|19|Kapitel 1

Was versteht man unter erotischem Kapital?

Attraktive Menschen stechen hervor. Andere Menschen bemerken sie, fühlen sich von ihnen angezogen, begegnen ihnen freundlich und zugewandt. Präsident Obama hat viele Begabungen, er ist klug und äußerst gebildet, aber es ist anzunehmen, dass die Tatsache, dass er gut aussieht, schlank, durchtrainiert und elegant gekleidet auftritt, zu seinem Wahlerfolg als Präsident der Vereinigten Staaten nicht unwesentlich beigetragen hat, vor allem in Anbetracht dessen, dass seine Frau Michelle wirklich alle maßgeblichen Kriterien für eine First Lady erfüllt. Elizabeth Taylor war von Kind an eine strahlende Schönheit und in jedem ihrer Filme eine Zierde für die Leinwand. Die Männer haben nie aufgehört, sie zu verehren, und im Laufe ihres langen Lebens hat sie acht Mal geheiratet (und sich wieder scheiden lassen).

Außergewöhnliche Schönheit scheint überall auf der Welt gleich gern gesehen. Die chinesische Schauspielerin Gong Li gilt als eine der schönsten Frauen der Welt und war in der Filmversion von Miami Vice nicht minder erfolgreich als in den Filmen des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou. Der amerikanische Golfspieler Tiger Woods soll dem Vernehmen nach der erste Sportler sein, dem seine Karriere Einnahmen in Höhe von über einer Milliarde Dollar eingebracht hat, die meisten davon nicht aus seinem Hauptberuf als Sportler, sondern aus millionenschweren Werbeverträgen, die nur möglich sind, weil man ihn nicht nur in seiner unmittelbaren Umgebung, sondern weltweit |20|faszinierend findet.1 Auch hier sind eine attraktive Gattin und hübsche Kinder Teil einer ruhmvollen Erscheinung.

Bei diesen Beispielen geht es um Berühmtheiten. Ähnliches lässt sich jedoch auch im Privatleben beobachten. Menschen, die physisch und sozial anziehend sind, haben oft bei anderen einen Stein im Brett, ein Vorteil, der ihnen in allen Lebens- und Berufslagen gute Dienste leisten kann.

Jedermann weiß, dass sich mit Geld so gut wie alles kaufen lässt. Heute, da westliche Ökonomien zu »Meritokratien« geworden sind, haben wir uns längst daran gewöhnt, nicht nur das wirtschaftliche Kapital eines Menschen in Betracht zu ziehen, sondern auch sein »Humankapital«; damit meinen wir das wirtschaftliche und soziale Potenzial einer guten Ausbildung und Arbeitserfahrung. In jüngerer Zeit haben wir uns den Begriff »soziales Kapital« zu eigen gemacht, mit dem der ökonomische und soziale Wert von Freunden, Verwandten und Geschäftskontakten – das »Wen-man-kennt« anstelle des »Was-man-weiß« – benannt wird. Erotisches Kapital ist nun das vierte Gut auf der persönlichen Habenseite, bislang geflissentlich übersehen und ignoriert, obwohl wir tagtäglich damit konfrontiert werden.

Zum erotischen Kapital eines Menschen vereinen sich Schönheit, Sex-Appeal, Temperament, Charme und die Begabung, sich geschmackvoll zu kleiden, mit sozialer und sexueller Kompetenz. Es ist eine Kombination aus körperlicher und sozialer Attraktivität. Auch Sexualität gehört dazu, wobei sie nicht so offen zutage tritt, weil sie sich nur in intimen Beziehungen offenbart.2 Doch Erhebungen zum Sexualverhalten aus aller Welt zeigen klar, dass Menschen in Wohlstandsgesellschaften heute mehr Sex mit mehr Partnern haben, als dies vor der Erfindung moderner Verhütungsmittel möglich gewesen wäre. Sexualität spielt demnach im modernen Leben eine größere Rolle als früher, dieser Umstand findet zunehmend Eingang in Literatur, Popkultur und Werbung und befeuert eine massive Ausweitung des Angebots an sexueller Unterhaltung jeglicher Couleur. Manch einer begrüßt diese neue »sexuelle Befreiung«. Andere verabscheuen sie. Die Allgegenwart erotischer Darstellungen in Werbung und Öffentlichkeit |21|provoziert den feministischen Zorn genauso sehr wie Jahrzehnte zuvor irgendwelche romantisierenden Darstellungen vom Hausfrauenglück.3

Unbestreitbare Tatsache ist, dass Sexualität im modernen Leben für jeden wichtiger geworden ist, nicht mehr nur für Eliten oder Reiche wie in der Vergangenheit, da Könige sich Mätressen und Aristokraten sich ihre Konkubinen hielten. Eine Folge davon ist, dass das erotische Kapital einer Frau im Wert steigt, weil der männliche Bedarf an sexueller Unterhaltung unersättlich scheint, ein Umstand, den viele Frauen nicht ganz begreifen.

Dieses Buch stellt eine neue Theorie vor, die um das erotische Kapital als viertem persönlichem Gut und seinen Einfluss auf alle Bereiche des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens und des Liebeslebens kreist. Ich werde zeigen, dass erotisches Kapital nicht minder wichtig ist als wirtschaftliches, kulturelles und soziales Kapital, wenn man soziale und ökonomische Abläufe, soziale Interaktionen und soziale Mobilität verstehen will, und selbstredend ist es von entscheidender Bedeutung für alle Fragen rund um das Thema Sexualität und sexuelle Beziehungen. Es ist nicht ganz einfach quantitativ zu erfassen, aber die Schwierigkeiten hierbei sind nicht größer als beim sozialen Kapital. In einer sexualisierten, individualisierten modernen Gesellschaft wird erotisches Kapital für Männer wie Frauen immer wichtiger und erfährt eine zunehmende Aufwertung.

Die sechs (manchmal auch sieben) Elemente von erotischem Kapital

Erotisches Kapital hat viele Facetten, die kulturell und historisch gesehen unterschiedlich stark ins Auge springen. Schönheit ist grundsätzlich ein zentrales Element, auch wenn die Vorstellungen davon, was Schönheit ausmacht, von Kultur zu Kultur und von einer Epoche zur anderen variieren mögen und auch persönlicher Geschmack eine Rolle spielt. Manche Gesellschaften Afrikas, insbesondere solche im Süden, verehren Frauen mit einem fülligen, sinnlichen Körper. In Westeuropa |22|können Mannequins hochgewachsen und schlank bis an den Rand der Magersucht daherkommen. In vergangenen Jahrhunderten galten Frauen mit kleinen Augen und winzigen Rosenmündchen als erlesene Schönheiten. Die moderne Fokussierung auf fotogene Merkmale bringt es mit sich, dass heutzutage Männer und Frauen mit großen Augen, großem Mund und markantem Charakterkopf bevorzugt werden. Jüngste Forschungen zeigen, dass Ebenmäßigkeit, Symmetrie, ja sogar die gleichmäßige Nuancierung des Teints die Attraktivität steigern. Genaueres dazu finden Sie in Anhang A.

Attraktivität aber ist zu einem beträchtlichen Teil auch ein erworbenes Merkmal, wie die neuerdings gern zitierte französische Wortschöpfung jolie laide (zu Deutsch etwa »hübsch hässlich«) zeigt. Der französische Begriff der belle laide (oder im Falle von Männern des beau laid) beschreibt eine mehr oder minder unansehnliche Person, die durch ihre Fähigkeit, sich zu präsentieren, attraktiv wirkt und durch Eleganz besticht. Sich sportlich in Form zu bringen, an seiner Haltung zu arbeiten, schmeichelnde Farben und Schnitte zu tragen, eine ansprechende Frisur und Garderobe, all das kann sich zu einem völlig neuen Aussehen addieren. Trotzdem unternehmen viele Menschen in dieser Hinsicht wenig Anstrengung. Wahre Schönheit ist immer ein knappes Gut und daher überall auf der Welt hoch geschätzt.

Ein zweites Element ist die sexuelle Attraktivität, die mit klassischer Schönheit unter Umständen nicht viel zu tun hat. In gewissem Sinne geht es bei Letzterer hauptsächlich um ein schönes Gesicht, wohingegen sexuelle Anziehungskraft mit einem begehrenswerten Körper zu tun hat. Allerdings ist Sex-Appeal auch eine Frage von Persönlichkeit und Eleganz, Weiblichkeit und Männlichkeit, der Art, sich zu geben, und des sozialen Umgangs mit anderen. Äußere Schönheit ist etwas Statisches und lässt sich daher leicht auf ein Foto bannen. Sexuelle Attraktivität hat mit der Art und Weise zu tun, wie sich jemand bewegt, wie er redet und sich verhält, kann also nur mittels Film oder direkter Beobachtung eingefangen werden. Junge Menschen haben oft eine Menge Sex-Appeal, doch verblasst dieser mit zunehmendem Alter unter Umständen rasch. Auch spielen bei jeder Beurteilung solcher |23|Merkmale persönliche Vorlieben eine Rolle. In der westlichen Welt teilen sich die Männer angeblich auf in solche, für die der Busen einer Frau besonders wichtig ist, solche, die vor allem auf das Gesäß, und solche, die vor allem auf die Beine achten, in den meisten Kulturen aber ist es wohl die Gesamterscheinung, auf die es ankommt. Manche Männer bevorzugen kleine und zierliche Frauen, andere stehen auf hochgewachsene elegante Damen. Manche Frauen schätzen Männer mit gut ausgebildeten Muskeln und einem gestählten athletischen Körper, andere eine schlanke, »weiche«, elegante Erscheinung. Beide Versionen von idealer Männlichkeit findet man übrigens als Prototypen in der indonesischen und der chinesischen Oper: der kultiviert-feingeistige kluge Gelehrte und der kraftvolle, dynamische Krieger – die Macht der Feder gegen die Macht des Schwertes. Trotz aller Unterschiede, was den persönlichen Geschmack angeht, ist auch Sex-Appeal ein knappes Gut und daher ebenfalls universell hoch geschätzt.

Ein dritter Bestandteil von erotischem Kapital ist ein definitiv sozialer: Anmut, Charme, die Fähigkeit zum sozialen Austausch, das Geschick, Menschen dazu zu bringen, dass sie einen mögen, sich mit einem wohl fühlen, Wert auf die Bekanntschaft mit einem legen und, wenn’s drauf ankommt, einen auch begehren. Flirten lässt sich lernen, ist aber ebenfalls kein allzu verbreitetes Talent. Manche Männer und Frauen bringen es in jeder Lebenslage fertig, diskret zu flirten, andere sind dazu absolut nicht imstande. Manche Menschen in Schlüsselpositionen haben jede Menge Charme und Charisma, andere nicht. Auch diese sozialen Fertigkeiten haben ihren Wert.

Ein viertes Element ist die Vitalität einer Person, ihre Spritzigkeit – eine Mischung aus körperlicher Fitness, sozialer Energie und Humor. Menschen, die pralles Leben verkörpern, können auf andere ungemein attraktiv wirken – jeder kennt das von Leuten, die Seele und Mittelpunkt jeder Party sind. Manche Kulturen schätzen Humor, in sehr vielen Kulturen stellen Menschen ihre Vitalität in Tanzkünsten und anderen sportlichen Aktivitäten unter Beweis.

Die fünfte Zutat betrifft die soziale Präsentation, das Auftreten eines Menschen in Gesellschaft: Frisur, Kleidung, Make-up, Parfüm, |24|Schmuck und anderer Zierrat sowie verschiedene Accessoires, die Leute mit sich herumtragen, um der Welt ihren sozialen Stand und Stil kundzutun. Könige und Präsidenten kleiden sich für öffentliche Auftritte in besonderer Weise, um Macht und Autorität zu demonstrieren. Militäruniformen und andere formelle Kleiderordnungen künden von Status, Rang und Autorität, transportieren für viele Leute gar eine erotische Botschaft. Normale Leute, die sich zu einer Party oder einem anderen sozialen Ereignis aufmachen, wählen Kleidung, die sie einerseits anziehend erscheinen lässt und andererseits einem Fremden, dem sie möglicherweise begegnen, ihre gesellschaftliche Stellung und ihren Wohlstand signalisiert. Wie die jeweilige Balance zwischen sexy Outfit und sozialer Statusdemonstration ausfällt, hängt vom Ort des Geschehens und dem gesellschaftlichen Anlass ab. In der Vergangenheit kontrollierten strikte Kleiderordnungen die öffentliche Zurschaustellung von Statussymbolen mit Hilfe der Garderobe.4 Heutzutage hat die Mode diese Rolle teilweise übernommen. Gegenwärtig liegt die Betonung längst nicht mehr allein auf dem ökonomischen Status, sondern genauso sehr auf sexuellen Attributen und dem Bekenntnis zu einer bestimmten Subkultur oder Moderichtung. Auf der ganzen Welt geben Hochzeiten Anlass, sich »in Schale zu werfen«, wohingegen Beerdigungen Sittsamkeit, Schlichtheit und Bescheidenheit verlangen. Wer mit den Regeln des gesellschaftlichen Auftretens und den entsprechenden Bekleidungskonventionen vertraut ist, kommt im Allgemeinen besser an als jemand, der aussieht, als sei er einer Freakshow entsprungen.

Das sechste Element ist die Sexualität selbst: die sexuelle Kompetenz und Energie, die erotische Phantasie und alles andere, was einen trefflichen Geschlechtspartner ausmacht. Ob jemand ein guter Liebhaber ist, wissen im Allgemeinen nur die Partner. Natürlich hat diese Fähigkeit unter Umständen sehr unterschiedliche Gesichter – sie richtet sich nicht nur nach dem Alter, sondern auch nach der Kompetenz und Leidenschaft des jeweiligen Partners. Eine starke Libido garantiert nicht automatisch sexuelle Kompetenz. Allerdings ist es bei Menschen mit einem starken sexuellen Verlangen wahrscheinlicher, dass sie die Erfahrungen erwerben, die letztlich zu größerer Versiertheit führen. |25|Die uns vorliegenden nationalen Sexualstatistiken liefern mit wenigen Ausnahmen leider keinerlei Informationen über den Sex-Appeal und die sexuelle Kompetenz der Befragten.5 In allen untersuchten Populationen offenbart sich jedoch eine dramatische Bandbreite in Bezug auf den individuellen Sexualtrieb. Eine winzige Minderheit an Männern und Frauen ist sexuell extrem aktiv, die Mehrheit bewegt sich irgendwo im Mittelfeld, und eine weitere Minderheit lebt nahezu zölibatär.6 Es scheint vernünftig anzunehmen, dass auch sexuelle Kompetenz bei Erwachsenen kein universelles Attribut ist und außergewöhnliche Kunstfertigkeit auch hier eine seltene Gabe. Der Faktor Sexualität ist als letzter aufgeführt, weil er sich gewöhnlich nur im Privaten, in intimen Beziehungen, zeigt, wohingegen die anderen fünf – sichtbar oder unsichtbar – in allen sozialen Kontexten eine Rolle spielen.

Alle sechs Elemente fließen bei Männern und Frauen gleichermaßen in das erotische Kapital der jeweiligen Person ein. Welche Bedeutung jedem Element im Einzelnen zukommt, ist bei beiden Geschlechtern unter Umständen sehr verschieden, und auch zwischen verschiedenen Kulturen und Epochen gibt es Unterschiede. In Papua-Neuguinea sind es die Männer, die sich die Häupter mit Federn schmücken und das Gesicht in bunten Farben schminken. In Westeuropa verschönern die Frauen ihr Gesicht mit Make-up, Männer hingegen eher selten. Welcher Wert erotischem Kapital im Einzelfall zukommt, kann auch durch den Beruf des Betreffenden mitbestimmt sein, je nachdem, welche Rolle es darin spielt oder auch nicht. Informatiker haben diesbezüglich im Allgemeinen keine höheren Ansprüche zu erfüllen, weshalb sie gemeinhin stereotyp als »Modemuffel« gelten. Für Japans Geishas und die »Tanzmädchen« Pakistans hingegen – die Tawaif – ist erotisches Kapital entscheidender und essenzieller Bestandteil ihrer Arbeit. Der jeweilige Anteil der sechs Elemente variiert, denn Geishas sind Allround-Künstlerinnen, Gastgeberinnen und Entertainerinnen, die in Teehäusern, Restaurants, Nachtclubs und anderen öffentlichen Etablissements auftreten und im Regelfalle keine sexuellen Dienste anbieten, während bei den Tawaif neben kunstfertigen Tanz- und Gesangsdarbietungen Sex als zusätzliche Attraktion dazugehören kann.7 |26|In beiden Fällen liegt der Schwerpunkt auf sozialen Fertigkeiten, aufwändiger Kleidung, schmeichelnder Konversation, Charme und Anmut, kurz allem, was für ein angenehmes Beisammensein von zwei Personen sorgt, und das schlägt sich in ihren Honoraren nieder. Der soziale und wirtschaftliche Wert von erotischem Kapital zeigt sich zwar besonders eindrucksvoll in dem, was man im weitesten Sinne als Entertainer-Berufe bezeichnen könnte, ist aber auch in allen anderen sozialen Kontexten sehr real.8

In manchen Kulturen ist das erotische Kapital einer Frau überdies eng verknüpft mit ihrer Fruchtbarkeit. Viele der ersten Darstellungen der menschlichen Gestalt – manche, wie die japanische Dogū-Figuren aus Terrakotta, um die 13 000 Jahre alt – haben Frauen zum Gegenstand und symbolisieren vermutlich Göttinnen, die als Fruchtbarkeitssymbole betrachtet wurden. In christlichen Gesellschaften gehören Darstellungen der jungen Muttergottes mit ihrem Kind zu den populärsten religiösen Motiven. Bei vielen westindischen Völkern ist Fruchtbarkeit von so entscheidender Bedeutung für die sexuelle Anziehungskraft einer Frau, dass Mädchen ihre Fruchtbarkeit bereits vor der Eheschließung unter Beweis stellen. Es ist dort keine Seltenheit, dass eine Verlobte schwanger wird und ein gesundes Kind zur Welt bringt, bevor die Hochzeit arrangiert wird. In Indien gelten Kinder als derart essenzieller Bestandteil einer Ehe, dass kinderlose Paare grundsätzlich als unglückliche Opfer von Unfruchtbarkeit gelten und niemand auf die Idee kommt, sie könnten freiwillig auf Kinder verzichtet haben. Einer der Gründe dafür, dass Homosexualität in manchen Kulturen geächtet wird, ist die Tatsache, dass aus gleichgeschlechtlichen Beziehungen kein »regulärer« Nachwuchs hervorgeht.9 In vielen Kulturen gilt eine fruchtbare Frau als besonders anziehend, vor allem, wenn ihre Kinder gesund und wohlgestalt sind. Eine Italienerin bemerkte einmal, dass sie von italienischen Männern wegen ihres gutaussehenden Sohns bewundert werde, während Männer in Amerika sie nur wegen ihrer schönen langen Beine und ihrer glänzenden Haarpracht anhimmelten. In manchen Kulturen gilt Fruchtbarkeit als zusätzliches siebentes Element von erotischem Kapital, eines, das selbstredend nur |27|Frauen eigen sein kann und mancherorts ein ungeheures Extragewicht hat, das Frauen automatisch einen großen Ansehensvorteil vor Männern verleiht. In anderen Kulturen gilt das reproduktive Kapital gar als eigenes, fünftes individuelles Gut, das aber im 21. Jahrhundert in den meisten Gesellschaften von geringerem Wert zu sein scheint als früher in landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften, in denen großer Wert auf Nachwuchs gelegt wurde.10

In manchen Kulturen sind erotisches und kulturelles Kapital eng miteinander verflochten, die griechischen Hetären, japanische Geishas und die Kurtisanen der italienischen Renaissance sind gute Beispiele hierfür. Diese Frauen wurden ebenso sehr für ihre künstlerischen Fertigkeiten – im Singen, Tanzen, Musizieren, der Malerei, Rezitation oder Dichtkunst – bewundert wie für ihre Schönheit und ihre sexuelle Anziehungskraft. Die Italienerin Veronica Franco war als Dichterin nicht minder berühmt denn als Kurtisane.11 Moderne Äquivalente sind Schauspieler und Sänger, die in Filmen, auf Videos und auf der Bühne ihren Sex-Appeal in Szene setzen – Monica Bellucci, George Clooney, Beyonce Knowles und Enrique Iglesias, um nur einige zu nennen. Manche Entertainer stilisieren ihre Person auf der Bühne und im wirklichen Leben zu einem Gesamtkunstwerk – man denke an die phantastischen Kostümierungen von Lady Gaga, Grace Jones und David Bowie.

Erotisches Kapital ist somit eine Kombination aus ästhetischer, optischer, sozialer und sexueller Anziehungskraft auf andere Mitglieder der eigenen Gesellschaft und insbesondere auf die Angehörigen des anderen Geschlechts, die in den verschiedensten sozialen Kontexten wirkt. In manchen Kulturen ist Fruchtbarkeit zentrales Element des erotischen Kapitals von Frauen. Ich verwende der stilistischen Abwechslung halber neben dem Begriff erotisches Kapital hin und wieder den Begriff erotisches Potenzial. In das erotische Vermögen eines Menschen fließen einerseits Fertigkeiten ein, die erlernt und weiterentwickelt werden können, andererseits Merkmale, die von Geburt an festliegen: ob jemand hochgewachsen oder untersetzt, seine Haut schwarz oder weiß ist zum Beispiel.12 Frauen haben in aller Regel mehr |28|erotisches Kapital als Männer (das gilt auch für Kulturen, in denen Fruchtbarkeit keines seiner zentralen Elemente ist), und sie arbeiten aktiver daran. Frauen tragen beispielsweise aufwändigere Frisuren als Männer und investieren mehr Zeit in Pflege und Aufrechterhaltung einer guten Figur. Ich kenne Frauen, die über hundert Paar Schuhe in allen möglichen Farben und Stilrichtungen ihr Eigen nennen, während ihre Angetrauten mit zwei bis drei Paaren auskommen. Erotisches Kapital ist ein kostbares Gut für alle sozialen Personenkreise, denen es an ökonomischem und sozialem Kapital oder an Humankapital mangelt, das gilt unter anderem für viele heranwachsende und junge Menschen, für ethnische und kulturelle Minderheiten, für in irgendeiner Form benachteiligte Gruppen und für Migranten zwischen den Kulturen.

Mein Begriff von erotischem Kapital geht deutlich weiter als frühere Versionen anderer Kollegen, die sich vor allem am Sex-Appeal orientiert haben.13 Er stützt sich auf neuere Forschungen zur Sexualität und dem Erotikgewerbe, benennt präzise seine einzelnen Bestandteile und gilt in gleichem Maße für die mehrheitlich heterosexuelle Kultur Nordamerikas und Europas wie für die dortige homosexuelle Minderheitskultur.

Es würde sich lohnen, Kulturvergleiche zum erotischen Kapital anzustellen und zu untersuchen, wie die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben, welche Elemente am stärksten ins Gewicht fallen und wie es im Vergleich zu den anderen persönlichen Attributen gewichtet wird, doch mein Augenmerk in diesem Buch gilt den zeitgenössischen modernen Gesellschaften, denn hier hat das erotische Kapital seine bislang größte Bedeutung erlangt und ist von höchstem Wert.

Die vierte Kapitalform

Jedes Individuum verfügt über vier Arten von persönlichen Aktivposten – der vierte ist sein erotisches Kapital. Die Unterschiede und die Beziehungen zwischen den anderen drei – dem ökonomischen, kulturellen |29|und sozialen Kapital – sind erstmals im Jahre 1983 von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu dargelegt worden.14 Seine Überlegungen erwiesen sich als so nützlich, dass sie vor allem in Europa nicht nur rasch Eingang in die Sozialwissenschaften, sondern auch in die Alltagssprache gefunden haben.15

Unter ökonomischem Kapital wird die Summe der Ressourcen und Güter verstanden, die Menschen einsetzen, um finanziellen Zuwachs – in Gestalt von Geld, Land oder Eigentum – zu erzielen.

Das kulturelle Kapital umfasst zum einen das Humankapital, wie es die Wirtschaftsforschung definiert: die schulischen und beruflichen Qualifikationen, Fortbildungen, Fertigkeiten und Arbeitserfahrungen, die für den Arbeitsmarkt wichtig sind und sich in die Verbesserung der eigenen Einkommenssituation umsetzen lassen.16 Bourdieus Bild vom kulturellen Kapital aber geht über das des reinen Humankapitals im oben genannten Sinne hinaus und schließt auch kulturelle Kenntnisse und Kunstfertigkeiten ein. Zum kulturellen Kapital gehören Informationsquellen und andere Güter, die gesellschaftlich hoch im Kurs stehen: literarische und musikalische Kenntnisse zum Beispiel und jene verinnerlichte (oder wie Bourdieu es nennt, »inkorporierte«) Kultur, die guten Geschmack und den richtigen Akzent hervorbringt, um jemanden »distinguiert« erscheinen zu lassen. Auch materielles oder »objektiviertes« Kulturkapital gehört dazu – Gemälde zum Beispiel, Musikwerke, Bildhauerisches, Schauspiele und Bücher, schöne Möbel, eine von Architekten gestaltete Designerheimstatt oder ein stilvolles altes Haus, konkrete Dinge, die man (im Unterschied zum guten Geschmack) besitzen, kaufen und verkaufen kann und die dazu beitragen, den gesellschaftlichen Status eines Menschen zu heben. Selfmade-Millionäre untermauern ihren neu erworbenen sozialen Rang nicht selten durch den Erwerb von Kunstwerken und Kulturgütern.

Bourdieu zufolge ist das soziale Kapital die Summe aller – real oder potenziell vorhandenen – Ressourcen, die einer Person oder einer Gruppe von Personen über den Zugang zu einem Netz von Beziehungen oder die Mitgliedschaft in einer Gruppe, einer Sippe oder einem Club, der nützliche Beziehungen herstellen kann, zufallen: Das »Wen-man-kennt« |30|im Unterschied zum »Was-man-weiß«. Mit dem Begriff soziales Kapital lassen sich folglich Dinge wie »Strippenziehen«, Vetternwirtschaft und Korruption in etwas scheinbar Akzeptables verkehren. Die italienische Mafia profitiert massiv von sozialem Kapital, nicht anders als Politiker und Akademiker, die einander zu gegenseitiger Unterstützung und Anerkennung verpflichten, um ihr eigenes Vorankommen zu befördern.17 Soziales Kapital lässt sich nutzen, um die gesellschaftliche Leiter emporzuklettern, Macht und Einfluss auszuüben oder Geld zu verdienen – gute Sozialkontakte können für geschäftliche Unternehmungen von entscheidender Bedeutung sein. Politisches Kapital ist eine Sonderform des sozialen Kapitals und bezieht sich auf die politischen Netzwerke, Pfründe und Ressourcen eines Menschen. Soziales (und politisches) Kapital fällt Individuen zu, und je wohlhabender und erfolgreicher diese werden, desto leichter fällt es ihnen, Beziehungen zu knüpfen: Sie werden von mehr Menschen »gekannt«, als sie selbst kennen. Umfang und Wert des sozialen Kapitals eines Menschen ist abhängig vom Umfang seines Netzwerks und dem, was die Angehörigen des Netzwerks an ökonomischem und sozialem Kapital in die Waagschale werfen. Wenn all Ihre Freunde arm und wenig gebildet sind, kann es demnach sein, dass Ihr soziales Kapital praktisch gleich Null ist.18

Irritierenderweise publizierte, kurz nachdem Bourdieus Artikel über die drei Formen von persönlichem Kapital erstmals in Englisch erschienen war, der Amerikaner James Coleman im Jahre 1988 einen Artikel über einen anderen Begriff von sozialem Kapital, ohne Bourdieus Arbeiten auch nur zu erwähnen. Diese zweite, ein bisschen konfus geratene Theorie behandelt soziales Kapital als Vermögen von Familien, gesellschaftlichen Gruppen und Gemeinschaften statt als individuelles Gut. Auch wenn Bourdieus und Colemans Begriffe von sozialem Kapital einige Gemeinsamkeiten haben, so sind sie im Kern dennoch radikal verschieden. Colemans Konzept wurde besonders nachdrücklich in den Vereinigten Staaten weiterentwickelt, so beispielsweise von Robert Putnam in seinem Buch Bowling Alone, das Aufstieg und Fall ziviler Bande und bürgerlichen Gemeinsinns in den |31|Vereinigten Staaten im Verlauf des 20. Jahrhunderts nachgeht. Heute fielen unter dieses Konzept Bürgerkultur, Zivilgesellschaft und das Gemeinwohl einer Gemeinschaft mit vielen Quervernetzungen und Verbindungen zwischen einzelnen Familien, aus denen Vertrauen und allgemein akzeptierte Normen erwachsen, die dann kollektiv gefestigt werden.19

Hier aber soll Bezug genommen werden auf Bourdieus umfassendes und elegantes theoretisches Rahmenwerk zur Ausstattung des Einzelnen mit potenziell gewinnbringenden Persönlichkeitsattributen, das in Europa ungeheuren Einfluss gehabt hat und in seiner Anwendbarkeit unerreicht ist. Seine Klassifizierung hat sich als ungemein nützlich erwiesen, weil sie erklärt, warum in kapitalistischen Gesellschaften Menschen, die nicht aus wohlhabenden Verhältnissen stammen, durch den Einsatz anderer Kapitalformen trotzdem erfolgreich werden können. Manche kommen weit, weil ihre Begabungen ihnen auf die richtigen Schulen oder in die richtigen Universitäten verhelfen, andere schaffen es ganz ohne spezielle Talente, sich die richtigen Freunde zu suchen.

Erotisches Kapital ist nicht minder wertvoll als Geld, Bildung und gute Beziehungen, auch wenn es von Bourdieu und anderen Sozialwissenschaftlern bisher nicht gesehen wurde.20 Gesellschaften messen den verschiedenen Kapitalformen unter Umständen unterschiedlich viel Gewicht bei, so dass sie mehr oder minder gut in finanzielle Vorteile umsetzbar sein können. Manche Menschen sind mit allen Kapitalsorten mehr als gut eingedeckt, während die ärmsten in dieser Hinsicht womöglich so gut wie keine Substanz vorzuweisen haben. Die meisten Menschen verfügen zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens über immer andere Konstellationen an individuellen Vorzügen. Junge Leute sind unter Umständen in ökonomischer Hinsicht arm, dafür aber reich an erotischem Kapital, lebensfroh und höchst attraktiv. Ältere Menschen sind womöglich reich an finanziellen Mitteln, dafür aber äußerlich nicht mehr sehr anziehend. Einer der Gründe dafür, dass erotisches Kapital in der Vergangenheit so geflissentlich übersehen worden ist, hat damit zu tun, dass Eliten keinen Monopolanspruch darauf erheben können, so dass es in ihrem Interesse liegt, es herunterzuspielen |32|und zu marginalisieren. Andere Gründe hierfür werden in Kapitel 3 erörtert.

Schönheit unterscheidet sich, wie ich in Kapitel 4 zeigen werde, von allen anderen Kapitalformen darin, dass sie schon von Kindesbeinen an sichtbar ist und Früchte trägt. Hübsche Kinder wachsen in einer besonders wohlwollenden Umgebung auf und arbeiten bereits in jungen Jahren an ihrem erotischen Kapital. Andere Formen von Kapital fangen in der Regel erst im jungen Erwachsenenalter an, eine Rolle zu spielen. In modernen Meritokratien investieren die Menschen 20 Jahre in die Entwicklung ihres Humankapitals – in aller Regel geschieht dies im Rahmen von staatlichen und privaten Bildungssystemen oder über die praktische Berufsausbildung. Ein Netz an nützlichen Sozialkontakten und einen gewissen Wohlstand aufzubauen kostet ebenfalls etliche Jahre und einiges an Anstrengung, so man nicht beides von den Eltern geerbt hat.21 In die Entwicklung seines erotischen Kapitals hingegen kann man bereits in Kindheit und früher Jugend investieren, dann, wenn man als junger Mensch zu erkennen beginnt, dass es von Vorteil sein kann, sich physisch und sozial anziehend zu präsentieren. Folglich kann erotisches Kapital für manche Menschen ein Leben lang ein entscheidend wichtiges Gut sein, während andere alle Anstrengungen in Bildung und Karriere investieren.

Ist erotisches Kapital käuflich?

Pierre Bourdieu hat die Beziehungen zwischen Männern und Frauen analysiert und dabei sehr genau den Wettstreit um Macht und Kontrolle in einer Beziehung im Auge gehabt.22 Das erotische Kapital hat er jedoch nicht gesehen, möglicherweise deshalb, weil es so gesondert von den drei anderen Kapitalarten dasteht. Laut Bourdieu ist ökonomisches Kapital (Geld im weitesten Sinne) Grundlage aller anderen Kapitaltypen, für erotisches Kapital aber gilt das nicht. Wohlhabende Eltern können nicht garantieren, dass ihre Kinder schön und anziehend auf die Welt kommen werden, da nützt es auch nichts, dass sie |33|in der Lage sind, ihnen die niedlichsten Kleider zu kaufen und gute Manieren beizubringen, die sie im besten Lichte dastehen lassen. Die Bande zwischen erotischem Kapital und den drei anderen Kapitalformen sind dem Zufall unterworfen, sie sind nicht verlässlich und vorhersehbar. Das verleiht erotischem Kapital seinen besonderen subversiven Joker-Charakter. Auch das ist einer der Gründe dafür, dass es herabgewürdigt wird und man seine soziale Bedeutung zu schmälern versucht.

Manche Autoren haben versucht, den Begriff kulturelles Kapital dahingehend auszudehnen, dass er Attraktivität mit abdeckt. So behaupten einige zum Beispiel, Bourdieu habe sexuelle Anziehungskraft als eine Facette von kulturellem Kapital gesehen.23 Möglicherweise haben sie Bourdieus beiläufige Betrachtung über »sichtbare Muskulatur und gebräunte Haut« im Sinn gehabt, mit der dieser lediglich den Punkt unterstreichen wollte, dass viele Aspekte der körperlichen Erscheinung eines Menschen erworbene und keine angeborenen Merkmale sind, und als Verweis auf sexuelle Attraktivität missverstanden.24 Bourdieu interessierte sich in diesem Zusammenhang lediglich für »inkorporiertes« oder verinnerlichtes kulturelles Kapital, das soziale Klassenvorteile mit sich bringt, und nannte als Beispiele den richtigen Akzent und ein gewisses Betragen, die innerhalb einer Familie gepflegt werden und von einer gehobenen sozialen Herkunft künden, und den sonnengebräunten Teint, der einst von teuren Urlauben in warmen Ländern oder an Bord einer Jacht und nicht von ein paar Stunden im Bräunungsstudio zu zeugen pflegte. Er konnte erotisches Kapital nicht als solches erkennen, weil es nicht in die normalen wirtschaftlichen und sozialen Hierarchien eingefügt ist, die nicht durch persönliches Streben und eigene Anstrengung, sondern in hohem Maße durch Familie und soziale Herkunft strukturiert werden. Ein Schlüsselmerkmal von erotischem Kapital ist die Tatsache, dass es von der sozialen Herkunft völlig unabhängig und das Vehikel für einen erstaunlichen sozialen Aufstieg sein kann.

Bourdieus Blickwinkel ist heute auch deshalb nicht mehr ganz aktuell, weil er die Lebensart des 21. Jahrhunderts mit all den Subkulturen, |34|die sich quer durch alle sozioökonomischen Klassen hindurch ziehen und sämtliche Klassengrenzen ignorieren (Goths, Punks, Sport- und Musikfans, um nur einige zu nennen), und die komplexe Stilvielfalt multikultureller Gesellschaften nicht vorhersehen konnte. Eine Studie jüngeren Datums aus Großbritannien ist beispielsweise zu dem Schluss gekommen, dass Menschen, in denen sich mehrere Ethnien vereinigen, tendenziell als besonders attraktiv empfunden werden – ein schönes Beispiel ist das französische Model Noémie Lenoir, das regelmäßig die Modekette Marks and Spencer bewirbt, die wirklich alle Gesellschaftsschichten zu bedienen sucht.25 Mit etwa 3 Prozent der Bevölkerung stellen Menschen von ethnisch heterogener Herkunft in Großbritannien und den meisten anderen Ländern eine wahrlich winzige Minderheit dar und bilden eine ganz neue Gruppe multikultureller Gesellschaften, die im Denken des 20. Jahrhunderts nicht vorkam.

Bezieht man erotisches Kapital jedoch als vierten individuellen Aktivposten mit ein, dann ist und bleibt Bourdieus theoretischer Rahmen, auch wenn er inzwischen in die Jahre gekommen ist, weiterhin der nützlichste, weil er die Konvertierbarkeit der verschiedenen Formen von Kapital ineinander herausstellt. Bourdieu betrachtete alle Formen von Kapital als persönliche Güter, die sich in Umfang, Zusammensetzung und Konvertierbarkeit unterscheiden. Alle Arten von Kapital repräsentieren eine Form von Macht, das lässt sich bei jeder Form von sozialem Dialog beobachten. Der augenfälligste Austausch besteht zwischen Geld (finanziellem Kapital) und den drei anderen Formen von Kapital, die meisten anderen Wechselbeziehungen sind weniger offensichtlich. So gilt es zum Beispiel durchaus als schicklich, im sozialen Umgang so zu tun, als komme man mit jemandem zusammen, weil man an seiner Person interessiert ist, und nicht, weil man ihn als potenziell nützlichen Geschäftskontakt betrachtet. Hingegen wird es oft als wenig geschmackvoll angesehen, ein Kunstwerk lediglich als gute Geldanlage zu erwerben und nicht, weil es einem gut gefällt, oder an der Universität ein Fach wie Jura, Wirtschaftswissenschaften oder Management nur deshalb zu studieren, weil es im späteren Leben hohe Einkünfte verheißt, statt sich für die Materie wahrhaft zu interessieren.

|35|Knappheit macht jedes Gut kostbar und verleiht ihm sozialen und ökonomischen Seltenheitswert, mithin Status oder das, was Bourdieu als »Distinktion« bezeichnet.26 Knappheit wirkt für alle Arten von Kapital gleich, weil sie alle letztlich verschleierte Formen von ökonomischem Kapital sind. Jeder soziale Austausch beinhaltet neben seinen sozialen, kulturellen oder erotischen Elementen auch ein Element des ökonomischen Transfers.27

Sämtliche Formen von Kapital sind somit in unterschiedlichem Maße ineinander überführbar. Mit Geld lässt sich kulturelles und soziales Kapital entwickeln und erwerben, und auch beim Prozess des Geldverdienens spielen nicht selten auch Kunstwerke und Wissen eine Rolle – so unterhält man den Geschäftspartner vielleicht mit einem Opernbesuch oder knüpft bei teuren Mittag- oder Abendessen an attraktiven kulturellen Örtlichkeiten nützliche Sozialkontakte. Geld, das man für kosmetische Operationen, Zahnästhetik, Fitnessstudios oder einen Personal Trainer ausgibt, kann das eigene erotische Potenzial ungemein aufbessern. Ganz allgemein aber läuft es darauf hinaus, dass ein Mädchen oder Junge aus ärmlichen Verhältnissen so unerhört schön oder sexuell anziehend sein kann, dass schlichte Kleidung und ein ebensolches Betragen keinerlei Bedeutung mehr haben, während eine mit teurem Schmuck ausstaffierte unscheinbare Frau oder ein kostspielig gewandeter langweilig wirkender Mann unter Umständen keine Bewunderer anzuziehen vermag. Deshalb hat das Märchen vom Aschenputtel oder vom Prinzen, der ein wunderschönes Bauernmädchen ehelicht, in so vielen Gesellschaften seinen Platz. Und es ist auch der Grund dafür, dass es in einem modernen Land wie Großbritannien mehr Millionärinnen als Millionäre gibt. Männer machen im Regelfalle ihr Vermögen nur durch Beruf und Geschäfte, Frauen können einen gehobenen Lebensstil und einen hohen sozialen Rang außer durch beruflichen Erfolg auch durch eine vorteilhafte Heirat erringen.28 Gutaussehende Männer, die in große Vermögen einheiraten, sind eher selten im Vergleich zu schönen Frauen, die solches tun.

Erotisches Kapital ist von besonders hohem Wert unter Verhältnissen, in denen öffentliches und privates Leben eng miteinander |36|verflochten sind – in der Politik zum Beispiel oder bei Berufen in der Medien- und Unterhaltungsindustrie – oder dort, wo eine Person wie beim Sport oder in den Künsten sehr häufig physisch in Erscheinung tritt. Erotisches Kapital muss dabei nicht unausweichlich oder hauptsächlich mit Sex-Appeal oder sexueller Kompetenz zu tun haben, in manchem Kontext steht einfach soziale Kompetenz an erster Stelle.

Eine nette Anekdote aus dem Umfeld einer britischen Botschaft in Südamerika mag das verdeutlichen: Der ganze Ort tratschte über nichts anderes als über die Frau des Botschafters, die, frisch vermählt, erstmals Gastgeberin eines gesellschaftlichen Ereignisses sein sollte. Der britische Botschafter hatte eine Japanerin geheiratet. Aus diesem Grund war von ihm verlangt worden, seinen Vorgesetzten eine undatierte Bitte um Entlassung aus dem Amt zu übergeben, falls die Nichtbritin an seiner Seite je ein diplomatisches Problem darstellen sollte. Manch einer fragte sich, was an dieser Dame denn dran sein müsse, dass sie eine derart große Gefahr für eine blendende Karriere im diplomatischen Dienst darstellte.

Bei besagtem gesellschaftlichem Anlass wurde diese Frage erschöpfend beantwortet. Die Frau des Botschafters war ausnehmend schön, trug ein hinreißend elegantes Kleid und verströmte ein unglaubliches Maß an Charme und Anmut, als sie gelassen durch den Saal schritt und sich mit jedem einzelnen ihrer Gäste unterhielt. Sie gab jedem Anwesenden das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und jeder fühlte sich geehrt, dass er an der Einladung teilhaben durfte. Am Ende des Tages war es Konsens, dass die Frau des Botschafters unwiderstehlich hübsch und überaus charmant sei und sich für die weitere Laufbahn ihres Mannes als gesellschaftliches Riesenplus erweisen werde. Sie besaß ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, war von bestechender Eleganz und sah phantastisch aus.

Man sagt, hinter jedem erfolgreichen Mann stehe eine starke Frau. Die Soziologin Janet Finch hat dies in den 80er Jahren in ihrem Buch Married to the Job untersucht. Sie hat sich »Zwei-Personen-Karrieren« angeschaut, bei denen von Frauen verlangt wird, dass sie einen Teil der beruflichen Pflichten ihrer Männer mittragen. Eines der von ihr |37|aufgeführten Beispiele waren Diplomatengattinnen, von denen erwartet wird, dass sie an der Seite ihrer Ehemänner jede Menge an Konversation leisten und gesellschaftlich-diplomatische Pflichten wahrnehmen. Allerdings sah Finch damals den Hauptbeitrag einer Gattin zur Karriere ihres Mannes noch nicht in deren erotischem Kapital. Bei vielen Zwei-Personen-Karrieren ist Letzteres auch nicht unbedingt erforderlich. Die Frauen von selbstständigen Installateuren, Elektrikern und anderen Handwerkern machen oftmals die Büroarbeit, handhaben den Schriftverkehr und übernehmen die Buchhaltung für die Betriebe ihrer Männer. Es handelt sich dabei um Routinearbeit im Büro, die so gut wie nie den Einsatz von erotischem Kapital erfordert. Gute Handwerker vergeuden keine Zeit damit, ihre Kunden mit irgendwelchen Darbietungen zu vergnügen. Erotisches Kapital wird vor allem wertvoll in Berufen, in denen gesellschaftliche Beziehungen einen Bezug zum jeweiligen Geschäft haben und in denen öffentliches Auftreten an der Tagesordnung ist, wie man es von vielen hoch dotierten Posten kennt. In solchen Berufen wird das Privatleben zum Teil einer öffentlichen Inszenierung, ist erotisches Kapital für beide Gatten von besonderem Wert.

Der Geschäftswert von erotischem Kapital steigt, wenn dieses mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital in beträchtlicher Höhe einhergeht. Eine attraktive, gut gekleidete und charmante Gattin hat für Monarchen, Präsidenten und die Chefs großer Unternehmen, für die öffentliche Auftritte und soziale Beziehungen von vorrangiger Bedeutung sind, einen höheren Wert als für den Installateur oder Elektriker um die Ecke. Erotisches Kapital wird zwar nicht durch das Klassensystem diktiert, ist aber doch in mancherlei Hinsicht unauflöslich damit verknüpft. Menschen von höherem Stand können es sich leisten, Partner mit höchstmöglichem erotischen Kapital auszuwählen, was die Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch ihre Kinder sowohl mit erotischem Kapital als auch mit Wohlstand und Status in überdurchschnittlichem Maße bedacht sein werden, erhöht. Auf sehr lange Sicht kann es geschehen, dass auch in Bezug auf das erotische Kapital Klassenunterschiede entstehen.29 Diese These hat Anlass zu der Vermutung |38|gegeben, dass sich Schönheit und Sex-Appeal im Laufe vieler Generationen in den oberen Schichten des gesellschaftlichen Klassensystems akkumulieren werden.30 Alles in allem steht ohnehin zu erwarten, dass in den oberen Klassen über ein höheres erotisches Kapital verfügt wird als in den unteren. Wohlhabende Familien können es sich leisten, ihren Stammbaum mit bildhübschen Bräuten und gutaussehenden Bräutigamen aufzupolieren.31

Ist erotisches Kapital messbar?

Menschen denken manchmal, dass erotisches Kapital nicht messbar ist, da Schönheit bekanntlich »im Auge des Betrachters« liegt. Zugegebenermaßen hat jeder seine eigenen höchstpersönlichen Vorlieben und Neigungen. Ich stehe vielleicht auf dunkelhaarige Männer, Sie auf blonde. Manche Männer mögen Frauen mit einem »sprudelnden«, schwatzhaften Wesen, andere bevorzugen gelassene Ruhe und Eleganz. Dennoch besteht innerhalb jeder beliebigen Kultur, ja, sogar quer durch viele Kulturen hindurch, ein erstaunlich hohes Maß an Übereinstimmung darüber, wer physisch und sozial attraktiv ist und wer nicht. Trotz aller Schwierigkeiten lässt erotisches Kapital sich genauso verlässlich bemessen, wie viele der anderen ähnlich schlecht greifbaren und dennoch so wichtigen persönlichen Attribute wie Intelligenz und soziales Kapital oder soziale Eigenheiten wie gesellschaftliche Klasse, Status und Macht.

Studien, in denen versucht wurde herauszufinden, ob Schönheit auf der ganzen Welt in gleicher Weise gesehen wird, sind zu dem Schluss gekommen, dass sie tatsächlich universal in ganz ähnlicher Weise geachtet wird. Die einzige Ausnahme bilden offenbar einige waldbewohnende Kulturen des Amazonasbeckens. Diese isoliert lebenden Stämme, die wenig Kontakt zu Menschen westlicher Zivilisationen haben, scheinen eine deutlich andere Wahrnehmung bezüglich dessen zu haben, was ein Gesicht schön oder hübsch macht – ihre Vorstellungen von Schönheit haben wohl wenig mit den ästhetischen Vorstellungen |39|von Industrienationen wie Japan und den Vereinigten Staaten zu tun.32 Diese zutiefst anders gearteten Kulturen einmal beiseitegelassen herrscht sehr große Einigkeit darüber, was jemanden anziehend macht.

Bislang hat noch niemand erotisches Kapital in seiner Gänze quantitativ erfasst, der Begriff ist noch zu neu. Es gibt jedoch eine Menge Untersuchungen, in denen das eine oder andere seiner sechs Elemente vermessen worden ist: Sozialpsychologen haben zum Beispiel Jahrzehnte damit verbracht, soziale Kompetenzen und das Verhalten gegenüber Fremden in Zahlen zu fassen. In Schönheitswettbewerben werden Schönheit, Sex-Appeal und Liebenswürdigkeit (oder Charme) beurteilt, wenn auch nicht anhand einer präzise geeichten Messskala.33 Computerprogramme ermöglichen es Forschern, Fotos zu manipulieren, um Reaktionen auf verschiedene Spielarten von Körpergestalt, Gesichtszügen, Hautbeschaffenheit, Haartracht und Lächeln zu testen.34 Manche Studien arbeiten in Aufgaben zum Rollenspiel mit außergewöhnlich attraktiven Männern und Frauen und versuchen zu zeigen, welchen Einfluss äußerer Reiz auf die soziale Interaktion und ihr Ergebnis hat.

Die meisten dieser Studien decken eine relativ kleine Anzahl an Personen ab, zeigen aber eindrucksvoll, was für einen großen Einfluss körperliche und soziale Anziehungskraft in der direkten Begegnung von Angesicht zu Angesicht haben können. Einige wenige Studien liefern ein umfassendes nationales Bild. Von besonderem Interesse darunter ist eine Handvoll an großen nationalen Umfragen, in die auch Informationen über die Attraktivität der Befragten eingeflossen sind. Diese Umfragen liefern repräsentative nationale Ergebnisse zur Attraktivitätsverteilung bei Männern, Frauen und Kindern, nachzulesen in Tabelle 1 und 2. Für jede dieser Umfragen wurden die Fragenden und andere Informanten gebeten, die Befragten gemäß einer Fünf-Punkte-Skala zu bewerten. Einzelheiten dazu finden sich in Anhang A, in dem die bislang zur Bemessung von erotischem Kapital verwendeten Methoden zusammenfassend dargestellt sind.

In der nordamerikanischen Studie (Tabelle 1) gibt es in Bezug auf die Attraktivität der Probanden mehr Abstufungen als in der britischen Erhebung (Tabelle 2), aber ungeachtet vieler Unterschiede zwischen den beiden Umfragen und ungeachtet dessen, dass mehrere hundert Interviewer für die Auswertung verantwortlich waren, besteht in Bezug auf die Attraktivitätsverteilung ein erstaunliches Maß an Einigkeit. Die Mehrzahl der Menschen wird in die mittlere Gruppe, »durchschnittlich für ihr Alter«, eingeordnet, ein Viertel bis ein Drittel wird den beiden überdurchschnittlichen Kategorien zugerechnet, etwa jeder Zehnte gilt seinem Aussehen nach als unterdurchschnittlich. Bei der Beurteilung von Frauen besteht eine größere Streuung als bei Männern. In den Vereinigten Staaten – nicht aber in Kanada – werden Frauen häufiger als Männer in die Kategorie gutaussehend oder schön eingeordnet, das liegt vermutlich daran, dass sie mehr dafür tun.

|40|Tabelle 1: Aussehen und seine Verteilung in den Vereinigten Staaten und Kanada in den 70er Jahren

Quelle: D. Hamermesh und J. E. Biddle, »Beauty and the Labour Market«, American Economic Review, 1994, 84, S. 1174–1194.

|41| Tabelle 2: Aussehen und seine Verteilung in Großbritannien in den 60er Jahren

Quelle: B. Harper, »Beauty, Stature and the Labour Market«, Oxford Bulletin, 2000, 62, S. 771–800; Prozentzahlen gerundet.

Die kanadische Studie enthielt ein zusätzliches Element: Dieselben Personen wurden mehrmals befragt, in der Regel jedes Mal von einem anderen Interviewer. Auch hier zeigte sich ein hohes Maß an Übereinstimmung: Neun von zehn Personen wurden hinsichtlich ihrer Attraktivität über mindestens zwei Jahre hinweg gleich eingestuft.35

In der britischen Studie waren Lehrer aufgefordert, die Attraktivität von Schülern zu beurteilen. Auch hier gab es eine große Beständigkeit zwischen den Einstufungen mit sieben und mit elf Jahren, obwohl die Lehrer natürlich jeweils andere waren. Tabelle 2 zeigt deutlich die Tendenz, Mädchen als anziehender einzuordnen als Jungen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern scheint überdies mit dem Alter zuzunehmen. Mit elf Jahren wird mehr als die Hälfte aller Mädchen als attraktiv beurteilt, bei den Jungen ist es weniger als die Hälfte. In den Antworten aus dieser Studie spiegelt sich darüber hinaus auch eine allgemeine Scheu, jemanden als definitiv hässlich zu benennen – weniger als eines von zehn Kindern wird als unattraktiv bezeichnet.

In der ersten europäischen Umfrage zum Sexualverhalten aus dem Jahre 1967 war versucht worden, erotische Ausstrahlung und Sex-Appeal der Probanden aus deren eigener Einschätzung zu ermitteln.36 Es gibt keine Berichte über die Ergebnisse dieser Erhebung, vermutlich ist das Experiment gescheitert. Umfragen in Finnland waren bei den |42|Selbsteinschätzungen ihrer Probanden zum eigenen Sex-Appeal und der eigenen sexuellen Kompetenz erfolgreicher. Der männliche Hang zu Übertreibungen und einem gewissen Narzissmus erschweren allerdings die Interpretation der Ergebnisse. Männer jeden Alters überschätzen rund um die Welt konsequent die eigene sexuelle Attraktivität, Frauen sind in dieser Hinsicht deutlich realistischer. In Anbetracht der immensen Bedeutung des erotischen Kapitals für Beziehungen, Ehe und Sexualleben steht zu hoffen, dass künftige Erhebungen weitere Mühe in dieses Thema investieren. In gewisser Weise ist es erstaunlich, dass so wenige dieser Studien die Rolle des Sex-Appeals überhaupt zur Kenntnis nehmen.

Erotisches Kapital ist dem Humankapital sehr ähnlich: Es setzt ein gewisses Grundniveau an Veranlagung und Fähigkeit voraus, lässt sich jedoch trainieren, weiterentwickeln und erlernen, so dass das letztlich Erreichte weit über jede ursprüngliche Begabung hinausgeht und Menschen mit zunehmendem Alter immer mehr davon bekommen können. Erotisches Kapital lässt sich in seinen einzelnen Elementen und seiner Tragweite genauso untersuchen wie andere nicht direkt greifbare Aspekte sozialer Strukturen, Kulturen und sozialer Interaktion. Die Grundlagen hierfür sind durch bereits vorhandene Umfragen zum Sexualleben und Forschungen zu den sozialen Auswirkungen und dem ökonomischen Wert von Attraktivität, Beziehungsmustern, Spielarten des Sexuallebens und der Haltung zur Fruchtbarkeit gegeben. Die quantitative Erfassung von erotischem Kapital ist bereits recht weit gediehen, und es bestehen, wie in Anhang A erläutert, gute Chancen für methodische Weiterentwicklungen und Innovationen in den kommenden Jahren.

Für den Augenblick müssen wir uns mit den Studien begnügen, die es bisher gibt. Sie alle fangen nur jeweils wenige Aspekte von erotischem Kapital ein. Daraus folgt, dass, wie die meisten Wissenschaftler zugeben, die in den folgenden Kapiteln zitierten Studien zum Einfluss eines schönen Antlitzes, beziehungsweise von Sex-Appeal, Körperpflege und Eleganz den wahren Einfluss von erotischem Kapital unweigerlich unterschätzen und zu gering bewerten. So hat beispielsweise |43|eine Meta-Analyse aus jüngster Zeit gezeigt, dass Studien, die an die äußere Erscheinung einen weiter gefassten Maßstab anlegten, einen stärkeren Einfluss von Attraktivität nachweisen konnten als solche, die sich allein auf die Attraktivität von Gesichtszügen beschränkten.37 Es ist vermutlich nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass der Einfluss von erotischem Kapital in etwa dem Doppelten der in den in Teil II behandelten Studien berichteten Werte entspricht und in Ausnahmefällen noch weit darüber liegen kann.

Erotisches Kapital als Inszenierung

An einem Ferienmorgen in Chiang Mai im Norden Thailands hatte ich mich in frühmorgendlicher Kühle zum Einkaufsbummel aufgemacht. Beim Betreten eines großen Geschäftes staunte ich nicht schlecht über die frappierende Aufmachung des jungen Ladenbesitzers. Er war leger gekleidet – Flip-Flops, Jeans und zerknittertes T-Shirt – und trug einen schicken Kurzhaarschnitt. Sein Gesicht aber war perfekt geschminkt und sah aus wie das eines schönen Mädchens. Ich hatte seine Verwandlung vom Mann zur Frau unterbrochen, bevor er seine Perücke hatte aufsetzen und sich umziehen können. Den Rest des Tages würde er als Frau auftreten. Mein frühes Erscheinen störte ihn nicht im Geringsten, und er bediente mich guter Dinge. Solcherlei geschlechtsübergreifende Verkleidungsspielereien sind in Thailand nicht unüblich. Nong Toom, ein berühmter thailändischer Kickboxer, der in fast all seinen Kämpfen ungeschlagen blieb, kleidete sich seit Kindertagen leidenschaftlich gern wie eine Frau und unterzog sich im Jahre 1999 einer Geschlechtsumwandlung. Manchmal erscheint er zu einem Boxkampf in vollem Make-up.38

Wie Simone de Beauvoir bereits vor Jahrzehnten feststellte, ist Sexualität zum großen Teil anerzogen.39 Man wird nicht mit dem Wissen geboren, wie man als Frau oder Mann zu leben hat, sondern man muss lernen, die Rolle so auszufüllen, wie es die Gesellschaft, in der man lebt, einem vorschreibt. Männlichkeit und Weiblichkeit sind versiert |44|zur Schau getragene Gesamtkompositionen, und diejenigen, die sich auf diese Kunst besonders gut verstehen, werden bewundert und beneidet. Vor allem die Inszenierung von Weiblichkeit und weiblicher Schönheit genießt einen hohen Stellenwert.

Der Inszenierungscharakter von sexueller Identität, Schönheit, Sex-Appeal und eleganter Erscheinung wird besonders deutlich bei Transvestiten oder transsexuellen Männern in manchen Kulturen, die sich wie Frauen kleiden und verhalten und als Tänzerinnen und Entertainerinnen große Erfolge feiern.40 In der Vergangenheit, als Frauen der Zutritt zu Schauspiel und Bühne versagt war, haben in Ländern wie China, Japan und Großbritannien Männer große Kunstfertigkeit darin erlangt, auf der Bühne in weibliche Rollen zu schlüpfen, und neben weiblicher Kleidung auch weibliches Verhalten, die weibliche Stimme und weibliches Betragen nachzuahmen. Thailands Ladyboys und Brasiliens Transvestiten bieten solche Inszenierungen noch heute, viele davon arbeiten in der Unterhaltungsindustrie oder verdienen sich ihr Geld durch Liebesdienste und käuflichen Sex.41 In New York gibt es »underground« Kultbälle, auf denen Männer miteinander um die beste Verkörperung einer schönen und glamourösen Frau wetteifern. Ähnliche Schönheitswettbewerbe um Eleganz und Selbstdarstellung werden auch in Thailand und auf den Philippinen regelmäßig abgehalten. Entsprechende Veranstaltungen, in denen Frauen darum wetteifern, als Männer verkleidet zu brillieren (was vermutlich einfacher wäre), gibt es nicht, eine Tatsache, die sicher von gewisser soziologischer Bedeutung ist.

Schönheit, insbesondere weibliche Schönheit, und Sex-Appeal sind eine Kreation, ein Kunstwerk, das sich durch Trainingseinsatz vervollkommnen lässt. In den meisten Gesellschaften verfügen Frauen vor allem deshalb über mehr erotisches Kapital als Männer, weil sie härter an ihrer Erscheinung arbeiten. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern ist aber keineswegs in Stein gemeißelt, sondern kann sich durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Verschiebungen im Laufe der Zeit beträchtlich verändern. Homosexuelle Männer investieren häufig mehr Zeit und Mühe in ihre Erscheinung, als man es typischerweise |45|bei heterosexuellen Männern beobachtet, was mit den häufigeren Partnerwechseln in schwulen Beziehungen und Partnerschaften zu tun haben mag. In homosexuellen Subkulturen bildet das In-Szene-Setzen bestimmter Modestile das Pendant zur heterosexuellen Inszenierung von Männlichkeit und Weiblichkeit. Mir will keine Kultur einfallen, in der das Erscheinungsbild eines Menschen in der Öffentlichkeit für unwichtig erachtet wird. In vormodernen Gesellschaften konnte die Inszenierung von Männlichkeit unter Umständen genauso aufwändig sein wie die von Weiblichkeit, auch wenn es in Bezug auf Kleidung und Accessoires immer eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Geschlechtern gegeben hat. In modernen Gesellschaften sind aller Emanzipation zum Trotz immer noch Frauen die Pfauen. Warum das so ist, hat noch niemand sagen können.

Männer in Westeuropa und Nordamerika stecken gegenwärtig mehr Zeit in ihre äußere Erscheinung als in den Jahrzehnten zuvor und tun weit mehr für ihr erotisches Kapital als früher. Sie trainieren in Sportstudios, um ihren Körper in Schuss zu halten, geben mehr Geld für modische Kleidung und Pflegeprodukte aus, tragen einfallsreichere Frisuren. Models verändern von Berufs wegen unablässig ihren »Look«, indem sie Kleidungsstil, Frisur und Haarfarbe variieren, auch manche Schauspieler sind in dieser Verwandlungskunst überaus bewandert. Die männliche Klientel ist inzwischen zu einem wichtigen Standbein der kosmetischen Chirurgie und der Botox-Industrie geworden, in Großbritannien macht sie gegenwärtig 10 bis 20 Prozent dieses rasch wachsenden Marktes aus. Von dem italienischen Premierminister und Medienmogul Silvio Berlusconi weiß man, dass er sich unentwegt behandeln lässt, um 20 Jahre jünger auszusehen, als er tatsächlich ist. Moderne Frauen kommen durch Beruf und Karriere zu Wohlstand und bereichern so den Heiratsmarkt nicht nur mit wirtschaftlichem, sondern auch mit erotischem Kapital. Männer betrachten es heute mehr und mehr als opportun, ebenfalls an ihrem erotischen Kapital zu feilen, statt sich, wie in der Vergangenheit üblich, auf dem Beziehungsmarkt allein auf ihr Einkommen zu verlassen. Wie viel erotisches Kapital Männer und Frauen jeweils darbieten, wird also durch die Umstände diktiert.

|46|Die zunehmende Bedeutung von erotischem Kapital

Zunehmender Wohlstand bedeutet, dass Menschen es sich leisten können, mehr Geld für Luxus- und Freizeitaktivitäten, ihre äußere Erscheinung und Pflege auszugeben. So wie die technischen Hilfsmittel zur Optimierung von erotischem Kapital immer leistungsfähiger werden, verschieben sich die Maßstäbe, nach denen außergewöhnliche Schönheit und Sex-Appeal bemessen werden, unablässig nach oben. Inzwischen wird von allen Altersgruppen eine attraktive Erscheinung erwartet, nicht nur von jungen Leuten, die sich soeben anschicken, auf dem sexuellen Beziehungsmarkt zu debütieren. Steigende Scheidungsraten und ein nur noch auf gewisse Lebensphasen beschränktes monogames Dasein schaffen für jedermann Antrieb genug, das eigene erotische Kapital nicht nur vor der ersten Eheschließung, sondern ein ganzes Leben hindurch zu pflegen und weiterzuentwickeln. Die zweifach geschiedene Madonna strahlte in ihren Werbeauftritten für Dolce und Gabbana 2010 mit ihren 50 Jahren mehr Jugendfrische und Sex-Appeal aus als viele Frauen mit 25. Auch die Erwartungen an Männer steigen, wenn auch langsamer; Frauen bestehen mehr und mehr darauf, dass ihre Partner ebenfalls schick und attraktiv daherkommen und nicht länger den freundlichzuverlässigen Versorger geben.

Männer scheinen sich dieses neuen Drucks sehr bewusst zu sein. Eine Umfrage aus dem Jahre 1994 unter 6 000 Amerikanern zwischen 18 und 55 Jahren wollte wissen, wie sich die Probanden selbst gerne sähen. Drei der sechs häufigsten Antworten betrafen das Aussehen: Die Männer wollten auf Frauen anziehend wirken, sexy und gutaussehend sein. Etwas weiter unten, im Schnitt auf Platz acht und neun, rangierten Durchsetzungsvermögen und Entschlusskraft. Geld allein reicht offenbar nicht mehr.42

Auch die Werbeindustrie schürt unablässig Hoffnungen und Sehnsüchte, weil sie nicht nur in der Werbung für den neuesten Schrei beim Thema Mode und Accessoires, sondern für Produkte aller Art ausschließlich |47|schöne Männer und Frauen antreten lässt. Dieser Druck führt auf lange Sicht zu einer Anhebung der Schönheitsstandards und der Bedeutung, die der physischen Anziehungskraft und dem Sex-Appeal – zwei Kernelementen des erotischen Kapitals – allgemein, insbesondere aber auf dem Beziehungsmarkt beigemessen wird.

In der Vergangenheit war physische Attraktivität in den meisten Fällen angeboren oder eben nicht, und es gab vergleichsweise wenig, was Sie hätten unternehmen können, um die Dinge zu verbessern. In modernen Wohlstandsgesellschaften lässt sich erotisches Kapital durch Fitnesstraining, harte Arbeit und technische Hilfsmittel in ungeahnter Weise – mit Hilfe von Diäten, Sportstudios und Personal Trainern, Bräunungslampen und -sprays, Kosmetik, Düften, Perücken und anderen Haarteilen, Zahnkosmetik, kosmetischer Chirurgie, Haarfarben und Frisuren, Korsetts, Schmuck, Modeberatung, einer ungeheuren Auswahl an Kleidung und verschönernden Accessoires – künstlich steigern. Körpergestaltung und Schönheitspraktiken haben eine lange Historie, und alle Kulturen haben versucht, Menschen dazu zu bringen, sich den in ihnen allgemein akzeptierten Schönheitsstandards zu unterwerfen43; moderne Gesellschaften bieten höchstens mehr Auswahl und Vielfalt an Stilrichtungen, das gilt vor allem für die großen multikulturellen Metropolen. Der soziale Druck, sich attraktiv zu präsentieren, scheint in der modernen Wohlstandsgesellschaft allerdings größer geworden zu sein und wirkt inzwischen auf Menschen aller Altersgruppen und nicht mehr nur auf junge Leute. Zur selben Zeit mehren sich die Mittel, mit denen sich eine attraktive Erscheinung verwirklichen lässt, ununterbrochen. Wie Helena Rubinstein, eine der Begründerinnen der modernen Kosmetik, einst so treffend bemerkte: »Es gibt keine hässlichen Frauen, sondern nur faule.« Paradoxerweise kann der Druck, die eigene Erscheinung zu verschönern, gutaussehende Menschen, die es gar nicht nötig hätten, dazu verleiten, ihrem Aussehen durch chirurgische Eingriffe zu schaden. Plastische Chirurgen bekommen es immer wieder mit Frauen zu tun, die von ihnen Eingriffe verlangen, mit denen sich die Realität nicht optimieren lässt.44

|48|Zum Glück sehen die meisten Menschen ihren Körper realistisch, doch Hoffnungen und Erwartungen werden durch die Massenmedien und die unablässige Verbreitung der Bilder von Berühmtheiten, Filmstars und anderen, die Höchststandards erreicht haben und zu einem Rollenvorbild für andere werden, immer weiter angeheizt. Bücher, die uns raten, wie wir uns zu verhalten haben, wie wir flirten und Freunde gewinnen und wie wir eine Beziehung führen müssen, wollen uns helfen, die wichtigsten sozialen Fertigkeiten zu erwerben. Es gibt Handbücher für sämtliche Elemente des erotischen Kapitals, die einem verraten, wie man einen Gatten oder Liebhaber gewinnt, wie man sich verabredet und ein glückliches Sexualleben führt.45

In der Vergangenheit waren Beziehungs- und Heiratsmärkte relativ eng definierte geschlossene Zirkel. Verbindungen richteten sich nach der Klassen- oder Kastenzugehörigkeit, nach Religion, Wohnsitz und Alter. Oft wurden Verbindungen von Eltern oder Verwandten beschlossen und ausgehandelt, ausschlaggebend waren dabei der Wohlstand einer Familie und ihre gesellschaftlichen Beziehungen. In der heutigen Ära offener, potenziell globaler Beziehungs- und Heiratsmärkte, auf denen sich jeder nach Belieben selbst bedienen kann, spielen erotische Attribute eine größere Rolle als je zuvor. Aus einer guten Familie zu stammen ist längst nicht mehr genug.

In Studien, in denen man den Einfluss der Attraktivität eines Menschen auf die Wahrnehmung, Beurteilung und Behandlung durch andere untersucht, gelangt man wieder und wieder zu der Erkenntnis, dass dieser zumindest in der westlichen Welt im Laufe der Zeit deutlich zugenommen hat. In den ältesten amerikanischen Untersuchungen hatte die Attraktivität eines Menschen nur sehr geringen Einfluss darauf, wie jemand eingeschätzt und behandelt wurde. In den meisten Studien aus jüngster Zeit hat es deutlich mehr zu sagen, ob man attraktiv ist oder nicht.46 Attraktive Kinder und Erwachsene werden mit erhöhter Wahrscheinlichkeit als klug, fähig und sozial kompetent eingeschätzt und entsprechend behandelt als unattraktive – und dieses Muster ist heute sehr viel deutlicher zu beobachten als in den 70er Jahren. Gutes Aussehen wird überdies auch bei der Partnerwahl stetig |49|wichtiger: So legten Männer und Frauen bei der Wahl ihres Partners in den 70er Jahren mehr Wert auf dessen äußere Erscheinung als in den 30er Jahren, in den 90er Jahren aber maßen beide dem Aussehen weit mehr Bedeutung zu als in den 30er und 70er Jahren.47 Dass beide Geschlechter jeweils unterschiedliche Ansprüche stellen, hat sich in den 50 Jahren nicht geändert, damals wie heute war bei der Partnerwahl Männern das Aussehen wichtiger als Frauen.48

Was die Bedeutung und den Wert angeht, der gutem Aussehen und weiblicher Fruchtbarkeit beigemessen wird, sind zwischen einzelnen Kulturen und Ländern deutliche Unterschiede zu verzeichnen. Alles in allem ist man in ärmeren, weniger entwickelten Ländern weniger geneigt, gutem Aussehen eine besonders hohe Bedeutung beizumessen, das gilt auch für die Wahl des Ehepartners. Manche Kulturen legen ein größeres Gewicht auf Moral, Werte, Persönlichkeit, Intelligenz, Freundlichkeit, soziale Kompetenz, gutes Benehmen oder auf grundlegende Fertigkeiten wie Kochen und sonstiges handwerkliches Geschick, das im täglichen Leben gebraucht wird. In Gesellschaften, in denen das Überleben alles andere als garantiert ist, folglich materielle Werte schwerer wiegen als liberal-hedonistische, wird Schönheit zu einer eher »praxisfernen« Grundlage für die Wahl des Ehepartners.49 Doch trotz der unterschiedlichen Bedeutung, die Attraktivität jeweils beigemessen wird, hat es den Anschein, als rechneten dessen ungeachtet alle Kulturen damit, dass schöne Menschen bei allem, worauf es im Leben ankommt, mehr Erfolg im Leben haben. Junge Koreaner, Chinesen, Japaner und Amerikaner gehen allesamt davon aus, dass attraktive Männer und Frauen intelligenter und beliebter sind, über höhere Sozialkompetenzen verfügen und die besseren Jobs bekommen.50

Erotisches Kapital ist für Männer wie Frauen mittlerweile ein genauso wertvolles persönliches Gut geworden wie die drei anderen Kapitalformen. In Gesellschaften und Epochen, in denen Frauen nur beschränkten Zugang zu wirtschaftlichem, sozialem und humanem Kapital haben, ist erotisches Kapital für sie von entscheidender Bedeutung – was möglicherweise der Grund dafür ist, dass sie traditionell |50|stets härter daran gearbeitet haben. Physische und soziale Anziehungskraft werden in den reichen modernen Gesellschaften zunehmend wertgeschätzt und haben immer mehr Einfluss darauf, wie Menschen wahrgenommen, beurteilt und behandelt werden. Am eindrucksvollsten ist dies, wie ich in den Kapiteln 4 und 5 zeigen werde, im Alltagsleben, in Beziehungen und beim Werben umeinander zu beobachten. Aber auch im sozialen Kontext auf dem Arbeitsmarkt und bei vielen anderen Gelegenheiten ist es, wie ich in den Kapiteln 6 und 7 zeigen werde, unübersehbar.