|92|Kapitel 3

Warum erotisches Kapital systematisch heruntergespielt wird

Erotisches Kapital ist, wie ich im zweiten Teil des Buches zeigen möchte, unabhängig vom Geschlecht für Männer und Frauen in gleichem Maße von Wert. Allerdings besteht zwischen Attraktivität und Sexualität häufig eine symbiotische Beziehung, die auf jede heterosexuelle Beziehung abstrahlt. Beim Kampf der Geschlechter geht es zu einem guten Teil um Sex und damit um erotisches Kapital, und darum, wie viel beides Männern und Frauen wert ist. Dahinter steckt so mancher Konflikt um die Frage, wer Wirklichkeit definiert und die Regeln für das Beziehungsspiel aufstellt. Männer erzählen Frauen seit Urzeiten, was sie tun können und was nicht, was sie dürfen und was sie besser lassen sollten. Und Frauen leisten Widerstand – auf ihre Weise.

Alle Gesellschaften versuchen das Ausleben von Sexualität – und damit auch die Nutzbarmachung von erotischem Kapital – durch »moralische« Weltanschauungen, Bräuche und Gesetze zu reglementieren. Unablässig werden Regeln und Normen, die das Nutzbarmachen von erotischem Kapital und Sexualität steuern, von Vertretern des Patriarchats und von Feministinnen gleichermaßen zitiert, angezweifelt und diskutiert. Der anarchische Charakter von Sexualität unterläuft alle soziale und politische Kontrolle und wirft sie über den Haufen. Über erotisches Kapital und Sexualität wird mehr Verdrehtes und Unlogisches gedacht als über jedes andere Thema, weil auf diesen Gebieten keine Fairness und keine Balance erkennbar sind.

|93|Der männlich voreingenommene Blick

Warum ist das erotische Kapital bisher von Sozialwissenschaftlern, Theoretikern und Intellektuellen gleichermaßen so geflissentlich übersehen worden? Kurz: Weil die meisten davon Männer sind.

Dieses Manko an Theoretikern wie Pierre Bourdieu und anderen Sozialwissenschaftlern, die sich mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital beziehungsweise Humankapital befasst haben, zeugt von der auch im 21. Jahrhundert noch immer ungebrochenen Dominanz des männlichen Blickwinkels in Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Bei Bourdieu ist diese Kurzsichtigkeit besonders bemerkenswert, weil er sich mit dem Wettstreit zwischen Mann und Frau um Macht und Kontrolle in Beziehungen so eingehend beschäftigt hat.1 Erotisches Kapital wird deshalb ignoriert, weil es in erster Linie Frauen nützt, und die Sozialwissenschaften mit ihrem Fokus auf männliche Aktivitäten, Werte und Interessen von Frauen generell gerne übersehen und missachtet haben.2 Die patriarchalische Voreingenommenheit der Sozialwissenschaften ist eine Weiterführung der männlichen Hegemonie in der Gesellschaft insgesamt. Männer haben alles getan, Frauen daran zu hindern, ihren einen großen Vorteil gegenüber den Männern auszunutzen; den Anfang machte die fixe Idee, dass man erotischem Kapital keinen Wert beimessen darf.3 Frauen, die ihre Schönheit oder ihren Sex-Appeal offen ausspielen, werden häufig als töricht und intellektuell minderbemittelt gebrandmarkt und mit allerlei sonstigen sozialen Attributen versehen.

Die christliche Religion war in besonders hinterhältiger Weise darauf bedacht, alles, was mit Sex und Sexualität zu tun hat, als gemein und unrein zu missbilligen. Die muslimische Religion verlangt von Frauen, dass sie sich verschleiern, auf dass ihr erotisches Kapital exklusiv ihren Ehemännern vorbehalten bleibt und außerhalb des Hauses nicht zur Schau gestellt werden kann. Gesetze werden erdacht, die Frauen daran hindern sollen, ihre besonderen Fertigkeiten in die Waagschale zu werfen. In Großbritannien ist es Frauen beispielsweise untersagt, im Falle einer Leihmutterschaft – eine Option, die |94|nun wirklich und wahrhaftig nur von Frauen geleistet werden kann – marktorientierte Honorare zu verlangen. Könnten Männer Kinder bekommen, wäre Leihelternschaft vermutlich einer der höchst dotierten Berufe der Welt, so aber hindern Männer Frauen daran, eine nur ihnen eigene Fähigkeit gewinnbringend zu nutzen.

Die mächtigste und effizienteste männliche Waffe, Frauen daran zu hindern, ihr erotisches Kapital auszuschöpfen, ist die Ächtung von Frauen, die sexuelle Dienstleistungen verkaufen – über Männer, die käuflichen Sex anbieten, wird nicht annähernd so bereitwillig der Stab gebrochen.4 Europäische Umfragen zum Sexualverhalten zeigen, dass nur eine winzige Minderheit der Bevölkerung das kommerzielle Anbieten von sexuellen Dienstleistungen für einen Beruf wie jeden anderen hält. Die Mehrzahl der Bevölkerung betrachtet Frauen, die sich im Sexgewerbe verdingen, von oben herab, sieht sie als Opfer, Drogensüchtige, Versagerinnen, als unqualifizierte Menschen, mit denen man keinen sozialen Kontakt wünscht. Von welch patriarchalischem Geist dieses Stereotyp zeugt, erschließt sich, wenn man dagegen die Wahrnehmung von Männern hält, die sexuelle Dienstleistungen gegen Geld anbieten: Hier ist die Haltung sehr viel zwiespältiger, weit weniger entschieden und skrupulöser.5 In Extremfällen wird käuflicher Sex als kriminelle Handlung betrachtet, so dass er wie in Teilen der Vereinigten Staaten in den Untergrund gedrängt wird und Frauen, die in dem Gewerbe arbeiten, von Polizei und Rechtsprechung verfolgt werden. In manchen Ländern, in denen es wie in Großbritannien legal ist, sexuelle Dienstleistungen gegen Geld anzubieten, wird alles, was mit dieser Arbeit zusammenhängt, kriminalisiert, was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Länder, die wie die Niederlande und Deutschland Prostitution gänzlich entkriminalisiert haben, sind noch immer die Ausnahme.

Das Stigma, das dem Anbieten käuflicher sexueller Dienstleistungen in der christlich-puritanischen Welt anhaftet, ist keinesfalls ein globales Phänomen. Die westliche Welt ist so davon durchdrungen, dass Frauen Prostitution und Prostituierte genauso sehr verdammen wie Männer. Manchmal geben sich Frauen sogar feindseliger und fordern |95|die Abschaffung (oder Reglementierung) dieses Industriezweigs mit mehr Erbitterung als ihre männlichen Zeitgenossen, ein Denken, das in unseren Tagen durch viele Feministinnen bestärkt wird.6 In manchen afrikanischen Kulturen hingegen geht man sehr viel entspannter mit Frauen um, die käuflichen Sex – manchmal in Kombination mit anderen häuslichen Dienstleistungen (wie Kochen und Waschen) – anbieten, und akzeptiert sogar, wenn Ehefrauen sich solchermaßen verdingen. Bei einigen Völkern, den nordnigerianischen Hausa beispielsweise, ist man sogar der Ansicht, Prostituierte gäben sehr gute Ehefrauen ab, weil sie sich hinreichend ausgetobt hätten und nunmehr bereit seien, zur Ruhe zu kommen, monogam zu leben und Kinder in die Welt zu setzen.7 Andere Gesellschaften stehen der Sexindustrie gelassen gegenüber, begünstigen sie nicht ausdrücklich, verdammen sie aber auch nicht. Beispiele dafür sind Thailand und Spanien.

Wenn ich sage, dass Frauen in Nordeuropa mehr Einwände gegen die Vermarktung von Sex haben als Männer, widerspricht das auf den ersten Blick meiner zuvor geäußerten Behauptung, die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Prostitution werde vor allem vom männlichen Patriarchat betrieben.8 Die Ambivalenz von Heiliger und Hure oder bravem Mädchen und bösem Mädchen aber wurde bereits vor Jahrhunderten von Männern ersonnen, um die eigenen Interessen zu wahren, und ist zentraler Bestandteil einer patriarchalischen Ideologie und des männlichen Wachens über Handeln und Erscheinung von Frauen in der Öffentlichkeit. Im Laufe der Zeit sind Frauen dahin gelangt, die männliche Weltsicht samt der Fesseln, die sie ihnen anlegt, zu akzeptieren.

Wann und warum hat sich das Patriarchat entwickelt? Die Historikerin Gerda Lerner hat erfolgreich eine Serie von Theorien zu Fall gebracht, die uns seit den Tagen Friedrich Engels’ zu erklären versuchen, wie im Verlauf des Umbruchs von einfachen Jäger-und-Sammler-Kulturen zur Schaffung von Königreichen und archaischen Staatengebilden im alten Mesopotamien vor vielen Jahrhunderten das Patriarchat entstanden ist. Sie zeigt, dass die historische Beweislage allen früheren Theorien widerspricht und dass patriarchalische Systeme, Kontrolle |96|und Autorität von Männern etabliert wurden, die sichergehen wollten, dass ihr Land und ihr Eigentum, was immer es sei, an ihre eigenen biologischen Nachfahren und nicht an die anderer Männer vererbt wurden. Frauen wissen, wer ihre Kinder sind, sie bringen sie schließlich zur Welt. Männer können sich ihrer Vaterschaft nie im selben Maße sicher sein. Die männliche Kontrolle über Sexualität und Fruchtbarkeit der Frau mündete in eine Aufspaltung des weiblichen Geschlechts in »ehrbare« und »nicht ehrbare« Frauen, »reine« und »unreine«, solche, die einem Manne angehören, und all die anderen. Sexuelle Unterwerfung und Kontrolle uferten letztlich immer weiter aus, so dass am Ende auch über Berufe und Einkünfte von Frauen, ja, sogar über das Recht, überhaupt arbeiten oder das Haus ohne Begleitung verlassen zu dürfen, von Männern entschieden wurde: Die Unterwerfung der Frau war somit ihrem Ursprung nach sexuell und wurzelt in der Sorge um Geld und Erbe.9

Die Unterscheidung zwischen »ehrbaren« und »nicht ehrbaren« Frauen machte sich häufig an Kleidungsstil und Erscheinung fest. Frauen, die sich nicht konform verhalten oder sich nicht bereitwillig männlicher Autorität unterordnen, zu stigmatisieren, indem man sie als schamlos brandmarkt und ihren Ruf schädigt, kann, vor allem in kleineren Gemeinschaften, in denen jeder jeden kennt, ein überaus effizientes Mittel sein. Tratsch trägt dazu bei, die sexuelle Doppelmoral zu festigen, die sogar heute noch in der westlichen Welt gang und gäbe ist.10 Die Sprache der Kleidung geht noch weiter als der Leumund. In manchen Epochen wurde Kurtisanen, die mit ihrer Arbeit ein Vermögen verdient hatten, von Gesetzes wegen untersagt, teure Kleidung und wertvollen Schmuck zu tragen, damit sie sich von den ebenso eleganten und glanzvoll gewandeten Gattinnen reicher Männer abhoben.11 Gesetzlich verankerte Kleiderordnungen sorgten für einen weithin erkennbaren Unterschied zwischen Ehefrauen und Huren. Heutzutage werden weibliche Sexualität und Erscheinung von der Allgemeinheit kontrolliert, indem man Mädchen, die mehrere Liebhaber hatten, und Frauen, die sehr kurze Röcke tragen oder zu viel Busen zeigen, als »Schlampen« bezeichnet. Seit seinen Ursprüngen vor 3 500 Jahren |97|ist das Patriarchat unermüdlich darauf bedacht, die Zurschaustellung weiblichen erotischen Kapitals in der Öffentlichkeit und weibliche Promiskuität unter Kontrolle zu halten.12

In den Anfangszeiten der Zivilisation – etwa in der Zeit von 20 000 vor Christus bis 8000 vor Christus – gab es keine Götter, sondern nur Göttinnen, verehrt ihrer magischen Gabe wegen, aus sich heraus neues Leben hervorzubringen. Die allerältesten Tonerde-Figurinen stellen »Fruchtbarkeitsgöttinnen« dar, Männer glänzen durch Abwesenheit.13 Bis ungefähr 3000 vor Christus herrschte die Überzeugung, dass Männer für die Fortpflanzung keine oder nur eine marginale, möglicherweise stimulierende Rolle spielten. Einziges Elternteil war die Mutter, und da Vaterschaft kein Thema war, gab es für weibliche Sexualität keinerlei Beschränkungen. Die Historikerin Julia Stonehouse erklärt, dass sich ungefähr um das Jahr 3000 die Reproduktionstheorien wandelten – plötzlich galt der Mann als derjenige, der den Samen ausbrachte, den die Frau »auszubrüten« hatte, um dem Mann sein Kind zu gebären. Diese Vorstellung hielt sich in Europa etwa bis zum Jahre 1850 und deckt sich ungefähr mit dem Zeitraum, in dem patriarchalische Werte eine unangefochtene Vormachtstellung hatten, wie die Historikerin Gerda Lerner gezeigt hat. Ab etwa 1900 war Wissenschaftlern klar, dass es sowohl der männlichen Spermien als auch der weiblichen Eizellen bedurfte, um ein Kind hervorzubringen, und dass Kinder von beiden Eltern Merkmale erben. Erste Ahnungen von einem möglicherweise gleichberechtigten Dasein von Mann und Frau entwickelten sich und setzten sich peu à peu durch. Julia Stonehouse zeigt auch, dass (falsche) Reproduktionstheorien von 3000 vor Christus bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, mithin lange 5000 Jahre hindurch, eine große Rolle für ein patriarchalisches Wertesystem und die patriarchalische Weltsicht insgesamt gespielt haben.14

Die Überwachung weiblicher Sexualität nahm erst ihren Lauf, als Männer glaubten, sie spendeten den einzigartigen Samen, aus dem ein Kind heranwächst. In Gesellschaften, in denen diese Vorstellung nie Fuß gefasst hat, auf den Trobriand-Inseln vor der Küste von Papua-Neuguinea etwa, ist die Mutter einziges Elternteil, und Frauen sind in |98|ihrer Sexualität in jeder Hinsicht frei.15 Für Mädchen beginnt das Geschlechtsleben mit sechs bis acht Jahren, für Jungen mit zehn bis zwölf, jeder hat bis zur Eheschließung viele verschiedene Partner, manchmal auch noch danach (vor allem während der Feste im Jahreskreis). Zu erklären, ein Mädchen sei Jungfrau, gilt als Beleidigung. Dorfschönste ist das Mädchen mit den meisten Freunden und Liebhabern. Serielle Monogamie ist an der Tagesordnung und die Menschen haben in ihrem Leben nicht selten drei bis vier Ehegatten.16 Einen größeren Kontrast zur patriarchalischen Kultur mit ihrer Überwachung weiblicher Sexualität lässt sich schwerlich denken.

Das Anbieten käuflicher sexueller Dienstleistungen sowie alle anderen Kontexte, bei denen erotisches Kapital gegen Geld, Wohlstand, Status oder Macht gehandelt wird, gelten als »moralisch« verwerflich. Die Arbeit in Berufen wie Stripteasetänzerin wird als anstößig, obszön, anrüchig, dirnenhaft, lasziv verpönt. Eine schöne junge Frau, die sich anschickt, einen wohlhabenden Mann zu heiraten, wird »Goldgräberin« geschimpft und der unfairen und unmoralischen Ausbeutung von Männern geziehen. Es ist, als verlange die Logik, dass Männer das, was sie von Frauen wollen – vor allem und insbesondere Sex –, umsonst bekommen sollten. Männern ist Geldgier gestattet, Frauen hingegen nicht.17 Frauen müssen, was sie tun, ohne Entgelt, freiwillig und aus »Liebe« leisten.18 Leider unterstützen viele Feministinnen diese Weltsicht, statt den Versuch zu unternehmen, sie anzugreifen und zu Fall zu bringen.19

Je patriarchalischer eine Kultur, desto unbarmherziger wird erotisches Kapital unterdrückt und bestraft, um (vor allem) Frauen daran zu hindern, ihren Vorteil zu nutzen. In Ägypten befiehlt man Bauchtänzerinnen, sich zu verhüllen, und verdirbt ihnen damit das Geschäft.20 In England wird das Stillen von Babys in der Öffentlichkeit als dekadent-anstößiges Verhalten angegriffen. In Filmen wird Nacktheit vermieden, und Aktfotos werden als unmoralisch gegeißelt.21 Darstellungen sexueller Handlungen werden zensiert. Je größer die Rolle von erotischem Kapital in modernen Gesellschaften ist, umso mehr nehmen offenbar auch die sozialen Vorbehalte zu, die sich an jeder seiner |99|Manifestationen und dem weiblichen Gebrauch derselben festmachen. Beherrscht wird das erotische Kapital von Frauen primär über ideologische Bahnen, vermittels Ideen und Überzeugungen, unterstützt von Gesetzen.22 Mütter haben entscheidenden Anteil daran, denn sie lehren Mädchen, sich zurückzunehmen und andere zu maßregeln, so dass es aussieht, als werde die Kontrolle statt von männlicher Seite von den Frauen selbst ausgeübt. Wenn es um Gehirnwäsche jeglicher Art geht, sind Mütter in jeder Kultur die Hauptakteure, wobei in modernen Gesellschaften auch den Medien eine wichtige Rolle zukommt.23

In Kapitel 6 werde ich näher darauf eingehen, dass Frauen in den meisten Gesellschaften käuflichen Sex nur vorübergehend anbieten, es handelt sich meist nicht um einen lebenslangen Brotberuf und wird selten ohne Unterbrechung betrieben. Die Entwicklung sozialer »Hilfsindustrien« in Europa beförderte eine moralische Entrüstung über käufliche sexuelle Dienstleistungen, die dieses Gewerbe isolierte und die dort Beschäftigten letztlich in ein verfemtes Arbeitsghetto zwängte, dem zu entkommen immer schwerer wurde.24 Diese moralisierende Unterdrückung von gewerblichem Sex hat sich nach und nach auf erotisches Kapital in der Unterhaltungsindustrie ausgedehnt.

Die Rolle der Religion

In Europa haben Christentum und Patriarchat in schöner Harmonie Hand in Hand gearbeitet, um Sexualität ins Abseits zu drängen und das Ansehen des Erotischen zu schmälern.25 Liebenden war das Christentum nie übermäßig wohlgesonnen. Das Zölibat wurde als vortrefflich und anbetungswürdig gepriesen und katholischen Priestern, Mönchen und Nonnen aufgezwungen.26 Wollust gehört seit dem 6. Jahrhundert zu den Sieben Todsünden.27 Diesen abwertenden Beigeschmack hat sie noch heute und gibt damit dem sexuellen Verlangen den Anstrich von etwas ausschweifend Wildem und Unzivilisiertem, statt von etwas Kühnem, Leidenschaftlichem und Feurigem. Die christliche Missbilligung von Sexualität und die Angst vor ihr wuchs |100|sich zu einer generellen Verunglimpfung von Frauen aus, da diese das Verlangen des Mannes durch ihre Schönheit, ihren Charme und Sex-Appeal anfachten. Der Heilige Augustinus kam zu dem Schluss, die einzig mögliche Entschuldigung für sexuelle Handlungen sei die Fortpflanzung, und diese sei ohne Wollust und Vergnügen zu bewerkstelligen.28 Die Verwendung von Verhütungsmitteln wurde verboten und 1532 in Frankreich sogar zu einem Kapitalverbrechen erklärt.29 Für die wohlhabenden Klassen wurde ehelicher Sex zur Pflichtübung, zur Zeugung von Kindern für die geordnete Weitergabe des Erbes. Sex als Vergnügen und zum Zeitvertreib pflegte man mit Kurtisanen und Prostituierten, die sich auf erotische Künste, Tanz und Gesang, Musik und Dichtung spezialisierten und so ihren Wert – und ihren Preis – in die Höhe trieben.30

Das Christentum zementierte die Bipolarität von Madonna und Hure in den Darstellungen der beiden Marien – der jungfräulichen Gottesmutter einerseits und Maria Magdalena, der schönen Kurtisane und reuigen Sünderin, andererseits. Vergnügen, Schönheit und Sinnenfreude wurden als Einladung zu Sünde, Verfehlung und Frevel dargestellt. Ein Kernthema westlichen Denkens und westlicher Kultur ist die Trennung von Körper und Geist (oder Seele), die Götter Apollon und Dionysos, bei der man den Geist als das Überlegene, Erhabenere, Gelenkte, Intelligente und den Körper als das Unterlegene, Geringe, Unreine und Rohe betrachtete. In anderen Kulturen gibt es eine solche Unterscheidung nicht.31

Der Kontrast zu anderen Religionen und Kulturen könnte kaum größer sein. Die Chandella-Tempel von Khajuraho in Zentralindien können für europäische Besucher eine Offenbarung sein. Die Tempelwände sind bedeckt mit erotischen Skulpturen junger schöner Gottheiten und lebensechten Darstellungen von Gruppensexszenen und Geschlechtsakten in allen möglichen Stellungen. Für das Auge des westlichen Betrachters mag diese jubelnde Hymne an den Sex, das Zelebrieren von Sexualität und weiblicher Schönheit etwas Pornographisches haben und einem religiösen Zusammenhang gänzlich unangemessen scheinen. Sie kontrastiert heftig mit der in christlichen Kirchen |101|präsentierten Bildwelt: ein durch Kreuzigen zu Tode gefolterter Mann, die Hände von Nägeln durchbohrt, umringt von trauernden Frauen. Diese Betonung von Schmerz und Elend in der europäischen Religion und Kultur hat für Nichteuropäer etwas Frappierendes. Der Puritanismus mag geholfen haben, den Kapitalismus auf den Weg zu bringen, aber er ist ein Spaßverderber.32

Wieder und wieder werden Sozialwissenschaftler mit der Tatsache konfrontiert, dass die europäische und die christliche Kultur nicht universal verbreitet sind, so dass Erkenntnisse über menschliches Verhalten und bestimmte Blickwinkel aus diesen Ländern unter Umständen nicht auf andere Kulturen übertragbar sind.33 Das gilt in ganz besonderem Maße für Sexualität, sexuelle Ausdrucksformen und die soziale Bewertung von erotischem Kapital.

Das Recht des Mannes auf Sex

An Monogamie und sexuellem Ausschließlichkeitsanspruch beispielsweise ist nichts »natürlich«. Bei Tieren ist dies absolut nicht die gängigste Regelung. Monogamie ist eine politische Strategie, die sicherstellen soll, dass jeder Mann eine reelle Chance hat, wenigstens eine Geschlechtspartnerin zu bekommen, denn so sind genügend Frauen für alle da, so dass selbst arme und hässliche Männer nicht ganz leer ausgehen, wie das in polygamen Gesellschaften häufig geschieht, Monogamie erzwingt sexuelle Demokratie.34 Viele Feministinnen haben gezeigt, dass sich ein beträchtlicher Teil unserer Kultur, Werte und Sozialnormen darum dreht, Männern den sexuellen Zugriff auf Frauen zu Bedingungen zu ermöglichen, die ersteren genehm sind. Carole Pateman bezeichnet dies als unter Männern ausgehandelten Geschlechtervertrag: Männer nehmen sich als Geschlecht das Recht, die Bedingungen für den sexuellen Zugriff auf Frauen zu diktieren.35

Pornographie wird zumeist von Männern für Männer geschaffen und malt ein Utopia, in dem Frauen Sex genauso sehr wollen wie Männer und ebenso jung, sexy und attraktiv wie willig sind.36 Pornographie |102|kündet von sexueller Gleichheit, einer Übereinstimmung des sexuellen Wesens von Mann und Frau, die Frauen Sex in gleichem Maße begehren und genießen lässt wie Männer. Das ist ihr Hauptreiz. Pornos klammern die Angst vor Zurückweisung und weiblichem Widerwillen aus, die zur schnöden Alltagserfahrung von Männern gehört und ein mächtiger sexueller Stimmungskiller sein kann.37 Genau daraus erklärt sich die nie erlahmende Begeisterung für Pornographie und erotisches Entertainment – die selbst in sozialistischen Ländern und auch nach der politischen und wirtschaftlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ungebrochen ist.38

Es ist diese Vorstellung von einem männlichen Recht auf Sex, die Männer zu der Argumentation veranlasst, die »leidenschaftliche« Tänzerin im Striplokal brauche eigentlich keinen Lohn, wenn sie für sie tanzt, und Barmädchen, die sie »echt« mögen, sollten von Rechts wegen kein Geld für ihre Zeit erwarten. Frauen, die auf Handgeld, Geschenke oder Honorare für ihre Gesellschaft oder sexuelle Gefälligkeiten rechnen, seien unehrliche und korrupte »Schlampen«. Vor allem junge Männer wehren sich dagegen, das legitime Tauschgeschäft Geld (ökonomisches Kapital) gegen erotisches Kapital zu akzeptieren. Die Vorstellung von einem männlichen Recht auf Sex verleitet sie zu der Annahme, dass sie das, was sie wollen, umsonst bekommen sollten.

Die männliche Abneigung dagegen, dem erotischen Kapital von Frauen echten Geldwert zuzuerkennen, findet sich selbst unter den liberalsten Intellektuellen. Der Soziologe Anthony Giddens ist mitnichten ein Verfechter patriarchalischer Werte, dennoch ist sein Begriff von einer »reinen« Beziehung ununterscheidbar von den Sehnsüchten eben dieser Verfechter.39

Giddens argumentiert, die Welt des Mannes gründe sich auf instrumentelle Werte und die Haltung von Männern gegenüber der übrigen Welt sei ihrem Wesen nach grundsätzlich instrumentell und basiere im Unterschied zur fürsorgenden Perspektive von Frauen auf Dominanz und Manipulation.40 Männer haben stets ihren Status unter den anderen Männern im Visier, wie man an den materiellen Belohnungssystemen |103|und den Ritualen männlicher Solidarität unschwer erkennen kann. Die individuelle Identität des Mannes speist sich hauptsächlich durch seine Arbeit und das Leben in der Öffentlichkeit, wobei private Beziehungen aber trotzdem gebraucht werden.41 Giddens sieht demnach ewig fortbestehende Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

Bei seiner Diskussion über moderne Formen von Intimität, verficht Giddens die Theorie einer »reinen« Beziehung, die nicht instrumentell ist, von beiden Parteien frei gewählt wird und jederzeit wieder aufgegeben werden kann. In der Realität erlegt diese reine Beziehung Männern keinerlei Verpflichtung auf; sie gibt ihnen Intimität, Zuneigung, emotionale Unterstützung und Sex ohne anfallende Kosten wie Geld, Ehe, die Verpflichtung zur Versorgung und Erziehung von Kindern oder zum Reparieren des tropfenden Wasserhahns in der Küche. Es handelt sich um eine ihnen förderliche sexuelle Beziehung frei von Verantwortung, Verpflichtungen und Kosten, ein Arrangement, das man jederzeit aufgeben kann, sobald Langeweile einsetzt.42 Diese Beschreibung trifft ziemlich genau das Wesen solcher homosexuellen Partnerschaften, in denen Kinder kein Thema sind, sondern deren Mittelpunkt Sexualität und Freizeitvergnügungen bilden, und die aus Gründen der Abwechslung und des Fortbestehens von Spannung unter Umständen durch gelegentliche Seitensprünge ergänzt werden. In heterosexuellen Beziehungen – kurzfristigen wie langfristigen – ist das eher nicht typisch, in den meisten Fällen ist hier der Austausch von Geld und Dienstleistungen und eine komplementäre Rollenverteilung an der Tagesordnung.43

Giddens ist sich sehr bewusst, dass Männer auf egalitäre Beziehungen, in denen Männern die Kontrolle entglitten ist, mit Zorn und Gewalt reagieren, und dass Pornographie dazu beiträgt, ihr Bedürfnis nach fügsamen und ergebenen Frauen zu erfüllen. Er konstatiert, dass der männliche Zorn auf die heutigen Frauen zu einem beträchtlichen Teil eine Reaktion gegen deren Durchsetzungsvermögen im privaten und öffentlichen Leben und den Verlust männlicher Kontrolle darstellt.44

|104|Manche Männer gehen so weit zu behaupten, alle Männer hassten Frauen. Adam Jukes, ein Psychotherapeut, der sich auf die Behandlung von Männern spezialisiert hat, die gegen ihre Frauen und Partnerinnen körperlich gewalttätig werden, stellt fest, dass Frauenhass ein universales Phänomen sei, das auf einem Grundhass des Mannes gegen Frauen beruht und dessen Drang erklärt, Letztere kontrollieren zu müssen, Wirklichkeit für sie zu definieren und die Spielregeln für die Beziehung festzusetzen.45 Das mag wie eine eigentümlich extreme Sicht der Dinge anmuten, aber es tönt ziemlich genau wie Giddens etwas gemäßigtere Fassung und trägt dazu bei, das widersprüchliche Gedankengut patriarchalischer Forderungen an Frauen zu erklären.

Die ideale Frau ist schön und zu jeder Zeit erotisch und aufregend, sie sollte sich aber ihrer Schönheit und ihres Sex-Appeals nie allzu sehr bewusst sein und darf beides niemals in irgendeiner Weise berechnend einsetzen – schon gar nicht auf Kosten ihres Partners. Sie ist intelligent, hat ihren eigenen Kopf, steht aber grundsätzlich hinter ihm zurück und langweilt ihn nie mit ihrer eigenen Meinung. Der patriarchalische Mann will, dass eine Frau ihn bedingungslos liebt, gestattet ihr aber nicht, dasselbe von ihm zu verlangen – ja, überhaupt irgendetwas zu verlangen.46 Das ist recht nahe an Giddens »reiner« Beziehung, in der es keinen »instrumentellen« Austausch gibt, die aber dem Mann die Freiheit lässt, zu tun, was ihm beliebt.

Manche Feministinnen vertreten den Standpunkt, Männer wertschätzten das erotische Kapital von Frauen nicht. Aber Männer verlangen, dass Frauen sich alle Mühe geben sollten, stets attraktiv auszusehen. Ihnen gefällt Werbung, in der sexy Frauen zu sehen sind, sie erstehen Erotika und Pornographisches. Doch der alltägliche »Verbraucherumgang« mit weiblichem erotischen Kapital spricht nicht gerade dafür, dass Männer dieses wertschätzen – im Gegenteil: Sie nehmen es als gegeben oder behandeln es als rechtmäßiges männliches Besitztum. Wenn ein englischer Bauarbeiter einer vorübergehenden Frau nachruft: »Hey, lächle doch mal«, klingt das ein bisschen so, als erwarte er von jeder Frau, dass sie ihn (oder Männer im Allgemeinen) jederzeit anzulächeln habe, und als wolle er nicht nur in einigermaßen |105|trampeliger Weise seiner Bewunderung, sondern auch seinem vermeintlichen Recht Ausdruck verleihen, dass er als Mann von einer Frau grundsätzlich erotisches Pläsir einfordern könne.47

Männer aus dem Süden Europas und aus Südamerika hingegen setzen ihren Stolz darein, attraktiven Frauen im Vorübergehen elegant-geistreiche Komplimente zu machen, um ein Lächeln zum Lohn zu ergattern. Die traditionsreiche Kunst des »Piropo«, des formvollendeten Schmeichelns in Spanien und Südamerika, ist im Zuge der Gleichberechtigungspolitik ein bisschen in Vergessenheit geraten, erlebt aber soeben eine Renaissance, neuerdings gibt es sogar Internetseiten, die Piropos für jede Gelegenheit auflisten. Typische Floskeln wären zum Beispiel: »Wenn Schönheit töten könnte, kein Gott würde dir vergeben«, oder etwas südamerikanischer: »Hat sich der Himmel geöffnet und sind die Engel zur Erde hinabgestiegen?« (Si la bellaza matara, tu no tendrias perdon de dios und Se abrio el cielo y bajaron los angeles?) Solche verbalen Geschenke sind so etwas wie kleine Blumensträuße, die einer Fremden zugeworfen werden und das erotische Kapital einer Frau würdigen, ohne Forderungen zu stellen. Für angelsächsische Kulturen ist so etwas eher untypisch – und könnte nach den modernen Kodizes politischer Korrektheit gar als sexuelle Belästigung verstanden werden. Auch Frauen können Piropos verteilen, wobei dies je nach nationaler Tradition sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Die entsprechenden Internetseiten listen sowohl für Männer als auch für Frauen witzige Komplimente auf, oftmals werden diese sogar nach Kulturregionen in Subklassen weiter unterteilt. So gibt es innerhalb dieser Kunstgattung typisch mexikanische oder typisch argentinische Floskeln.

Den aufschlussreichsten Beleg dafür, dass das erotische Kapital von Frauen im täglichen Umgang wirklich geringgeschätzt wird, präsentiert Kapitel 7: Der »Gehaltszuschlag« für Attraktivität fällt bei Frauen stets geringer aus als bei Männern. Was auch immer sie an Qualifikationen und Begabungen für ein Beschäftigungsverhältnis vorweisen können, attraktive Männer bekommen einen »Schönheitsbonus«, wenn sie körperlich und sozial anziehend und wenn sie hoch gewachsen |106|sind. Der Schönheitsbonus bei Frauen ist in der Arbeitswelt eher gering, auch wenn übergewichtige Frauen bei der Bezahlung benachteiligt werden.48 Dass Frauen attraktiv zu sein haben, wird als selbstverständlich vorausgesetzt, deshalb wird es kaum jemals belohnt. Alles was Männer tun oder in ihre Arbeit einbringen, erfährt Anerkennung und Aufmerksamkeit. Der klassische Catch-22 für Frauen: Sie können es keinem recht machen, werden kritisiert, wenn sie den gerade geltenden Schönheitsstandards nicht entsprechen, aber nur selten dafür belohnt, dass sie gutaussehen und charmant sind.49

Alles in allem ist »Moral und Sittlichkeit« etwas, was von Männern gepredigt wird, um Frauen daran zu hindern, den einen großen Vorteil, den sie Männern gegenüber haben, auszukosten und Frauen, die durch entsprechendes Handeln erfolgreich zu Geld und Ansehen gelangen, herabzusetzen. Diese patriarchalische Strategie ist von den angelsächsischen Feministinnen und sogar von der französischen feministischen Intellektuellen Simone de Beauvoir immer nach Kräften unterstützt worden.50

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die patriarchalische »Moral«, die erotischem Kapital seinen ökonomischen Wert abspricht, in ganz ähnlicher Weise auch bemüht wird, um anderen Dienstleistungen und Pflegearbeiten, die im Regelfall von Frauen übernommen werden, ihren ökonomischen Wert abzusprechen. Die Wirtschaftswissenschaftler Paula England und Nancy Folbre machen deutlich, dass die alte Weisheit, Liebe sei für Geld nicht zu kaufen, unabsichtlich die verdrehte Folge hat, dass Dienstleistungen am Menschen und Pflegeberufe gering entlohnt werden.51 Wie man es auch dreht und wendet, Arbeit, die vorwiegend von Frauen verrichtet wird, wird weniger Wert beigemessen.

Das Versagen der feministischen Theorie

Warum haben Feministinnen es nicht geschafft, erotisches Kapital beim Namen zu nennen und seinen Wert zu predigen? Im Prinzip deshalb, weil die feministische Theorie sich als unfähig erwiesen hat, sich |107|des patriarchalischen Blickwinkels zu entledigen, sondern diesen vielmehr gestärkt hat, als sie ihn vordergründig betrachtet angriff. Streng genommen ist das Problem vor allem eines des angelsächsischen Feminismus. Doch die internationale Vorherrschaft der englischen Sprache (und der Vereinigten Staaten und ihrer Kultur) hat diese Perspektive zur dominierenden feministischen Sichtweise der Gegenwart gemacht. Französische und deutsche Feministinnen sehen die Dinge deutlich anders und bewerten zur selben Zeit, da sie für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt und im öffentlichen Leben streiten, Weiblichkeit, Sexualität und die Mutterrolle der Frau hoch. Unglücklicherweise ist es die radikale angelsächsische Theorie des Feminismus, die sämtliche Gender-Studiengänge an den Schulen und Hochschulen sowie im öffentlichen Diskurs beherrscht.

Die feministische Theorie konstruiert vielfach eine falsche Polarität: Eine Frau wird entweder für ihr Humankapital (ihre Intelligenz, Bildung, Arbeitserfahrung und ihr berufliches Engagement) geschätzt oder wegen ihres erotischen Kapitals (ihrer Schönheit, ihrer Figur, den Stil ihrer Garderobe, ihren Charme und ihre Grazie). Frauen werden nicht dazu ermuntert, beides anzustreben. Frauen, die sich innerhalb des Bildungssystems nicht als Überfliegerinnen erweisen, haben ohnehin kaum eine andere Wahl, sie müssen sich auf ihr erotisches und soziales Kapital verlassen, wie man unter anderem an vielen Models sieht.

Das Hauptversagen der feministischen Theorie besteht darin, die männliche Hegemonie aufrechterhalten zu haben, wenn auch auf dem Gebiet der empirischen Forschung beträchtliche Innovationen vorzuweisen sind. Feministinnen bestehen darauf, dass die Stellung einer Frau in der Gesellschaft genau wie die von Männern grundsätzlich nur an ihrem ökonomischen, sozialen und humanen Kapital zu bewerten ist. Die Europäische Kommission hat die feministische Theorie in Bausch und Bogen übernommen und sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Gleichstellung der Geschlechter einzig und allein durch Beschäftigungszahlen, den jeweiligen Beschäftigungsanteil von Männern und Frauen in einzelnen Berufsgruppen und das Einkommen reflektiert |108|wird. Geschlechtsspezifische Unterschiede in diesen Bezugszahlen gelten automatisch als Beweis für sexuelle Diskriminierung.52 Frauen ohne eigenen Verdienst werden sogar dann noch als machtlos wahrgenommen, wenn sie mit einem Millionär verheiratet sind.

Elitäre Voreingenommenheit

Nicht berücksichtigt wird die Tatsache, dass das Arbeitsleben für diejenigen, die die Schule mit wenigen Qualifikationen oder ohne Abschluss verlassen, nicht immer befriedigend oder profitabel ausfällt. Sich eher auf Ehe, Kinder und Familienleben zu verlegen, kann weit verlockender sein, als an der Supermarktkasse zu schuften. Für junge Frauen mit wenig schulischen oder beruflichen Qualifikationen ist die Investition in das eigene erotische Kapital in der Hoffnung, Ehefrau eines berühmten Fußballers, Popstar, Model oder Pin-up-Model wie Katie Price (»Jordan«) zu werden, auch wenn die Erfolgschancen gering sind, eine vernünftige Strategie, denn die Risiken sind ebenfalls gering, und der potenzielle Lohn ist hoch.53 Hoch gebildete Menschen vergessen in der Regel, dass sie eine privilegierte Minderheit darstellen. Ungefähr ein Fünftel aller Teenager verlässt Englands Schulen, ohne gut genug lesen, schreiben und rechnen zu können, um ein Erwachsenenleben zu führen; ein Viertel verlässt die Schule ohne irgendeinen Abschluss oder mit einem, der zu nichts Ehrgeizigem taugt.54 Die Zahl derer, die sich nach Alternativen umtun, mag demnach hier höher sein als in europäischen Ländern mit besseren Schulen.55

Jedem Gelehrten, der das Argument ins Feld führt, Frauen verfügten über besondere Gaben und Fertigkeiten, welcher Art auch immer, schlägt prompt Ablehnung entgegen, und er wird als »Essenzialist« geächtet. Im Prinzip steht der Begriff »Essenzialismus« für eine etwas angestaubte Theorie, der zufolge es zwischen Männern und Frauen wichtige und unveränderbare biologische Wesensunterschiede gibt.56 Sie wird oft bemüht im Zusammenhang mit einer evolutionspsychologischen These, der zufolge Männer vor allem in sexuelle Selektion |109|investieren, um die Frau zu finden, mit der sie ihre Gene an die nächste Generation weitergeben können, während Frauen vor allem in ihren Nachwuchs investieren. Grob gesprochen: »Sexualität für Männer und Fortpflanzung für Frauen« gilt als Wurzel aller sozialen und ökonomischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen. In der Praxis ist »essenzialistisch« unter Feministinnen zu einem recht handlichen Schimpfwort geworden, mit dem sich jedes als inakzeptabel erachtete Forschungsergebnis und jede dazugehörige Idee vom Tisch wischen lässt.57

Viele Feministinnen stellen meine Theorie des erotischen Kapitals so dar, als forderte ich Frauen auf, sich als Ehefrauen oder Stripperinnen zu prostituieren, statt der Lohnsklaverei auf dem Arbeitsmarkt Würde und Autonomie abzutrotzen. Sie empfinden meinen Ansatz als Verbrüderung mit Männern, die es lieber sehen, wenn Frauen Geld für Kosmetik und sexy Garderobe ausgeben als für berufliche Qualifikationen, auf dass sie sich zu einer Attraktion für Männer herrichten, anstatt ein unabhängiges Einkommen zu erstreben. Schönheit wird als Falle für Frauen gesehen, als Einladung zu sexueller Gewalt und als eine gute Ausrede für schlechte Bezahlung. Die meisten Reaktionen folgen der Denkschablone: Schönheit oder Hirn. Sie müssen sich entscheiden, beides geht nicht.58 In Wirklichkeit haben erfolgreiche Frauen oftmals sehr wohl beides. Und sie sind oft sogar noch »gut«!

Opferfeminismus

Der Feminismus ist inzwischen eine derart große Weltreligion mit so vielen konkurrierenden Sekten geworden, die untereinander immer wieder uneins sind, dass ich auf alle möglichen Angriffe, Diskussionen und Tatsachenverdrehungen gefasst bin. Bevor wir uns der einzelnen Feminismustheorien in Kulturen außerhalb Europas annehmen, gilt es die fundamentalen Unterschiede zwischen dem angelsächsischen Feminismus und der kontinentalen Version Frankreichs, Deutschlands und der Länder Südeuropas sowie dem Feminismus postsozialistischer |110|Länder zu bedenken.59 Viele radikale Feministinnen hängen einem Opferfeminismus an, der Frauen unweigerlich als Verlierer sieht. Andere, wie Camille Paglia, stehen auf dem Standpunkt, dass der Feminismus Frauen neben ihrer Autonomie auch Verantwortung überträgt und sie nicht jedes Mal, wenn sie ins Straucheln geraten, Männern die Schuld geben können.60 Ein Thema allerdings durchzieht so gut wie alle Sektionen des angelsächsischen Feminismus, den Postfeminismus eingeschlossen: eine handfeste Sexphobie und eine ablehnende Haltung gegenüber Schönheit und Genuss. Der puritanische angelsächsische Feminismus steht der Sexualität mit massivem Unbehagen gegenüber und versieht sie mit einer gnadenlos negativen Konnotation.61 Er hat folglich für Überlegungen zum Wert von erotischem Kapital wenig übrig und vermag nicht zu erkennen, dass dieses Frauen durchaus zugutekommen kann, statt ihnen eine Falle zu sein. Damit verhält sich der angelsächsische Feminismus wie ein Sklave, der sich freiwillig Ketten anlegt.

Sozialwissenschaftlerinnen lehnen prinzipiell die Vorstellung ab, dass physische Attraktivität und Sexualität im direkten Kontakt mit Männern ein Machtmittel für Frauen darstellen. Sie wird gehandelt als ein weiterer männlicher Mythos, dem zufolge Frauen ohnehin die Oberhand und daher keine weiteren Forderungen zu stellen haben.62 Die britische Feministin Sylvia Walby diskutiert Sexualität einzig und allein unter dem Aspekt der männlichen Kontrolle und übersieht dabei völlig, dass auch Frauen sich der Sexualität bedienen, um Männer zu kontrollieren. Sie räumt en passant ein, dass die Fähigkeit, Kinder zu gebären, eine der wenigen Machtbasen von Frauen ist, versäumt es jedoch, irgendwelche anderen zu erwähnen.63 Die feministische Theorie hat es bisher nicht vermocht zu erklären, warum Männer mit hohem Einkommen und Ansehen sich im zweiten Anlauf gerne für Luxusweibchen und -geliebte entscheiden, während Frauen, die es karrieremäßig zu etwas gebracht haben und gut verdienen, sich im Allgemeinen für Alphamänner entscheiden, statt für hübsche Lustknaben oder mittellose Männer, die perfekte Hausmänner abgäben.64 Madonna ist hier die Ausnahme von der Regel und ihrer Zeit voraus. Aber auch |111|andere erfolgreiche Frauen wählen attraktive jüngere Partner oder akzeptieren zu Hause eine Rollenumkehr.

Viele Feministinnen vertreten den Standpunkt, zwischen Ehe und Prostitution gebe es eigentlich keinen richtigen Unterschied, Heterosexualität sei der entscheidende Hebel zur Unterwerfung der Frau durch den Mann, das Patriarchat versuche durchzusetzen, was Carol Pateman als unter Männern ausgehandelten Geschlechtervertrag bezeichnet – die Kontrolle des sexuellen Zugriffs von Männern auf Frauen durch Männer.65 Ehe und Prostitution werden gleichermaßen als Formen der Sklaverei und der Unterwerfung unter den Willen von Männern dargestellt.66 Walby versteht Sexualität als Szenerio für jede nur denkbare Art von männlicher Gewalt gegen Frauen.67 Prostituierte werden als Opfer von Missbrauch und männlicher Gewalt porträtiert. All das gehört zum Standardprogramm moderner Seminare in der Gender-Forschung.68

Faktisch lehnt der Feminismus in all seinen Farben und Facetten Sex und Sexualität ab, statt danach zu trachten, Frauen die Kontrolle über ihre sexuellen Aktivitäten und ihre sexuellen Ausdrucksformen zuzugestehen. Viele Feministinnen haben durch die patriarchalische Sicht der Dinge eine solche Gehirnwäsche erfahren, dass sie nicht mehr in der Lage sind zu sehen, dass Sexualität und erotisches Kapital Machtinstrumente von Frauen sein können.

Sex und Gender

Manche Autoren legen eine massive Ambivalenz im Hinblick auf Begriffe wie Sex und Geschlechtlichkeit an den Tag und präsentieren beides als uns auferlegte, dem Patriarchat in die Hände spielende Last. Beide werden häufiger als »zweifelhaftes Vergnügen« und »Ausbeutungsinstrumente« denn als normaler Hort der Freude und der Selbstfindung beschrieben. Nirgends wird erwähnt, dass Heterosexualität von 95 bis 98 Prozent aller Menschen – in der Regel ausschließlich – bevorzugt wird. Die meisten Seminare im Bereich Gender-Forschung |112|setzen die Häufigkeit von Homosexualität bei Männern und Frauen deutlich höher an, als sie tatsächlich ist.69

Die französische Feministin Monica Wittig, selbst Lesbierin, lehnt die gegenwärtigen Vorstellungen von Mann und Frau vehement ab und hat für Heterosexualität nichts als Verachtung übrig. Ihrer Ansicht nach verbündet sich die gesamte visuelle Kultur – in Filmen, Zeitschriften, Werbung und Fotografie – zu einer erdrückenden heterosexuellen Denkmacht, die Frauen gegen ihren Willen in Beziehungen zu Männern zwingt. Alle Frauen sind versklavt und zum sexuellen Dienst am Mann gezwungen, nur Lesbierinnen und Nonnen kommen davon. Sie glaubt, dass Frauen drei Viertel aller Produktionsarbeit leisten. (Tatsächlich zeigen sogenannte Time-Budget-Studien, dass in modernen Gesellschaften Männer und Frauen im Mittel dieselbe Gesamtarbeitszeit ableisten, wenn man bezahlte Arbeit und unbezahlte Hausarbeit zusammenzählt.70) Sie behauptet, man sei sich heute allgemein darin einig, dass es so etwas wie Natur nicht gebe, und alles menschliche Handeln allein durch Kultur und Sozialisation geformt werde.71 Geschlecht und Sexualität werden als kulturelle und soziale Konstrukte dargestellt, die nicht im geringsten durch Physiologie, Hormone und mütterliche Erziehung oder als persönliche Entscheidung geformt werden.72 An keiner Stelle wird klar, wie es denn feministische Autorinnen geschafft haben, ihren intellektuellen Gefängnissen zu entrinnen.

Die australische Politikwissenschaftlerin Sheila Jeffreys liefert das beste Anschauungsmaterial für den feministischen Blick auf das erotische Kapital von Frauen. Mit Beauty and Misogyny (zu Deutsch etwa »Schönheit und Frauenhass«) legt sie eine beißende Schmähschrift gegen ausnahmslos jede Form von Schönheitspraktiken – alte wie neue – vor. Im Zuge dessen nimmt sie sich die Polemiken aller Feministinnen vor, durch deren Arbeit sie inspiriert wurde, führt sie zusammen, entwickelt deren Manifeste weiter und modernisiert sie – als da sind Andrea Dworkin, Catherine MacKinnon, Michele Barrett, Kathy Davis, Judith Butler, Monique Wittig, Karen Callaghan, Sandra Bartsky, Naomi Wolf und viele mehr. Sie verkündet stolz, sie als Lesbierin und ihre Partnerin verzichteten auf jede Form von Schönheitspflege.|113|73 Zweifellos erachten sie auch adrette Kleidung und Eleganz im Umgang als sexistisch.

Jeffreys räumt ein, dass manche Feministinnen das Schönheitsstreben von Frauen verteidigen und zu bedenken geben, dass Frauen in modernen Gesellschaften größere Freiheit haben, zu tun, was ihnen beliebt als in jeder anderen Epoche zuvor. Solcherlei Schützenhilfe aber wird von ihr entschieden als Beleg dafür gewertet, dass Frauen oftmals »kulturelle Kretins« seien, die von Männern durch Bilder aus Werbung und Pornographie einer Gehirnwäsche unterzogen und zu dem Glauben verleitet worden seien, weiblich aussehen zu müssen, um so die sexuellen Gelüste von Männern zu bedienen.

Jeffreys behauptet, Frauen würden gegen ihren Willen bedrängt, schön und sexy auszusehen, sowie zu Ritualen und Handlungen gezwungen, die eine künstlich »feminine« Erscheinung und einen weiblichen Stil hervorbrächten. Frauen machten aus der Not eine Tugend, eine feminine Erscheinung und weibliches Auftreten seien Schandmale einer Sklavin, die sich Männern unterworfen hat. Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Männlichkeit und Weiblichkeit seien »sich hartnäckig haltende Mythen«, die die männliche Vorherrschaft sichern sollten. Der Hauptzweck der Mode bestehe darin, auch in der Kleidung Geschlechtsunterschiede zu schaffen. Mode schüfe Bekleidung, die Frauen erniedrige und frauenfeindlich sei. Alle Kosmetik sei giftig und schädlich. Kosmetische Chirurgie, Enthaarung und andere Formen von kosmetischen Eingriffen seien so schmerzhaft, dass sie einer Folter gleichkämen. Alle Frauen quälten sich selbst mit hohen Absätzen, um Männern zu gefallen. Aus demselben Grund verstümmelten Frauen sich selbst durch Piercings und Tattoos und westliche Kulturen zwängen Frauen zu alledem. Das erotische Kapital einer Frau wird zum Beleg ihrer Unterwerfung unter den Mann. Jedes Bestreben, das eigene erotische Kapital aufzustocken, beweise, dass Frauen unter dem sogenannten »Stockholm-Syndrom« litten, einem psychologischen Phänomen bei Geiseln, die unter gewissen Umständen beginnen, eine Beziehung zu ihren Entführern aufzubauen und mit diesen gemeinsame Sache machen.

|114|Wenn nur die Hälfte von alledem wahr wäre, müssten entweder alle Frauen inzwischen geisteskrank sein, oder es hätte eine Revolution geben müssen.

Sheila Jeffreys’ Polemik mag eine Übertreibung sein, eine extreme Aussage, aber sie spiegelt sehr genau die allgemeine Tendenz des feministischen Blicks auf erotisches Kapital wider. Der Mann ist der Feind. Mit ihm zu kooperieren heißt, mit dem Feind schlafen. Männer beuten Frauen aus. Und doch soll es zur gleichen Zeit keine echten Unterschiede zwischen Männern und Frauen geben! Solche Feministinnen prangern den Essenzialismus an und praktizieren ihn doch unablässig.74

Von Zeit zu Zeit räumen Vertreterinnen der feministischen Theorie ein, dass es anderslautende Beweise gibt. Viele Berufe leben von der Ausbeutung des menschlichen Körpers, gehen mit Verletzungen und Schmerzen einher und sind doch frei gewählt. Balletttänzerinnen lächeln beim Spitzentanz trotz höllischer Fußschmerzen eine ganze Aufführung hindurch. Sportler und Athleten erleiden regelmäßig Verletzungen und bedürfen langer und schmerzhafter Genesungsphasen und Wiederaufbautrainings.75 Die meisten Schönheitspraktiken haben eher etwas Spielerisches, Kreatives, sind schmerzfrei und in den allermeisten Fällen nicht schädlich.76 Aber anderslautende Belege werden gerne als parteiisch verworfen, obwohl Opferfeministinnen selbst sich unablässig auf selektiv verlesene Tatsachen stützen.

Hat solche feministische Missbilligung irgendwelche Folgen? Das stete Anwachsen der Verkaufszahlen für Kosmetika, Kleidung, ja sogar für kosmetische Chirurgie und Zahnbehandlungen legt den Verdacht nahe, dass steigender Wohlstand und die alltägliche Wirklichkeit einflussreicher sind als die feministische Rhetorik.

Und doch spielt sie eine Rolle. Jahr für Jahr belegen Hunderte junger Frauen Kurse und Seminare im Forschungsbereich Gender Studies, aus denen sie am Ende nicht gestärkt, sondern gedemütigt, nicht selbstbewusst, sondern wütend hervorgehen. Die dort gebotene feministische Botschaft stachelt – ausdrücklich oder unterschwellig – einen ohnmächtigen Zorn auf Männer und eine Gesellschaft an, die außer Enthaltsamkeit und Homosexualität keine realistische Alternative zu |115|Heterosexualität und Ehe zu bieten scheint.77 Psychologen zufolge gibt es bei Gefahr und Angst vor allem zwei mögliche Reaktionen: Angriff oder Flucht. Enthaltsamkeit und Homosexualität sind unter Umständen beide eine Fluchtreaktion aus Furcht vor männlicher Dominanz und zeugen in diesem Falle von Mutlosigkeit.78 Die größte Trumpfkarte einer heterosexuellen Frau, erotisches Kapital und Fruchtbarkeit, wird praktisch mit Füßen getreten, nicht nur für wertlos, sondern gar für Verrat und Torheit erklärt. Die Folge davon ist, dass Frauen ihrer Identität noch mehr beraubt werden. Opferfeministinnen schüren de facto weibliche Hilflosigkeit. Indem sie die Gesellschaft, die Kultur und die Männer für alle Schwierigkeiten verantwortlich machen, laden sie Frauen ein, passiv zu bleiben, keine Verantwortung für ihr Leben, ihr Auskommen und für Veränderungen zu übernehmen. Der Opferfeminismus liefert kein Manifest zur Gegenwehr, sondern zum Rückzug.

Der Widerstand gegen den sogenannten Lookism verkörpert die angelsächsisch-puritanische Abneigung gegen Schönheit und Sexualität beziehungsweise erotisches Kapital im Allgemeinen. Es wird argumentiert, dass jede Kenntnisnahme der äußeren Erscheinung eines anderen sich klipp und klar verbiete, womit die Nutzung von erotischem Kapital praktisch für unerlaubt erklärt wird.79 Solches führt geradewegs in die patriarchalische Gesinnungsfalle. Die jüngste Erweiterung hat diese Strömung durch die Verherrlichung von Übergewicht erfahren, die niemandem auch nur den geringsten Vorteil bringt. Dass Feministinnen sich für eine derart nutzlose Kampagne stark machen, lässt vermuten, dass die Bewegung zu einer Ideologie der Dauerkonfrontation verkommt, in der für Fakten und Vernunft kein Raum mehr ist. Es verwundert nicht, dass viele junge Frauen den Feminismus heute als irrelevant betrachten.

Die unheilige Allianz

Sexualität ist der Elefant vor unserer Nase, über den jeder am liebsten hinweg sähe, weil er zu groß ist, um ihn anzupacken. Und doch scheint |116|er für Psychologen, Sozialwissenschaftler und Journalisten gleich unsichtbar.80 Wenn man sich fragt, warum Männer stets das Bedürfnis haben, Frauen gegenüber die Macht zu behalten, worin Frauenhass und Gewalt gegen Frauen sowie der männliche Widerstand gegen weibliche Unabhängigkeit und Autonomie begründet liegen, kommt man um das männliche Sexdefizit als Schlüsselfaktor nicht herum. Neben vielem anderen erklärt es auch, warum Frauen männliche Lust grundsätzlich als unangemessen, überbordend, irrational empfinden – und damit ihre mangelnde sexuelle Kooperation rechtfertigen. Obwohl Ergebnisse aus Umfragen zum Sexualverhalten vorliegen, die bis in die 90er Jahre zurückreichen, lässt keiner derjenigen, die sich zur Frage der Beziehungen zwischen Männern und Frauen geäußert haben, erkennen, dass er die Befunde – und insbesondere das männliche Sexdefizit – wirklich zur Kenntnis genommen hat.81 Feministische Mythen über die Sexualität werden trotz Mangels an bestätigenden und einer Fülle an widersprechenden Beweisen als Fakten behandelt. Jeder tut so, als bestünde zwischen männlichem und weiblichem Sexualtrieb vollkommene Übereinstimmung, nur weil das zur korrekten politischen Lesart geworden ist. Das weniger stark ausgeprägte sexuelle Interesse seitens der Partnerin wird damit für den Mann – vor allem im Kontext seiner lebenslang größeren Vorliebe für sexuelle Vergnügungen – zu einem umso größeren Tiefschlag, einer derben persönlichen Zurückweisung.

Viele Feministinnen stehen auf dem Standpunkt, dass Sexualität, ja, das Geschlecht selbst, ein »gesellschaftliches Konstrukt« und nichts Natürliches, durch die Physiologie Geformtes sei. Sie lehnen die Vorstellung ab, der Geschlechtstrieb könne bei Männern in irgendeiner Weise stärker sein als bei Frauen, und halten dagegen, es handle sich schlicht um ein »kulturelles Konstrukt«, und die Frau sei in ihrer Sexualität von jeher unterdrückt worden. Zum Beleg verweisen sie auf die Vielfalt an Sexualkulturen auf der Welt, speziell auf solche, die lange Phasen der Enthaltsamkeit vorsehen, oder, seltener, solche, die Promiskuität begünstigen. Diese Argumentation ist natürlich Unsinn, eine unlogische Verknüpfung von Dingen, die nicht zusammengehören. |117|Es gibt zum Beispiel rund um den Globus eine noch weit größere Vielfalt der Kochkultur und der Ernährungsweise – da gibt es veganische und vegetarische Kost, fischreiche und fleischreiche Küchentraditionen, dazu jede Menge pikante Varianten wie japanische Sushi und Sashimi und feurigscharfe indische Currys. Ernährungsweise und Küchentraditionen sind ohne Frage ein »soziales Konstrukt« und durch die jeweilige lokale Kultur definiert. Das aber spricht nicht gegen die Realität des Hungers als einem natürlichen Trieb und Essen als physiologischer Notwendigkeit. Hunger ist eine mächtige Triebfeder. Libido und Lust sind ebenfalls Triebfedern – auch wenn die Kultur die sexuellen Ausdrucksformen beeinflusst.82 Sämtliche Ergebnisse aus Umfragen zum Sexualverhalten und anderen Studien deuten auf ein stärkeres sexuelles Verlangen und eine stärker ausgeprägte Libido bei Männern hin. Die männliche »Sexbesessenheit«, wie sie von vielen Frauen empfunden wird, ist keine Erfindung, sondern Tatsache, und hält im Allgemeinen ein Leben lang an, sogar bis weit in das Alter hinein, in dem das Ausleben unmöglich geworden ist.

Paradoxerweise stammen die überzeugendsten Belege hierzu aus Studien mit Homosexuellen, die der Gehirnwäsche und der Sozialisation durch die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft gegenüber einigermaßen unempfindlich sein sollten. Lesbische Paare haben seltener Sex als jede andere befragte Gruppe. Schwule Paare haben häufiger Sex als jede andere Gruppe – und ihr promisker Lebensstil macht sie zum Neidobjekt so manches Heterosexuellen. Schwule in dauerhaften Beziehungen, die sich in sexueller Hinsicht langweilen, erhalten ihr Sexleben durch Gelegenheitssex und flüchtige Abenteuer abwechslungsreich.83 Selbst bei Menschen, die aus der heterosexuellen Hegemonie herausgetreten sind und sich ihre eigene unabhängige Sexualkultur gönnen, sind also die Männer im Mittel sexuell deutlich aktiver als die Frauen, auch wenn sich die Verteilungen wie immer überlappen. Psychologen scheint dieser Sachverhalt seit Langem wohlvertraut.84

Feministinnen haben sich entschlossen der Aufgabe verschrieben, patriarchalische Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen und mit patriarchalischen Mythen aufzuräumen, und das mit großem Erfolg. |118|Doch wenn es zum Thema Sexualität kommt, tun sich die beiden Lager plötzlich wieder zusammen und attackieren liberale Ansichten und Grundsätze.

Im klassischen Falle verbünden sich religiöse und ultrakonservative Kreise, die patriarchalische Werte vertreten, mit radikalen Feministinnen, um für die Kriminalisierung und Abschaffung von Prostitution zu streiten, im Regelfalle indem sie moralische Entrüstung schüren und moralisch begründete Kreuzzüge gegen Zuhälterei, Menschenhandel, Kinderpornographie und die Bande zwischen Prostitution und organisiertem Verbrechen vom Zaun brechen. Die Schweden werden vielleicht bestreiten, dass genau diese Koalition zu jenem Gesetz aus dem Jahre 1999 führte, das in einem letzten Versuch, das Gewerbe samt und sonders abzuschaffen, alle Konsumenten käuflicher sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellte. Die gesamte schwedische Sozialpolitik sieht sich dem Ziel verpflichtet, die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen, und macht sich damit unangreifbar. In anderen Ländern ist die unheilige Allianz von Patriarchat und Feminismus unübersehbar.

In den Niederlanden wurde die Prostitution offiziell im Jahre 2000 legalisiert, in Neuseeland im Jahre 2003. In Deutschland sind Bordelle seit 2002 nicht mehr »sittenwidrig«, und zum Schutz vor Ausbeutung und Diskriminierung wurde der Schutz der Straf- und Sozialgesetzgebung auf Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen ausgedehnt, so dass diese der übrigen Bevölkerung nun rechtlich gleichgestellt sind. Ähnliche Vorschläge zu einer Entkriminalisierung dieses Erwerbszweigs wurden in Großbritannien und Kanada von Feministinnen im Verbund mit konservativen Kräften blockiert. In Großbritannien taten sich im Jahre 2009 zwei feministische Ministerinnen der Labour-Regierung zusammen, um das Prostitutionsgewerbe noch stärker ins kriminelle Abseits zu drängen als bisher: die Frauen- und Gleichstellungsministerin Harriet Harman und die Innenministerin Jacqui Smith. Ihre Politik wurde trotz der Aufrufe einiger Feministinnen zur vollständigen Entkriminalisierung von Prostitution durchgesetzt. In Australien begann sich in den 90er Jahren ein Trend hin zu einer Liberalisierung |119|der Gesetze zur Regulierung der Sexindustrie abzuzeichnen, der jedoch von Zusammenschlüssen aus Konservativen und Feministinnen gestoppt wurde.85

Der Fall Australien ist exemplarisch für das übliche Muster, nach dem solche Debatten ablaufen. Die von Konservativen und religiösen Gruppen vertretenen patriarchalischen Werte spiegeln sich in Forderungen wie der, dass sexuelle Aktivitäten auf Ehe und feste Beziehungen beschränkt bleiben sollten, und der Ansicht, Prostitution sei verderbt, unrein, abstoßend und verseuche die Gesellschaft insgesamt, wider – eine Rückbesinnung auf die klassische Dichotomie Heilige oder Hure. Für feministische Frauenbefreier ist Prostitution klar gleichzusetzen mit männlichem Dominanzstreben und dem Missbrauch von Frauen und Kindern, sie behaupten, alle Prostituierten würden ausgebeutet. Um dem Ganzen noch mehr Gewicht zu verleihen, wird obendrein gerne behauptet, dass regelmäßig Kinder zur Arbeit in diesem Gewerbe gezwungen werden, was in Wirklichkeit glücklicherweise nur selten der Fall ist. Beide – Konservative und Befreiungsfeministinnen – behaupten fälschlicherweise, dass der gesamte Erwerbszweig von Dealern, Zuhältern, organisiertem Verbrechen und Drogenhandel beherrscht wird. Tatsächlich ist Prostitution in Australien relativ frei von all diesen Problemen. Der eigentliche Disput tobte dort um die Frage, ob Frauen erotische Dienstleistungen zu Honoraren anbieten dürften, die weit über dem liegen, was sie in anderen Berufen verdienen würden.86 Wie üblich spielte männliche Prostitution in der Diskussion keine Rolle.

Das erotische Kapital von Frauen, das, beabsichtigt oder nicht, männliches Verlangen provoziert, lässt sich unmöglich losgelöst vom männlichen Begehren betrachten. Männer verlangt es nicht nach 80-jährigen zerknitterten Großmüttern, so rüstig und temperamentvoll diese auch sein mögen. Sie begehren junge und attraktive Frauen, die noch Interesse an sexuellen Spielereien haben. Beide – die Vertreter der patriarchalischen Weltsicht (Männer wie Frauen) ebenso wie die Feministen und Feministinnen – führen eine erbitterte Fehde gegen die Freiheit von Frauen, ihr erotisches Kapital einzusetzen und daraus |120|maximale Einkünfte und Vorteile zu beziehen. Die vorgebrachten Argumente mögen sich unterscheiden, aber beide Gruppen haben dasselbe erklärte Ziel. Männer sollten Frauen für sexuelle Gefälligkeiten oder erotische Unterhaltung nicht bezahlen müssen, sondern ohne Gegenleistung bekommen, was sie haben wollen – oder (wie radikale Feministinnen und manche religiösen Gruppierungen es lieber sähen) lernen, ganz ohne Sex auszukommen. Viele radikale Feministinnen haben eine grundsätzlich kritische Haltung zu Sex, Erotik und vor allem zu Männern. Keine der beiden Gruppen hat eine konstruktive Lösung für das männliche Sexdefizit zu bieten, das – wie unsichtbar auch immer – jeder Beziehung zwischen Männern und Frauen zugrunde liegt.

Die einzige realistische Lösung wäre die vollständige Entkriminalisierung der Sexindustrie, der man ein ebensolches Florieren zugestehen sollte wie jeder anderen Freizeitindustrie auch. Das zwischen Männern und Frauen herrschende Ungleichgewicht in Bezug auf das sexuelle Interesse würde sich genau wie in anderen Unterhaltungsbranchen durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage auflösen. Männer würden vermutlich feststellen, dass sie mehr zu zahlen hätten, als sie es bisher gewohnt waren, und attraktive aber mittellose junge Frauen und Studentinnen könnten ohne Furcht vor polizeilichem Eingreifen Geld verdienen. Alles in allem würden Frauen in Beziehungen an Macht gewinnen.

Der erotische Spielplatz

Fortpflanzung und Vergnügen sind die beiden Grundpfeiler aller Sexualmoral, wobei in der Regel jeweils das eine oder andere die Oberhand hat.87 Kulturen, die dem Vergnügen prinzipiell zugetan sind, stehen etwaigem Nachwuchs gelassen gegenüber. Gelegenheitssex – auch unter Fremden – wird akzeptiert, und es wird ein gewisser Wert auf Verführungskünste und sexuelle Erfahrenheit gelegt.88 Die christliche Kultur hat immer dazu tendiert, Sexualität unauflöslich mit Fortpflanzung |121|zu verknüpfen, die vorherrschende Moral beschränkt Sexualität daher auf die Ehe, unter anderem um sicherzustellen, dass der Nachwuchs in angemessener Weise versorgt wird.89 Die vergnüglichen und freudvollen Aspekte von Sex wurden seitens der christlichen Moralinstanzen in der Vergangenheit stets heruntergespielt, ignoriert, ja aktiv geleugnet.90 Die »kontrazeptive Revolution«, die revolutionäre Erfindung oraler Verhütungsmittel hat die althergebrachten Ängste vor Schwangerschaft und Kinderversorgung aus der Welt geschafft. Unsere Vorstellungen von einer Sexualmoral aber sind bisher nicht auf einen Stand gebracht worden, der den neuen Realitäten genügt.

Die moderne Technologie macht es möglich, die Vaterschaft bei einem Kind mittels DNA-Analysen zu bestimmen. Vielleicht wird dies am Ende dazu führen, dass patriarchalische Weltbilder und Praktiken dahinwelken und sterben. In seinem Science-Fiction-Roman Schöne neue Welt entwarf Aldous Huxley eine Zukunftswelt, in der Elternschaft für Männer ebenso wie für Frauen keine Rolle mehr spielt und jeder sich sexuell verwirklicht, wie und wo immer es ihn gelüstet. Gegenwärtig werden moderne Kulturen noch immer von patriarchalischen Werten beherrscht.

Der radikale Feminismus schafft es nicht, eine moderne Sexualmoral vorzulegen, die dem 21. Jahrhundert gerecht wird und die der alten Doppelmoral, die weibliche Sexualität mit größeren Einschränkungen belegt als die männliche, ein Ende macht. Der angelsächsische Feminismus hat sich nie von dem puritanischen Moraldenken befreit, das Vergnügen als sündig verpönt und Sexualität hierbei als besonders schweren Fall betrachtet. Die Feindseligkeit Männern gegenüber wird in allen Diskussionen um Dinge wie Sex und Sexualität spürbar. Ehe, Prostitution, Heterosexualität, abseitige sexuelle Vorlieben und Praktiken, Abtreibung und Ehebruch sind an irgendeinem Punkt von Feministinnen angegriffen worden. Der angelsächsische Feminismus hat die Aufspaltung in »gute« und »schlechte«, monogame und promiskuitive Frauen, Madonnen und Huren nie gänzlich überwunden – ein Weltbild, das Männer über Jahrhunderte hinweg benutzt haben, um über Frauen zu herrschen, sie an Heim und Herd zu binden. Wissenschaftliche |122|Bücher zum Thema Geschlecht und Sexualität sehen beide eher als »zweifelhaftes Vergnügen« und »Ausbeutungsinstrumente«, denn als normale Quelle des Vergnügens und der Selbstfindung. Heterosexualität wird als eine von der Kultur und vom Patriarchat auferlegte Zumutung, die Familie als Gefängnis für Frauen dargestellt. So mancher feministische Text porträtiert Frauen als Opfer männlicher Gewalt, sexueller Zudringlichkeiten und wirtschaftlicher Unterdrückung, wobei Prostitution als höchstmögliche Form der Ausbeutung wehrloser und machtloser Frauen durch Männer gilt.

Französische und deutsche Feministinnen hingegen weisen selbstbewusst die Vorstellung zurück, Sex und Sexualität seien das Fundament aller Unterdrückung der Frau durch den Mann, und stehen der Prostitution in den meisten ihrer Ausprägungen gelassen gegenüber. Sie sind sich der Bedeutung von Erotik und Phantasie für das Leben insgesamt bewusst und erachten Frauen als durchaus fähig, sich, wenn nötig, gegen Männer selbst zu verteidigen, und halten die weibliche und männliche sexuelle Identität sowie die Kunst der Verführung für eine wichtige Sache. Mit wenigen Ausnahmen91 weisen französische und deutsche Feministinnen den angelsächsischen Feminismus in all seinen Erscheinungsformen zurück.92 Sie haben zudem konstruktivere Lösungen für die männliche Dominanz zu bieten als Enthaltsamkeit oder Homosexualität. Barbara Sichtermann findet beispielsweise, man sollte Männer auffordern, ebenfalls an ihrem erotischen Kapital zu arbeiten, damit sie für Frauen attraktiver werden, und so zu einer wahren Gleichstellung der Geschlechter beitragen.93 Faktisch ist das, angefacht durch die neue Gleichheit der Frau auf dem Arbeitsmarkt, genau der gegenwärtige Trend. Das muskulöse Idealbild des Mannes, das Zeit und Mühe im Fitnessstudio erfordert, ist eine relativ junge Entwicklung.94 Erfolgreiche Frauen entscheiden sich wie die amerikanische Schauspielerin Demi Moore für attraktive junge Liebhaber und Gatten. Ehen mit umgekehrten Rollenverteilungen nehmen zu – man denke an Marjorie Scardino, die amerikanische Geschäftsführerin des britischen Mediengiganten Pearson.

Grundsätzlich scheint die französische Sexualkultur in Anbetracht |123|ihrer langen Tradition der höfischen Liebe und des Zelebrierens von ehelicher und außerehelicher Erotik und Sexualität am besten zu den modernen Gegebenheiten zu passen. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Feministinnen halten ihre französischen Kolleginnen Schönheit, Sexualität und Verführungskunst hoch. In Das andere Geschlecht stellt Simone de Beauvoir fest, Weiblichkeit sei ebenso sehr Erziehungssache und Inszenierung wie eine physische Realität, aber sie schmälert deren Verdienste nicht. Die französische Philosophin und Feministin Luce Irigaray fordert in ihrem Werk Ethik der sexuellen Differenz, eine »Ethik der Sexualität oder des Fleisches« und fordert »für unsere künftige Zivilisation, für die menschliche Reife«, eine Kultur des bewussten Umgangs mit der Geschlechterdifferenz.95 Der französische Staat misst der Qualität des Geschlechtsverkehrs offenbar hinreichend Bedeutung bei, um allen frischgebackenen Müttern sechs Wochen nach der Geburt einen Kurs zum Beckenbodentraining zu bezahlen, auf dass sie sich in ihrer Beziehung rascher wieder sexuell betätigen (und natürlich ihre Figur wiedererlangen) können.96 Französische Umfragen zum Sexualverhalten künden von den weit und breit höchsten Orgasmusraten und dem höchsten Grad an sexueller Befriedigung, in beiden Fällen liegen die Franzosen um Längen vor Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Finnland.97 Außerehelicher Sex ist weder Volkssport noch verboten, aber Männer und Frauen schätzen die Kunst der Verführung hoch. Affären werden als Abenteuer bezeichnet und ergeben sich, wenn es die gegenseitige Anziehung und die Umstände erlauben. Es geht darum, das Leben so erschöpfend wie möglich auszukosten. Einige der aufsehenerregendsten Bücher zur weiblichen Sexualität wurden von Französinnen geschrieben: Die Geschichte der O., die Tagebücher der Anaïs Nin, Der Liebhaber, und aus jüngerer Zeit Das sexuelle Leben der Catherine M.98 Diese Texte bilden einen krassen Gegensatz zu den moralisierenden Romanen englischer Autoren wie Daniel Defoes Moll Flanders oder Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeit oder aktuellen Memoiren wie Lynn Barbers An Education.99 Französinnen sind berühmt für ihre Schönheit, ihre gepflegte Erscheinung und ihren Stil. Sie betrachten es als selbstverständlich, dass jeder Mensch in sein erotisches |124|Kapital ebenso investiert wie in eine gute Schulbildung, da sich dieses sowohl in persönlicher als auch in beruflicher Hinsicht in vielfacher Weise auszahlt. Diese Bejahung von Erotik steht in krassem Gegensatz zu der ablehnenden Haltung Sex gegenüber, wie ihn die puritanischen angelsächsischen Kulturen und radikale Feministinnen pflegen.

Im November 2010 organisierte die Financial Times in London eine Konferenz zum Thema Frauen in Führungspositionen, um die Leistungen der 50 erfolgreichsten Geschäftsfrauen der Welt zu würdigen. Über den Inhalt berichtete eine Sonderausgabe. Die französische Finanzministerin, Christine Lagarde, hielt das Eingangsreferat, bevor sie nach Brüssel zu einem Treffen der EU-Finanzminister eilte. Die Financial Times zählt Lagarde im Hinblick auf Einfluss, Effizienz und Autorität zu den drei Top-Finanzministern der EU. Das hindert sie nicht daran, ausgesprochen elegant gekleidet, erstklassig frisiert, schlank, attraktiv und charmant mit untadeligen sozialen Umgangsformen aufzutreten – und nebenbei ihr Amt höchst professionell auszufüllen. Als ehemalige Synchronschwimmerin in der Nationalmannschaft ist sie körperlich in ausgesprochen guter Verfassung, und sie sagt, körperlich fit zu bleiben, sei sogar noch wichtiger als genügend Schlaf. In ihrer Rede würdigte Lagarde ihre Mutter, die ihr beigebracht habe, wie man sich gut kleidet und wie man mit anderen Menschen redet.

Von den Französinnen können alle Frauen etwas darüber lernen, wie sich erotisches Kapital mit vorzüglichen professionellen Leistungen kombinieren lässt, und auch, dass es denjenigen, die im Bildungssystem nicht zu den Gewinnerinnen gehören, eine wertvolle Alternative eröffnen kann.100