Das wusste schon der berühmteste gute Mensch der Deutschen Literatur, der Werther:

"Leute von einigem Stand werden sich immer in kalter Entfernung vom Volk halten, als glauben sie durch Annäherung zu verlieren; und dann gibt`s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto empfindlicher zu machen." Aus: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werther, 1774.

 

Ist Ihnen dieser Satz jemals aufgefallen, als Sie das Buch in der Schule lasen? Oder haben Sie vielleicht auch nur die Beschreibung der Natur als Spiegelbild für Werthers Seele in Erinnerung? Wollten das die Lehrer von Ihnen hören? Vermutlich. Aber Goethe hatte weitaus Wichtigeres zu sagen, wie diese Erkenntnis zeigt. Auch er sezierte die Gesellschaft und erkannte Verhalten, die für alle gelten. Für alle?

Werther ist anders. Und Sie sind anders. Aber was hilft es? Die Gesetze der Gesellschaft gelten noch immer. Sie sind nur subtiler geworden, aber sie sind immer noch da. Schlimmer noch, sie haben sich verschoben. Jetzt bestimmen nicht mehr die Oberen den Klang der Überschreitung, sondern auch die Unteren.

Denn die kennen ihre Grenzen genau. Schließlich bekommen sie sich immer wieder aufgezeigt. So was macht hart. Oder zumindest zäh.

Haben Sie schon mal gesehen, wie es ist, wenn man einem misstrauischen Hund einen Knochen zuwirft? Er schnuppert vorsichtig daran und sieht sich genau an, wer ihn denn geworfen hat. Was das heißt? Sie können keine Gnade erwarten, wenn Sie sich mit jemandem unterhalten, der sich etwas unter Ihnen auf der sozialen Stufe befindet.

Vordergründig schon, aber wenn es sich um einen tatsächlichen Fall von sozialem Missmatch handelt, also wenn Sie durch Ihr Auftreten, durch Ihr Aussehen und durch Ihren Umgang eine andere Peergroup haben und sich nun freundlich nach unten orientieren, aus welchen Gründen auch immer, IRRITIEREN Sie Ihr Gegenüber.

Er ist nur vordergründig dankbar, sondern in erster Linie misstrauisch, aber dann, und da wird es schwierig, glaubt er, Sie befänden sich auf dem absteigenden Ast. Man denkt, Sie seien eigentlich gleicher Klasse und seien nicht gut genug für die Klasse, in der Sie sich jetzt befinden. Überraschung, Verblüfftheit, Misstrauen, manchmal grobe Ablehnung werden Sie ernten. Oder noch schlimmer: Man wird über Sie reden und sagen, der ist aber komisch, was will der denn von mir? Man wird das Haar in der Suppe suchen.

Man unterstellt Ihnen Falschheit, also lassen Sie es!

Gesellschaftlicher Aufstieg muss aus eigener Kraft geschehen, erst dann ist es ein Aufstieg, der auch als solcher vor sich hergetragen werden kann. Es kommt nicht jemand und öffnet Ihnen die Tür. Sie müssen etwas mitbringen, das die Hausbesitzer haben wollen. Und niemand öffnet die Tür ohne Grund. Man wartet, bis jemand anklopft.

Goethes Held Werther sagt, er hätte allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe er noch nicht gefunden. So ist es. Werther wird grob zurückgewiesen und sogar die Dienstmädchen laufen ihm davon. Sie kichern, lachen, aber sie nehmen ihn nicht ernst.

Sie machen Bekanntschaft, aber die wird nicht zu Ihrer Gesellschaft. Gesellschaften vermischen sich nicht. Das ist das Wesen der Gesellschaft. Eine Gesellschaft bildet sich aus zueinanderpassenden Teilen. Auch in heterogenen Gesellschaften sind diese Grenzen unsichtbare Markierungen, die die Gesellschaft als Gesellschaft markieren. Wie ein Puzzle, das langsam zusammengeschoben wird. Es entsteht ein großes Bild, aber die Teile bleiben getrennt.

Das alle Beziehungen konstituierende Prinzip ist Nutzen. Nutzen muss nicht materiell sein, das wäre zu darwinistisch, nein, auch Nutzen an Gefühlen, an Liebe, an Erfahrung, an Stimmung. Nutzen geht immer von oben nach unten. Nur wer von schon weiter ist, kann etwas zurückgeben.

Lassen Sie sich an dieser Stelle nicht verbittern. Das ist ein alles betreffendes Prinzip.

Wenn Sie nun sich zu offen nach unten zeigen, verstoßen sich gegen die ungeschriebenen Regeln. Sie irritieren die Menschen. Sie sind weder Sozialarbeiter, noch Forscher, noch Prediger. Was ist Ihre Aufgabe? Warum orientieren Sie sich plötzlich nach unten, fragt sich Ihr Gegenüber. Wird es zum Forschungsobjekt degradiert? Machen Sie sich einen Spaß, so wie es die Dorfbewohner von Werther denken? Oder können Sie einfach nicht mehr in Ihrer Peer mithalten? Welchen Nutzen hat man dann von Ihnen? Welchen Nutzen versprechen Sie sich von Ihrem Auserwählten? Viel schlimmer? Wenn in Ihrer Peer ein Platz frei wird, wer übernimmt den dann? Sie werden zum Steigbügelhalter und nicht zum Förderer. Jede Orientierung nach unten ist eine potenzielle Chance für jemand anders nach oben zu kommen. Sie sorgen also für ganz schön viel Aufruhr. Glauben Sie, da hat noch jemand Zeit, Ihre ehrenwerten, zutiefst humanen Motive zu würdigen? Im Nachhinein vielleicht, wenn man an Sie zurückdenkt: Das war ein komischer Vogel, aber ein netter.

Denken Sie an die Seifenblasen unter Wasser. Sie steigen immer auf. Es ist ihr Naturell. Luft ist leichter als Wasser. Das Wasser kann sie gar nicht aufhalten. Und Sie können nicht auf der Stelle bleiben, sich umschauen, weil Ihnen die Umgebung vielleicht interessant erscheint, wenn Sie es tun würden, würden Sie von einer anderen Blase verdrängt werden. Und bei den Seifenblasen ist es sogar noch schlimmer, denn da würden beide platzen.

Also stehen Sie nicht im Weg, nur weil Ihnen die Aussicht so gefällt.

 

Gotthold Ephraim Lessing, der große Aufklärer unter den deutschen Schriftstellern, fasste dies in einer schönen Fabel zusammen:

 

Der Adler

Man fragte den Adler: Warum erziehst du deine Jungen so hoch in der Luft? Der Adler antworte: würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, wenn ich sie tief an der Erde erzöge? Aus: Lessings Fabeln & Abhandlungen über die Fabel.

 

Böser Ratschlag Nr. 16: Orientieren Sie sich nur an Ihrer Peer-Group. Finden Sie dazu heraus, was Ihre Peer-Group ist! Setzen Sie Ihre Ambitionen nicht zu tief an. Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist.