einmal begeistert, und schon im englischen Wort novel mit seinem Neuigkeitsversprechen hielt sich eine Erinnerung an jugendlichere Begegnungen, die so fesselnd waren, dass ich stundenlang stillsitzen konnte und nie auch nur an Langeweile dachte. In seinem Klassiker Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung erklärt Ian Watt den Boom der Romanproduktion im 18. Jahrhundert mit dem wachsenden Bedürfnis nach heimischer Unterhaltung, das Frauen empfanden, die – der traditionellen Aufgaben im Haushalt entbunden – zu viel Zeit hatten. Auf sehr direkte Weise war der englische Roman, Watt zufolge, aus der Asche der Langeweile gestiegen. Und Langeweile war es, woran ich litt. Je öfter man Ablenkung sucht, desto weniger effektiv ist jede einzelne, und so musste ich die diversen Dosen erhöhen, bis ich, eh ich mich’s versah, alle zehn Minuten meine E-Mails checkte und meine Tabakklumpen immer größer wurden und meine zwei abendlichen Drinks sich zu vier ausgewachsen hatten und ich es im Computer-Solitaire zu solcher Meisterschaft gebracht hatte, dass es nicht länger mein Ziel war, ein einzelnes Spiel zu gewinnen, sondern zwei oder mehr hintereinander – eine Art Meta-Solitaire, dessen Faszination weniger im Kartenspielen bestand als darin, auf den Wellen von Glück und Pech zu surfen. Meine bis dahin längste Gewinnsträhne war acht.

Ich verabredete eine Mitfahrgelegenheit nach Más Afuera auf einem kleinen Boot, das ein paar abenteuerlustige Botaniker gechartert hatten. Dann stürzte ich mich in eine kurze Konsumorgie bei REI, wo die Crusoe’sche Robinsonade in den Gängen voll ultraleichter Überlebensausrüstung und, vielleicht gerade, durch bestimmte Zivilisation-in-der-Wildnis-Embleme wie dem Martiniglas aus rostfreiem Stahl mit abnehmbarem Stiel überdauerte. Außer mit einem neuen Rucksack, Zelt und Messer stattete ich mich mit ein paar neuartigen Spezialartikeln aus, etwa einem Plastiktablett mit Silikonrand, das sich mit einem Flappen in eine Schüssel verwandelte, Ascorbinsäure-Tabletten, die den Geschmack von mit Jod sterilisiertem Wasser neutralisieren sollten, einem Microfaser-Handtuch, das sich in einem bemerkenswert kleinen Beutel verstauen ließ, biologisch gefriergetrocknetem Chili und einem unkaputtbaren Göffel. Außerdem trug ich große Vorräte an Nüssen, Thunfisch und Proteinriegeln zusammen, denn mir war gesagt worden, dass ich bei schlechtem Wetter ewig auf Más Afuera festsitzen könne.

Am Vorabend meiner Abreise nach Santiago besuchte ich meine Freundin Karen, die Witwe des Schriftstellers David Foster Wallace. Als ich schon im Aufbruch war, fragte sie mich, aus heiterem Himmel, ob ich vielleicht etwas von Davids Asche mitnehmen und auf Más Afuera verstreuen wolle. Ich bejahte, und sie holte eine antike Zündholzschachtel aus Holz, ein winziges Buch mit einer Schublade, füllte etwas Asche hinein und sagte, ihr gefalle der Gedanke, dass ein Teil von David auf einer entlegenen und unbewohnten Insel seine Ruhe finden würde. Erst später, als ich schon losgefahren war, begriff ich, dass sie mir die Asche ebenso sehr um meinet- wie um ihret- oder Davids willen gegeben hatte. Sie wusste von mir, dass mein gegenwärtiges Fliehen vor mir selbst zwei Jahre zuvor, kurz nach Davids Tod, begonnen hatte. Damals hatte ich die Entscheidung getroffen, mich nicht mit dem fiesen Selbstmord von jemandem, den ich so sehr geliebt hatte, auseinanderzusetzen, sondern mich stattdessen in Zorn und Arbeit zu flüchten. Jetzt allerdings, nach getaner Arbeit, war der Umstand, dass David, einer möglichen Interpretation seines Selbstmords zufolge, an Langeweile gestorben war und ohne Hoffnung für seine künftigen Romane, schwerer zu ignorieren. Der schneidende Unterton meiner eigenen Langeweile in letzter Zeit: Könnte er damit zu tun haben, dass ich selbst ein Versprechen gebrochen hatte? Dass ich mir nach Beendigung meines Buchprojekts mehr als flüchtige Trauer und fortdauernden Zorn über Davids Tod gestatten würde?

Und so erreichte ich, am letzten Januarmorgen, in dichtem Nebel einen Fleck auf Más Afuera namens La Cuchara (Der Löffel), tausend Meter über Meereshöhe. Ich hatte ein Notizbuch, ein Fernglas, eine Taschenbuchausgabe von Robinson Crusoe, das kleine Buch mit Davids Überresten, einen Rucksack voll Campingausrüstung, eine grotesk unzulängliche Karte der Insel und keinen Alkohol, Tabak oder Computer dabei. Abgesehen davon, dass ich, statt alleine zu wandern, einem jungen Parkranger und einem Maultier folgte, das meinen Rucksack trug, und dass ich außerdem, auf das Insistieren diverser Leute hin, ein Funkgerät, eine zehn Jahre alte GPS-Einheit, ein Satellitentelefon und mehrere Ersatzbatterien mitgebracht hatte, war ich völlig isoliert und allein.


Zuallererst begegnete ich Robinson Crusoe, weil mein Vater mir daraus vorlas. Neben Les Misérables war es der einzige Roman, der ihm etwas bedeutete. Das Vergnügen, das er darin fand, ihn mir vorzulesen, zeigt, dass er sich mit Crusoe so sehr identifizierte wie mit Jean Valjean (den er, Autodidakt, der er war, «Gene Val Gene» aussprach). Wie Crusoe fühlte sich mein Vater von anderen Menschen isoliert, war entschieden moderat in seinen Gewohnheiten, glaubte an die Überlegenheit der westlichen Zivilisation über die «Wildheit» anderer Kulturen, begriff die Natur als etwas, das man bändigen und ausbeuten müsse, und war ein unverbesserlicher Heimwerker. Selbstdiszipliniertes Überleben auf einer wüsten Insel, umgeben von Kannibalen, das war für ihn die vollkommene Romantik. Er war in einem rauen Städtchen geboren, das sein Pioniervater und seine Pionieronkel gebaut hatten, und bei der Arbeit in Straßenbaucamps im borealen Sumpfland erwachsen geworden. In unserem Keller in St. Louis betrieb er eine gut sortierte Werkstatt, in der er seine Werkzeuge schärfte, seine Kleider flickte (er konnte gut nähen) und aus Holz und Metall und Leder robuste Lösungen für häusliche Instandhaltungsprobleme improvisierte. Mehrmals im Jahr ging er mit meinen Freunden und mir zelten, errichtete, während ich mit meinen Freunden in die Wälder lief, unser Lager und machte sich neben unseren wattierten Schlafsäcken ein Bett aus derben alten Laken. Ich glaube, dass ich ihm in gewisser Weise die Ausrede bot, zelten zu gehen.

Mein Bruder Tom, nicht minder ein Heimwerker als mein Vater, wurde, als er aufs College ging, ein echter Backpacker. Weil ich Tom in allem nachzueifern versuchte, lauschte ich seinen Geschichten über zehntägige Solotrips in Colorado oder Wyoming und sehnte mich danach, selbst ein Backpacker zu sein. Meine erste Chance bekam ich in dem Sommer, als ich sechzehn wurde und meine Eltern überredete, mich an einem Sommerschulkurs namens «Camping im Westen» teilnehmen zu lassen. Für zwei Wochen «Studium» in den Rockys schlossen mein Freund Weidman und ich uns einer Busladung Teenager und Betreuer an. Ich hatte Toms ausgemusterten roten Gerry-Rucksack dabei und (für Notizen zu meinem eher zufällig gewählten Studiengebiet, Flechten) ein Notizbuch, das dem, das Tom immer bei sich trug, exakt glich.

Am zweiten Tag eines Trecks in die Sawtooth-Wildnis in Idaho wurden wir aufgefordert, vierundzwanzig Stunden alleine zu verbringen. Mein Betreuer brachte mich in ein schütteres Gelbkiefernwäldchen und ließ mich dort allein, und sehr bald kauerte ich, obwohl der Tag schön und nicht weiter bedrohlich war, in meinem Zelt. Offensichtlich musste ich, um mir der Leere des Lebens und des Grauens der Existenz bewusst zu werden, nur für ein paar Stunden der menschlichen Gesellschaft beraubt werden. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Weidman, obwohl acht Monate älter als ich, sich derart einsam gefühlt hatte, dass er bis zu der Stelle zurückgelaufen war, von der aus er das Basislager wieder sehen konnte. Was es mir möglich machte, draußen zu bleiben – und mehr noch, mir das Gefühl gab, dass ich es auch länger als einen Tag ausgehalten hätte –, war das Schreiben:

DONNERSTAG, 3. JULI

Heute Abend beginne ich ein Notizbuch. Sollte irgendjemand dies lesen, vertraue ich darauf, dass er mir den übermäßigen Gebrauch des Wortes «ich» verzeiht. Ich kann nicht damit aufhören. Ich schreibe dies.

Als ich heute Nachmittag nach dem Essen zu meinem Feuer zurückkam, gab es einen Augenblick, in dem mir meine Aluminiumtasse wie ein Freund erschien, sie saß auf einem Stein, betrachtete mich …

Eine bestimmte Fliege (jedenfalls glaube ich, dass es ein und dieselbe war) summte heute Nachmittag eine ganze Weile um meinen Kopf herum. Nach einer gewissen Zeit hörte ich auf, sie als ein störendes, garstiges Insekt zu sehen & begann unbewusst, sie als Gegner zu begreifen, den ich eigentlich ganz gern mochte, und dass wir nur miteinander spielten.

Ebenfalls an diesem Nachmittag (das war meine Hauptaktivität) habe ich mich auf einen Felsvorsprung gesetzt, um die verschiedenen Zwecke meines Lebens, wie ich sie zu verschiedenen Zeiten gesehen habe (3 – was die Sichtweisen betrifft), in die Worte eines Sonetts zu fassen. Natürlich ist mir jetzt klar, dass ich das nicht mal in Prosa hinkriege, also war es echt unnütz. Wie auch immer, als ich dabei war, war ich plötzlich überzeugt, dass das Leben Zeitverschwendung wäre oder so was. Ich war so traurig und fertig, dass jeder Gedanke in Verzweiflung mündete. Doch dann sah ich mir ein paar Flechten an & schrieb ein bisschen über sie & beruhigte mich und kam zu dem Schluss, dass sich mein Kummer keinem Sinnverlust verdankte, sondern der Tatsache, dass ich nicht wusste, wer ich war oder warum ich war, und meinen Eltern nicht zeigte, dass ich sie liebte. Ich näherte mich meinem dritten Punkt, aber mein nächster Gedanke schweifte ein bisschen ab. Ich kam zu dem Schluss, dass der Grund für das Obige war, dass die Zeit (das Leben) zu kurz ist. Das stimmt natürlich, aber es war nicht der wahre Grund für meinen Kummer. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich vermisste meine Familie.

Als ich mein Heimweh erst einmal diagnostiziert hatte, konnte ich es durch Briefeschreiben lindern. Den Rest der Reise schrieb ich jeden Tag an meinem Journal und stellte fest, dass ich mich von Weidman entfernte und zu meinen weiblichen Mit-Campern hingezogen fühlte; nie zuvor war ich sozial so erfolgreich gewesen. Was mir gefehlt hatte, war ein halbwegs sicheres Gefühl für meine eigene Identität gewesen, ein Gefühl, in der Einsamkeit entdeckt, weil ich Worte in der ersten Person Singular zu Papier gebracht hatte.

Ich war noch jahrelang auf mehr Backpacking erpicht, doch nie erpicht genug, um es auch dazu kommen zu lassen. Das Ich, das ich durchs Schreiben entdeckte, so stellte es sich am Ende heraus, war nicht mit dem Ich von Tom identisch. Ich hielt an seinem alten Gerry-Rucksack fest, obwohl er kein sinnvolles Mehrzweck-Gepäckstück war, und träumte meinen Traum von der Wildnis weiter, indem ich für wenig Geld Campingausrüstung kaufte, die ich nicht brauchte, eine Jumboflasche Dr. Bronner’s Pfefferminzseife zum Beispiel, deren Vorteile Tom periodisch pries. Als ich zu Beginn des letzten Schuljahrs den Bus zurück ins College nahm, steckte ich Dr. Bronner’s in den Rucksack, und die Flasche platzte während der Fahrt, sodass sich meine Kleider und Bücher vollsogen. Als ich den Rucksack in einer Wohnheimdusche auszuwaschen versuchte, zerfiel das Gewebe unter meinen Händen.


Más Afuera wirkte, als sich das Boot näherte, nicht einladend. Die einzige Karte, die ich von der Insel hatte, war die ausgedruckte Seite einer Google-Earth-Aufnahme. Ich sah gleich, dass ich die Konturen wohlwollend missinterpretiert hatte. Was nach steilen Hügeln ausgesehen hatte, waren Klippen, und was nach sanften Abhängen ausgesehen hatte, waren steile Hügel. Etwa ein Dutzend Hummerfängerhütten kauerten auf dem Grund einer gewaltigen Schlucht, zu deren beiden Seiten die grünen Schultern der Insel über tausend Meter hoch in eine Schicht dräuend schäumender Wolken ragten. Die See, die während der Ausfahrt einigermaßen ruhig gewirkt hatte, peitschte in mächtigen Wogen gegen eine Felsenkluft unterhalb der Hütten. Um an Land zu kommen, sprangen die Botaniker und ich in ein Hummerboot, das sich der Küste bis auf hundert Meter näherte. Dort kippten die Bootsleute den Außenborder hoch, und wir packten ein Tau, das zu einer Bake führte, und hangelten uns weiter hinein. Als wir uns den Felsen näherten, schlingerte das Boot wüst von Seite zu Seite, Wasser flutete das Heck, während die Bootsleute sich mühten, uns an ein Kabel zu hängen, das uns reinschleppen würde. An Land waren atemberaubende Mengen Fliegen – der Spitzname des Orts ist Fliegeninsel. Aus den offenen Türen mehrerer Hütten pumpten wetteifernde Ghettoblaster nord- und südamerikanische Musik, die sich gegen die beklemmende Gewaltigkeit der Schlucht und die kalt wogende See stemmte. Eine Gruppe großer, toter Bäume hinter den Hütten, bleich wie Knochen, trug zur bedrückenden Atmosphäre noch bei.

Meine Gefährten auf dem Marsch ins Inselinnere waren der junge Parkranger Danilo und ein Maultier mit Pokerface. In Anbetracht der Steilheit der Insel konnte ich nicht einmal so tun, als wäre ich enttäuscht, mein Bündel nicht selber zu tragen. Danilo hatte sich ein Gewehr über den Rücken geschlungen, in der Hoffnung, eine jener vormals eingeschleppten Ziegen zu schießen, die das jüngste Bestreben einer holländischen Umweltorganisation, sie auszurotten, überlebt hatten. Unter grauen Morgenwolken, die sich bald in Nebel verwandelten, marschierten wir über endlose Serpentinen und durch eine üppig mit Macchie bewachsene Klamm – einer eingeführten Pflanzenart, die zur Reparatur von Hummerfallen verwendet wird. Auf dem Pfad fanden sich entmutigende Mengen von Maultiermist, doch das Einzige, was sich vor unseren Augen bewegte, waren Vögel: ein kleiner Grauflanken-Uferwipper und ein paar Juan-Fernández-Bussarde, zwei von Más Afueras insgesamt fünf landlebenden Vogelarten. Die Insel ist außerdem der einzig bekannte Brutplatz zweier interessanter Sturmvögel und eines der seltensten Singvögel der Welt, des Más-Afuera- bzw. Insel-Stachelschwanzschlüpfers, den ich zu beobachten hoffte. Tatsächlich war, als ich nach Chile aufbrach, das Beobachten neuer Vogelarten die einzige Beschäftigung, die mich zuverlässig nicht langweilte. Die Zahl der Más-Afuera-Schlüpfer, von denen die meisten in einem kleinen, hochgelegenen, Los Inocentes genannten Gebiet der Insel leben, wird mittlerweile auf nur noch fünfhundert geschätzt. Sehr wenige Menschen haben je einen gesehen.

Früher, als ich erwartet hätte, erreichten Danilo und ich La Cuchara und sahen im Nebel die Umrisse eines kleinen refugio, einer Rangerhütte. Wir waren in nur etwas mehr als zwei Stunden bis auf tausend Meter gestiegen. Ich hatte gehört, dass es ein refugio in La Cuchara gebe, hatte mir aber eine primitive Hütte darunter vorgestellt und nicht geahnt, vor welches Problem dieses refugio mich stellen würde. Sein Dach war steil und mit Spannseilen im Boden verankert, und drinnen gab es einen Propangasherd, zwei Stockbetten mit Schaumstoffmatratzen, einen unappetitlichen, aber brauchbaren Schlafsack sowie einen Vorratsschrank voll mit Nudeln und Dosen; offensichtlich hätte ich außer ein paar Jodtabletten gar nichts mitbringen müssen und hier trotzdem überlebt. Das refugio ließ mein ohnehin schon irgendwie artifizielles Projekt einsamer Selbstgenügsamkeit noch artifizieller erscheinen, und ich beschloss, so zu tun, als wäre es nicht da.

Danilo hob mein Bündel vom Maultier und führte mich über einen nebelverhangenen Pfad zu einem Bach, durch den genug Wasser rann, um einen kleinen Teich auszubilden. Ich fragte Danilo, ob man von hier nach Los Inocentes laufen könne. Er gestikulierte bergaufwärts und sagte: «Ja, es sind drei Stunden, die cordones entlang.» Ich erwog zu fragen, ob wir nicht gleich hingehen sollten, damit ich mein Lager näher bei den Más-Afuera-Schlüpfern aufschlagen könnte, aber Danilo schien es eilig zu haben, zurück zur Küste zu kommen. Er verschwand mit dem Maultier und seinem Gewehr, und ich beugte mich meinen crusoeischen Aufgaben.

Die erste bestand darin, Trinkwasser zu holen und zu reinigen. Mit einer Filtrationspumpe und einem Segeltuch-Trinkschlauch folgte ich dem, was ich für den Pfad zu dem meines Wissens nicht weiter als sechzig Meter vom refugio entfernten Teich hielt, und verirrte mich sofort im Nebel. Als ich, nachdem ich mehrere Pfade ausprobiert hatte, endlich auf den Teich gestoßen war, brach der Schlauch meiner Pumpe. Ich hatte die Pumpe zwanzig Jahre zuvor gekauft, weil ich gedacht hatte, dass sie mir doch bestimmt gelegen kommen werde, sollte ich je allein in der Wildnis sein, und bis es so weit kam, war das Gummi brüchig geworden. Ich füllte den Segeltuchschlauch mit ziemlich trübem Wasser, betrat, gegen meine Vorsätze, das refugio und goss das Wasser mit ein paar Jodtabletten in einen großen Kochtopf. Irgendwie hatte mich diese einfache Aufgabe eine Stunde gekostet.

Da ich nun schon mal im refugio war, wechselte ich meine von der Kletterei durch Tau und Nebel durchweichten Kleider und versuchte, das Innere meiner Stiefel mit dem überschüssigen Toilettenpapier, das ich gekauft hatte, zu trocknen. Ich entdeckte, dass die GPS-Einheit, das einzige Gerät, für das ich keine Ersatzbatterien dabeihatte, den ganzen Tag lang eingeschaltet gewesen war und Strom verbraucht hatte, und bekämpfte die Angst, die das in mir auslöste, indem ich mit noch mehr Klopapier-Wülsten alles Wasser und allen Schlamm vom refugio-Boden wischte. Schließlich wagte ich mich auf einen Felsvorsprung hinaus und hielt nach einem Lagerplatz jenseits der refugio-Penumbra aus Maultierkot Ausschau. Ein Bussard stieß genau über meinem Kopf herab; ein Uferwipper rief keck von einem Felsbrocken aus. Nach viel Lauferei und viel Für und Wider entschied ich mich für eine Senke, die einigermaßen Schutz vor dem Wind und keine Sicht auf das refugio bot, und dort picknickte ich Käse und Salami.

Ich war seit vier Stunden allein. Ich baute mein Zelt auf, verzurrte das Gestell an einigen Felsen, beschwerte die Heringe mit den größten Steinen, die ich tragen konnte, und kochte auf meinem kleinen Butangaskocher Kaffee. Zurück im refugio, arbeitete ich an meinem Stiefeltrocknungsprojekt, wobei ich alle paar Minuten eine Pause einlegte, um die Fliegen, die beständig hereinfanden, aus dem Fenster zu scheuchen. Offenbar konnte ich mir den Komfort des refugio so wenig abgewöhnen wie die modernen Ablenkungen, denen zu entkommen ich doch angeblich hier war. Ich holte einen weiteren Schlauchvoll Wasser und nutzte den großen Topf und den Propangasherd, um Badewasser zu erhitzen, und es war, nach meinem Bad, einfach viel angenehmer, wieder reinzugehen und mich mit dem Microfaserhandtuch abzutrocknen und mich anzuziehen, als das alles draußen in Dreck und Nebel zu tun. Und weil ich schon so kompromittiert war, machte ich weiter und trug eine der Schaumstoffmatratzen runter zum Felsvorsprung und legte sie in mein Zelt. «Aber das war’s», sagte ich laut zu mir. «Jetzt ist Schluss.»

Abgesehen vom Summen der Fliegen und dem gelegentlichen Ruf eines Uferwippers, war die Stille an meinem Lagerplatz vollkommen. Manchmal lichtete sich der Nebel ein bisschen, und ich konnte die felsigen Hänge und feuchten, farnbewachsenen Täler sehen, bevor sich der Vorhang wieder senkte. Ich holte mein Notizbuch hervor und notierte, was ich in den vergangenen sieben Stunden getan hatte: Wasser geholt, Mittag gegessen, Zelt aufgebaut, Bad genommen. Doch als ich in Erwägung zog, bekenntnishaft zu schreiben, in einer «Ich»-Stimme, stellte ich fest, dass ich mir meiner selbst dafür zu bewusst war. Offenbar hatte ich mich in den vergangenen fünfunddreißig Jahren derart daran gewöhnt, mich selbst zur Erzählung zu machen, mein Leben als Geschichte zu erleben, dass ich die Journale nur noch zur Problemlösung und zur Selbstbefragung nutzen konnte. Selbst mit fünfzehn, in Idaho, hatte ich nicht aus dem Innern meiner Verzweiflung geschrieben, sondern erst nachdem ich sie sicher überwunden hatte, und die Geschichten, die mir etwas bedeuteten, waren nun umso mehr jene, die – ausgewählt, geklärt – im Rückblick erzählt wurden.

Mein Plan für den nächsten Tag war, einen Más-Afuera-Schlüpfer zu sehen. Allein das Wissen darum, dass es den Vogel hier gab, machte die Insel für mich interessant. Wenn ich losziehe, um neue Vogelarten zu beobachten, suche ich nach einer zumeist verlorenen Authentizität, nach den Überbleibseln einer Welt, die jetzt großteils von Menschen überlaufen ist, uns aber noch immer wunderbar gleichgültig gegenübersteht; einen seltenen Vogel zu erspähen, der irgendwie an seinem Leben aus Brüten und Füttern festhält, ist eine dauerhaft transzendente Freude. Ich beschloss, im Morgengrauen aufzustehen und, wenn nötig, den ganzen Tag dafür aufzuwenden, nach Los Inocentes zu finden und zurück. Von der Aussicht auf diese nicht wenig anspruchsvolle Aufgabe ermuntert, machte ich mir eine Schüssel Chili und zog, obwohl das Tageslicht noch nicht geschwunden war, den Reißverschluss zu. Auf der sehr bequemen Matratze, in einem Schlafsack, den ich seit der Highschool besaß, und mit einer Lampe auf der Stirn, legte ich mich hin, um Robinson Crusoe zu lesen. Zum ersten Mal an diesem Tag war ich glücklich.


Einer der ersten großen Fans von Robinson Crusoe war Jean-Jacques Rousseau. Er empfahl den Roman, in Émile, als Grundlagentext für die Kindererziehung. In der feinen Tradition französischer Verhunzung hatte Rousseau nicht den vollständigen Text im Sinn, sondern nur den langen zentralen Abschnitt, in dem Robinson erzählt, wie er ein Vierteljahrhundert lang allein auf einer einsamen Insel überlebt. Wenige Leser würden bestreiten, dass dies der fesselndste Teil des Romans ist, neben dem Robinsons Abenteuer davor und danach (er wird von einem türkischen Piraten versklavt, wehrt die Angriffe riesiger Wölfe ab) routiniert und glanzlos wirken. Zum Teil liegt der Reiz der Geschichte in der Genauigkeit von Robinsons Bericht: den «drei Hüten, einer Mütze und zwei ungleichen Schuhen», die alles sind, was von seinen ertrunkenen Schiffskameraden übrig ist, dem Katalog nützlicher Dinge, die er aus dem Wrack birgt, den Schwierigkeiten der Pirsch auf die verwilderten Ziegen, die die Insel bewohnen, den Einzelheiten der Neuerfindung von Möbeln, Booten, Töpferwaren und Brot. Doch was diese abenteuerlosen Abenteuer wirklich lebendig und verblüffend spannend macht, ist der Umstand, dass der durchschnittliche Leser sie sich so gut vorstellen kann. Ich habe keine Ahnung, was ich täte, würde ich von einem Türken versklavt oder von Wölfen bedroht; sehr gut möglich, dass ich zu große Angst hätte, um zu tun, was Robinson tut. Aber von seinen praktischen Lösungen für Probleme wie Hunger und Schutzlosigkeit und Krankheit und Einsamkeit zu lesen heißt, in die Erzählung eingeladen zu werden und mir vorzustellen, was ich getan hätte, wäre ich ebenso gestrandet, und meine eigene Ausdauer und Findigkeit und Emsigkeit an der Robinsons zu messen. (Ich bin sicher, mein Vater hat das auch getan.) Bis die größere Welt in Gestalt marodierender Kannibalen über die Einsamkeit der Insel hereinbricht, gibt es nur uns beide, Robinson und seinen Leser, und es ist sehr behaglich. In einer actionreicheren Erzählung wären die Seiten, die Robinsons alltägliche Verrichtungen und Gefühle schildern, wohl etwas, was der Kritiker Franco Moretti trocken «Füllsel» genannt hat. Doch die dramatische Entfaltung dieser Art «Füllsel» war, wie Moretti feststellt, eben Defoes große Innovation; solche Geschichten des Alltäglichen wurden zum Inventar realistischer Literatur, bei Austen und Flaubert wie bei Updike und Carver.

Die Gestaltung und teilweise Durchdringung von Defoes «Füllseln» ist schon zuvor Gegenstand großer Formen der Prosaerzählung gewesen: klassischer hellenistischer Romane, die Geschichten von Schiffbrüchen und Versklavungen enthielten; spiritueller Biographien des Katholizismus und Protestantismus; Romanzen aus dem Mittelalter und der Renaissance und spanischer Pikaroromane. Defoes Roman steht außerdem in einer Tradition von Erzählungen oder Pamphleten, die auf dem Leben bekannter Persönlichkeiten basieren oder das zumindest vorgeben; in Crusoes Fall war Alexander Selkirk das Vorbild. Es ist sogar behauptet worden, dass Defoe mit dem Roman ein Stück utopistischer Propaganda bezweckt hat und die religiösen Freiheiten und das wirtschaftliche Potenzial von Englands neuweltlichen Kolonien pries. Die Heterogenität von Robinson Crusoe macht deutlich, wie problematisch, vielleicht sogar absurd es ist, vom «Aufstieg des Romans» zu reden und Defoes Werk als Erstes seiner Art zu beschreiben. Schließlich ist Don Quijote, mehr als ein Jahrhundert zuvor veröffentlicht, offenkundig ein Roman. Und warum sollte man nicht auch die Romanzen Romane nennen, wurden sie doch im 17. Jahrhundert weithin publiziert und gelesen, weshalb die meisten europäischen Sprachen bis heute nicht zwischen Romanze und Roman unterscheiden. Frühe englische Romanciers haben oft ausdrücklich betont, dass ihre Werke keine «bloßen Romanzen» seien; andererseits hatten das schon die Romanzenschreiber selbst getan. Und doch, ab dem frühen 19. Jahrhundert, als die maßgeblichen Vertreter der Form erstmals in verbindlichen Ausgaben von Walter Scott und anderen gesammelt wurden, hatten die Engländer nicht nur eine sehr genaue Vorstellung davon, was sie mit «novels» meinten, sondern exportierten auch viele von ihnen in Übersetzungen in andere Länder. Was also genau ist ein Roman, und warum tauchte das Genre auf, als es auftauchte?

Die überzeugendste Erklärung bleibt die politisch-ökonomische, die Ian Watt vor fünfzig Jahren vorgebracht hat. Die Geburtsstätte des Romans in seiner modernen Form ist nämlich zufällig Europas ökonomisch führende und höchstentwickelte Nation, und Watts Analyse dieser Koinzidenz ist schonungslos, aber beeindruckend. Er verbindet die Verherrlichung des tätigen Individuums, die Entwicklung eines gebildeten Bürgertums, das begierig war, von sich selbst zu lesen, die zunehmende soziale Mobilität (die Schriftsteller dazu veranlasste, die damit einhergehenden Ängste zu verwerten), die Spezialisierung von Arbeit (die eine Gesellschaft interessanter Unterschiede schuf), den Zerfall der alten sozialen Ordnung hin zu einem Sammelbecken individuell Isolierter und, natürlich, die dramatische Zunahme von freier Zeit zum Lesen. Gleichzeitig wurde England rapide säkularer. Die protestantische Theologie hatte die Grundlagen für die neue Wirtschaft gelegt, indem sie die soziale Ordnung als Ansammlung eigenverantwortlicher Individuen mit direkter Beziehung zu Gott neu entwarf; ab 1700 jedoch, als die britische Wirtschaft florierte, war es immer weniger gewiss, ob diese Individuen Gott überhaupt brauchten. Es stimmt, dass, wie jeder ungeduldige kindliche Leser bestätigen kann, viele Seiten von Robinson Crusoe der spirituellen Reise seines Helden gewidmet sind. Auf der Insel findet Robinson Gott, und in Momenten der Krise wendet er sich wiederholt an ihn, betet um Errettung und dankt ihm ekstatisch für die Bereitstellung des dazu Nötigen. Und doch, kaum ist die Krise überstanden, kehrt er jedes Mal zu seinem praktischen Selbst zurück und denkt nicht mehr an Gott; am Ende des Buchs scheinen es eher sein Fleiß und seine Findigkeit gewesen zu sein, die ihn gerettet haben, als die Vorsehung. Die Geschichte von Robinsons Schwanken und seiner Vergesslichkeit zu lesen heißt, nachzuvollziehen, wie sich das Genre der spirituellen Autobiographie auflöst und in realistische Literatur übergeht.

Der interessanteste Aspekt bei der Frage nach dem Ursprung des Romans könnte die Evolution der Lösungen sein, die die englische Kultur für das Problem der Plausibilität gefunden hat: Sollte man eine seltsame Geschichte für wahr halten, weil sie seltsam war, oder sollte ihre Seltsamkeit als Beweis dafür genommen werden, dass sie nicht stimmte? Die Aufregungen um die Frage sind uns noch vertraut (man denke an den Skandal um James Freys sogenannte Erinnerungen), und bestimmt waren sie auch 1719 im Spiel, als Defoe den ersten und bekanntesten Band des Robinson Crusoe veröffentlichte. Der wahre Name des Autors tauchte darin nirgends auf. Das Buch wurde stattdessen als Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe … Geschrieben von ihm selbst bezeichnet, und viele seiner ersten Leser hielten es für eine nicht ausgedachte Geschichte. Genug andere Leser jedoch bezweifelten ihre Authentizität, sodass sich Defoe, als er im Jahr darauf den dritten und letzten Band veröffentlichte, genötigt sah, ihre Wahrhaftigkeit zu verteidigen. Er bestand darauf, dass im Gegensatz zu den Romanzen, in denen «die Geschichte vorgetäuscht» sei, seine Geschichte, «obschon allegorisch, auch historisch ist», und bestätigte, dass «da ein Mann am Leben ist, und wohlbekannt zudem, dessen Taten billigerweise der Stoff dieser Bände sind». Angesichts dessen, was wir über Defoes wirkliches Leben wissen – wie Crusoe geriet er durch riskante Geschäfte wie die Aufzucht von Zibetkatzen zur Parfümherstellung in Schwierigkeiten, gründliche Erfahrungen mit der Einsamkeit hatte er im Schuldgefängnis gesammelt, in das ihn der Bankrott zweimal brachte –, und auch angesichts seiner Versicherung andernorts im selben Band, dass «das Leben im Allgemeinen nur ein universaler Akt der Einsamkeit ist oder sein sollte», scheint der Schluss, dass der «wohlbekannte» Mann Defoe selber ist, gerechtfertigt. (Bemerkenswerterweise enden beider Namen auf «oe».) Heute begreifen wir den Roman als Abbild eines Wachtraums des Autors, und in Defoes versuchsweiser Behauptung einer weniger als strikt historischen Wahrheit lässt sich eine entscheidende Wendung hin zu diesem Verständnis erkennen – der «Wahrheit» des Romanciers. In ihrem Essay «The Rise of Fictionality» beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Catherine Gallagher ein mit solcher Art Wahrheit verbundenes, sonderbares Paradox: Im 18. Jahrhundert hörten die Schriftsteller (mehr oder weniger angefangen mit Defoe) nicht nur auf zu behaupten, ihre Erzählungen seien nicht erfunden; sondern sie gaben sich auch große Mühe, ihre Erzählungen nicht länger erfunden wirken zu lassen – Plausibilität wurde Pflicht. Gallaghers Erklärung für dieses Paradox weist auf einen weiteren Aspekt der Moderne hin, die Notwendigkeit nämlich, Risiken einzugehen. Sobald ein Geschäft auf Investitionen angewiesen war, musste man diverse mögliche Ergebnisse gegeneinander abwägen; sobald Ehen nicht länger arrangiert wurden, musste man auf die Vorzüge potenzieller Partner spekulieren. Und der Roman, wie er sich im 18. Jahrhundert entwickelte, stellte seinen Lesern ein Spielfeld zur Verfügung, das spekulativ und zugleich risikofrei war. Während der Roman seine Fiktionalität ausstellte, waren seine Protagonisten einerseits typisch genug, um als mögliche Versionen des eigenen Ichs erfahren zu werden, und andererseits spezifisch genug, um zugleich nicht ich zu sein. Die große literarische Erfindung des 18. Jahrhunderts war also nicht bloß eine Gattung, sondern vielmehr eine Haltung zu dieser Gattung. Die Geisteshaltung, mit der wir heute einen Roman aufschlagen – unser Wissen darum, dass es sich um ein Werk der Imagination handelt, unser willentliches Außerkraftsetzen des Zweifels –, macht tatsächlich zur Hälfte das Wesen des Romans aus.

Eine Reihe neuerer Untersuchungen hat die alte Auffassung, das Epos sei zentraler Bestandteil aller, auch der oralen Kulturen untergraben. Literatur, ob Märchen oder Fabel, scheint hauptsächlich etwas für Kinder gewesen zu sein. In vormodernen Kulturen wurden Geschichten um der Information oder der Erbauung oder um des Kitzels willen gelesen, und die anspruchsvolleren literarischen Formen, Dichtung und Drama, bedurften eines gewissen technischen Könnens. Der Roman jedoch lag für jeden, der Stift und Papier hatte, in Reichweite, und das Vergnügen, das er bereitete, war einzigartig und modern. Eine erfundene Geschichte zu durchleben, nur weil es Spaß machte, wurde zu einem Vergnügen, dem sich nun auch Erwachsene nach Belieben hingeben konnten (wenngleich auch manchmal mit Schuldgefühlen). Der historische Wandel hin zum Lesen aus Vergnügen war derart tiefgreifend, dass wir ihn heute kaum noch erkennen können. Weil der Roman subgenerisch in Filme und Fernsehshows und Videospiele gewuchert ist – von denen die meisten ihre Fiktionalität betonen, allesamt aber Figuren präsentieren, die zugleich typisch und spezifisch sind –, ist es tatsächlich wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass es die Saturiertheit in Sachen Unterhaltung ist, die unsere Kultur von allen vorangegangenen Kulturen unterscheidet. Der Roman, als Dualität von Sache und Haltung-zur-Sache, hat unsere Haltung so gründlich verändert, dass die Sache selbst Gefahr läuft, nicht länger gebraucht zu werden.

Auf Más Afueras Schwesterinsel – ursprünglich Más Atierra, Näher am Land, nun aber Robinsón Crusoe genannt – hatte ich gesehen, welchen Schaden ein Trio von Festlandpflanzen – Macchie, Guave und Brombeere – anrichtet, das ganze Anhöhen und Stromgebiete monokulturell überrennt. Besonders bösartig sah die Brombeere aus, die selbst hohe einheimische Bäume erdrosseln kann und sich unter anderem verbreitet, indem sie Ausläufer abschießt, die wie dornige Glasfaserkabel aussehen. Zwei einheimische Pflanzenarten sind bereits ausgestorben, und ohne eine massive Renaturierungsmaßnahme werden viele weitere folgen. Unterwegs auf der Insel Robinsón, nach zarten einheimischen Pflanzen an den Brombeerrändern suchend, begann ich, den Roman als einen Organismus zu begreifen, der auf der Insel England zu einem virulenten Invasiv mutiert war und sich von Land zu Land ausgebreitet hatte, bis der Planet erobert war.

In Joseph Andrews spricht Henry Fielding von seinen Figuren als «Arten» – als etwas, das mehr ist als individuell und weniger ist als universell. Aber so wie der Roman die kulturelle Umwelt verändert hat, sind menschliche Arten einer universellen Masse aus Individuen gewichen, deren hervorstechendes Merkmal es ist, identisch unterhalten zu werden. Das war das monokulturelle Monster, das David in seinem monumentalen Roman Unendlicher Spaß hatte kommen sehen und gegen das Widerstand zu leisten er ausgezogen war. Und die Form seines Widerstands in diesem Roman – Anmerkung, Abschweifung, Nichtlinearität, Hyperverlinkung – nahm den sogar noch virulenteren und sogar noch radikaler individualistischen Eroberer vorweg, der jetzt den Roman und dessen Nachkommen ersetzt. Die Brombeere auf der Insel Robinsón Crusoe war wie der Eroberer Roman, ja, aber nicht weniger kam sie mir wie das Internet vor, dieses BlackBerry-geborene Invasiv, das, statt das Ich über eine Erzählung zu legen, das Ich über die Welt legt. Statt der Nachrichten: meine Nachrichten. Statt eines einzigen Fußballspiels: fünfzehn verschiedene, aufgesplittet in die Statistik einer personalisierten Phantasie-Liga. Statt Der Pate: «Meine Katze macht ein lustiges Kunststück.» Das Individuum läuft Amok, jedermann ein Charlie Sheen. In Robinson Crusoe war das Ich eine Insel geworden, und jetzt, so sah es aus, wurde die Insel die Welt.


In der Nacht wachte ich auf, weil die Zeltplane gegen meinen Schlafsack schlug; ein heftiger Wind war aufgekommen. Ich verstöpselte meine Ohren, konnte das Schlagen aber noch hören und, später, ein lautes Klatschen. Als es endlich Tag wurde, fand ich mein Zelt teilweise zerlegt, ein Teil der Zeltstange baumelte vom Vordach. Der Wind hatte die Wolken unter mir zerstreut und den Blick auf den Ozean geöffnet, staunenswert nah, der Morgen dämmerte rötlich über dem bleiernen Wasser. Mit der besonderen Effizienz, die ich auf der Suche nach einem seltenen Vogel aufbringen kann, frühstückte ich schnell, verstaute Funkgerät und Satellitentelefon und genug Proviant für zwei Tage in meinem Rucksack und faltete, weil der Wind so stark war, in letzter Minute mein Zelt zusammen und beschwerte seine Ecken mit großen Steinen, damit es nicht fortwehte. Die Zeit war knapp – die Morgen sind tendenziell klarer als die Nachmittage –, doch am refugio zwang ich mich zu einem Zwischenstopp und markierte dessen Koordinaten auf dem GPS, bevor ich bergauf eilte.

Der Más-Afuera-Schlüpfer ist der größere, trister gefiederte Vetter des Stachelschwanzschlüpfers, eines bemerkenswerten Vogels, den ich in mehreren Wäldern auf dem chilenischen Festland gesehen hatte, bevor ich auf die Inseln kam. Wie eine so kleine Art achthundert Kilometer vor der Küste landen konnte, zahlreich genug, um sich zu vermehren und weiterzuentwickeln, wird für immer ein Rätsel bleiben. Die Más-Afuera-Art braucht unberührten Farnwald, und ihre Population, nie groß, scheint kleiner zu werden, vielleicht weil die Vögel, wenn sie auf dem Boden brüten, leichte Beute für die eingeschleppten Ratten und Katzen sind. (Más Afuera von Nagern zu befreien würde das Einfangen und Sichern der kompletten Bussard-Population auf der Insel voraussetzen, damit danach über Hubschrauber die Felsenlandschaft mit Giftködern gespickt werden könnte, zu Gesamtkosten von vielleicht fünf Millionen Dollar.) Mir war gesagt worden, in seinem Habitat sei der Más-Afuera-Schlüpfer nicht schwer zu entdecken; die Schwierigkeit bestehe darin, das Habitat zu erreichen.

Die Höhenlagen der Insel waren noch wolkenverhangen, aber ich hoffte, dass der Wind bald für klare Sicht sorgen würde. Soweit ich das anhand meiner Karte beurteilen konnte, musste ich bis auf elfhundert Meter steigen, um zwei tiefe Schluchten, die südlich den Weg nach Los Inocentes versperrten, zu umgehen. Dass der reine Höhengewinn meiner Wanderung bei null liegen würde, heiterte mich auf, kaum hatte ich jedoch das refugio hinter mir gelassen, schloss sich die Wolkendecke wieder. Die Sicht sank auf unter hundert Meter, und bald hielt ich alle zehn Minuten an, um meinen Standort elektronisch zu markieren, wie Hänsel, der im Wald Brotkrumen verstreut. Eine Weile hielt ich mich an einen von Maultierkot markierten Pfad, aber der Boden wurde bald zu steinig und zu sehr von Ziegenspuren vernarbt, als dass ich mir hätte sicher sein können, noch auf dem richtigen Weg zu sein.

Auf elfhundert Metern wandte ich mich nach Süden, schlug mich durch dichte, triefende Farne und fand meinen Weg von einem Wasserlauf blockiert, der zu diesem Zeitpunkt eigentlich unter mir hätte sein sollen. Ich studierte die Karte, aber ihre Google-Earth-Schraffuren waren kein bisschen weniger vage geworden, seit ich sie das letzte Mal studiert hatte. Ich versuchte, mich seitwärts an den Flanken der Schlucht voranzuarbeiten, doch unter der Farndecke verbargen sich glitschige Felsen und tiefe Löcher, und der Hang schien, soweit ich das im Nebel beurteilen konnte, steiler zu werden, also machte ich kehrt und kämpfte mich zurück auf den Kamm, wobei ich mich mit dem GPS orientierte. Nach einer Stunde Suche war ich völlig durchnässt und kaum mehr als dreihundert Meter von meinem Ausgangspunkt entfernt.

Ein Blick auf die Karte, die dabei sehr nass wurde, erinnerte mich an das unbekannte Wort, das Danilo benutzt hatte. Cordones: Das musste Gebirgskamm heißen! Ich sollte den Kämmen folgen! Nur noch innehaltend, um elektronische Brotkrumen zu streuen, stürmte ich wieder bergauf, bis ich eine solarbetriebene Funkantenne erreichte, vermutlich auf einem der Gipfel. Der Wind, jetzt stärker, blies Wolken über die Rückseite der Insel, die, wie ich wusste, aus Klippen besteht, die tausend Meter tief zur Robbenkolonie hin abfallen. Sehen konnte ich sie nicht, aber der bloße Gedanke an ihre Nähe ließ mich schwindeln; ich habe große Angst vor Klippen.

Zum Glück war der cordón südlich der Antenne einigermaßen eben, und es fiel mir nicht allzu schwer, mir einen Weg zu suchen, selbst bei starkem Wind und einer Sicht nahe null. Eine halbe Stunde lang kam ich gut voran, begeistert, dass ich aus knapper Information den richtigen Weg nach Los Inocentes erschlossen hatte. Schließlich aber teilte sich der Kamm und stellte mich vor die Wahl, entweder einer höher oder einer tiefer gelegenen Route zu folgen. Die Karte deutete ziemlich klar darauf hin, dass ich auf tausend Metern sein sollte, nicht auf zwölfhundert. Doch als ich im Versuch, meine Höhe zu verringern, den tiefer gelegenen Kammwegen folgte, landete ich an übelkeiterregend steilen Abhängen. Ich kehrte auf den höher gelegenen Kammweg zurück, der außerdem den Vorzug hatte, geradewegs südlich in Richtung Los Inocentes zu führen, und freute mich, als er schließlich abfiel.

Mittlerweile war das Wetter richtig schlecht, der Nebel hatte sich in Regen verwandelt und blies horizontal, mit Windböen von über sechzig Stundenkilometern. Während ich mir meinen Weg den Kamm hinab suchte, wurde der beängstigend enger und enger, bis eine schmale Felsnadel ihn gänzlich versperrte. Ich konnte mehr oder weniger gut erkennen, dass der Kammweg dahinter weiter abwärts führte, wenn auch sehr steil. Aber wie um den Felsen herum kommen? Wenn ich mich um seine Leeseite hangelte, riskierte ich, von einer Bö erfasst und hinuntergeweht zu werden. Und auf der Windseite ging es, soweit ich wusste, blanke tausend Meter in die Tiefe; aber wenigstens würde mich der Wind dort gegen den Felsen drücken statt mich von ihm wegzureißen.

In meinen regendurchtränkten Stiefeln hangelte ich mich an der Windseite entlang, jeden Tritt und jeden Griff zweimal prüfend, bevor ich ihm vertraute. Während ich vorwärtskroch und ein wenig weiter sehen konnte, kam mir der Kammweg jenseits der Felsnadel mehr und mehr wie eine neue Sackgasse vor, nichts als dunkler Raum dahinter und zu beiden Seiten. Auch wenn ich fest entschlossen war, den Más-Afuera-Schlüpfer zu finden, kam doch der Moment, in dem ich mich vor dem nächsten Schritt fürchtete, und plötzlich konnte ich mich selber sehen: mit ausgestreckten Armen und Beinen gegen eine glatte Felswand gepresst, in blendendem Regen und grimmigem Wind, ohne die Garantie, dass ich überhaupt in die richtige Richtung ging. Ein Satz, so klar, dass er beinahe wie gesprochen schien, schoss mir in den Kopf: Was du da machst, ist extrem gefährlich. Und ich dachte an meinen toten Freund.

David schrieb so gut über das Wetter wie jeder andere, der je Worte zu Papier gebracht hat, und seine Hunde hat er unverfälschter geliebt als irgendetwas oder irgendjemanden sonst, aber die Natur selbst hat ihn nicht interessiert, und Vögel waren ihm völlig egal. Einmal, als wir mit dem Auto in der Nähe von Stinson Beach unterwegs waren, in Kalifornien, hielt ich an, um ihm einen Fernglasblick auf einen Rostbrachvogel zu gönnen, eine Art, deren Herrlichkeit sich in meinen Augen ganz von allein erschließt. David schaute zwei Sekunden lang durch das Glas, bevor er sich offenkundig gelangweilt abwandte. «Yeah», sagte er mit seinem charakteristischen Tonfall leerer Höflichkeit, «er ist schön.» In dem Sommer, bevor er starb, saß ich mit ihm auf seiner Veranda, und während er Zigaretten rauchte, konnte ich meinen Blick nicht von den Kolibris abwenden, die sein Haus umschwirrten, und war traurig, dass er es konnte. Wenn er seinen schwer medikamentierten Mittagsschlaf hielt, lernte ich für eine bevorstehende Reise die Vogelarten von Ecuador auswendig, und ich begriff, dass der Unterschied zwischen seinem unbeherrschbaren Elend und meiner beherrschbaren Unzufriedenheit darin lag, dass ich mir selbst in der Freude an den Vögeln entkommen konnte und er sich nicht.

Er war krank, ja, und in gewisser Weise ist die Geschichte meiner Freundschaft mit ihm einfach die, dass ich einen Menschen liebte, der psychisch krank war. Die depressive Person brachte sich dann um, auf eine Art, die jenen, die er am meisten liebte, größtmöglichen Schmerz zufügen sollte, und wir, die wir ihn liebten, blieben zurück, zornig und mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein. Betrogen nicht nur, weil wir mit der Liebe, die wir investiert hatten, gescheitert waren, sondern auch, weil sein Selbstmord ihn uns wegnahm und aus dem Menschen eine öffentliche Legende machte. Leute, die nie ein Buch von ihm gelesen oder die nicht einmal von ihm gehört hatten, lasen im Wall Street Journal seine am Kenyon College gehaltene Abschlussrede und beklagten den Verlust einer großen und sanften Seele. Ein literarisches Establishment, das nie auch nur eines seiner Bücher für einen Staatspreis nominiert hatte, erklärte ihn nun einmütig zu einem verlorenen Nationalheiligtum. Natürlich war er ein Nationalheiligtum und «gehörte», weil er ein Schriftsteller war, seinen Lesern nicht weniger als uns. Aber auch wenn man zufällig wusste, dass sein eigentliches Wesen viel komplexer und dubioser war als das, wofür er gerühmt wurde, und wenn man zudem wusste, dass er viel liebenswerter war – witziger, alberner, bedürftiger, gequälter im Krieg mit seinen Dämonen, verlorener, auf kindliche Art durchsichtiger in seinen Lügen und Widersprüchen – als der Künstler/Heilige, der aus ihm gemacht wurde, war es immer noch schwer, sich nicht verletzt zu fühlen von dem Teil in ihm, der die Vergötterung durch Fremde der Liebe der Menschen, die ihm am nächsten standen, vorgezogen hatte.

Die Menschen, die David am wenigsten kannten, sprechen am ehesten in Begriffen der Heiligkeit von ihm. Was insofern besonders seltsam ist, als die gewöhnliche Liebe in seiner Literatur fast gar nicht vorkommt. Enge, liebevolle Beziehungen, die für die meisten von uns eine fundamentale Quelle von Sinn sind, haben im Wallace-Literaturuniversum keinen Platz. Was wir stattdessen vorgesetzt kriegen, sind Figuren, die ihre herzlosen Zwänge vor denen, die sie lieben, verbergen; Figuren, die Ränke schmieden, um liebevoll zu erscheinen oder sich selbst zu beweisen, dass das, was sich wie Liebe anfühlt, eigentlich bloß getarntes Eigeninteresse ist; oder, bestenfalls, Figuren, die eine abstrakte oder spirituelle Liebe für jemanden empfinden, der zutiefst abstoßend ist – die Kranialflüssigkeit tropfende Frau in Unendlicher Spaß, der Psychopath im letzten der Interviews mit fiesen Männern. Davids Literatur ist von Heuchlern und Manipulatoren und emotional Isolierten bevölkert, und doch nahmen die Menschen, die nur flüchtigen oder förmlichen Kontakt mit ihm hatten, seine ziemlich bemühte Hyperfreundlichkeit für bare Münze.

Das Seltsame aber ist, wie ernst genommen und getröstet, wie geliebt sich seine treuesten Leser fühlen, wenn sie Davids Literatur lesen. In dem Maß, in dem jeder oder jede von uns auf seiner oder ihrer existenziellen Insel gestrandet ist – und ich denke, es ist annähernd korrekt zu sagen, dass seine empfänglichsten Leser jene sind, die mit den sozial und seelisch isolierenden Folgen von Sucht oder Zwanghaftigkeit oder Depression vertraut sind –, greifen wir dankbar nach jeder neuen Depesche von dieser am weitesten entfernten Insel, die David war. Auf der Inhaltsebene gab er uns sein Schlechtestes: Mit einem Ausmaß an Selbstzerfleischung, das den Vergleich mit Kafka und Kierkegaard und Dostojewski verdient, legte er die Extreme seines eigenen Narzissmus, seiner Misogynie, seiner Zwanghaftigkeit, seines Selbstbetrugs, seines entmenschten Moralisierens und Theologisierens, seines Zweifels an der Möglichkeit der Liebe und seine Verstrickung in eine Fußnote-zur-Fußnote-Selbstbewusstheit bloß. Auf formaler und intentionaler Ebene jedoch wird genau dieser Katalog der Zweifel an seiner eigenen authentischen Güte vom Leser als ein Geschenk authentischer Güte angenommen: Wir spüren die Liebe in der Realität seiner Kunst und lieben ihn dafür.

David und ich pflegten eine Freundschaft des Vergleichs und des Gegensatzes und (auf eine brüderliche Art) der Rivalität. Ein paar Jahre, bevor er starb, signierte er seine beiden neuesten Bücher für mich. Auf dem Titelblatt des einen fand ich hinterher den nachgezeichneten Umriss seiner Hand; auf dem Titelblatt des anderen war der Umriss einer so gewaltigen Erektion, dass sie über die Seite hinausragte, versehen mit einem kleinen Pfeil und der Bemerkung «Maßstab 100%». In Gegenwart eines Mädchens, mit dem er ausging, habe ich ihn einmal begeistert die Freundin von jemand anderem als sein «Paragon der Weiblichkeit» beschreiben hören. Davids Mädchen legte eine wunderbare Spätzündung hin und sagte: «Was?» Woraufhin David, dessen Wortschatz so groß war wie der keines anderen in der westlichen Hemisphäre, tief Luft holte, sie wieder ausstieß und sagte: «Ich stelle gerade fest, dass ich keine Ahnung habe, was das Wort Paragon eigentlich bedeutet.»

Er war liebenswert, wie ein Kind liebenswert ist, und er konnte Liebe mit kindlicher Reinheit erwidern. Wenn die Liebe dennoch aus seinem Werk verbannt ist, dann weil er nie recht das Gefühl hatte, sie zu verdienen. Er war lebenslang gefangen auf der Insel seiner selbst. Was aus der Ferne nach sanften Konturen aussah, waren tatsächlich steile Klippen. Manchmal war nur ein bisschen von ihm verrückt, manchmal beinahe alles, doch war er, als Erwachsener, nie ganz nicht verrückt. Was er von seinem Es gesehen hatte, als er mit Hilfe von Drogen und Alkohol aus seinem Inselgefängnis auszubrechen versucht hatte, nur um sich durch die Sucht noch mehr als Gefangener zu fühlen, scheint nie aufgehört zu haben, seinen Glauben an die eigene Liebenswürdigkeit zu zersetzen. Selbst nachdem er clean war, selbst Jahrzehnte nach seinem jugendlichen Selbstmordversuch, selbst nachdem er sich langsam und heldenhaft ein eigenes Leben aufgebaut hatte, fühlte er sich wertlos. Und dieses Gefühl verband sich, am Ende bis zur Ununterscheidbarkeit, mit dem Gedanken an Selbstmord, der der sichere Weg aus seiner Gefangenschaft war; sicherer als Sucht, sicherer als Literatur, sicherer, schließlich, als Liebe.

Wir, die wir uns nicht so pathologisch weit draußen im Spektrum der Selbstverstrickung befanden, wir Bewohner des sichtbaren Spektrums, die wir uns zwar vorstellen konnten, wie es sich anfühlt, über Violett hinauszugehen, aber selbst nicht darüber hinaus waren, konnten sehen, dass David unrecht hatte, nicht an seine Liebenswürdigkeit zu glauben, und konnten uns den Schmerz vorstellen, den das verursachte. Wie leicht und natürlich ist die Liebe, wenn man gesund ist! Und wie grauenvoll schwierig – was für eine philosophisch ernüchternde Vorrichtung aus Selbstsucht und Selbsttäuschung die Liebe doch zu sein scheint –, wenn man es nicht ist! Und doch, eine der Lehren von Davids Werk (und, für mich, von seiner Freundschaft) ist, dass der Unterschied zwischen gesund und nicht gesund in mehr als einer Hinsicht nicht kategorial, sondern graduell ist. Auch wenn David über meine viel milderen Abhängigkeiten lachte und mir gern erzählte, dass ich nicht einmal ermessen könne, wie gemäßigt ich sei, so kann ich von diesen Abhängigkeiten und der Heimlichtuerei und dem Solipsismus und der radikalen Isolation und der rohen tierischen Gier, die sie begleiten, doch auf das Extrem der seinen schließen. Ich kann mir die kranken mentalen Bahnen vorstellen, auf denen der Selbstmord zu dem einen, das Bewusstsein auslöschenden Stoff wird, den einem niemand nehmen kann. Der Wunsch, etwas außer anderen Menschen zu haben, der Wunsch nach einem Geheimnis, der Wunsch nach einer letzten verzweifelten narzisstischen Bestätigung der Vorrangstellung des Ichs, und dann der lüsterne Selbsthass im Vorgefühl des letzten großen Treffers und der finale Abbruch des Kontakts mit einer Welt, die einem den Spaß an der selbstbezogenen Freude verweigert: Bis dahin kann ich David folgen.

Es ist, zugegeben, schwerer, die infantile Wut und die dislozierten mörderischen Impulse nachzuvollziehen, die in gewissen Umständen seines Todes sichtbar werden. Doch sogar hier kann ich eine Wallace-Zerrspiegel-Logik erkennen, eine perverse Sehnsucht nach intellektueller Aufrichtigkeit und Konsequenz. Um den Tod, zu dem er sich selbst verurteilt hatte, auch zu verdienen, musste die Vollstreckung des Urteils jemanden tief verletzen. Um ein für alle Mal zu beweisen, dass er es wahrhaft nicht verdiente, geliebt zu werden, war es nötig, die, die ihn am meisten liebten, so abscheulich wie möglich zu hintergehen, indem er sich zu Hause umbrachte und sie damit zu unmittelbaren Zeugen seiner Tat machte. Und das Gleiche galt für den Selbstmord als Karriereschritt, der von jener Sorte bewunderungheischender Berechnung war, für die er sich verachtete und derer sich bewusst zu sein er (wenn er denn glaubte, damit durchzukommen) leugnen würde, um dann (wenn man ihn darauf festnagelte) lachend oder sich windend zuzugeben, dass er, yeah, okay, zu so etwas fähig sei. Ich stelle mir vor, dass die Seite von David, die für die Kurt-Cobain-Route plädierte, mit der verführerisch vernünftigen Stimme des Satans aus der Dienstanweisung für einen Unterteufel, einem von Davids Lieblingsbüchern, darlegte, dass der Tod durch eigene Hand zugleich seinen ekelhaften Hunger nach beruflichem Fortkommen stillen und darüber hinaus die Rechtmäßigkeit des Todesurteils bestätigen würde, da der Selbstmord eine Kapitulation vor der Seite seiner selbst bedeutete, die seine bedrängte gute Seite als böse begriff.

Das soll nicht heißen, dass er seine letzten Monate und Wochen im lebhaften intellektuellen Dialog mit sich selbst verbrachte, à la Dienstanweisung oder Großinquisitor. Er war, gegen Ende, so krank, dass jeder neue aufkeimende Gedanke, den er hatte, egal zu welchem Thema, sich sogleich zur immerselben Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit verdrehte und ihm fortwährend Grauen und Schmerz verursachte. Und doch war einer seiner liebsten Tropen, besonders deutlich artikuliert in seiner Erzählung «In alter Vertrautheit» und in seiner Abhandlung über Georg Cantor, die unendliche Teilbarkeit eines einzelnen Augenblicks in der Zeit. Wie kontinuierlich er in seinem letzten Sommer auch litt, in den Fugen seiner identisch schmerzvollen Gedanken war immer noch jede Menge Raum, um die Idee des Selbstmords abzuwägen, durch deren Logik zu rasen und die praktischen Pläne zur Umsetzung (von denen er schließlich wenigstens vier machte) in Gang zu bringen. Wenn man beschließt, etwas sehr Schlechtes zu tun, gewinnen Absicht und Abwägung gleichzeitig und fertig ausgeformt sofort Gestalt; jeder Abhängige, der drauf und dran ist, rückfällig zu werden, kann ein Lied davon singen. Obwohl es schmerzhaft war, über den eigentlichen Selbstmord nachzudenken, wurde er – um auf noch eine Erzählung Davids anzuspielen – eine Art Geschenk an sich selbst.

Bewundernde öffentliche Darstellungen Davids, die seinen Selbstmord als Beweis dafür nehmen, dass (wie Don McLean über van Gogh gesungen hat) «this world was never meant for one as beautiful as you», setzen einen ganzheitlichen David voraus, einen wunderbaren und höchst begnadeten Menschen, der, nachdem er das Antidepressivum Nardil nach zwanzig Jahren abgesetzt hatte, in tiefe Depression versank und deshalb nicht er selbst war, als er Selbstmord beging. Ich lasse die Frage nach der Diagnose (möglicherweise war er nicht einfach depressiv) ebenso beiseite wie die Frage, wie ein so wunderbarer Mensch zu einer derart lebhaften, intimen Kenntnis der Gedanken fieser Männer gekommen ist. Doch in Anbetracht seiner Vorliebe für die Dienstanweisung und seiner Neigung, sich selbst und andere zu betrügen – eine Neigung, die seine Jahre der Erholung in Schach hielten, aber nie ganz ausmerzten –, kann ich mir eine doppeldeutigere und doppelbödigere Darstellung vorstellen, die dem Geist seines Werks näherkommt. Wie er mir selbst erzählte, hat er nie aufgehört, sich vor einer Rückkehr in die geschlossene Psychiatrie zu fürchten, in der er nach seinem ersten Selbstmordversuch gelandet war. Die Verlockung des Selbstmords, des letzten großen Treffers, mag in den Untergrund gehen, aber sie verschwindet nie ganz. Sicher, David hatte «gute» Gründe, Nardil abzusetzen – seine Furcht, dass die langfristigen Nebenwirkungen das gute Leben, das er sich aufgebaut hatte, verkürzen könnten; sein Verdacht, dass die psychischen Nebenwirkungen das Beste an seinem Leben (seine Arbeit und seine menschlichen Beziehungen) beeinträchtigen könnten –, und er hatte auch weniger «gute» Ego-Gründe: einen perfektionistischen Wunsch, weniger auf Medikamente angewiesen zu sein; eine narzisstische Aversion dagegen, sich selbst als dauerhaft psychisch krank zu begreifen. Was ich aber schwer glauben kann, ist, dass er nicht auch sehr schlechte Gründe hatte. Unter seiner wunderbaren moralischen Intelligenz und seiner liebenswerten menschlichen Schwäche flackerte das alte Bewusstsein des Süchtigen, das geheime Ich, das, nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch Nardil, schließlich seine Chance sah, auszubrechen und seinen selbstmörderischen Willen zu kriegen.

Diese Dualität manifestierte sich in dem Jahr, nachdem er Nardil abgesetzt hatte. Er traf seltsame und scheinbar unsinnige Entscheidungen, was seine Behandlung betraf, stiftete unter seinen Seelenklempnern (die man nur dafür bedauern kann, einen so glänzend komplizierten Fall an sich gezogen zu haben) ziemlich viel Verwirrung und schuf sich am Ende ein geheimes Leben, das ganz dem Selbstmord gewidmet war. Im Verlauf dieses Jahres kämpfte der David, den ich gut kannte und maßlos liebte, tapfer gegen herzzerreißende Ausmaße von Angst und Schmerz, um sein Werk und seine Arbeit auf eine solidere Grundlage zu stellen, während der David, den ich weniger gut kannte, aber immer noch gut genug, um ihn nie gemocht und ihm immer misstraut zu haben, systematisch auf seine eigene Zerstörung sann und auf Rache an denen, die ihn liebten.

Dass er in einer Schreibblockade steckte, als er sich entschloss, Nardil abzusetzen – dass er gelangweilt war von seinen alten Tricks und unfähig, genug Interesse für seinen neuen Roman aufzubringen, um mit ihm voranzukommen –, ist nicht unwichtig. Er hatte das Schreiben geliebt, ganz besonders im Fall von Unendlicher Spaß, und hatte, in unseren vielen Diskussionen über die Aufgaben des Romans, seiner Überzeugung sehr explizit Ausdruck verliehen, dass Literatur eine Lösung, die beste Lösung, für das Problem der existenziellen Einsamkeit sei. Literatur war sein Weg weg von der Insel, und solange es für ihn funktionierte – so lange, wie er in der Lage gewesen war, seine Liebe und Leidenschaft in die Vorbereitung seiner einsamen Depeschen zu gießen, und solange diese Depeschen als dringende und frische und ehrliche Nachrichten das Festland erreichten –, hatte er ein gewisses Maß an Glück und Hoffnung für sich selbst erreicht. Als die Hoffnung, die er in die Literatur gesetzt hatte, starb, nach Jahren des Ringens um den neuen Roman, gab es keinen anderen Ausweg als den Tod. Wenn Langeweile der Nährboden ist, in dem die Samen der Sucht keimen, und wenn Phänomenologie und Teleologie der Suizidalität die gleichen sind wie die der Sucht, dann scheint die Behauptung berechtigt, dass David an Langeweile starb. In seiner frühen Erzählung «Hier und dort» gibt der Bruder eines nach Perfektion strebenden jungen Mannes namens Bruce diesem zu bedenken, «wie langweilig ein vollkommener Mensch wäre», und Bruce erzählt uns:

Ich beuge mich Leonards umfassendem und hart erarbeitetem Wissen über Langweiler, gebe aber zu bedenken, dass ein Langweiler unvollkommen wäre, per definitionem sei es daher ausgeschlossen, dass ein vollkommener Mensch langweilig sein könne.

Das ist ein guter Witz; und doch ist die Logik irgendwie strangulatorisch. Es ist die Logik von «Alles und mehr», um noch einen von Davids Titeln aufzunehmen, und alles und mehr wollte er für seine Literatur. Das hatte schon einmal funktioniert, in Unendlicher Spaß. Doch wenn man versucht, einem Etwas, das schon alles ist, noch mehr hinzuzufügen, riskiert man, mit nichts dazustehen: selbst langweilig zu werden.

Komischerweise wird Robinson Crusoe in achtundzwanzig Jahren auf der Insel der Verzweiflung niemals langweilig. Ja, er spricht von der Fron seiner frühen Mühen, später gibt er zu, es «herzlich müde» zu sein, die Insel nach Kannibalen abzusuchen, und er beschreibt sein erstes Jahr in der Gesellschaft von Freitag als «das schönste von allen, die ich auf der Insel verbrachte». Doch das moderne Verlangen nach Stimulation fehlt völlig. (Eines der frappierenden Details im Roman dürfte sein, dass Robinson mit «drei ansehnlichen Fässchen mit Rum und Weingeist» ein Vierteljahrhundert lang auskommt; ich hätte alle drei in einem Monat getrunken, schon um damit fertig zu sein.) Auch wenn er nie aufhört, vom Entkommen zu träumen, entdeckt er doch eine «Art heimlicher Lust» in seinem absoluten Besitzrecht an der Insel:

Ich betrachtete die Welt als etwas ganz Fernes, was mich nichts mehr anging und wovon ich nichts mehr erwartete oder wünschte. Mit einem Wort: Ich wollte weder jetzt noch in Zukunft mehr etwas mit ihr zu tun haben. So wird man später vielleicht aus der Ewigkeit auf sie zurückblicken.

Robinson kann seine Einsamkeit überleben, weil er Glück hat; er macht seinen Frieden mit den Umständen, weil er selbst gewöhnlich ist und seine Insel konkret. David, der außergewöhnlich und dessen Insel virtuell war, hatte zum Überleben schließlich nichts außer seinem eigenen interessanten Ich, und das Problem, aus sich selbst eine virtuelle Welt zu machen, ist dem Problem, sich in eine Cyberwelt zu stürzen, verwandt: Virtuelle Orte, in denen man Stimulation suchen kann, gibt es ohne Ende, aber eben diese Endlosigkeit, die permanente Stimulation ohne Befriedigung, wird zum Gefängnis. Alles und mehr zu sein ist auch der Ehrgeiz des Internets.

Die schwindelerregende Stelle, an der ich im Regen umkehrte, war kaum einen Kilometer von La Cuchara entfernt, aber der Rückweg dauerte zwei Stunden. Der horizontale Regen hatte sich in Starkregen verwandelt, und es fiel mir schwer, im Wind aufrecht zu bleiben. Das GPS-Gerät meldete unentwegt «schwache Batterie», doch da die Sicht so schlecht war, dass ich die Richtung nicht halten konnte, musste ich es trotzdem immer wieder einschalten. Selbst als es anzeigte, dass das refugio nur fünfzig Meter entfernt sei, konnte ich den Dachfirst noch nicht ausmachen.

Ich warf meinen durchnässten Rucksack ins refugio, lief runter zu meinem Zelt und fand es in einem Regenwasserbecken. Es gelang mir, die Schaumstoffmatratze herauszuzerren und ins refugio zu schaffen, und dann lief ich zurück und entpflockte das Zelt und ließ das Wasser ablaufen und raffte, bemüht, die Sachen drinnen halbwegs trocken zu halten, das ganze Ding zusammen und schleppte es durch den horizontalen Regen wieder bergauf. Das refugio war ein Katastrophengebiet aus durchnässten Kleidern und Ausrüstung. Ich verbrachte zwei Stunden mit diversen Trocknungsprojekten, gefolgt von einer Stunde, in der ich, vergebens, den Felsvorsprung nach einem entscheidenden Stück Zelt-Hardware absuchte, das ich auf meiner wilden Flucht verloren hatte. Und dann, binnen Minuten, hörte der Regen auf, und die Wolken verwehten, und mir wurde klar, dass ich die ganze Zeit an einem der dramatisch schönsten Flecken gewesen war, den ich je gesehen hatte.

Es war später Nachmittag, und der Wind blies über den irrsinnig blauen Ozean, und es war Zeit. La Cuchara schien eher in der Luft zu schweben als der Erde verhaftet zu sein. Da war ein Gefühl von Beinahe-Unendlichkeit, die Sonne entlockte den Hängen mehr Grün- und Gelbtöne, als ich dem sichtbaren Spektrum zugetraut hätte, eine blendende Beinahe-Unendlichkeit von Farben, und der Himmel wirkte so unermesslich, dass es mich nicht gewundert hätte, am östlichen Horizont das Festland zu sehen. Weiße Fetzen übrig gebliebener Wolken kamen vom Gipfel gerast, jagten an mir vorbei und verschwanden. Der Wind blies auf die See hinaus, und ich fing an zu weinen, weil ich wusste, dass es Zeit war und ich mich nicht vorbereitet hatte, es mir gelungen war zu vergessen. Ich ging ins refugio und holte die kleine Schachtel mit Davids Asche, das «Booklet» – um den Ausdruck zu verwenden, mit dem er amüsiert auf sein gar nicht kurzes Buch über mathematische Unendlichkeit verwies –, und lief mit ihm zum Felsvorsprung zurück, den Wind im Rücken.

Ich tat in jedem Augenblick lauter verschiedene Dinge. Selbst als ich weinte, suchte ich zugleich den Boden nach dem fehlenden Teil meines Zelts ab und zog meine Kamera aus der Tasche und versuchte, die himmlische Schönheit des Lichts und der Landschaft festzuhalten, und verfluchte mich dafür, weil ich doch eigentlich trauern sollte, und beruhigte mich, dass es okay sei, dass mein Versuch, den Más-Afuera-Schlüpfer zu sehen, bei meinem doch gewiss einzigen Aufenthalt auf der Insel, gescheitert war – dass es besser so sei, dass es Zeit sei, Endlichkeit und Unvollendetheit zu akzeptieren und gewisse Vögel für immer unbeobachtet zu lassen, dass die Fähigkeit, das zu akzeptieren, eben die Gabe sei, die mir gegeben worden war und meinem geliebten toten Freund nicht.

Am Ende des Felsvorsprungs stieß ich auf ein Paar Felsblöcke, die zusammen eine Art Altar bildeten. David hatte sich entschieden, die Menschen, die ihn liebten, zu verlassen und sich der Welt des Romans und seiner Leser hinzugeben, und ich war bereit, ihm dafür alles Gute zu wünschen. Ich öffnete die Schachtel und schleuderte die Asche in den Wind. Stückchen grauer Knochen landeten auf dem Hang unter mir, aber der Staub wurde vom Wind mitgerissen und verschwand, hinaus auf den Ozean, in die blaue Kuppel des Himmels. Ich wandte mich um und wanderte den Berg hinauf, zurück zum refugio, wo ich die Nacht würde verbringen müssen, weil mein Zelt außer Betrieb war. Ich war fertig mit meiner Wut, fühlte mich bloß leer, und war auch fertig mit Inseln.


Auf dem Boot zurück nach Robinsón Crusoe fuhren zwölfhundert Hummer, ein paar gehäutete Ziegen und ein alter Hummerfischer, der mir, nachdem der Anker gelichtet war, zurief, die See sei sehr rau. Yeah, stimmte ich zu, sie sei ein bisschen rau. «No poco», rief er ernst. «Mucho!» Die Crew warf sich die blutigen Ziegen zu, und mir wurde klar, dass wir, statt geradewegs zurück nach Robinsón zu fahren, fünfundvierzig Grad nach Süden kreuzten, um nicht zu kentern. Ich wankte in eine winzige, stinkende Kabine im Bug und kletterte in eine Koje, und dort – nachdem ich mich ein, zwei Stunden lang festgeklammert hatte, um nicht durch die Luft zu fliegen, und bemüht gewesen war, an etwas, irgendetwas anderes als Seekrankheit zu denken, und (wie ich später feststellte) das Anti-Seekrankheit-Pflaster abgeschwitzt hatte, das hinter meinem Ohr kleben sollte, und das Wasser immer wieder gegen den Bootsrumpf hatte spritzen und hämmern hören – kotzte ich in eine Ziploc-Tüte. Zehn Stunden später, als ich mich wieder auf Deck wagte, erwartete ich den Hafen in Sichtweite, aber der Kapitän war so viel gekreuzt, dass wir noch fünf Stunden davon entfernt waren. Zurück in die Kabine zu gehen brachte ich nicht über mich, und um Seevögel zu beobachten, war mir immer noch zu übel, also stand ich fünf Stunden lang herum und tat wenig mehr, als mir vorzustellen, wie ich meinen Rückflug, den ich, Verzögerungen einkalkulierend, erst für die kommende Woche geplant hatte, umbuchen und vorzeitig nach Hause fliegen würde.

Ich hatte vermutlich kein Heimweh mehr gehabt, seit ich das letzte Mal alleine campen gewesen war. In drei Tagen würde die Kalifornierin, mit der ich zusammenlebe, ausgehen, um sich mit unseren Freunden den Super Bowl anzusehen, und wenn ich mir vorstellte, neben ihr auf dem Sofa zu sitzen und einen Martini zu trinken und den Green-Bay-Quarterback Aaron Rodgers, der in Berkeley ein Star gewesen war, anzufeuern, verspürte ich den geradezu verzweifelten Wunsch, den Inseln zu entfliehen. Die beiden endemischen Landvogelarten auf Robinsón hatte ich schon gesehen, und die Aussicht auf eine weitere Woche dort, ohne die Chance, etwas Neues zu Gesicht zu bekommen, schien mir geisttötend langweilig – eine Übung im Entzug eben jener Geschäftigkeit, der zu entfliehen ich so entschlossen gewesen war, einer Geschäftigkeit, deren Annehmlichkeit ich jetzt erst zu schätzen wusste.

Zurück auf Robinsón, bat ich meinen Wirt, Ramón, doch zu versuchen, mir für einen der Flüge der nächsten Tage einen Platz zu besorgen. Beide Flüge waren ausgebucht, doch als ich beim Mittagessen saß, kam zufällig die Vertreterin einer der örtlichen Fluggesellschaften in die Gaststätte, und Ramón bedrängte sie, sie möge mich in einer dritten Maschine, ausschließlich Fracht, mitfliegen lassen. Die Vertreterin sagte nein. Aber wie wäre es mit dem Copilotensitz?, fragte Ramón sie. Könnte er nicht auf dem Copilotensitz mitfliegen? Nein, sagte die Frau, auch auf dem Copilotensitz würden Hummerkisten gestapelt.

Und so machte ich, obwohl ich es nicht wollte oder weil ich es nicht wollte, die Erfahrung, wirklich auf einer Insel gestrandet zu sein. Ich aß zu jeder Mahlzeit das gleiche schlechte chilenische Weißbrot, den gleichen undefinierbaren Fisch ohne Soße und Würze, mittags und abends. Ich lag in meinem Zimmer und las Robinson Crusoe zu Ende. Ich beantwortete den Stapel Briefe, den ich mitgebracht hatte, mit Postkarten. Ich übte, im Stillen die s ins chilenische Spanisch einzufügen, die von den Sprechern weggelassen wurden. Ich bekam den Juan-Fernández-Kolibri, einen fabelhaft großen zimtfarbenen Kolibri, den eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten auszurotten drohen, besser zu sehen. Ich wanderte über die Berge ins Grasland, wo das jährliche Rinderbrand-Fest stattfand, und ich sah Reitern zu, die eine Dorfherde in den Pferch trieben. Die Kulisse war spektakulär – weit geschwungene Hänge, vulkanische Gipfel, weißgekröntes Meer –, aber die Hänge waren nackt und von der Erosion tief zerfurcht. Von den gut hundert Rindern waren wenigstens neunzig unterernährt, die meisten solche Gerippe, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie sich überhaupt auf den Beinen hielten. Eine Herde war traditionell eine Proteinreserve gewesen, und die Dorfbewohner freuten sich immer noch am Ritual des Einfangens und Markierens, aber sahen sie denn nicht, was für eine traurige Travestie aus ihrem Ritual geworden war?

Angesichts dreier weiterer Tage, die ich füllen musste, und meiner vom Bergabwandern mürben Knie, blieb mir nichts anderes übrig, als Samuel Richardsons ersten Roman Pamela anzufangen, den ich hauptsächlich deshalb mitgebracht hatte, weil er viel kürzer ist als Clarissa. Alles, was ich bis dahin über Pamela wusste, war, dass Henry Fielding ihn in Shamela, seinem ersten Vorstoß auf das Feld des Romanschreibens, parodiert hatte. Aber dass Shamela nur eine von vielen Veröffentlichungen in unmittelbarer Reaktion auf Pamela war und Pamela die wohl aufregendste Neuigkeit im London des Jahres 1741 abgegeben hatte, wusste ich nicht. Kaum hatte ich jedoch angefangen zu lesen, verstand ich, warum: Der Roman ist unwiderstehlich und knistert vor Sex und Klassenkonflikten und beschreibt psychologische Extreme mit einer Genauigkeit wie keiner zuvor. Pamela Andrews ist nicht alles und mehr. Sie ist einfach und eindeutig Pamela, ein schönes Dienstmädchen, deren Tugendhaftigkeit vom Sohn ihres verstorbenen Dienstherrn fintenreich und fortgesetzt bedroht wird. Ihre Geschichte wird in Briefen an ihre Eltern erzählt, und als sie herausfindet, dass diese Briefe von ihrem Möchtegern-Verführer abgefangen und gelesen werden, schreibt sie weiter welche, wissend, dass Mr. B. sie lesen wird. Pamelas Frömmigkeit und selbstinszenierte Hysterie mussten eine bestimmte Sorte Leser zur Weißglut bringen (eines der als Reaktion veröffentlichten Bücher parodierte Richardsons Untertitel «Die belohnte Tugend» als «Geheuchelte Unschuld, ertappt»), aber unter ihrer schrillen Tugendhaftigkeit und Mr. B.s wollüstigen Intrigen verbirgt sich eine bestechend erzählte Liebesgeschichte. Es war die realistische Kraft dieser Geschichte, die das Buch zu einem so bahnbrechenden Ereignis machte. Defoe hatte das Territorium des radikalen Individualismus abgesteckt, der sich noch für Romanciers wie Beckett und Wallace als fruchtbares Thema erwies, aber Richardson gewährte als Erster uneingeschränkten fiktiven Zugang zu den Herzen und Köpfen von Individuen, deren Einsamkeit von der Liebe zu einem anderen überwältigt worden war.

Genau in der Mitte von Robinson Crusoe, Robinson ist seit fünfzehn Jahren allein, entdeckt er einen einzelnen menschlichen Fußabdruck am Strand, und «the fear of man», die Menschenangst, macht ihn buchstäblich verrückt. Nachdem er zu dem Schluss gekommen ist, dass der Fußabdruck weder sein eigener noch der des Teufels ist, sondern vielmehr der eines menschenfressenden Eindringlings, macht er aus seiner Garteninsel eine Burg und kann mehrere Jahre an kaum etwas anderes denken als daran, sich zu verbergen und eingebildete Invasoren abzuwehren. Er staunt über die Ironie:

Ich, dessen einziger Kummer war, fern von menschlicher Gesellschaft verbannt zu sein, einsam vom grenzenlosen Ozean umgeben, von aller Welt abgeschlossen und verdammt zu einem stummen Leben … ich zitterte nun bei der Vorstellung, einen Menschen zu sehen, und wollte in die Erde sinken vor dem bloßen Schatten oder Schein, dass ein Mensch seinen Fußstapfen auf diese Insel gesetzt habe!

Nirgends ist Defoes Psychologie feiner als in seiner Vorstellung von Robinsons Reaktion auf das Aufbrechen seiner Einsamkeit. Defoe hat uns das erste realistische Porträt eines radikal isolierten Individuums geschenkt, und dann hat er uns gezeigt, wie krank und verrückt ein radikaler Individualismus eigentlich ist. Egal wie sorgsam wir uns abschirmen, es braucht nur den Fußabdruck eines anderen wirklichen Menschen, um uns an das unendlich interessante Wagnis einer lebendigen Beziehung zu erinnern. Selbst Facebook, dessen Nutzer Milliarden Stunden mit der Herrichtung ihrer selbstbezogenen Projektionen verbringen, hat einen ontologischen Notausgang, und zwar unter «Beziehungsstatus», wo sich bei den Optionen die Wendung «Es ist kompliziert» findet. Es mag sich dabei um einen Euphemismus für «auf dem Absprung» handeln, aber es ist zugleich eine Beschreibung aller anderen Optionen. Solange wir solche Komplikationen haben – wie können wir es wagen, gelangweilt zu sein?


(Übersetzt von Wieland Freund)