|51|Kapitel 2

Die Politik des Begehrens

Der Unterschied zwischen Männern und Frauen

Ein Südafrikaner Mitte 50 sucht seinen Arzt auf und klagt über Impotenz. Nach vorsichtigem Befragen stellt sich heraus, dass er Probleme hat, allnächtlich seine Frau zu befriedigen, wenn er vorher bereits mit seiner Freundin geschlafen hat. Seine Frau verdächtigt ihn mittlerweile, mehr als eine Freundin zu haben und macht ihm zu Hause das Leben schwer.1

In Woody Allens Stadtneurotiker gibt es eine Szene, in der die beiden Protagonisten parallel mit ihrem jeweiligen Therapeuten über ihre Beziehung reden. Woody Allens Psychiater fragt: »Wie oft schlafen Sie zusammen?«, und er antwortet traurig: »Eigentlich kaum, vielleicht dreimal in der Woche.« Unterdessen fragt Diane Keatons Therapeutin: »Haben Sie oft Verkehr?«, und Keaton antwortet sichtlich entnervt: »Ständig, dreimal in der Woche ungefähr.«

In Bezug auf die menschliche Sexualität gibt es eine Riesenbandbreite an Vorstellungen und Normen. Viele Afrikaner betrachten es als Regel, dass ein Mann mindestens einmal am Tag Sex hat. Das ist mehr als das Doppelte dessen, was europäische Paare im Durchschnitt berichten. Die »sexuelle Revolution« der 60er und 70er Jahre verhalf der Sexualität in der westlichen Welt zu ungeahnter Blüte, aber die Menschen in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens liegen, was ihre sexuelle Aktivität betrifft, noch immer weit hinter anderen Kulturen. Jüngere Forschungen haben diesbezüglich ein großes Spektrum offenbart.

|52|Mein ursprüngliches Motiv für die Beschäftigung mit sexualwissenschaftlichen Erhebungen war die Frage gewesen, ob das erotische Kapital eines Menschen dessen Geschlechtsleben beeinflusst oder nicht. Ich ging davon aus, dass ein schöner Mann häufiger und leichter Frauen verführt als ein weniger ansehnlicher, und fragte mich, ob seit der sexuellen Revolution in den 60er Jahren für schöne Frauen wohl dasselbe galt? Meine Entdeckungsreise begann mit einer britischen Studie von 1990, die es zu einiger Berühmtheit brachte, weil die damalige Premierministerin Margret Thatcher entschied, dass sie auf keinen Fall vom Gesundheitsministerium gefördert werden würde, und dabei stieß ich auf Dutzende weiterer sexualwissenschaftlicher Umfragen, die, auf drei Regalen der Bibliothek dicht gestapelt, ihr Dasein fristeten. Ihre Lektüre bot mir einen Auffrischungskurs über Sexualität und Sexualkunde in unserer Zeit.

Viele Monate später wurde mir klar, dass so gut wie keine der Studien Informationen darüber enthielt, wie attraktiv die befragten Probanden selbst eigentlich gewesen waren. Sex-Appeal ist für die sexuelle Aktivität eines Menschen zweifellos nicht ohne Belang, doch die meisten Erhebungen unternahmen noch nicht einmal den Versuch, ihn zu bemessen oder seinen Einfluss auf das Geschlechtsleben der Probanden unter die Lupe zu nehmen. Noch weniger wurde die Frage angegangen, inwieweit eine größere oder geringere sexuelle Kompetenz das übrige Leben der Probanden beeinflusst.

Das Durchforsten der Umfragen erwies sich dennoch als unerwartet fruchtbar, denn sie brachten eine soziologische Schlüsselerkenntnis an den Tag, die in wissenschaftlichen Arbeiten in der Regel beschönigt oder übergangen wird – die Tatsache nämlich, dass bei Männern auf der ganzen Welt offenbar ein permanentes Sexdefizit besteht. Männer jeden Alters hätten grundsätzlich gerne mehr Sex, als sie bekommen. Frauen lassen ein sehr viel geringeres Maß an sexuellem Verlangen und sexueller Aktivität erkennen, so dass Männer offenbar den größten Teil ihres Lebens in mehr oder weniger ausgeprägter sexueller Frustration verbringen.

Das widerspricht völlig der verbreiteten Ansicht, Männer und Frauen |53|hätten im Prinzip ein gleiches Maß an sexuellem Verlangen und es sei allein die sexuelle Unterdrückung durch traditionelle Sittlichkeitsvorstellungen, Religion und eine völlig ungerechtfertigte Doppelmoral, die die weibliche Sexualität kurz halten. Einige Umfragen sprechen dafür, dass sich die sexuelle Aktivität von Männern und Frauen mehr und mehr anzunähern beginnt, und bestärken die als politisch korrekt empfundene Lesart, der zufolge weibliche Sexualität in der Vergangenheit unterdrückt worden ist, inzwischen aber ungehinderte Freiheit genießt, weshalb die Unterschiede zwischen den Geschlechtern geringer und mutmaßlich irgendwann ganz verschwinden werden.2 Andere, objektivere und ehrlichere, Studien räumen ein, dass mancherlei Veränderungen zum Trotz zwischen den Geschlechtern weiterhin große Unterschiede bestehen, und kommen – einigermaßen verwundert – zu dem Schluss, dass weibliche und männliche Sexualität zwei recht verschiedene Angelegenheiten sind.3 Es sieht ganz danach aus, als seien es die jeweils obwaltenden sexualpolitischen Vorstellungen, die den sexualwissenschaftlichen Studien ihren Stempel aufdrücken.

Die Einsicht, dass wir es mit einem fortwährend bestehenden männlichen Sexdefizit zu tun haben, ist von derart eminenter Bedeutung, dass sie in diesem Kapitel eine solide Untermauerung erfahren muss. Sogar in Situationen, in denen zwischen den Geschlechtern wenig oder kein Ungleichgewicht bezüglich des erotischen Kapitals besteht, beeinflusst das männliche Sexdefizit die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in der Öffentlichkeit wie im Privatleben. Das aus der Wirtschaftssoziologie bekannte »Prinzip des geringsten Interesses« (principle of least interest), demzufolge die Bedingungen einer Beziehung stets durch den Partner mit dem geringsten Interesse an derselben diktiert werden, und der große männliche Bedarf an attraktiven Frauen verhelfen dem erotischen Kapital einer Frau zu ungeheurer Wertsteigerung. Das Ungleichgewicht zwischen männlichem und weiblichem sexuellen Interesse verschafft Frauen in privaten Beziehungen einen bedeutenden Vorteil – so sie ihn erkennen. Viele Befunde aus den Umfragen passen perfekt in dieses Bild von einer Politik des Begehrens und Begehrtwerdens.

|54|Die sexuelle Revolution

Die Einführung der Pille und anderer verlässlicher Formen der modernen Verhütung schenkte den Frauen zum ersten Mal in der Geschichte die unmittelbare Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit. Das hatte zur Folge, dass sie ihre Investitionen in Bildung und Karriere massiv verstärkten, und mündete schließlich in die Gleichstellungsrevolution.4 Frauen verlagerten ihr Betätigungsfeld von Abschlüssen in Sprachen, Literatur und Kunstgeschichte hin zu einst männlich dominierten Berufszweigen wie Jura, Wirtschaft, Medizin, Pharmazie und Verwaltung. Als die Schranken einmal gefallen waren, stieg der Anteil an Frauen in gutbezahlten Berufen in den meisten Ländern schlagartig auf etwa 50 Prozent.5 Die Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt änderten sich grundlegend, sie sollten Männern de facto gleichgestellt werden.6 Auch das Privatleben veränderte sich – bis zu einem gewissen Punkt.

Männer sagen niemals nein, wenn sie kostenlos und unverbindlich Sex haben können – Legende oder Fakt? Psychologen in den Vereinigten Staaten haben gutaussehende junge Männer und Frauen auf dem Campus attraktive Menschen ansprechen und zu einem Rendezvous – oder ein bisschen mehr – einladen lassen. Die Hälfte der Angesprochenen erklärte sich zum Sex mit einer fremden Person bereit, die Hälfte lehnte ab. Dabei waren Männer von diesem Gratis-Angebot deutlich stärker angetan als Frauen: Zwei Drittel willigten ein, mit der Frau in ihre Wohnung zu gehen, drei Viertel, mit ihr noch am selben Abend zu schlafen, wohingegen keine der Frauen zum Geschlechtsverkehr bereit war, und nur winzige 6 Prozent willens, zu dem Mann in die Wohnung zu gehen.7

Es sieht so aus, als sei das Einzige, was das männliche Interesse an Sex in irgendeiner Weise zu zügeln vermag, die Aussicht, dafür – in Gestalt von Geld oder Ehe – bezahlen zu müssen. Die sexuelle Revolution der 60er Jahre war für Männer somit ein echtes Geschenk. Dadurch, dass sie das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft so gut wie aus der Welt schaffte, öffnete sie dem Gelegenheitssex innerhalb |55|und außerhalb ehelicher Beziehungen Tür und Tor. In den westlichen Ländern veränderte die sexuelle Revolution sehr schnell die Haltung zum Sex außerhalb lang andauernder Beziehungen: zunächst in Bezug auf den vorehelichen, mit leichter Verzögerung dann auch beim außerehelichen Sex. Feministische Forderungen nach Gleichberechtigung trugen das Ihre dazu bei, da Feministinnen darauf pochten, Frauen hätten den gleichen Wunsch nach sexueller Erfüllung und sexuellen Abenteuern wie Männer. Die sexuelle »Doppelmoral«, die Männern Untreue erlaubte, bei Frauen hingegen für verwerflich hielt, galt als überholt. Männer hatten es nicht länger nötig, Frauen zu verführen oder zu hofieren. »Du willst es doch auch«, wurde zum neuen Schlagwort. Junge Frauen fanden sich plötzlich dem neuartigen Druck ausgesetzt, Sex haben zu müssen, nur um zu beweisen, dass sie »normal« oder »richtige« Frauen sind.

Die neue Sexualkultur spiegelte sich in einer Flut an neuer Literatur über alles, was mit Sex zu tun hat. Europäer entdeckten das Kamasutra und begannen, eigene Sexratgeber zu verfassen. Im Jahre 1972 erschien Die Freude am Sex, gefolgt von Noch mehr Freude am Sex im Jahre 1973, beide reich bebildert mit Illustrationen zu allen möglichen Stellungen und physiologischen Details des Geschlechtsverkehrs. Bald enthielten Frauen- und Männerzeitschriften Artikel und Tipps zum Thema Sexualität. Cosmopolitan betätigte sich als Vorreiterin für ein neues Sexualitätsverständnis für Singles.8 Jungfräulichkeit war nun kein gefragtes Gut mehr, zu Höchstpreisen an den Meistbietenden zu versteigern. Mehr und mehr wurde es Frauen recht und billig, sexuell ebenso erfahren zu sein wie Männer. Wirksame Verhütungsmittel erlaubten es jungen Menschen, lange vor der Ehe Sex zu haben, und die geschlechtsspezifischen Unterschiede betreffs der sexuellen Erfahrung und der Anzahl an Partnern nahmen ab. Der neuen Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit beziehungsweise Ehe kamen DNA-Tests gerade recht, die es Männern möglich machen, bei jedem Kind – ehelich oder nicht – die Vaterschaft zu überprüfen. Die »Swinging Sixties« und die neue Sexualmoral fanden ihren Niederschlag in den Künsten und den Medien, das |56|Musical Hair reüssierte mit Nacktszenen, und Magazine wie Penthouse und Playboy erfreuten sich steigender Beliebtheit.

Am deutlichsten spürbar machten sich die Veränderungen der Sexualkultur zunächst in den reichen Ländern – vielleicht gibt es aber auch nur mehr Informationen für Westeuropa und Nordamerika? Die Globalisierung von Medien, Filmen und der Unterhaltungsindustrie trug diese Veränderungen schließlich um die ganze Welt. In Taipeh, Taiwan und Shanghai beispielsweise existieren heute neben Nachtclubs, die sich der althergebrachten chinesischen Sozial- und Sexualetikette verpflichtet fühlen, auch solche, die die neue westliche Sexualkultur pflegen.9

In den 80er Jahren sollte dann die Angst vor AIDS erneut alles über den Haufen werfen, und es gab eine plötzliche Kehrtwende zurück zu »altmodischen« Vorstellungen von stabilen Dauerbeziehungen, Treue und Keuschheit. Promiskuität geriet erneut in ein schlechtes Licht, am deutlichsten sichtbar wurde das in homosexuellen Kreisen, die von der AIDS-Epidemie am schwersten betroffen waren und in denen »Safe Sex« offenbar zum Dauerthema geworden ist.

Let’s Talk about Sex

Die AIDS-Epidemie der 80er Jahre verschaffte Regierungen einen legitimen Grund, sich für Fragen von Sex und Sexualität zu interessieren. Sexualwissenschaftliche Umfragen wurden zu medizinischen Untersuchungen und standen plötzlich im Dienste der Volksgesundheit. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen sozialen und medizinischen Fragen – zunehmende Promiskuität gilt heutzutage als Gesundheitsrisiko.10

Seit den 90er Jahren gibt es rund um die Welt eine wachsende Anzahl nationaler Umfragen zum Thema Sexualität, Anhang B beschreibt sie und erwähnt die hilfreichsten Berichte. Diese neuen Informationen haben mit einer ganzen Reihe von Mythen um das Thema Sexualität aufgeräumt. Mit wenigen Ausnahmen hat nie jemand versucht, die |57|Befunde aus diesen Erhebungen zusammenzufassen. Amerikanische Forscher beziehen sich fast ausschließlich auf Informationen, die die Vereinigten Staaten betreffen. Kulturen in Europa, Lateinamerika, China, Japan und anderen Ländern des Fernen Ostens zeigen oftmals ganz andere sexuelle Eigenheiten. So gelten in vielen europäischen Ländern Affären und Untreue beispielsweise für Männer und Frauen gleichermaßen als akzeptabel. Im Fernen Osten wird der Handel Geld gegen Sex als völlig unproblematisch erachtet. Beide Kontexte begünstigen eine Wertsteigerung von erotischem Kapital.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus den sexualkundlichen Erhebungen jüngeren Datums lautet, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede durch die jüngsten sozialen und ökonomischen Verschiebungen im Großen und Ganzen unverändert geblieben sind. Die sexuelle Revolution hatte auf das Geschlechtsleben junger Menschen zwar durchaus Einfluss, aber sie hat das Gesamtbild nicht übermäßig verändert. Der feministische Mythos von der »sexuellen Gleichstellung« ist ebenso wenig fundiert wie die Behauptung, alle Frauen zögen im übrigen Leben die komplette »Gleichstellung« in Gestalt einer symmetrischen Aufteilung von Familienrollen, Beschäftigung und Einkünften vor.11 Die durch die sexuelle Revolution bewirkten Veränderungen waren nicht allumfassend, sondern eher punktuell, und wurden von manchen jungen Menschen, aber längst nicht von allen, begrüßt. Bis weit in die 80er Jahre hinein hatte die sexuelle Doppelmoral nichts an Akzeptanz eingebüßt – für Frauen galt das sogar mehr noch als für Männer. Es stellte sich heraus, dass stets vor allem die Frauen besonders energisch für die Beschränkung weiblicher Sexualität eingetreten waren, und Frauen blieben auch der Entkoppelung von Sex und dauerhafter Beziehung gegenüber skeptisch. Noch erstaunlicher war, dass Masturbation ein männliches Hobby geblieben war, obschon Frauen sie prinzipiell ohne große Vorbehalte sehen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Haltung zu Sexualität und sexueller Aktivität haben sich im Zeitraum von 1960 bis 1990 zwar verringert, dies aber in weit geringerem Maße als Medien und Künste uns glauben machen wollen.12 Auch im 21. Jahrhundert ist |58|das sexuelle Verlangen von Frauen unverändert weniger stark ausgeprägt als das von Männern, führt das Prinzip des geringsten Interesses zur Wertsteigerung von erotischem Kapital.

Der zweite Mythos, dem es entgegenzuwirken gilt, ist die ursprünglich vom Kinsey-Report und später dann von der Homosexuellenwelt lancierte Vorstellung, Homosexualität sei keineswegs selten, sondern mindestens einer von zehn Männern und eine von zehn Frauen tendierten dahin, würde die Gesellschaft ihnen die Freiheit gewähren, ihre Sexualität uneingeschränkt zu leben. Tatsächlich zeigen alle Umfragen, dass homosexuelle Neigungen und Aktivitäten nur bei 1 bis 2 Prozent, auf jeden Fall bei weniger als einer Person von 20, vorkommen. Die einzige Erhebung, die einen höheren Grad an Neigung zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen zeigt, ist der American National Survey of Sexual Health and Behaviour, in dem 7 Prozent aller Männer und Frauen sich in der Online-Befragung als »nicht ausschließlich heterosexuell« bezeichneten. Die Häufigkeit von Homosexualität wird wohl deshalb gerne überschätzt, weil die meisten Menschen erklären, dass sie auch Menschen des eigenen Geschlechts attraktiv, ja, manchmal sogar sexuell anziehend finden. Erotisches Kapital macht Menschen jedoch für alle Mitglieder ihrer Gesellschaft attraktiv – nicht nur für Angehörige des anderen Geschlechts – und übt seinen Einfluss in vielen Situationen und nicht nur bei sexuellen Begegnungen aus. Wie dem auch sei, die überwiegende Mehrheit der Menschen findet sich auf dem heterosexuellen Beziehungsmarkt, und dieser wird durch eine Ungleichverteilung des sexuellen Verlangens beherrscht.

Dennoch stießen die Revolution der Sexualnormen und die Verfügbarkeit wirksamer moderner Verhütungsmittel einige große Veränderungen an. Gelegenheitssex hat massiv zugenommen, und zwar außerhalb der Ehe ebenso wie innerhalb. In den meisten Ländern haben die Menschen heutzutage ein aktiveres Geschlechtsleben und dies über einen weit längeren Zeitraum, als es im 20. Jahrhundert üblich war. Das Internet und die neuen Informationstechnologien haben eine enorme Ausweitung der sexuellen Ausdrucksmöglichkeiten begünstigt.

Die skandinavischen Länder haben lange den Ruf genossen, sexuell »befreit« zu sein, doch auch sie hatten dramatische Veränderungen zu verzeichnen. In Finnland stieg der Anteil an Frauen, die zehn oder mehr Liebhaber hatten, von einer kaum wahrnehmbaren Handvoll im Jahre 1971 auf etwa 20 Prozent im Jahre 1992. Der Anteil an Männern mit zehn oder mehr Partnerinnen stieg in diesen zwei Jahrzehnten allerdings auch, und zwar auf bis zu ungefähr 50 Prozent (Abbildung 1). Gemessen an diesem Indikator blieben Männer damit doppelt so erfahren wie Frauen, am Unterschied zwischen den Geschlechtern hatte sich nichts geändert.

Abbildung 1: Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Anzahl der Sexpartner nach Altersgruppen

Quelle: Nationale Erhebung in Finnland aus dem Jahre 1992, vorgestellt auf Seite 90 in Sexual Pleasures von O. Kontula und E. Haavio-Mannila, Aldershot: Dartmouth Press, 1995

 

Alle Erhebungen zeugen von einer größeren Vielfalt an Sexualpraktiken in unseren Tagen. Oral- und Analsex waren einst fast ausschließlich von Prostituierten angebotene Spezialitäten und wurden dementsprechend honoriert. Heutzutage scheint Oralsex bei Amateuren derart weit verbreitet, dass der Preis dafür bei professionellen Anbieterinnen unter den für »richtigen Sex« gefallen ist.13 Auch Analsex ist mittlerweile im Repertoire von Nichtprofis zu finden. Das Internet führt Menschen mit obskuren oder ausgefallenen Vorlieben und Hobbies zusammen, so dass es leichter geworden ist, ungewöhnlichen |60|Praktiken zu frönen. Das bedeutet auch, dass Frauen sich zunehmend männlichem Druck ausgesetzt sehen und von ihnen Sex auf Abruf und immer neue sexuelle Nuancen erwartet werden. Die steigenden Ansprüche der Männer haben einen Punkt erreicht, an dem viele Frauen das Gefühl haben, professionelle Anforderungen bis hin zu Striptease und Pole-Dancing erfüllen zu müssen.

Attraktiven jungen Frauen sind Umfang und Intensität des ihnen von Männern aller Altersgruppen entgegengebrachten Verlangens nur zu bewusst. Irgendwann zwischen zehn und 25 Jahren bemerken sie das sexuelle Interesse von Jungen und Männern, das zuweilen bedrängende Formen annehmen kann. Sie werden in überfüllten Zügen betatscht, fremde Körper pressen sich an sie, und sie hören, sogar wenn sie Schuluniformen tragen, auf offener Straße sexuelle Aufforderungen und sexuelle Anspielungen von Fremden. Teenager reagieren auf zweierlei Weise. Manche fühlen sich als Opfer, sind aber unfähig zu kontern oder sich zu wehren, und geraten auf eine Abwärtsspirale der Aversion gegen alles Männliche, manchmal verbunden mit widerstreitenden Gefühlen gegenüber der eigenen Erscheinung und Sexualität.14 Andere realisieren, dass sie begehrenswert sind und begehrt werden, entdecken in sich den Stolz auf ihr erotisches Kapital und lernen es, mit ihren Bewunderern zu flirten. Ungebetene Berührung wird heftig zurückgewiesen, elegante Komplimente aber werden mit einem Lächeln belohnt. Sie begeben sich auf eine Aufwärtsspirale, lernen, ihr erotisches Kapital gewinnbringend einzusetzen, um Freunde zu gewinnen, zu verhandeln und herauszufinden, was einen fairen Austausch ausmacht. Sie sind stolz, haben Zutrauen in ihre sozialen Kompetenzen und fühlen sich mit ihrer Sexualität wohl.

Während ihres Studiums traf Jade einen der erfolgreichsten und berühmtesten Anwälte des Landes. Er bot ihr einen Teilzeitjob in seiner Praxis, kümmerte sich intensiv um ihre Ausbildung und wurde schließlich ihr Freund und Geliebter – sehr zum Missfallen ihrer Eltern, die den Altersunterschied monierten. Er als der Ältere, ein wohlhabender Mann, der in Scheidung lebte, freute sich, wenn Jade ihn zu sozialen und beruflichen Verabredungen begleitete, kaufte ihr die notwendige |61|Garderobe, damit sie sich in seinen Kreisen wohlfühlte, und stellte sie bekannten Klienten und Politikern vor. Sie war gescheit, und er genoss die Gesellschaft einer jungen und eleganten Partnerin von umwerfendem, leicht orientalischem Aussehen. Sie hingegen lernte in kurzer Zeit eine Menge über den Beruf des Juristen, eignete sich wichtige soziale Kompetenzen an, legte sich eine elegante äußere Erscheinung zu und wurde mit einer kosmopolitischen Art zu leben vertraut, die ihr bei ihrer anschließenden Karriere auf der anderen Seite des Atlantiks unbezahlbare Dienste leistete. Jemand anderer hätte das Interesse eines Chefs an der eigenen Person vielleicht als sexuelle Belästigung empfunden, in ihrem Falle entwickelte sich daraus jedoch eine Beziehung, von der beide Seiten etwas hatten. Gutaussehende junge Menschen ziehen nicht selten ungefragt Mentoren und Sponsoren an, es hängt von den Umständen und ihren Reaktionen ab, was daraus wird.15

Schonungslose Aufrichtigkeit über das Tauschgeschäft ökonomisches gegen erotisches Kapital ist und bleibt in der westlichen Welt eine Seltenheit. Das Tagebuch Anonyma – Eine Frau in Berlin beschreibt mit ungeschönter Offenheit, wie eine vom Hunger gepeinigte deutsche Frau gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Invasion der erschöpften Soldaten der Roten Armee umging. Die Frauen hatten auch hier zwei Alternativen. Manche versteckten sich vor den lüsternen Soldaten und litten weiter Hunger. Andere fanden für sich heraus, es sei das Beste, sich unter den Schutz eines höherrangigen Offiziers zu stellen, der sie für geforderte sexuelle Gefälligkeiten mit Sicherheit, Essen, Seife und anderen Zuwendungen bedachte. Die Definition von Vergewaltigung wurde umgeschrieben und galt fortan nur für Situationen, in denen die Soldaten den Frauen keinerlei Gaben oder Vorteile für geforderte Intimitäten zukommen ließen.16 Doch selbst in diesem Kontext – am Ende eines furchtbaren Krieges, als die Aussicht auf Frieden und ziviles Leben erst ganz allmählich Konturen gewann – war das Verlangen nach Schönheit, Zuwendung, Unterhaltung und Höflichkeit ungebrochen. Junge Soldaten fragten noch immer nach »hübschen Mädchen«, pickten für ihre Vergewaltigungen noch immer die jüngeren |62|und attraktiveren Frauen heraus, die männliche Sehnsucht nach Empathie, Zuneigung und sozialer Akzeptanz war genauso groß wie der Hunger nach Sex, und der gebildete Mann empfand es noch immer als unverzichtbar, an einem standesgemäßen Ritual der Präsentation seiner selbst und der Werbung festzuhalten.17 Sex war der Auslöser, aber nie die ganze Geschichte. Schönheit und Manieren hatten noch nichts von ihrer Bedeutung verloren.

Das männliche Sexdefizit

Der Marktwert von allem und jedem hängt davon ab, wie begehrt das betreffende Gut vor dem Hintergrund seiner Verfügbarkeit, Seltenheit und Nachfrage ist, das gilt für Sex genauso wie für jede andere Unterhaltungskunst.18 Alle sexualwissenschaftlichen Erhebungen kommen einhellig zu dem Schluss, dass der Bedarf des Mannes an sexuellen Handlungen und Unterhaltungen aller Art das weibliche Interesse am Sex bei weitem übertrifft. Der Volksmund verkündet das seit Jahrhunderten.19 Dieses Ungleichgewicht hebt den Wert von erotischem Kapital automatisch an und kann Frauen in sozialen Beziehungen zu Männern einen deutlichen Vorteil verschaffen – wenn sie dieses erkennen.

Feministinnen vertreten die Auffassung, dieses Ungleichgewicht sei ein gesellschaftliches Konstrukt, eine der Welt von Männern aufgezwungene Vorstellung, und würde sich in Luft auflösen, sobald die Fesseln, die das Patriarchat dem sexuellen Leben und Handeln von Frauen angelegt hat, gefallen sind. Auch wenn dem feministischen Argument ein gewisses Maß an Wahrheit innewohnt, was die Vergangenheit anbelangt20, so ist die Vorstellung, dass das unterschiedliche sexuelle Interesse von Frau und Mann bei sozialer und ökonomischer Gleichstellung der beiden Geschlechter dahinschmelzen würde, nicht zu halten.21

Ohne Verzerrung durch gesellschaftliche Zwänge scheint es im Hinblick auf das sexuelle Interesse bis zum Alter von ungefähr 30 Jahren keinen merklichen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu geben. Von jeher zielten gesellschaftliche Tabus in besonderem Maße auf junge |63|Menschen und waren bestrebt, jugendliche sexuelle Energie in die gesellschaftlich akzeptierten Bahnen von Ehe und Familie zu lenken. Bei Frauen ebbt das sexuelle Interesse nach der Geburt eines Kindes häufig drastisch ab, ihre Aufmerksamkeit wendet sich dann dessen Pflege und Erziehung zu.22 Manche Frauen erleben später im Leben – nach der Menopause, wenn das Risiko Schwangerschaft nicht mehr besteht, ein Wiederaufflammen ihres sexuellen Interesses. Alles in allem aber wird das sexuelle Verlangen einer Frau während der Mutterschaft stark eingedämmt und bleibt es manchmal auf Dauer. Bei Männern hingegen erhält es durch eine Vaterschaft keinen vergleichbaren Dämpfer. Das zeigt sich eindrucksvoll an einer Erhebung aus Finnland (Abbildung 2). Bis zum Alter von etwa 30 Jahren haben Männer und Frauen mit ungefähr gleicher Häufigkeit den Wunsch nach Sex. Danach verlieren Frauen das Interesse, während die Hälfte der Männer das Gefühl hat, es könnte ruhig mehr sein – der Stadtneurotiker lässt grüßen.

Die Umfragen zeigen, dass über das ganze Leben betrachtet das Bedürfnis nach sexuellen Aktivitäten jeglicher Art bei Männern beträchtlich größer ist als bei Frauen.23 Ablesen lässt sich das an der Nachfrage nach käuflichen sexuellen Dienstleistungen und der Zahl an Seitensprüngen, an der Häufigkeit autoerotischer Handlungen, dem allgemeinen Interesse an Erotika, der sexuellen Aktivität im Verlauf des Lebens und dem Interesse an verschiedenen Sexualpraktiken. Männer lassen das Zwei- bis Zehnfache an Begeisterung für das Ausprobieren aller möglichen Formen von Sexualpraktiken erkennen wie Frauen (eine Ausnahme machen gleichgeschlechtliche Beziehungen) und haben mehr experimentiert. Die durchschnittliche Zahl an Geschlechtspartnern im Verlauf des Lebens liegt bei Männern zwei- bis dreimal höher als bei Frauen, das gilt auch für verheiratete Männer.24 Bei Männern liegt die Wahrscheinlichkeit sexueller Phantasien und für die Beschäftigung mit Erotika aller Art dreimal höher als bei Frauen, und Männer berichten doppelt so häufig wie Frauen über fünf oder mehr Geschlechtspartner im zurückliegenden Jahr.25 In Großbritannien ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Mann in den zurückliegenden fünf Jahren mehr als zehn Partnerinnen gehabt hat, fünfmal so hoch wie bei Frauen.26 In allen Kulturen findet sich bei Männern ein höheres Maß an Promiskuität als bei Frauen und ist Enthaltsamkeit in erster Linie Frauensache. Das gilt sogar für Skandinavien, wo die sexuelle Befreiung auf eine lange Geschichte zurückblickt.

Abbildung 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf unerfülltes sexuelles Verlangen nach Altersgruppen

Quelle: Nationale Erhebung in Finnland aus dem Jahre 1992, vorgestellt auf Seite 105 in Sexual Pleasures von O. Kontula und E. Haavio-Mannila, Aldershot: Dartmouth Press, 1995

Frauen berichten zwar mit großer Beständigkeit über mangelndes sexuelles Interesse, aber sie betrachten es nur selten als Problem. In Australien beispielsweise bekundet mehr als die Hälfte aller Frauen, zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens sexuelle Unlust empfunden zu haben.27 Einige amerikanische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ungefähr ein Viertel aller jüngeren und ein Drittel aller älteren Frauen über ein besonders gering ausgeprägtes sexuelles Verlangen verfügten. Eine zusammenfassende Auswertung sämtlicher Studien aus Finnland kam zu dem Schluss, dass der gravierendste Unterschied zwischen Männern und Frauen das große und wachsende Auseinanderklaffen des sexuellen Begehrens ist. Das Interesse an Sex nimmt bei Männern stärker zu als bei Frauen. Ungefähr die Hälfte aller finnischen Frauen berichtete über ein nur schwach ausgeprägtes sexuelles Verlangen. Die |65|Männer in Finnland hätten im Mittel gerne doppelt so häufig Sex wie ihre Partnerinnen.28 Erhebungen in ganz Europa zeigen bei zwischen 16 und 50 % aller Frauen ein gering ausgeprägtes sexuelles Verlangen, wobei ein Drittel ein relativ oft genannter Durchschnitt ist. Besonders wichtig: Die überwiegende Mehrzahl der Frauen fühlte sich von einem schwachen oder gänzlich mangelnden sexuellen Verlangen in keiner Weise beeinträchtigt. Für sie selbst war dies kein Problem – wohl aber für ihre Partner.29

Ab dem Alter von 50 bis 54 Jahren nimmt auch bei Männern die sexuelle Inaktivität zu, bei Frauen geschieht dies jedoch schon ab dem Alter von 35 Jahren, und zwar rascher und gründlicher. Dieses Muster beobachtet man in den sexuell eher freizügigen Ländern Skandinaviens – siehe Finnland – ebenso wie in den Vereinigten Staaten (Abbildungen 3 und 4).30 Sexuell abstinente Ehen und Partnerschaften werden anderweitig kompensiert. Verheiratete Männer stürzen sich weit häufiger als verheiratete Frauen in ein kurzes »Techtelmechtel« oder in ausgedehntere Affären.31 Sämtliche Umfragen zum Sexualverhalten ergaben, dass Männer mindestens doppelt so häufig über Affären berichten wie Frauen – die Daten stammen aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Finnland, Schweden, Japan und China.32 Die Klientel für käufliche sexuelle Dienstleistungen ist selbst in den Ländern Skandinaviens fast ausschließlich männlich.33 In Spanien leistet sich ein Viertel aller Männer – gleichgültig ob verheiratet oder unverheiratet – käuflichen Sex, bei den Frauen ist es nur 1 Prozent.34 Die Besucher von Internetseiten für außereheliche Abenteuer sind zum überwiegenden Teil Männer, hier sind sie den Frauen zahlenmäßig um das Zehnfache überlegen.35

Viele Feministinnen stehen auf dem Standpunkt, diese Ergebnisse hätten damit zu tun, dass Männer grundsätzlich mehr Geld zum Ausgeben parat hätten als Frauen. Doch die Umfragen sprechen dagegen, sie zeigen, dass Frauen sich eher zum Geschlechtsverkehr bereit zeigen, wenn eine emotionale oder romantische Beziehung besteht, wohingegen Männer – auf kommerziellem Wege oder wie auch immer – sexuelle Erfüllung und sexuelle Abwechslung per se suchen. Zwei Drittel aller |67|schwedischen Männer genießen Sex auch ohne jeden romantischen Zusammenhang. Zwei Drittel bis vier Fünftel aller Frauen hingegen sind der Ansicht, Liebe sei der einzige Grund für eine sexuelle Beziehung.36 In Italien ist »Sich-verlieben« bei Frauen sehr viel häufiger Auslöser für eine Affäre als bei Männern, Letztere sind eher auf Abwechslung, Neues und Erregung aus.37 Frauen haben mehr für das emotionale Drumherum um den Sex übrig, wohingegen Männer Sex (auch mit jemand Fremdem) als Selbstzweck betrachten und genießen können. Männer mit hohem Einkommen haben doppelt so viele Affären wie gut verdienende Frauen.38 Eine Studie aus den Niederlanden mit Angehörigen aus gut gebildeten liberalen Schichten ergab, dass die sexuelle Vernachlässigung in einer Ehe wohl Männern, nicht aber Frauen Anlass zu einer sexuellen Affäre gibt.39

Abbildung 3: Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich sexueller Enthaltsamkeit im zurückliegenden Monat nach Altersgruppen

Quelle: Nationale Erhebung in Finnland aus dem Jahre 1992, vorgestellt auf Seite 75 in Sexual Pleasures von O. Kontula und E. Haavio-Mannila, Aldershot: Dartmouth Press, 1995

Abbildung 4: Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich sexueller Enthaltsamkeit im zurückliegenden Jahr nach Altersgruppen

Quelle: Nationale Erhebung aus den Vereinigten Staaten und andere Quelle, genannt in Abbildung 3.1, Seite 91 in The Social Organisation of Sexuality von E. O. Laumann et al. University of Chicago Press, 1994

|67|Ein recht eindrucksvolles Gegenargument für die Behauptung, der Mangel an hinreichenden finanziellen Mitteln oder gesellschaftliche Zwänge seien schuld daran, dass weibliche Sexualität nicht zur Entfaltung komme, liefern Beobachtungen zu dem, was man wahlweise als Autoerotik oder Solo-Sex bezeichnet: Masturbation, die Beschäftigung mit Erotika und sexuelle Phantasien. Die amerikanische Erhebung zum Sexualverhalten hat, wie in Abbildung 5 gezeigt, die Häufigkeit für autoerotische Aktivitäten mit einer Punkteskala von 1 bis 5 versehen. Bei den Männern finden sich auf allen fünf Häufigkeitsebenen ähnlich viele Personen, bei den Frauen hingegen tummelt sich die große Mehrheit bei Werten um die 1 oder 2, sprich: bei selten oder nie. Solo-Sex ist definitiv eine höchst private Angelegenheit, kostet nichts oder nur sehr wenig und braucht keinen Partner. Viele Kinder lernen in jungen Jahren ganz von allein, sich selbst zu befriedigen.40 Sexuelle Phantasien bieten Unabhängigkeit und die Kontrolle über das individuelle sexuelle Drehbuch und sind außerdem gratis. Das Argument, die Gesellschaft diktiere die Zügelung der weiblichen Sexualität, vermag nicht zu erklären, warum Masturbation beziehungsweise Autoerotik bei Frauen im Vergleich zu Männern generell so gering im Kurs steht. Ähnliche Ergebnisse wie diese amerikanische Studie aus dem Jahre 1992 liefern Beobachtungen aus Schweden, Frankreich, Finnland und den Niederlanden.41 In modernen Gesellschaften gilt Masturbation als völlig normale |68|Praxis, dennoch praktizieren Männer sie – übrigens auch nach der Eheschließung – drei- bis viermal so häufig wie Frauen. Etwa die Hälfte der Frauen entschließt sich nie dazu. Für Menschen mit ausgeprägter Libido ist die Masturbation Ergänzung zum Sex mit einem Geschlechtspartner und Ersatz in Zeiten, in denen kein Partner zur Verfügung steht. Alles in allem besagen die Erhebungen, dass Männer mit einem starken Sexualtrieb sowohl partnerschaftlichen Sex als auch käufliche sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen und sich obendrein der Autoerotik widmen, und dies als einander ergänzende Praktiken und nicht als einander ausschließende Alternativen betrachten.42

Sex und Lebensstil

Im Jahre 1973 sorgte Erica Jong mit ihrem Roman Angst vorm Fliegen für Furore. Offenbar war es das erste Mal, dass eine Frau derart freimütig über ihre erotischen Phantasien und ihr Verlangen nach spontanem anonymen Gelegenheitssex mit attraktiven Fremden bar jeglicher Emotionen, Bindungen und sozialen Verpflichtungen schrieb. Der »Spontanfick« bereicherte den Sprachschatz. Dazu Jongs Heldin: »Der Spontanfick ist das sauberste, was es gibt. Und er ist seltener als das Einhorn. Mir ist er nie beschieden gewesen.«43 Mehr als 20 Jahre danach finden sich in Umfragen noch immer sehr wenige Frauen, die dieser Art von hedonistischem Sexualleben frönen wollen, während eine beträchtliche Anzahl von Männern nichts lieber täte als das.

Einige der genannten Erhebungen haben versucht, »sexuelle Lebensstile« zu vergleichen, und sind zu dem Schluss gekommen, dass es diesbezüglich zwischen Männern und Frauen wenig Gemeinsamkeiten gibt – beide unterscheiden sich sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in ihrem sexuellen Interesse, ihren Werten und ihrem Tun. Nur wenige Frauen tendieren zu jener freizügigen Vorliebe für genussvollen Gelegenheitssex, die unter Männern so populär ist.44 In Finnland und Schweden betrachten Männer mehrere sexuelle Beziehungen nebeneinander vier- bis fünfmal so häufig als erstrebenswertes Ideal wie Frauen. Schwedische Männer sind zwei- bis dreimal so angetan von der Vorstellung, neben einer Dauerbeziehung fortwährend Affären zu unterhalten, und haben diese tatsächlich doppelt so oft.45 Die schwule Community bildet vermutlich am ehesten das klassische Musterbeispiel für einen freizügigen hedonistischen Lebensstil, bei dem mehr Wert auf lose sexuelle Beziehungen als auf langfristige Partnerschaften gelegt wird. Infolgedessen investieren Homosexuelle sehr viel mehr Mühe, um ihren Körper in Form zu halten und anziehend für potenzielle Partner zu bleiben.46 Dazu passt, dass Frauen, die das Interesse an Sex verloren haben, häufig aufhören, Anstrengungen in die Aufrechterhaltung ihres erotischen Kapitals zu investieren, und dadurch weniger attraktiv und begehrenswert werden.

Abbildung 5: Geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf autoerotische Handlungen

Quelle: Nationale Erhebung aus den Vereinigten Staaten und andere Quellen, genannt in Abbildung 3.3, Seite 136 in The Social Organisation of Sexuality von E. O. Laumann et al. University of Chicago Press, 1994

Die Zahl der Geschlechtspartner ist bei beiden Geschlechtern in den jüngeren Altersgruppen weit höher als im fortgeschrittenen Alter |70|(Abbildung 1), doch auch darin berichten Männer über deutlich mehr Partnerinnen als Frauen über Partner. Quer durch alle Altersgruppen berichtet einer von 20 verheirateten Briten von zwei oder mehr Partnerinnen im vergangenen Jahr, bei den verheirateten Frauen sind es im Vergleich dazu nur eine oder zwei auf hundert. Über drei oder mehr Geschlechtspartner im zurückliegenden Jahr berichten 1,2 Prozent der verheirateten Männer und 0,2 Prozent der verheirateten Frauen.47 Diesen Zahlen nach zu urteilen, tendieren Männer jeden Alters auch nach der sexuellen Revolution fünf- bis sechsmal so sehr zu wechselnden Geschlechtspartnern wie Frauen, so sie Gelegenheit dazu bekommen.48

Alle Erhebungen zum Sexualverhalten stoßen auf eine kleine Minorität von weit unter 10 Prozent der Befragten mit besonders großer Libido, die, wie die schwedische Studie es nennt, sexuell »hyperaktiv« sind.49 Die britische Studie zeigt, dass Menschen mit starker Libido ihre sexuelle Biographie mit unter 16 Jahren beginnen und in jedem Alter promisker leben als ihre Altersgenossen. Auf etwas mehr als einen von 20 Männern und eine von 50 Frauen in Großbritannien trifft dieses Muster von einem lebenslang sexuell besonders aktiven Lebensstil zu.50 Männer sind den Frauen auch in dieser Gruppe zahlenmäßig stets überlegen und berichten überdies über eine deutlich höhere Aktivität und sehr viel mehr Partner als die Frauen. Im typischen Falle erreichen sie die Geschlechtsreife in sehr jungen Jahren, haben sehr früh den ersten Geschlechtsverkehr, von Anfang an eine Vielzahl an Partnern, leben in großen Städten und nehmen es mit Vorsorgeuntersuchungen und Gesundheits-Checks peinlich genau. Diese »statistischen Ausreißer« verzerren das Bild des »Durchschnittsmannes« und der »Durchschnittsfrau« und haben mit dem Normalbürger nur wenig gemein. In der schwedischen Studie steuern die 10 Prozent Männer und Frauen mit der höchsten sexuellen Aktivität die Hälfte der Gesamtzahl an Geschlechtspartnern und die Hälfte aller sexuellen Aktivitäten zu den Daten bei.51

Die Berichte lassen auch eine gewisse Ungläubigkeit in Bezug auf die Aussagen von Männern (vor allem) erkennen, die von mehreren hundert Geschlechtspartnern sprechen, selbst wenn diese sich zur Inanspruchnahme |71|käuflicher sexueller Dienstleistungen bekennen. In Wirklichkeit unterschätzen solche Umfragen das Ansteigen der sexuellen Aktivität möglicherweise sogar vermutlich um einiges, weil sexuelle Begegnungen für viele junge Menschen aufgehört haben, ein größeres denkwürdiges Ereignis zu sein. Sex ist heute womöglich psychologisch weit weniger beeindruckend, weil er verbreiteter, ja banaler geworden ist – und die Sexualforscher sind zu alt, diese neue Wirklichkeit zu erfassen.

Geschichten aus dem Leben

Persönliche Berichte über das Sexualleben von Einzelpersonen sind nützliche Ergänzungen zur trockenen Anonymität sexualwissenschaftlicher Erhebungen. Die meisten solcher Darstellungen werden von Männern verfasst, so dass die wenigen Sexualmemoiren aus Frauenhand einen besonderen Wert haben.52 Das Tagebuch eines Callgirls namens Belle de Jour und die Autobiographie eines Journalisten namens Sean Thomas liefern erhellende Einblicke in zeitgenössische sexuelle Lebensstile. Im einen Fall handelt es sich um eine 29-jährige alleinstehende Frau, im anderen um einen 39-jährigen männlichen Single. Das Tagebuch der Belle de Jour zeugt von einer extrem starken Libido und einem höchst aktiven Geschlechtsleben, das im Teenager-Alter begann und sich mit ihrer Arbeit als Anbieterin sexueller Dienstleistungen beileibe nicht erschöpft.53 Sie genießt und bietet Männern und Frauen das gesamte Spektrum an sexuellen Aktivitäten, darunter auch Dominanzrollenspiele und milde Formen von BDSM.54 Ein Callgirl wie Belle de Jour hat grob geschätzt vielleicht einhundert bis zweihundert Buchungen pro Jahr, damit kommt es bis zu dem Zeitpunkt, an dem es den Job aufgibt, um zu heiraten und einen anderen Beruf zu ergreifen, auf dreihundert bis sechshundert sexuelle Begegnungen.55 Frauen, die Spaß am Gruppensex haben, können an einem einzigen Abend auf um die 30 Geschlechtspartner und in ihrem Leben insgesamt auf sehr viel mehr Partner als jedes Callgirl oder jeder Mann kommen. Die Memoiren der französischen Kunstkritikerin Catherine Millett lösten eine heftige Kontroverse aus, |72|weil sie freimütig über ihr in jungen Jahren leidenschaftlich ausgelebtes Faible für Sexorgien schrieb. Sie konnte sich nicht einmal mehr vage an Einzelheiten ihrer zahllosen sexuellen Begegnungen bei diesen Veranstaltungen erinnern, und als sie Jahre später darüber schrieb, waren die Männer zu einem undeutlichen Kollektiv verschwommen.56

Thomas blickt bei seinen Erwägungen zum Thema Ehe ebenfalls auf ein turbulentes Geschlechtsleben zurück und fragt sich im Alter von 39 Jahren, ob er wohl mit genügend Frauen geschlafen hat, um sich fortan mit einer monogamen Beziehung begnügen zu können. Er kommt zu dem Ergebnis, dass er, Prostituierte eingeschlossen, mit sechzig oder siebzig Frauen zusammen war, und beschließt, dass diese Zahl für sein Alter Durchschnitt und in Ordnung sei. Er schreibt über seine rasende Libido und seine ewige sexuelle Unbefriedigtheit und berichtet, dass er sich nur ein einziges Mal wirklich entspannt gefühlt hat, und zwar bei einem Sexurlaub in Thailand. Zum ersten Mal in seinem Leben habe er genug Sex gehabt, um gelassen durch den Tag zu kommen.57

Casanova hat, glaubt man seinen detaillierten Memoiren, in seinem ganzen Leben nur 130 Frauen beigewohnt.58 Hugh Hefner, Gründer des Playboy-Imperiums berichtet in seiner Autobiographie von um die 2 000 Gespielinnen, in fortgeschrittenen Jahren allerdings dank der Hilfe von Viagra.59 Ein allseits beliebter Popsänger berichtet, er habe auf der Höhe seiner Karriere, als sich ihm die jungen Frauen in Scharen an den Hals warfen, im Verlauf von zwei bis drei Jahren 1 000 Frauen verführt.60 Sogar im Extremfalle hoch libidinöser Lebensführung hat die sexuelle Aktivität also noch zugenommen – bei Männern.

Um den Sex zu bekommen, den sie wollen, und zwar genau dann, wann, und genau so, wie sie ihn wollen, sind Männer häufig bereit, dafür zu bezahlen, weil dies unter Umständen die effizientere Option ist. Die Alternative besteht darin, Zeit und Mühe in das Verführen einer Frau zu investieren, auch das kostet neben allem anderen auch Geld. Ob wir uns nun mit käuflichem Sex und anderen erotischen Unterhaltungen, Affären, der Zahl an Geschlechtspartnern, Autoerotik |73|oder ungestilltem sexuellem Verlangen befassen, die Beweislage zeugt in allen Fällen davon, dass der männliche Bedarf an sexueller Betätigung und sexueller Vielfalt über das ganze Leben gesehen im Durchschnitt zwei bis zehnmal höher ist als das sexuelle Interesse von Frauen. Das ist eine Riesendiskrepanz, die für die Frau den Marktwert ihres erotischen Kapitals automatisch steigen lässt, sämtliche sozialen Beziehungen zwischen Männern und Frauen prägt und Frauen in privaten Beziehungen einen deutlichen Vorteil verschafft.

Unterschiedlich starkes Verlangen in langfristigen Beziehungen

Die Psychologin und Eheberaterin Bettina Arndt hat sich mit der Bedeutung von Sex für eine Ehe befasst und 100 australische Ehepaare gebeten, neun Monate hindurch ein Tagebuch über ihr Geschlechtsleben zu führen. Sie stellte fest, dass Sex von Frauen sehr häufig als Verhandlungsinstrument eingesetzt wird. Sex schien im Dialog zwischen zwei Partnern ein genauso wichtiges Mittel zu sein wie Geld. Frauen entzogen sich ihren Männern, um diese zu bestrafen, wenn sie sich nicht so verhielten, wie sie es gerne gehabt hätten, oder boten Sex als Belohnung an, um einen Mann zu überreden, ihnen einen Wunsch zu erfüllen, beziehungsweise um sich zu bedanken, wenn er das getan hatte. Die Strategie ging grundsätzlich auf, weil Männer nahezu unausweichlich mehr Sex haben wollten als ihre Frauen. Mit das Eindrucksvollste bei der Lektüre der Tagebucheinträge sind die Not und Frustration der Ehemänner, die neben ihren Frauen, die schlicht das Interesse an Sex verloren hatten, nur selten dazu zu überreden waren oder ihn gar aktiv zurückwiesen, unter permanentem »Sexhunger« litten. Ein paar Zitate mögen das verdeutlichen:

 

Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Ich liebe sie, und ich glaube, sie liebt mich auch, aber ich kann nicht wie ein Mönch |74|leben. Ich habe bewusst versucht, Sex so gut wie nicht zu erwähnen, aber jetzt bin ich so frustriert, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich habe die Grenzen meiner Belastbarkeit erreicht. Ich kann und will so nicht weitermachen. Ich weigere mich, als Bettler durchs Leben gehen.

Ich will unbedingt Sex, und ich will genauso unbedingt, dass Lucy den ersten Schritt macht. Aber leider bin ich inzwischen immer sturer geworden, und sie schert sich nicht um meine Bedürfnisse, so dass wir inzwischen verbittert geworden und schlecht aufeinander zu sprechen sind, wir haben nur Sex, wenn Lucy in der Stimmung ist oder ich ihr leid tue.

Er kann mich nicht umarmen, ohne mir beiläufig den Hintern oder den Busen zu tätscheln. Für mich fühlt sich das immer wie Gegrabsche an, als wollte er sagen: »Na? Wie wär’s?« In den meisten Fällen schubse ich ihn einfach weg, aber hin und wieder tut er mir leid, und ich finde es traurig, dass er jedes Mal eine Abfuhr bekommt.61

 

Arndts Lösung für ein solchermaßen ungleich verteiltes Begehren bestand in dem Rat, die Frauen mögen gelassener werden und dem Bedürfnis ihrer Männer nach mehr Sex hin und wieder nachgeben. Sie weiß, dass Frauen, auch wenn sie sich selbst weniger motiviert fühlen, Sex trotzdem genießen können, wenn sie ihn zulassen.62 Festgefügte mentale Schranken und Machtkämpfe scheinen ihr sinnlos.

Sexlose oder sexarme Ehen wurzeln in der geringeren Libido von Frauen und sind einer der Gründe für den nie abreißenden männlichen Bedarf an erotischer Unterhaltung, käuflichem Sex und Seitensprüngen. Zölibatäre Ehen sind sehr viel weiter verbreitet als wir denken, denn kaum jemand mag das Problem eingestehen. Umfragen zum Sexualverhalten machen sich nie die Mühe, entsprechende Statistiken zu liefern, da sexuelle Enthaltsamkeit im Zusammenhang mit AIDS und anderen sexuell übertragenen Krankheiten kein Problem darstellt. In Studien, in denen über die Anzahl an Geschlechtspartnern berichtet |75|wird, ist fast nie erwähnt, ob darin die Ehepartner eingeschlossen sind oder nicht. Verheiratete Männer und Frauen, die nur von einem Geschlechtspartner sprechen, meinen vielleicht gar nicht den Partner, sondern ihren Liebhaber.63 Es gibt also weit mehr sexuell abstinente Ehen als die erhobene Zahl an enthaltsamen Partnerschaften vermuten lässt, die – vor allem ab dem Alter von 40 bis 45 Jahren – ohnehin bereits überraschend hoch ist (Abbildungen 3 und 4).

Natürlich ist Enthaltsamkeit gang und gäbe bei jungen Leuten unter 25 Jahren, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatten, aber genauso verbreitet ist sie auch bei Leuten über 45 Jahren. Der britischen Studie von 1990 zufolge hatte jede zehnte Frau im Alter von 45 bis 49 Jahren in den zurückliegenden fünf Jahren enthaltsam gelebt, jede fünfte seit mehr als einem Jahr. Für Männer dieser Altersgruppe liegt der Anteil grundsätzlich niedriger. Je geringer der sozioökonomische Status, desto häufiger ist von Enthaltsamkeit die Rede. Armut scheint nicht nur die romantischen, sondern auch die sexuellen Möglichkeiten zu beschneiden.

Mit welcher Häufigkeit zwei Partner miteinander schlafen, wird – sogar bei jungen Leuten – nicht durch das Alter, sondern vor allem durch die Länge einer Paarbeziehung diktiert. Vertrautheit gebiert nicht selten Langeweile. Neuheit ist sexuell anregend. Nach den ersten zwei Jahren einer Beziehung stellen Umfragen allerdings bei Frauen eine raschere Abnahme des sexuellen Interesses fest als bei Männern – das gilt für Großbritannien64, Frankreich65, Deutschland und Schweden66.

In den Vereinigten Staaten ist jede fünfte Ehe sexuell inaktiv in dem Sinne, dass die Ehepartner im Verlauf des vergangenen Monats keinen Geschlechtsverkehr hatten.67 Bei einer Umfrage in Italien gab ein Viertel aller Frauen, aber nur ein Zehntel aller Männer an, sexuell nicht aktiv zu sein (das heißt, im zurückliegenden Jahr keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben). Auch bei Ehepartnern machen die Geschlechter unterschiedliche Angaben. Eine von zehn Ehefrauen gab an, sexuell nicht aktiv zu sein (im vergangenen Jahr keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben), das war mehr als doppelt so viel wie bei den Männern. Das lässt vermuten, dass zumindest jeder zwanzigste Italiener außerhalb der Ehe nach Befriedigung sucht.68

|76|In Spanien haben Umfragen ergeben, dass etwa eines von zehn Ehepaaren praktisch enthaltsam lebt und nie (wozu sich kein einziger Mann, wohl aber 4 Prozent der Ehefrauen bekannten) oder nur wenige Male im Jahr Geschlechtsverkehr hat (was auf etwa eines von zehn Ehepaaren zutraf). Auch hier ist Enthaltsamkeit wieder vor allem in den fortgeschritteneren Altersgruppen zu finden.69

Sexuell komplett abstinente Ehen lassen meist auf eine Verbindung zwischen zwei Menschen mit sehr unterschiedlich ausgeprägtem Sexualtrieb schließen, was eher die Regel denn die Ausnahme ist.70 Alle neueren Umfragen zum Sexualverhalten offenbaren einen großen Unterschied zwischen dem Sexualtrieb von Männern und Frauen. Die althergebrachte Weisheit, dass Männer grundsätzlich mehr Sex wollen als ihre Frauen, ist kein Vorurteil oder Stereotyp, sondern Fakt.71 Die Kluft zwischen dem sexuellen Verlangen von Männern und Frauen lässt sich in allen Ländern und Kulturen, in denen entsprechende Umfragen durchgeführt worden sind, in sämtlichen Altersgruppen über 30 nachweisen. Einen Unterschied bezüglich der sexuellen Kompetenzen oder der Freude am Sex scheint es zwischen den Geschlechtern nicht zu geben, allein der Sexualtrieb scheint verschieden ausgeprägt, das heißt beim Mann eindeutig stärker zu sein.72 Hinzu kommt, dass Männer und Frauen eine sehr unterschiedliche Einstellung haben. In Großbritannien akzeptiert zum Beispiel ungefähr die Hälfte aller Männer einen Seitensprung, während so gut wie alle Frauen ein Techtelmechtel nebenbei nicht in Ordnung finden.73 Auch in den Vereinigten Staaten74 und in Frankreich75 wird von großen Unterschieden bezüglich der Haltung zum Sex berichtet.

Wie wichtig ist Sex?

Vielleicht sind die Umfragen irreführend? Mit Blick auf das gesamte Leben würde so mancher den Standpunkt vertreten, Sex sei unwichtig, seine Bedeutung werde von den Medien hemmungslos übertrieben. Vielleicht macht den Menschen das Fehlen sexueller Spielereien |77|in Wirklichkeit gar nichts aus? Jedoch unterstreichen Studien immer wieder, wie wichtig Sex für Glück, Gesundheit und Lebensqualität ist. Auf der ganzen Welt wird Sex als essenzieller Faktor für die Lebensqualität erachtet, auch wenn Männer ihm mehr Bedeutung zumessen als Frauen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stieß die Weltgesundheitsorganisation WHO ein großes Forschungsvorhaben an, in dessen Rahmen rund um den Globus Schlüsselfaktoren für das menschliche Wohlbefinden zusammengetragen werden sollten. Die WHO trug damit der Tatsache Rechnung, dass mit zunehmendem Wohlstand nacktes Überleben nicht länger alleiniges Ziel ihrer Gesundheitsprogramme sein kann. Im 21. Jahrhundert erwarten die Menschen darüber hinaus eine vernünftige Lebensqualität. Also fragte sie Menschen auf der ganzen Welt, was ihrer Ansicht nach für ein gutes Leben das Wichtigste sei. An der Studie beteiligten sich 58 Länder auf allen fünf Kontinenten, darunter Frankreich, die Niederlande, Spanien, Kroatien, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Russland, Indien, Australien, Japan, Thailand, Panama und Simbabwe.76

Es verwundert nicht, dass ein guter allgemeiner Gesundheitszustand, ein hinreichendes Maß an Energie, genug Geld zum Leben und die Chance, arbeiten zu können, unter den 25 wichtigsten Faktoren für gute Lebensqualität zu finden waren.77 Sex stand in aller Regel am weitesten hinten, auf Platz 25, galt aber in allen untersuchten Ländern als unerlässlicher Faktor für ein lebenswertes Leben. Er ist außerdem der einzige, den Männer in manchen Ländern höher einstufen als Frauen.78 Körperbild und physische Erscheinung zählen ebenfalls zu den 25 wichtigsten Faktoren und rangieren direkt oberhalb der sexuellen Aktivität auf Platz 24. Frauen legen mehr Wert auf eine attraktive Erscheinung als Männer und messen dieser deutlich mehr Bedeutung für ihre eigene Lebensqualität bei als ihrer sexuellen Aktivität.79 Auf der ganzen Welt investieren Frauen mehr Mühe in ihr Äußeres, weil sie sich dessen bewusst sind, wie sehr es auf das Aussehen ankommt.

Ökonomen wird nachgesagt, sie wüssten den Preis von allem und kennten den Wert von nichts. Sie bewerten die Dinge im Allgemeinen |78|nach ihrem Geldwert. Zwei Ökonomen, David Blanchflower und Andrew Oswald, haben es fertiggebracht, einem erfüllten Geschlechtsleben einen Geldwert zuzuordnen. Sie schätzten, dass (den Einfluss einer guten Arbeitsstelle und eines gehobenen Bildungsstands herausgerechnet) ein erfülltes Sexualleben für das Preisniveau des Jahres 2004 jährlich 50 000 Dollar – mithin heute einiges mehr – extra auf der Habenseite ausmachen würde. In ihrem Artikel »Money, Sex and Happiness« haben sie die Ergebnisse einer großen nationalen sozialwissenschaftlichen Bevölkerungsumfrage der Vereinigten Staaten (General Social Survey) bis zum Jahre 2002 ausgewertet, in der Daten von 16 000 amerikanischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen erhoben wurden und in der man herauszufinden versucht hat, was Menschen glücklich sein lässt. In dieser Erhebung wurde auch gefragt, wie häufig die Befragten Sex hatten.80

Die Umfrage ergab, dass der amerikanische Durchschnittsbürger zwei- bis dreimal im Monat Sex hat, im Regelfalle mit ein und demselben Partner. Ein winziger Bruchteil an Männern gab an, im zurückliegenden Jahr über 100 Partnerinnen gehabt zu haben, von den Frauen berichtete keine Ähnliches. Befragte unter 40 Jahren berichteten, sie hätten im Durchschnitt einmal pro Woche – viermal im Monat – Sex. Frauen über 40 berichteten von durchschnittlich einmal, Männer über 40 hingegen von durchschnittlich zwei- bis dreimal Sex im Monat. Die Autoren mutmaßen, diese Diskrepanz in der Gruppe der über 40-Jährigen könnte begründet sein durch einen männlichen Hang zur Übertreibung, dadurch, dass Männer oft jüngere Partnerinnen haben, oder dadurch, dass sie Prostituierte aufsuchen. Eine weitere Erklärung könnten heimliche Affären und Seitensprünge seitens der Männer sein. Die Studie rechnete vor, dass eine Frequenzerhöhung beim Geschlechtsverkehr von einmal im Monat auf mindestens einmal pro Woche ein solches Mehr an Glück bescheren würde wie ein finanzielles Zubrot von 50 000 Dollar jährlich. Zum Vergleich: Eine stabile Ehe belief sich – den Einfluss von Job und Bildung herausgerechnet – auf 100 000 Dollar pures Glück. Absolute Enthaltsamkeit und ein ausgesprochen geringes Maß an sexueller Aktivität kamen, was den Einfluss auf das Glücksempfinden eines Menschen betrifft, auf dasselbe heraus. |79|Faktisch kann man eine Ehe als sexuell abstinent einordnen, wenn weniger als einmal im Monat ein Geschlechtsverkehr stattfindet. Ein Drittel aller Amerikaner im Alter von 40 Jahren und darüber berichtet von einem enthaltsamen Leben. Würde man die Gruppe mit sehr seltenem Geschlechtsverkehr hinzurechnen, beliefe sich der Anteil auf über die Hälfte. Es sieht so aus, als arbeiteten die Amerikaner zu viel, um noch Zeit für Sex zu haben.

An der Studie wurde kritisiert, dass sie nichts über die Qualität der sexuellen Aktivität aussagte. Allerdings waren selbst groß angelegte Umfragen zum Sexualverhalten nicht imstande, Qualität nach einem anderen Kriterium als der Orgasmushäufigkeit zu beurteilen, ein wenig hilfreicher Gradmesser, da ein Orgasmus, unabhängig davon, welchen sexuellen Lebensstil die Paare bevorzugen, für Männer so gut wie immer, für Frauen hingegen längst nicht immer garantiert ist.81 Allein auf der Basis der Häufigkeit zeigten Blanchflower und Oswald, dass regelmäßiger Sex (einmal pro Woche) ungefähr die Hälfte an Glück bietet wie eine stabile Ehe. Das ist in der Tat ein überaus beträchtlicher Beitrag. Schließlich zeigte die Studie auch, dass ein erfülltes Sexualleben für Männer wichtiger war als für Frauen und für Menschen mit höherer Bildung wichtiger als für Leute mit einem geringeren Bildungsgrad.

Sehr häufig sieht man etwas besonders klar, wenn man gar nicht danach gesucht hat. Die Boston Consulting Group hatte bei ihrer weltweiten Studie über Frauen und Konsumverhalten aus dem Jahre 2008 – Global Enquiry into Women und Consumerism – eindeutig nicht die Sexualität im Visier. Im Rahmen der Erhebung wurden 12 000 Frauen auf der ganzen Welt, von den Vereinigten Staaten und Schweden bis nach China, Mexiko, Indien und Saudi-Arabien, befragt. Die Interviews deckten sämtliche Aspekte und Prioritäten im Leben von Frauen ab. Die von zwei Management-Beratern mit Schwerpunkt Kaufverhalten bei Verbrauchern zusammengestellten Fragenkataloge wollten erkunden, in welchem Maße Handlungen wie Einkaufen und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen in die Betrachtungen und das Leben von Frauen insgesamt einfließen. Sie stellten fest, dass Sex für |80|die meisten Frauen keine besonders hohe Priorität innehatte. Weltweit gab nur ein Viertel aller Frauen an, dass Sex sie ausgesprochen glücklich mache, das sind deutlich weniger als die 42 Prozent, die befanden, ihre Haustiere machten sie glücklich. Die Ausnahmen decken sich mit den Ergebnissen der Umfragen zum Sexualverhalten. In Frankreich erklärten zwei Drittel aller Frauen, Sex sei ein wichtiger Vermittler von Glück und Zufriedenheit. Auch die italienischen Frauen bewerteten Sex und Beziehungen sehr hoch. In Russland lag Sex als Glücksquelle gleichauf mit Geld an der Spitze. Vier Fünftel aller Mexikanerinnen benannten Sex als Hauptquelle für ihr Glück, das ist ein weit höherer Anteil als der weltweite Durchschnitt.82 Die kulturellen Unterschiede spielen hier eine große Rolle und festigen das Bild, dass Frauen aus puritanischen angelsächsischen Ländern am wenigsten an Sex interessiert sind. Das männliche Sexdefizit ist demnach in diesen Ländern am höchsten.

Superiore Güter

Sex, Schönheit und erotisches Kapital gehören zu den Dingen, die Ökonomen als »superiore Güter« bezeichnen, Dinge, von denen der Mensch mehr haben möchte, je wohlhabender er wird. Die gesamte Historie hindurch haben Könige und reiche Menschen ein promiskeres Leben geführt als andere Menschen. Die russische Zarin Katharina die Große, die Borgia in Italien und die chinesischen Kaiser mit ihren Dutzenden Konkubinen sind nur ein paar Beispiele dafür. Auf der anderen Seite ist Sex eine der phantastischsten Vergnügungen, die uns das Leben unentgeltlich schenkt, Armen und Reichen gleichermaßen zugänglich. Wie also unterscheidet sich das männliche Sexdefizit in den einzelnen Ländern?

Das männliche Sexdefizit ist im Kontext lokaler Normen und Kulturgeschichten zu sehen, beide können sich zu Zeiten als überaus machtvolle Leitstrukturen erweisen. Die Verhütungsrevolution wird in Saudi-Arabien nicht denselben Durchbruch bedeutet haben wie in |81|Kalifornien, in Nigeria anderes bewirken als in Großbritannien. Selbst innerhalb Europas ist ihr Einfluss in den Mittelmeerländern ein anderer als in den nordischen Ländern.83

Die Umfragen zum Sexualverhalten haben zumindest einem Stereotyp den Rang eines Faktums verliehen: Die »heißblütigen« Bewohner des Mittelmeerraumes sind sexuell aktiver als die Menschen in den kühleren Klimazonen Nordeuropas. Bei einer Umfrage in Spanien fand man es beispielsweise angebracht, den Rubriken zum Ankreuzen ein Kästchen anzufügen für Leute, die fünfmal am Tag oder häufiger Sex haben.84 In vielen Ländern Afrikas betrachten Männer jeden Alters sich als »impotent«, wenn sie es, wie oben berichtet, nicht schaffen, täglich Sex zu haben.85 In manchen afrikanischen Gesellschaften haben Paare im Durchschnitt jährlich 450-mal Sex, während es in benachbarten Stammesgesellschaften im Durchschnitt vielleicht nur 300-mal pro Jahr vorkommt.86 In den meisten westlichen Ländern liegt die Häufigkeit weit darunter, irgendwo zwischen 24- und 120mal pro Jahr. Puritanische Moralvorstellungen und eine puritanische Arbeitsmoral scheinen ein höchst effizientes Stück sozialer Ingenieurskunst, das eine unablässige Umverteilung unserer Zeit-, Phantasie- und Energieressourcen von Sexualität und anderen Vergnügungen auf harte Arbeit, Askese und kapitalistische Wertschöpfung zu erzwingen scheint. Die sexuelle Revolution der 60er und 70er Jahre ist im Kontext einer angelsächsischen Kultur zu sehen, die nach wie vor weitgehend antisexuell eingestellt ist.

Die Tempel im indischen Khajuraho erinnern uns daran, dass viele andere Kulturen Sexualität und erotisches Kapital – vor allem aber weibliche Schönheit und Verführungskunst – sehr hoch schätzen. Europäische Besucher der Chandella-Tempel von Khajuraho in Zentralindien zeigen sich häufig schockiert darüber, dass die Tempel mit erotischen Skulpturen junger Göttinnen und lebensechten Darstellungen des Geschlechtsverkehrs in allen möglichen Positionen übersät sind, manche davon derart akrobatisch, dass sie zu ihrem Gelingen der Assistenz weiterer überirdischer Schönheiten bedürfen. Dazu gesellen sich Darstellungen von Gruppensex und vielen anderen |82|Vergnügungen. Sexualität galt einst als religiöse Erfahrung. Die modernen Bollywood-Romanzen aus Indien hingegen vermeiden jede Nacktheit oder Intimität zwischen Männern und Frauen, nicht einmal keusche Liebkosungen oder Küsse kommen vor, wohl aber erotische Tanz- und Gesangsdarbietungen zuhauf, und die jungen Schauspielerinnen mit ihren Wespentaillen sind von atemberaubender Schönheit.

In sehr großen Ländern wie Indien mit mehr als einer Milliarde Einwohnern, über 200 gesprochenen Sprachen und sehr vielen unterschiedlichen Kulturen gibt es keine einheitliche Sexualkultur. Es gibt tiefgreifende Unterschiede zwischen den nördlichen Parda-Kulturen, die sich aus der jahrhundertelangen Herrschaft islamischer Dynastien entwickelt haben und den im Süden verbreiteten hinduistischen Kulturen, die das Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit – auch ohne männliche Begleitung – sehr viel weniger stark einschränken. Frauen in Städten wie Mumbai, Kalkutta und Chennai genießen demzufolge sehr viel mehr Freiheiten als ihre Geschlechtsgenossinnen in der Hauptstadt Delhi im Norden. Die Einführung von Werbebotschaften, in denen Frauen in ein erotisches Licht gerückt werden, wurde im Norden Indiens übel vermerkt und ist dort für eine Welle von – zum Teil am helllichten Tage und von gebildeten Männern begangenen – Vergewaltigungen verantwortlich gemacht worden.87

Sexualität ist etwas Subversives, Anarchisches. Sie ist ihrem Wesen nach ungezügelt, temperamentvoll und unbezähmbar. Sexuelles Verlangen ist unvorhersehbar, unkontrollierbar, impulsiv und wird oftmals verborgen. Die erotische Macht attraktiver Männer und Frauen wird nicht selten als gefährlich und obendrein als unfair erachtet, auch wenn sie meist hinreichend privat erlebt wird, um die Regeln des moralischen und politischen Anstands nicht zu verletzen.88 George Orwell zeichnete Sex in seinem totalitären Staat in 1984 nicht umsonst als politisch subversiven Akt, Ausdruck abweichlerischen Autonomiestrebens, einen Garten der privaten Freuden, der nicht vom Staat zu kontrollieren war.89

In Russland sah die sozialistische Politik eine Beschränkung sexueller Aktivitäten auf die Ehe vor. Eine Affäre zu haben wurde damit |83|etwas Staatsfeindliches, eine Form von privater Auflehnung, ein Akt der Rebellion, Ausdruck von Individualität und persönlicher Autonomie, und stand für ein unbotmäßiges Streben nach Privatsphäre und Selbstverwirklichung.90 Die Hälfte aller Männer und mehr als ein Viertel aller Frauen hatten im Verlauf ihrer gegenwärtigen Beziehung zu irgendeinem Zeitpunkt eine Affäre, das ist weit mehr als irgendwo sonst in Europa.91 Eine Umfrage aus dem Jahre 1994 ergab, dass die Hälfte aller Russen Affären nicht als etwas grundsätzlich Falsches betrachtete unter den Amerikanern teilten nur minimale 6 Prozent diese Ansicht. Sex war das Einzige, was das Regime nicht kontrollieren, einem nicht wegnehmen konnte, also betrachtete jeder ihn als seine private Spielwiese. Die Lüge war Teil der Kultur, somit verfügten die Menschen bereits über hinreichend Fähigkeiten, Affären zu verbergen. »Sie tun so, als bezahlten sie uns, und wir tun so, als würden wir arbeiten«, lautete ein beliebtes Bonmot. Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, erlebte Sex in aller Öffentlichkeit eine Aufwertung zu einem wichtigen menschlichen Gut. Sexuelle Beziehungen entwickelten sich von einer Flucht aus dem wirklichen Leben zu einer der schnellsten Aufstiegsmöglichkeiten für junge Frauen.92

Im krassen Gegensatz dazu können Länder, denen der Ruf einer sexuell befreiten Gesellschaft anhaftet, zu den repressivsten überhaupt gehören. In Schweden hat die in der Öffentlichkeit vertretene Kultur einer »Gleichheit der Geschlechter« eine der restriktivsten Sexualkulturen Europas hervorgebracht, wie der offizielle Bericht über eine schwedische Umfrage zum Sexualverhalten aus dem Jahre 1996 zeigt.93 Sexualität wird gefürchtet, weil sie mit der politischen »Correctness« kollidieren kann. Die Hauptbetonung liegt hier auf den dunklen Seiten von Sexualität: Sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch, Abtreibung, Kinderpornographie und Prostitution genießen als zentrale Themen von Mediendiskussionen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Am Arbeitsplatz und im sozialen Miteinander scheuen sich die Menschen, über Sexualität und Erotik zu sprechen. Diskretion ist heilig. Schweden flirten nicht. In Schweden herrscht ein völliger Mangel an jener Alltagserotik, wie sie in südlicheren Kulturen gang und gäbe ist. Bei |84|den wenigen Gelegenheiten, bei denen die Schweden »aus sich herausgehen« – im Urlaub und auf Partys –, kommt es mitunter zu einer gewaltsamen Explosion von Sexualität, häufig in Kombination mit übermäßigem Alkoholkonsum. Diese Kluft zwischen öffentlich verordneter Schicklichkeit und privater Realität steht in krassem Gegensatz zu der öffentlich zelebrierten Erotik in romanischen Kulturen vom Mittelmeer bis nach Lateinamerika und in der Karibik.94 Brasilien ist Musterbeispiel für eine Kultur, die Erotik wertschätzt und belohnt und ein relativ freies Bekenntnis zur Sexualität gestattet. Brasilianer betrachten innerhalb ihrer Kultur, in der Aussehen und Sex-Appeal zählen, Ausgaben für schönheitschirurgische Eingriffe als völlig vernünftige Investition. Das brasilianische Bekenntnis zum Erotischen wird besonders deutlich im alljährlichen Karneval, in dem sich alle Schichten und Gruppierungen der Gesellschaft engagieren. Zwar ist in Brasilien Heterosexualität noch immer die Norm, doch stoßen Schwule, Bisexuelle und Transvestiten hier auf größere Akzeptanz als in vielen anderen Ländern, und haben in den Sambaparaden des Karnevals ihren besonderen Platz. Die ethnische und kulturelle Vielfalt Brasiliens findet ihr Echo in einer größeren sexuellen Vielfalt und einer breiteren Palette des sexuellen Ausdrucks als man sie aus jedem anderen Land kennt.

Ganz anders dagegen China, das über eine recht konservative und angepasste Sexualkultur verfügt, wo man regelmäßige sexuelle Aktivität jedoch als unerlässlichen Beitrag zur körperlichen Gesundheit betrachtet. Von älteren Menschen wird allerdings erwartet, dass sie sich nach und nach sexueller Aktivitäten enthalten, und die Umfragen reflektieren diese Erwartung im Allgemeinen.95 Bis die wirtschaftlichen Umwälzungen neue sexuelle Märkte erschlossen, galt erotisches Kapital außerhalb der Eliten lange Zeit als relativ unbedeutend.

Japan verfügt über eine ungemein reiche Sexualkultur mit langen Traditionen der erotischen Unterhaltung, ausgeklügelten Werberitualen und der Zurschaustellung von weiblicher Schönheit, Sex-Appeal und Charme. Dennoch scheint die sexuelle Aktivität innerhalb der Ehe weltweit im alleruntersten Bereich zu liegen und ist der Hauptgrund |85|für eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt.96 In der Tat erfreuen sich die Menschen hier ihres erotischen Kapitals und ihrer Sexualität häufiger außer- als innerhalb der Ehe.

Ein Aspekt scheint quer durch alle unterschiedlichen Sexualkulturen unverändert und universal vorhanden: Das männliche Bedürfnis nach erotischem und sexuellem Pläsier aller Art übertrifft grundsätzlich das sexuelle Interesse bei den Frauen der jeweiligen Kultur, mit Ausnahme vielleicht sehr junger Frauen. Manche Frauen lernen ihren Vorteil zu nutzen, andere nicht. In den meisten hoch sexualisierten Kulturen (wie Brasilien) werden Sexualität und erotisches Kapital umfassender gewürdigt, genießt der Tauschhandel Geld gegen Fitness, Anmut, Schönheit und Sexualität breitere Akzeptanz. Das Ausmaß des männlichen Sexdefizits läuft somit allerorten auf die Frage hinaus, inwieweit Männer gelernt haben, Frauen gegenüber großzügig zu sein – wie bereitwillig Männer Geld, Geschenke und andere Leistungen aufbieten, um ihren sexuellen Appetit zu befriedigen. Auch wenn es weiterer Studien bedarf, um dies zu belegen, so lautet doch meine These, dass das männliche Sexdefizit in den protestantisch geprägten angelsächsischen Ländern am größten sein dürfte. Das würde erklären, warum so viele der Sextouristen aus diesem Teil der Welt in Länder mit einer weniger zugeknöpften Haltung zur Sexualität fahren. Die puritanische Ethik hat eine ganze Menge mehr vollbracht, als den Kapitalismus zu fördern. Sie hat offenbar bei einer Menge Bewohner der westlichen Welt das Verständnis von Sexualität zuschanden werden lassen.

Homosexuelle Gemeinschaften

Paradoxerweise stammen die besten Belege für die große Bedeutung von Sexualität und erotischem Kapital aus Studien mit Homosexuellen.97 Unter Lesbierinnen ist gutes Aussehen nur für wenige Frauen von Bedeutung, für die meisten ihrer Geschlechtsgenossen spielt es eine untergeordnete Rolle. Lesbierinnen sind nicht gerade für ein besonders |86|hohes Maß an erotischem Kapital und ihre sexuelle Ausstrahlung berühmt. Unter Schwulen hingegen sind gutes Aussehen, ein attraktiver Körper und viel Sex-Appeal von überwältigender Bedeutung. Das Faible für Saunen als Treffpunkt und Umschlagplatz für Zärtlichkeiten kommt nicht von ungefähr, sind die meisten Männer dort doch höchstens in ein kleines Handtuch gehüllt. Neben dem großen Wert, der hier in jedem Alter auf physische Attraktivität gelegt wird, spielt auch der Stil eine wichtige Rolle. In Schwulenbars und -clubs muss man richtig angezogen sein. Seit Homosexuelle sich »geoutet« und als kulturelle Minderheit etabliert haben, sind zahllose, häufig landestypische Stilrichtungen entstanden.98 Nordamerika verfügt über ein besonders breites Spektrum an homosexuellen Subkulturen.99 Innerhalb der Homosexuellenwelt wird das maskuline oder feminine Auftreten von Heterosexuellen durch das Bekenntnis zu einer bestimmten Stilrichtung ersetzt. Homosexuelle Männer verwenden häufig mehr Mühe auf ihre Aufmachung und persönliche Erscheinung als heterosexuelle – was sicher auch einer der Gründe dafür ist, weshalb sie nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen attraktiv wirken. Das wiederum kann dazu führen, dass die Leute bei jemandem, der Zeit und Mühe in seine Erscheinung und seine Kleidung steckt, automatisch annehmen, er müsse (wissentlich oder unwissentlich) schwul sein.

Das »Dandy-Phänomen« des 18. und 19. Jahrhunderts war eine der wenigen Modeströmungen, bei denen Männer ebenso viele Anstrengungen in ihre Erscheinung, ihr Betragen und ihren Stil investiert haben wie Frauen. Diese Männer waren wohlhabend und hoch gebildet und machten ihr Leben durch ihr Verhalten, ihr Aussehen und ihre Lebensart zu einer Art Gesamtkunstwerk. Sie waren in Bezug auf das Interieur ihrer Domizile nicht minder wählerisch als bei ihrer Kleidung. Der für seinen geistvollen Witz berühmte Dichter Oscar Wilde war ein Dandy (und homosexuell). Er steckte genauso viel Mühe in die akribische Vorbereitung einer geistreichen Konversation für eine Abendgesellschaft wie in die Veredelung seines persönlichen Erscheinungsbilds. Für die meisten zeitgenössischen Schwulen gilt, dass ihre Investition in ein »gut gestyltes« Aussehen sich mit den Erfordernissen |87|ihres jeweiligen Jobs vertragen muss. Für »Muskelprotze« bedeutet das eine beträchtliche Zeitinvestition in Sport und Fitness. Die Kosten sind in diesem Falle allerdings häufig weniger das Problem, denn so mancher Homosexuelle hat mehr Einkommen zur freien Verfügung als ein verheirateter Mann, der eine Familie zu unterhalten hat.100 Die Kaufkraft der homosexuellen Klientel hat zur Entwicklung schwuler Subkulturen und entsprechender Dienstleistungen nicht unwesentlich beigetragen.

Sexuelle Aktivität lässt sich grob in drei große Kategorien einteilen: Solosex, der normalerweise privatim stattfindet, flüchtige Begegnungen und Gelegenheitssex sowie relativ langfristige Partnerschaften und Ehen mit und ohne Kinder.101 Unter Heterosexuellen war in allen Kulturen lange Zeit hindurch die Ehe der vorherrschende Kontext für eine sexuelle Beziehung, manchmal auch für romantische Beziehungen überhaupt. Mit dem 20. Jahrhundert aber, da moderne Verhütungsmittel auch Frauen sexuelle Beziehungen en passant ermöglichen, haben sich die Dinge geändert. Wenn die Eheschließung erst weit jenseits der 30 erfolgt, lässt sich die Beziehungstestphase der jungen Jahre auf zehn bis 20 Jahre flüchtiger Beziehungen und einmaliger Abenteuer ausdehnen.102 Auf diese Weise werden in der heterosexuellen Gemeinschaft kurzfristige Beziehungen genauso wichtig und verbreitet für die eigene sexuelle Historie wie langfristige (eheliche) Beziehungen. In der Schwulengemeinschaft waren flüchtige Beziehungen und Abenteuer schon immer ein großes Thema, nur wenige Männer »verpflichten sich« in der Praxis für mehr als ein Jahr. Der Neid heterosexueller Männer auf das abwechslungsreich-promiske Leben schwuler Männer soll dazu beigetragen haben, dass auch bei diesen die Bereitschaft für Affären in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist.103

Das erklärt, warum unter Homosexuellen so viel Wert auf Aussehen und Sex-Appeal gelegt wird – es kommt zu häufigen Partnerwechseln, frischer Partner- oder Abenteuersuche, immerwährendem Schauen und Bewerten. Schwulentreffs in Bars, Saunen und an anderen Orten kommen einem immerwährenden »Schönheitswettbewerb« gleich, der Laufsteg wird zum Teil des alltäglichen Lebens.104 |88|Der Druck, die geforderten hohen Maßstäbe zu erfüllen und zu halten, ist erbarmungslos.105 Gelingt es nicht, den aktuell gefragten Look in Stil und Erscheinung zu treffen, kann dies einen höchst schmerzhaften sozialen Ausschluss – in aller Öffentlichkeit und von ausgesprochen demütigender Natur – nach sich ziehen: Niemand redet mehr mit dem Betreffenden. Männer sind in solchen Fällen imstande, sogar höfliche Komplimente und anderen üblichen Smalltalk zu Beginn einer Unterhaltung zu ignorieren, sich in stummer Verachtung abzuwenden und dem Betreffenden die Bürotür vor der Nase zuzuschlagen oder frank und frei zu erklären, an Männern wie dem Geächteten seien sie nicht interessiert. Beziehungsmärkte unter Homosexuellen legen sogar noch höhere Maßstäbe an als ihre Gegenstücke unter Heterosexuellen, denn es handelt sich um kleine geschlossene Zirkel, und es besteht wenig Aussicht, Sex-Appeal106 gegen Wohlstand oder sozialen Status eintauschen zu können.107 Selbst wenn jemand einen langjährigen Partner hat, ist die Beziehung unter Umständen nie ohne Risiko, sobald sein Aussehen nachlässt oder er seinen Körper nicht in makellos fittem Zustand hält. Wer den Anforderungen nicht gerecht wird, hat immer vor Augen, was der Wettbewerb sonst noch so bietet. Es sind immer jüngere Männer zu haben, die blendend aussehen und auf der Suche sind. Schwulenbars und andere Treffs sind in ihrem Konkurrenzdruck gnadenloser als jeder Heterosexuellen-Nachtclub und jede Party.

Schwule mit wenig Sex-Appeal, die bei der Suche nach Geschlechtspartnern nur mäßig erfolgreich sind, verfallen infolge dieser Umstände nicht selten in Depressionen und wenden sich Alkohol oder Drogen zu. In Anbetracht geringer Aussichten auf ein lohnendes Geben und Nehmen besteht die Gefahr, dass sie schließlich womöglich riskanten Praktiken (wie dem kondomlosen Verkehr mit bekanntermaßen HIVpositiven Partnern) zustimmen. Ihr geringer sexueller Status lässt sie das Gefühl haben, die Bedingungen einer sexuellen Begegnung nicht steuern oder diktieren zu können, so dass sie die wenigen Gelegenheiten, die ihnen geboten werden, vorbehaltlos beim Schopf packen.108

Die überwiegende Mehrzahl an männlichen Aktfotos wird von Männern für männliche Betrachter aufgenommen, oftmals unter |89|einem ausgesprochen homoerotisch eingefärbten Blickwinkel.109 Robert Mapplethorpes erotische Fotografien sind das vielleicht bestbekannte Beispiel. Logischerweise sollten Frauen die Hauptadressaten männlicher Aktfotos sein, aber sie zeigen sich wenig interessiert. Die meisten europäischen Erotikmagazine, die Frauen zur Zielgruppe hatten, sind gescheitert, und kaum eine Frau fotografiert männliche Akte.110 Das Faible für Erotika und Pornographie ist typisch männlich und gilt für Heterosexuelle und Homosexuelle gleichermaßen. Das hat seitens feministischer Akademikerinnen zu ein paar unsinnigen Theorien geführt, die auf dem Standpunkt stehen, dass dort Frauen als Objekte zur Schau gestellt werden, weil der Betrachter solcher Werke unweigerlich männlich ist.111 In der Tat sind die Betrachter zumeist männlich, das zu betrachtende Objekt der Erotik aber ist je nach sexueller Orientierung männlich oder weiblich. Das mangelnde weibliche Interesse an männlicher Nacktheit oder zumindest ein Interesse, das an das männliche bei weitem nicht heranreicht, zeugt von einem geringeren sexuellen Interesse und Verlangen bei Frauen und erklärt die in fast allen Kulturen vorhandene höhere Wertschätzung weiblicher Nacktheit.112

Der zweite Bonus einer Frau – und seine systematische Unterschlagung

Fast alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die in der Vergangenheit als universal und angeboren galten (wie unterschiedliche mathematische Fähigkeiten oder der Intelligenzquotient), waren de facto gesellschaftlich bedingt, und konnten getilgt werden, indem man Mädchen gleichen Zugang zu Bildung wie Jungen verschafft hat. Zwei Differenzen aber bleiben unverändert bestehen.113 Sie scheinen quer durch alle Zeiten und Kulturen nicht zu wanken: Männer sind beträchtlich aggressiver als Frauen, und Männer haben eine grundlegend andere Einstellung zur Sexualität als Frauen. Mord und Promiskuität sind in der Regel männliche Domänen. Selbst wenn Frauen nicht |90|über ein größeres erotisches Kapital verfügen würden, verschaffte das größere männliche Bedürfnis nach sexueller Aktivität und erotischer Unterhaltung aller Art Frauen allein aufgrund des großen Ungleichgewichts von Angebot und Nachfrage einen Vorteil auf dem sexuellen Beziehungsmarkt.114

Ein zusätzlicher Faktor ist, dass Männer visuellen Stimuli wie äußerer Erscheinung und Sex-Appeal mehr Bedeutung beimessen. Das zeigt sich sowohl bei Homo- als auch bei Heterosexuellen. Da Männer Partnerinnen vorziehen, die attraktiv und mit einem umfangreichen erotischen Kapital gesegnet sind, verstärkt dies den Wettbewerb um die attraktivsten Gefährten (weiblichen oder männlichen Geschlechts), die zwangsläufig Mangelware sind. Frauen (und Männer), die Mühe in ihre Erscheinung und ein gelungenes Auftreten investieren, haben daher in ihrem Privatleben mehr Auswahl und die größere Verhandlungsmacht auf ihrer Seite. (Haben sie ihre Investition einmal getätigt, entdecken sie unter Umständen im Arbeitsleben und andernorts auch noch mehr Vorzüge.)

Nun haben Frauen nicht das Monopol auf erotisches Kapital, sie haben nur mehr davon als Männer, und das verschafft ihnen bei Verhandlungen mit Männern einen beträchtlichen potenziellen Vorteil.115 Viele Frauen sind sich dessen nicht bewusst, weil Männer es seit jeher verstanden haben, Frauen daran zu hindern, ihren einzigartigen Vorteil auszunutzen, ja, Frauen sogar erfolgreich eingeredet haben, ihr erotisches Kapital sei wertlos.

Das männliche Sexdefizit bildet eine zweite Säule weiblicher Macht, eine Chance, die allen Frauen offen steht. Sogar Frauen, die in punkto erotisches Kapital nicht übermäßig gut abschneiden, können von dem nie erlahmenden männlichen Interesse an mehr Sex profitieren. Frauen in der westlichen Hemisphäre machen sich allem Anschein nach diese Macht nicht im selben Maße zunutze wie Frauen andernorts.

Die jüngsten Umfragen zum Sexualverhalten haben eindrucksvoller als ihre Vorgänger bei Frauen ein geringeres sexuelles Interesse, eine weniger stark ausgeprägte Libido, eine höhere Bereitschaft zur Enthaltsamkeit und eine eher geringe sexuelle Aktivität offenbart – zumindest |91|gilt das für die westliche Welt. Nach der amerikanischen Erfahrung zu urteilen bestand die unmittelbare Reaktion der Männerwelt und der Pharmaindustrie darin, das geringere sexuelle Interesse von Frauen als medizinisches Problem einzuordnen. Die Suche nach einer frauentauglichen Variante von Viagra hat begonnen. Psychologen und Berater unterstützen die medizinische Behandlung von geringem sexuellen Verlangen durch langfristig ausgelegte psychotherapeutische Behandlungen. Die Botschaft ist klar: »Normale« Frauen sollten Sex genauso sehr wollen wie Männer. In den Vereinigten Staaten haben sich Beziehungsberatung, Paartherapie und Sexberatung zu einem Industriezweig von beachtlichen Ausmaßen entwickelt, einer Art von gesellschaftlich sanktionierter Korrektur sexuellen Begehrens.116 Sehr selten stellen Therapeuten diesen Automatismus in Frage und geben zu bedenken, dass am geringeren sexuellen Interesse von Frauen womöglich nichts Abnormes oder Besonderes ist. Es ist nur zufällig etwas unbequem für Männer. Tatsächlich entfaltet die therapeutische Welt neuerlich Druck auf Frauen, indem sie verlangt, diese sollten sich ihr Leben lang der männlichen Vorliebe für kostenlosen Sex auf Abruf beugen. Damit verlagert sie das Problem von den Männern auf die Frauen und macht diese zu den schwarzen Schafen des männlichen Sexdefizits. Sie verkehrt den Verhandlungsvorsprung von Frauen in ein weibliches Gesundheitsproblem, eine Krankheit, etwas Irrationales, Abnormes. Ungeachtet dessen, dass viele dieser Sexualtherapeuten selbst Frauen sind, gewinnen auch hier wieder die Männer.

Männer trachten danach, die Wirklichkeit zu bestimmen und neu zu definieren, erdenken Regeln, die ihre Interessen schützen und sicherstellen, dass Frauen etwaige Vorteile nicht wahrnehmen können. Und viele Feministinnen sind, wie ich im nächsten Kapitel darlegen möchte, nicht imstande, diese patriarchalische Voreingenommenheit und die entsprechenden ideologischen Kontrollmechanismen abzuschütteln.