Leid...
In dieser Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum: es war Winter, tiefer Winter, und ich stapfte mit meinen drei kleinen Freunden die Straße entlang bis zum Ende, wo das Feld beginnt und die Holzbarriere steht.
Es war Nacht, die Barriere stand da wie das Ende der Welt! Der Schnee krönte ihre Pfosten wie mit hohen weißen Zuckerhüten. Dahinter löste sich alles in rauchige Finsternis auf, in der sich die Drei sofort verloren...
Und dann wußte ich: in jener Finsternis floß schwarz und still das Gewässer, jener unheimliche Fluß, an dessen jenseitigem Ufer die Toten schweben wie Millionen von Schneeflocken und uns fragend und sehnsüchtig in das Gesicht starren... Und dann bildete sich über dem Fluß und in der tiefen Finsternis etwas, eine ungeheure Wolke, etwas, das ich mehr fühlte als sah und von dem ich nur wußte, das ist der Dunkle: Jetzt nimmt er Gestalt an, jetzt kommt er auf mich zu, er, das Letzte, das Unaussprechliche, die höchste, rasende Wirklichkeit und gleichzeitig das Zerspringen. Jetzt kam er durch die Finsternis und war mit einem Schritt über dem Fluß. Von hoch oben, höher als die höchsten Sterne, sahen seine Augenhöhlen auf mich nieder. Aus dem Dunkel schossen plötzlich Peter und Weffi. Sie waren voller Schnee und zitterten, und als ich sie ansah, schrumpften sie und wurden wie kleine Mäuse. Ich aber wuchs, wuchs bis in die Sterne und über die Sterne hinaus. Mein Gesicht war nun in der Höhe des dunklen Gesichtes, wir sahen uns an und wußten, daß wir Brüder waren...
»Ich fürchte dich nicht mehr«, sagte ich, »wir alle nicht, denn wir haben zu viel gesehen, du hast uns zu viel genommen in diesen Jahren. Du hast Cocki bei dir, gib ihn mir zurück!«
»Schau«, sagte ich, »du hast doch so viele andere, und du wirst noch so viele bekommen... Sieh nur in den Laboratorien die Bakterien-Phiolen und die Zyklotrone, die die Atome spalten — was brauchst du diesen einen kleinen Hund, meinen kleinen Löwen? Das Leben macht ihm doch solch einen Spaß!« Und während ich das sagte, sank ich wieder in mich zurück, stand wieder auf dem Feld, Weffi und Peter bebend zu meinen Füßen; sie hatten wieder normale Dimensionen. Und der Dunkle stand über mir, himmelhoch, und dann ging er. Der Sternenmantel flatterte über seinen Schultern und schleifte über das unendliche, stumme, weiße Feld, und kleine, hingemähte Gestalten blieben zurück, dunkle, winzige Hügelchen, und ich wußte, daß es tote Menschen waren, arme Menschen, die er von ihren Qualen erlöst hatte, und kranke Hasen und Rehe, die er zu sich rief, und eine alte Krähe, die unter dem tiefen Schnee keine Nahrung mehr fand. Und Cocki? Wo war Cocki? Ich suchte ihn und — fand ihn nicht! Irgend etwas war da auf dem weißen Feld, ein dunkler Fleck, wie Cockis Fell, und schon war es wieder verschwunden. »Cocki!« rief ich, »Cocki!«
Jemand rüttelte meine Schulter. Es war Mathilde.
»Entschuldigen Sie...«, stotterte sie, »aber es ist wegen Cocki!«
Mit einem Ruck setzte ich mich im Bett aufrecht:
»Wieso? Was ist mit ihm?«
»Cocki ist sehr krank, glaube ich. Er will nicht aufs Gäßchen gehen und hat lauter Pfützen in die Küche gemacht.«
»Das ist merkwürdig, das hat er doch noch niemals getan. Es müssen die Nieren sein. Er ist mir damals am Sonntag in den See nachgeschwommen, obwohl er doch so ungern ins Wasser geht. Vielleicht hat er sich da so erkältet? Ich komme sofort ‘runter!«
In der Küche lag er, den Löwenkopf zwischen den Pfoten. Er schlug nur einmal die Augen zu mir auf, sie waren blutunterlaufen. Er rührte sich nicht.
»Ja, was ist denn los mit dir, Cocki, willst du heute nicht aufs Gäßchen gehen?« fragte ich ihn.
Er wedelte matt mit dem Schwanzstummel. Seine Flanken flogen. Er war über Nacht mager geworden. Ich nahm ihn vorsichtig und hob ihn an, um ihn auf die Füße zu stellen. Er stöhnte, sein Körper brannte vor innerer Glut. Dann entwand er sich mir und schlich die Treppe hinauf. Dort waren die Mama und Frauchen schon wach, Frauchen kniete bei ihm: »Was ist denn nur mit dir, mein armer Junge?«
Er kroch an ihr vorbei, unters Bett, würgte und erbrach wieder.
»Ich glaube, wir werden ihn vorholen und einwickeln müssen, es scheinen die Nieren zu sein«, sagte ich.
Da sprang die Tür auf, Peter und Weffi kamen herein. Weffchen hatte seinen Tennisball im Maul, Peter blieb vor dem Bett stehen, roch darunter und sank davor zusammen. Er streckte seine dünne Pfote unters Bett und versuchte Cocki zu streicheln. Und dann, als es ihm gelang, setzte er sich plötzlich auf die Hinterkeulen, reckte den Kopf hoch und stieß ein langgezogenes, unheimliches Wolfsgeheul aus, die Totenklage des Urhundes. Weffi ließ den Ball fallen, machte den Kopf schief, sah mich ernst an und legte sich dann Kopf an Kopf neben Peter vor das Bett.
Uns war’s eiskalt über den Rücken gelaufen. Ich sprang hoch und rannte zum Telefon: »Wir müssen sofort den Arzt anrufen, Cocki ist in höchster Gefahr! Peter hat den sechsten Sinn, er sieht den Tod...«
Wir beschlossen, sofort selbst hinzufahren, und zogen uns in Windeseile an.
»Weißt du was«, sagte Frauchen, »wir werden die zwei anderen auch gleich mitnehmen, es könnte ja etwas Ansteckendes sein.«
Im Wagen legte sich der kleine Patient nicht, wie sonst, auf seinen Platz in der Mitte des Hintersitzes, sondern kroch ins Dunkel auf den Boden zwischen den beiden Sitzbänken. Peterchen ließ ihn nicht aus den Augen, häng-te seinen Kopf zu ihm hinunter und leckte ihm die Stirn. Er weinte leise vor sich hin.
Der Tierarzt wohnte in einem kleinen einstöckigen Haus mit einem winzigen Garten und einer Zwergtanne davor. Nach zwei Stunden kamen wir an die Reihe. Drinnen im Sprechzimmer liefen Weffi und Peter aufgeregt schnüffelnd umher. Cocki wurde auf den Tisch gehoben, abgehorcht. Als man ihn maß, schrie er vor Schmerz. Es zog sich in mir zusammen, denn ich wußte, wie groß der Schmerz sein mußte, wenn dieses harte Tier einen Laut von sich gab. Der Arzt betrachtete das Thermometer, hob die Fellflappe hoch, sah sich das Zahnfleisch an und seufzte:
»Stuttgarter Seuche. Ein wunderschönes Tier übrigens. Hoffentlich kriegen wir ihn noch durch. Gott sei Dank fängt die Lähmung erst an. Ich gebe ihm jetzt gleich eine Serumspritze und werde auch eine Blutprobe nehmen.«
Dann kamen die beiden anderen dran. Peter schlotterte am ganzen Leibe und schrie gottserbärmlich, noch bevor irgend jemand ihn auch nur angerührt hatte. Drei Leute mußten ihn festhalten, als er gemessen wurde. Dann kam Weffi. Er betrachtete alle Manipulationen als einen Riesenjux, reichte jedem die Pfote und sah sich neugierig um, als sich das Thermometer in seinen kleinen Fellpopo schob. Der Arzt lachte und streichelte seinen Kopf: »Ein urkomischer, bildhübscher Kerl! Es ist der schönste Foxl, den ich bisher sah! Gott sei Dank sind wir kerngesund, der kleine Schwarze auch. Aber sicherheitshalber werden wir jedem von ihnen auch eine Serumspritze geben.«
Das geschah sofort, und wir packten alle Drei wieder ein und fuhren nach Hause. Ich fuhr ganz langsam, damit die Stöße der Straße Cocki keine Schmerzen verursachten.
»Da haben wir uns den Kopf zerbrochen, was wir mit unseren drei Raufbolden machen sollten — jetzt nimmt uns das Schicksal vielleicht Cocki und löst damit das Problem...«
»Nein«, sagte Frauchen wild, »nein, er soll nicht gehen, er darf nicht! Wir wollen sie behalten, alle Drei, das gelobe ich!«
Zu Hause ließen wir Cocki ruhig unter Frauchens Bett in seine Höhle kriechen. Er sollte möglichst ruhig und dunkel liegen, hatte der Arzt gesagt. Der Teppich wurde weggeräumt, eine Schale mit schwarzem Tee zum Trinken hingestellt.
Dann verschlang uns Gott sei Dank die Tagesarbeit, so daß wir uns nur ab und zu um ihn kümmern konnten. Einmal, auf dem Gang, sah ich, wie er mühsam aus dem Zimmer kam und die Treppe hinunterschlich. Aber schon unterwegs passierte ihm ein kleines Malheur, es rann einfach weg... Er zeigte keine Angst oder Scham vor der Pfütze, sondern drehte sich nur schweigend um und warf mir einen großen Blick zu, der mir durch und durch ging: »Du siehst, wie es mit mir steht...«
Dann kroch er wieder unters Bett und stöhnte.
Peterchen hatte wieder den ganzen Tag vor seinem kranken Brüderchen Schildwache gehalten, und nur für die nötigsten Verrichtungen rannte er ‘raus und kam gleich zurück.
Weffi derweilen hatte unter einem Schrank das alte Vollgummibällchen gefunden und war damit selig. Es wurde in die Luft geworfen, man schlug mit den Pfoten danach, man rannte hinaus, ließ es ins tiefe Gras fallen und suchte es so lange, bis man es wiederfand, sich glücklich damit auf den Rücken warf und mit den steifen Vorderbeinen über sich in die Luft hielt...
Dann kläffte er vor der Haustür. Ich hörte Mathildes Schritte, das Klirren des Türriegels und ihr Brummeln:
»Jetzt willst du wieder ‘rein! Erst ‘raus, dann ‘rein, nur noch der reine Hundeportier könnte man sein!«
Und gleich darauf eine ganz mütterlich warme Stimme, so, als käme sie von einer anderen Person:
»Soso, das Bällchen bringen wir mit? So schön ist’s, dein Bällchen? Herrje, und so schön voll Spucke, gib’s mir mal! Danke schön! So ein kleiner guter Junge (Kußgeräusch) —«
Sie ist rührend zu den Tieren, unsere Mathilde. Oft hörte ich sie, in der Küche hantierend, mit den dreien reden: »Meine Jungen«, sagte sie, »bleibt nur schön bei mir... natürlich kriegt ihr was...« All die aufgestaute Liebe wird hier an die drei ihr anvertrauten Tiere gegeben, die Liebe zu den beiden Brüdern, die der Krieg verschlang, zu der alten Mutter, die fern auf dem Dorf lebt und niemals schreibt, und zu irgendeinem sagenhaften Bräutigam, der sie vor vielen Jahren um einer anderen willen verließ, nicht zu vergessen zu den Kindern, die sie niemals gebären durfte...
Jetzt kamen tip-tip-tip Weffchens Schritte die Treppe herauf. Auf dem Läufer hinterließen sie feuchte Spuren, im Gezottel seiner Füße hingen kleine Kletten, und noch immer trug er das Bällchen im Maul. Auch er steuerte sofort Frauchens Zimmer an, wo der schwarze Wächter vor dem Bett lag. Weffi roch Peter in die Schnauze, der ihn seinerseits genau visitierte. Es wurde aus irgendeinem Grunde besonders lange und heftig in Weffis Ohr geblasen und dann verlegen gegähnt. Plötzlich tönte unter dem Bett hervor ein tiefer Seufzer Cockis. Weffi machte Schiefköpfchen, ließ sich dann auf die Pfoten nieder und sah unters Bett auf den großen Bruder. Dann ließ er das Bällchen fallen. Es blieb zwischen den Pfoten liegen. War es nur Zufall?
Nein, ganz deutlich gab Weffi ihm einen Stoß mit der Nase, so daß es unter das Bett zu Cocki rollte. Ich hörte ein scharrendes Geräusch: der Dicke hatte es mit der Tatze zu sich herangezogen und lag mit seiner Flappe darauf. Weffi stand auf, wanderte befriedigt in mein Zimmer und sprang auf die Couch.
Als es zum Essen gongte und wir die Treppe hinuntergingen, war plötzlich Cocki auch da. Mühsam, Schritt für Schritt, stieg er neben mir hinunter. Wollte er etwa fressen? Nein, er kroch nicht unter den Tisch und brüllte nicht jeden an, der sich setzte und ihm etwas >wegfressen< konnte; er richtete sich auch nicht neben Mama, dem schwächsten Punkt unserer Verteidigung, auf und versuchte, ihr teils mit schmeichelndem Zungenschmatzen, teils mit herrischem Tatzenhieb die Hälfte ihres Essens abzubetteln; er kringelte sich nur mit einem unheimlich traurigen Blick zu meinen Füßen und blieb dort liegen...
Nach dem Essen war er wieder an meiner Seite und folgte mir zum Schreibtisch. Als ich zum letzten Gäßchen-gehen pfiff, kam er nicht; nur als meine Schlafcouch aufgebettet wurde, lag er schon wieder im Sessel.
»Ich glaube, ich werde ihn heute bei mir schlafen lassen müssen; wir können über Nacht ja den Teppich zurückschlagen«, sagte ich.
So wurde es gemacht, und er blieb bei mir. Ich strich ihm noch einmal den Kopf, befühlte die spröde, trockenheiße Nase, dann drehte ich das Licht aus. Nach ein paar Minuten spürte ich ein Gewicht auf meiner Bettdecke, ich machte das Licht an. Es war der kleine Löwe, der von seinem Sessel auf die Lehne geklettert war und sich nun neben mich legte. Er leckte mir einmal den Arm und schlief dann unruhig weiter. Er war hochfiebrig und bei jedem Atemzug durchlief ihn ein Zittern.
»Kleiner Löwe«, flüsterte ich in sein Ohr, »geh nicht weg von mir! Sieh mal, erst sechs Jahre bist du alt — zweiundvierzig Menschenjahre. Du bist auf der Höhe deiner Kraft. Wieviel gibt es noch für dich zu laufen, zu springen, zu raufen, zu fressen und zu lieben! Wie viele herrliche Tage, Monate, Jahre mit Herrchen und Frauchen! Reiß dich doch zusammen, alter Kerl — mein Löwechen!«
Nach dem Frühstück fuhr Frauchen wieder in die Stadt, und ich versuchte zu arbeiten. Aber es gelang mir nicht. Weffi lag auf meiner Couch, Cocki auf dem Sessel und Peterchen, als Wache, vor ihm auf dem Teppich. Wohl ein dutzendmal stand ich auf und ging zu dem kranken Tier, streichelte es, fühlte seine Hitze, horchte an seinem Herzen — immer dasselbe! Ein inneres Feuer schien unlöschbar in ihm zu wüten und seinen Organismus bis in die feinsten Adern und Fasern zu durchfressen. Seine Augäpfel waren blutunterlaufen —. Wie lange würde er es aushalten? Manchmal schien sich das Licht in den Löwenaugen zu trüben und sich schon der Schleier des Todes zu zeigen. Einmal, als ich mich wieder von ihm lösen wollte, legte er mir eine glühheiße Tatze mit einer lahmen, müden Bewegung auf die Hand. Da blieb ich vor ihm knien, streichelte ihn, sprach mit ihm, wohl eine halbe Stunde lang. Und meine Liebe schien sich in fast mystischer Weise ihm mitzuteilen, er legte sich bequem, streckte die Läufe weit von sich und begann einzuschlafen. Mir war es fast, als ginge nun sein Atem gleichmäßiger.
Ich stand behutsam auf, war ganz steif geworden. Weffi sprang von der Couch herunter, schüttelte sich und winkte mir mit seinen Augen erwartungsvoll zu. Peterchen sah zwischen mir und Cocki hin und her und sortierte seine Fliegenbeine. Die zwei mußten ja schließlich mal aufs Gäßchen! Seltsam, Weffi kläffte nicht, als ich die Brillen wechselte und die Tür öffnete. Nur einmal lief er schnell zu Cocki zurück und machte leise und fragend: »Weff!«, und Peterchen tatzte nach dem Gesicht seines kranken Bruders: »Na, willst du nicht mitkommen, Cockchen?« Er machte aber nur eins seiner verschleierten Augen auf und ächzte. So gingen wir denn ohne ihn...
Weffi ratterte vor mir her die Treppe ‘runter, Peterchen folgte mir zögernd, den Schwanz eingeklemmt, mit hängendem Köpfchen. Vor dem Haus blieb ich stehen und sah mich um. Alles war wie sonst — und doch war alles anders! Die Glaswand des Grams hatte sich zwischen mich und die wirkliche Welt geschoben. Weffi, in jubelnder Freude an der Bewegung, zog laut trompetend Achten über den Damm.
Peter hob tief melancholisch das Beinchen an der Mauer und blickte derweilen abwesend und ziemlich verächtlich nach dem gegenüberliegenden Zaun, hinter dem die Grey-Hündin Viola nach seiner Gunst seufzte und die dünne, lange Schnauze durch die Latten steckte. Jetzt kam Weffi vorbeigeschossen: »Wurr-wiff-wiff!« machte er Peter ins Ohr (»Mensch, komm, laß uns tollen, man kann doch nicht immer Trübsal blasen!«). Peter aber, wie stets seit der großen Prügelei, antwortete ihm mit einem wütenden Röhren, und dann ging auch schon seine schlechte Laune mit ihm durch, er packte mit einem schnellen, giftigen Biß Weffi am Kinnladen, daß er den Kopf nicht drehen und zurückbeißen konnte. Weffi ging sofort in die Knie, warf sich dann — oder fiel, das konnte ich nicht unterscheiden — auf den Rücken. Dadurch kam Peter ins Stolpern, und im nächsten Moment steckte sein rechtes Vorderbein in Weffis feuchten Rachen. Peter stieß einen grellen Jammerschrei aus und fuhr zurück. Weffi schnellte hoch und saß Peter im Nacken, seinen Kopf nach Foxlart wütend hin und her schüttelnd und im Fell des Feindes fetzend. Peters Geschrei wurde herzzerreißend, seine Augen traten aus dem Kopf und schienen in den untersten Abgrund des Grauens zu blicken. Er versuchte sich in konvulsivischen Bewegungen zu befreien, und endlich gelang es ihm auch. Mit gefletschten Zähnen standen sie nun Schnauze gegen Schnauze, beide gleich groß, schwarz und weiß.
»Siehste«, sagte ich zu Peter, »jetzt seid ihr zwei wieder quitt, das kommt davon! Und du, Weffi, albernes Holzpferd, stell jetzt deine Knurre ab!«
Ich sah hoch, oben, hinter dem Fenster meines Zimmers, erschien schemenhaft in der spiegelnden Scheibe ein Löwenkopf: »Da seht ihr, was ihr macht, euer armes krankes Brüderchen habt ihr aufgeschreckt. Jetzt aber marsch, und kein Wort mehr!«
Peter aber wollte sich mit seinem scheelen Blick über die Schulter in den Garten zurückschleichen, doch mit einem schnellen Griff schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu. »Nein, jetzt wird mitgelaufen, und es wird sich schön mit Weffi vertragen, verstanden!«
Er hatte es verstanden, denn ein paar Minuten später trabten die beiden vor mir her, Seite an Seite. Irgendwie schien eine alte Rechnung zwischen ihnen ausgeglichen zu sein. Aber überall lief der Schatten unseres kleinen Löwen mit uns: da, durch diese Zaunlücke war er immer gesprungen und hatte die Mülltonnen revidiert. Eine seltsame Familie mit vielen Kindern wohnte dort, die die Angewohnheit hatte, Abfälle in großen Pappkartons vor die Garageneinfahrt zu stellen. Jetzt entsann ich mich plötzlich, wie ich einmal Cocki stundenlang gesucht hatte und zum Schluß, schon ganz verzweifelt, an diesem Grundstück vorübergekommen war und nach ihm rief. Da sprang er, wie ein kartesianischer Teufel, die Ohren weit zur Seite gebreitet, mit allen vieren aus einem Pappkarton hoch in die Luft, einen großen Knochen im Maul. Es war ein Anblick von solcher Komik, daß ich noch jetzt wehmütig darüber lächeln mußte. Wo war ich eigentlich? Ich fand mich vor dem Zuckerwerkschlößchen, in dem die alte Dame mit der Pekinesin Elisabeth wohnte. Lange starrte ich auf die Hausklingel... Aber, das ging doch nicht, ich konnte doch nicht läuten und ihr, wenn sie herauskam, sagen: »Cocki ist so krank!«
Hinter mir Schritte. Ich drehte mich um. Da kam sie gerade nach Hause, mit dem alten Herrn Bertram eingehakt. Ihre kleine >Raupe< schnaufte asthmatisch hinter ihr her, und Herrn Bertrams schwarzer, ewig mißgelaunter Spitz ließ sich mit gesträubtem Fell von meinen beiden untersuchen. Ich verbeugte mich.
»Wo ist denn Cocki?« wurde ich sofort gefragt. Und nun endlich konnte ich von meinen Kümmernissen erzählen. Die alte Dame war ganz entsetzt und sah mich mit aufgerissenen Augen an, und Herrn Bertrams grauer Spitzbart, sonst starr und unbeweglich wegen des schlechten Verhältnisses zwischen seinem Spitz und meinem Trio, wackelte vor Eifer und Mitgefühl. Das mit dem Serum und dem Penicillin sei alles neumodischer Unsinn, es gäbe nur ein Mittel, nämlich täglich einen Viertel Liter Cognac mit Gelbei hineingequirlt. Er habe einen herrlichen Setter gehabt — Jago —, der sei nun schon lange tot und in seinem Garten begraben, aber den habe er damit gerettet, für viele schöne Jahre gerettet, und in wenigen Tagen nur!
Ich bedankte mich überschwenglich und nahm Kurs auf das Lebensmittelgeschäft. Dort kaufte ich eine halbe Flasche Cognac, richtig, keinen Verschnitt, und zwei Eier. Dabei konnte ich gleich von Cockis Krankheit erzählen. Entsprechend meiner Eigenschaft als Stammkunde war das Mitgefühl groß. Außerdem kam der Metzger von der Ecke herein, der eine große Dogge hatte, und gab mir sofort das gleiche Rezept wie Herr Bertram: nur Cognac mit Ei!
Im Geschwindmarsch ging’s heim. Peter sauste sofort nach oben. Dann kam er mir wedelnd entgegen, während ich noch nach dem Korkenzieher suchte, und winkte mich herauf. Cocki lag flach und ausgestreckt auf meiner Couch. Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich, er atmete gar nicht: »Cocki...!« Ich war bei ihm, da hob er den Kopf, legte ihn wieder hin. Jetzt merkte ich, was sich verändert hatte: er atmete gleichmäßiger und zitterte nicht mehr. Seine Nase war allerdings noch sehr heiß. Hinter mir stand Mathilde mit dem Cognacglas und dem aufgeschlagenen Ei: »Es scheint ihm besser zu gehen...«, sagte ich.
»Ja — ich war auch eben oben...«
Und da war auch die Mama: »er zittert nicht mehr«, sagte sie, »und etwas kühler fühlt er sich an.«
Ich drehte mich hilflos nach den beiden Frauen um, sah dann zweifelnd die Flasche an: »Man sagte mir, daß Cognac mit Ei...«
»Ach, das würde ich nicht tun«, meinte die Mama, »man soll nicht durcheinanderkurieren. Laß doch erst mal...«
»Gut«, erklärte ich, setzte die Flasche entschlossen an den Mund und trank.
Er wurde wieder gesund, aber es ging nicht so schnell. Nur ganz allmählich besserte sich sein Gang, die entzündeten Augen wurden wieder klar, aber er taumelte noch, und sein Appetit blieb schlecht. Der Arzt kam noch ein paarmal, legte ein Depot aus Penicillin an und begann allmählich einen gedämpften Optimismus auszustrahlen: »Wenn er nicht ein so prachtvoll stabiler Kerl wäre...«, sagte er.
»Also Sie glauben jetzt, daß Sie ihn durchbekommen?«
»Wenn er keinen Kollaps bekommt und ein bißl besser frißt...«
Einige Nachmittage später hatten wir Besuch. Eine herrliche Butterkremtorte war gezaubert worden. Die Gäste bestanden aus zwei älteren Ehepaaren mit besonders tüchtigen hausfraulichen Hälften. Es mußte schon etwas ganz Besonderes sein, was ihnen auf dem Gebiet der Backerei imponierte. Frauchen war sogar ein klein wenig aufgeregt vor Ehrgeiz. Mathilde, die die Mäntel abgenommen und die Schirme zum Trocknen aufgespannt hatte (es regnete in Strömen), fuhr den Teewagen herein. Die silberne Kuchenplatte stand in der zweiten Etage des Servierwagens, das heißt die Platte, die Torte war — weg!
»Mathilde ist etwas vergeßlich«, entschuldigte sich Frauchen.
Aber Mathilde benutzte die goldene Brücke nicht, sondern glotzte nur stieren Blickes auf die Platte.
»Ich habe sie eben draufgeschoben...«, stotterte sie.
»Wo sind die Hunde?« fragte ich.
»Weffi und Peter sind draußen, und Cocki ist in der Küche, aber der hat ja keinen Appetit.«
In diesem Augenblick latschte der kleine Löwe ins Zimmer. Sein Bauch war wie eine schaukelnde Tonne. Er fläzte sich lang auf den Teppich, aus seinen Schnurrbarthaaren leckte er sich noch etwas Krem, dann rülpste er laut und begann ungeniert zu schnarchen.
Da wußten wir, daß er wieder gesund war!