|299|Anhang B

Jüngere Umfragen zum Sexualverhalten

Eine Nebenwirkung der AIDS-Epidemie ist der Umstand, dass Regierungen dadurch einen legitimen Grund gefunden haben, sich für das zu interessieren, was die Menschen in der Privatsphäre ihres nächtlichen Schlafzimmers so treiben. Es war plötzlich sehr viel leichter, über Sexualität zu reden, an jeder Ecke wurden Kondome beworben, und Sex trat aus seinem Versteck ans Tageslicht. Plötzlich wurden Umfragen zum Sexualverhalten zu medizinischen Studien und dienten der Volksgesundheit. Es wurde leichter, Mittel dafür zu bekommen. Die Kehrseite all dessen war, dass viele der Erhebungen sich allzu sehr auf das Thema Promiskuität, flüchtige sexuelle Begegnungen und Kondomgebrauch konzentrierten, ohne zuvor eine breitere Vorstellung vom sexuellen Begehren, dessen Ausdrucksmöglichkeiten und den sozialen Beschränkungen zu entwickeln, die diese erfahren. Trotzdem hat die Unzahl an nationalen Umfragen zum Sexualverhalten, die seit den 90er Jahren rund um die Welt durchgeführt worden sind, unser Wissen um die menschliche Sexualität deutlich erweitert und ein paar sich hartnäckig haltenden Mythen den Garaus gemacht.

Die Vereinigten Staaten blicken auf eine ganze Reihe solcher Umfragen zurück, angefangen mit Alfred Kinseys legendären Studien zur weiblichen und männlichen Sexualität aus den 40er und 50er Jahren. Shere Hites Untersuchungen zur weiblichen Sexualität aus den 70er und der Janus-Report aus den 80er Jahren beschreiben die sexuelle Landschaft Amerikas nach der sexuellen Revolution. Die erste Studie |300|aber, die als national repräsentativ gelten kann, wurde erst 1992 durchgeführt.1 Diese erste Erhebung schloss Personen zwischen 18 und 59 Jahren ein. Eine andere aus dem Jahre 2007 deckte eine ältere Gruppe im Alter von 57 bis 85 Jahren ab.2

Die europäischen Erhebungen begannen 1967 mit einer schwedischen Umfrage, die erst 1996, 30 Jahre später, wiederholt werden sollte.3 Die erste schwedische Umfrage gab den Anstoß zu weiteren, insbesondere zu einer Reihe nationaler Umfragen in Finnland aus den Jahren 1971, 1992, 1999 und 2007, die dann in Estland und St. Petersburg kopiert wurden und so einen interessanten Dreiländervergleich in Nordeuropa möglich machten. Das von Elina Haavio-Mannila und Osmo Kontula geleitete finnische Studienprogramm ist insofern besonders wertvoll, als es sexuelles Begehren und sexuelle Ausdrucksformen insgesamt zu erfassen sucht, ohne sich allzu sehr von allgemeinen Gesundheitsfragen vereinnahmen zu lassen. Diese nationalen Umfragen wurden überdies ergänzt durch eine Sammlung persönlicher Berichte über die eigene sexuelle Entwicklung von Männern und Frauen jeden Alters, die ein sehr viel vollständigeres Bild davon gaben, wie Sexualität sich im Laufe des Lebens entwickelt und in welchem Maße diese Entwicklung durch das lokale soziale Umfeld beeinflusst wird (oder auch nicht).4 Diese Umfrageserie über fast vier Jahrzehnte zeigt auch, inwieweit gesellschaftliche Veränderungen und die Umwälzungen durch die Einführung von Verhütungsmitteln die eigene sexuelle Haltung und das Verhalten veränderten, wobei vor allem Frauen deutlich mehr sexuelle Erfahrung erwarben. Das finnische Forschungsprogramm gipfelte in einer der besten Analysen, die über die Veränderungen der vergangenen 40 bis 50 Jahre je geschrieben wurden: Schlüsselmerkmale moderner Sexualität, Enthaltsamkeit, Treue und Untreue, Autoerotik und die Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Sexualität.5

Erhebungen andernorts in Europa folgten im Regelfalle dem »medizinischen« Modell und erwiesen sich als eher weniger nützlich zum Verständnis der Wechselwirkungen zwischen erotischem Kapital und Verlangen. Eine der größten und detailliertesten nationalen Erhebungen, die jemals irgendwo auf der Welt durchgeführt worden sind, war |301|die britische Erhebung aus dem Jahre 1990, bei der fast 20 000 Menschen zu ihrem Geschlechtsleben und ihren sexuellen Gewohnheiten befragt wurden. Kleinere Folgeerhebungen wurden in den Jahren 2000 und 2010 angestellt, um Trendentwicklungen im Laufe der Zeit nachzuspüren.6

In Frankreich sind in den Jahren 1972 und 1992 große Umfragen durchgeführt worden, ergänzt durch eine von Janine Mossuz-Lavau angelegte Sammlung persönlicher Berichte. Die eigenen Daten wurden ausgeweitet durch systematische Vergleiche der eigenen Ergebnisse mit Umfrageergebnissen aus elf weiteren europäischen Ländern. Dieses Forschungsprogramm hat auch einige der ausführlichsten Analysen zu Fragen des sexuellen Verlangens und sexueller Aktivität und der relativen Bedeutung von Sexualität für Männer und Frauen hervorgebracht.7

Die meisten Länder haben nur eine einzige wirklich bevölkerungsweite nationale Umfrage zum Sexualverhalten unternommen. Andere mussten auf eine Kombination aus mehreren lokalen Studien zurückgreifen – Untersuchungen zu bestimmten Altersgruppen oder Gruppen von besonderem Interesse (Beschäftigte im sexuellen Dienstleistungsgewerbe zum Beispiel) und Umfragen zum Sozialverhalten –, um daraus ein Bild der Sexualkultur in ihrem Land herauszulesen.8

Das größte Unterfangen dieser Art war die chinesische Erhebung zum Sexualverhalten aus den Jahren 1989–1990, bei der 20 000 Männer und Frauen befragt wurden. Die Studie bestand aus sechs einzelnen Umfragen, die an drei Hauptgruppen gerichtet waren: Schüler der oberen Jahrgänge, Studenten und Ehepaare, jeweils aus städtischen und ländlichen Gegenden, plus eine Studie an Personen mit krimineller Vergangenheit im Bereich Sexualdelikte wie Prostitution und Vergewaltigung.9

Eine der jüngsten Ergänzungen zu dieser Liste ist eine australische Telefonerhebung aus dem Jahre 2002, in der ebenfalls fast 20 000 Menschen über ihr Geschlechtsleben befragt wurden.10 Einige der weniger bekannten Umfragen, darunter eine deutsche, eine norwegische und eine griechische, werden in einem französischen Bericht mitbehandelt.|302|11 Mehrere Wissenschaftler bieten zusammenfassende Darstellungen der darin erzielten Ergebnisse, meist werden diese unter einem besonderen Gesichtspunkt oder einer zentralen Frage betrachtet.12 Natürlich gibt es eine Fülle an Literatur zum Thema Sexualität, die sich auf kleinere Stichproben und Fallstudien an bestimmten Gruppen und Gemeinschaften stützt.

Pharmaunternehmen und Kondomhersteller in aller Welt führen in regelmäßigen Abständen Umfragen zum Sexualverhalten durch, meist mit besonderem Schwerpunkt entweder auf dem Gebrauch von Kondomen oder dem, was man heute als Probleme der »sexuellen Gesundheit« bezeichnet: mangelndes sexuelles Verlangen (vor allem bei Frauen), Impotenz und Probleme in den Wechseljahren. Die Global Study of Sexual Attitudes and Behaviour trug beispielsweise Daten von 14 000 Frauen zwischen 40 und 80 Jahren aus 29 Ländern zusammen.13 Die von einem Pharmaunternehmen finanzierte Women’s International Study of Health and Sexuality befragte 952 Frauen in den Vereinigten Staaten und 2 467 in Europa zwischen 20 und 70 Jahren.14 Durex hat im Lauf der Jahre viele Umfragen zu seinem Kundenstamm in Auftrag gegeben. Der Kondomhersteller Trojan hat den National Survey of Sexual Health and Behaviour mit Mitteln gefördert, hierin wurden fast 6 000 in Amerika ansässige Personen zwischen 14 und 94 Jahren befragt.15 Diese letzte Erhebung erfolgte online und nicht von Angesicht zu Angesicht, was möglicherweise für mehr Ehrlichkeit gesorgt hat, allerdings vermutlich auch für eine gewisse Voreingenommenheit durch die Selektion der Klientel, die daran teilgenommen hat. Intuitiv würde man annehmen, dass Leute mit mehr sexuellem Interesse und sexuell aktive Personen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit daran beteiligt haben, so dass zum Beispiel Enthaltsamkeit darin womöglich unterrepräsentiert ist.

Niemand hat je versucht, die Ergebnisse aus all diesen Studien aus aller Welt zusammenzuführen, um einerseits die universellen Konstanten im menschlichen Geschlechtsleben und andererseits die Merkmale, die am stärksten variieren, herauszufinden. Die Unmenge und Vielfalt der Umfragen lässt solches zunehmend weniger machbar werden. |303|Sozialanthropologen verweisen gerne auf all die obskuren und ungewöhnlichen Sexualpraktiken, wie sie sich in kleinen ursprünglichen Gesellschaften auf der ganzen Welt finden, und in Berichten über sexualwissenschaftliche Umfragen nehmen diese immer jede Menge Raum ein. Zunächst aber liegt das Hauptaugenmerk auf wohlhabenden modernen Gesellschaften mit hohem Bildungsstand und auf der Frage, wie diese nach der Einführung wirksamer Verhütungsmittel und der Gleichberechtigungsrevolution heute dastehen. Berichte, in denen mehrere Nationen verglichen werden, tendieren dazu, sich auf die »gesundheitlichen« Aspekte von Sexualität zu beschränken, statt deren soziale Seite und die jüngeren Entwicklungen in Augenschein zu nehmen. Manchmal gibt es da Überlappungen – beispielsweise wird jede Zunahme an Promiskuität als Gesundheitsrisiko gesehen.16 Mich interessieren vor allem die Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Sexualität, und die scheinen heute nicht geringer zu sein, als sie es in der Vergangenheit waren.