5. Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kopfarbeit und Handarbeit

 

Ein in der Menschennatur tief begründetes Bedürfnis ist das nach Freiheit der Wahl und die Möglichkeit der Abwechslung der Beschäftigung. Wie beständige Wiederholung schließlich die beste Speise widerlich macht, so ist es mit einer sich täglich tretmühlenartig wiederholenden Tätigkeit; sie stumpft ab und erschlafft. Der Mensch arbeitet nur mechanisch, was er muß, aber ohne höheren Schwung und Genuß. Es liegen in jedem Menschen eine Reihe von Fähigkeiten und Trieben, die nur geweckt und entwickelt zu werden brauchen, um, in Betätigung gesetzt, die schönsten Wirkungen zu erzeugen. Der Mensch wird jetzt erst ein vollkommener Mensch. Diesem Abwechslungsbedürfnis zu genügen, dazu wird die sozialistische Gesellschaft die vollste Gelegenheit bieten. Die gewaltige Steigerung der Produktivkräfte, verbunden mit immer größerer Vereinfachung des Arbeitsprozesses, ermöglicht nicht nur bedeutende Einschränkung der Arbeitszeit, sondern erleichtert auch die Erlernung der verschiedensten Fertigkeiten.

 

Das alte Lehrsystem hat sich bereits überlebt, es existiert nur noch und ist nur noch möglich in rückständigen, veralteten Produktionsformen, wie sie das Kleinhandwerk repräsentiert. Da aber dieses in der neuen Gesellschaft verschwindet, verschwinden damit auch alle ihm eigentümlichen Einrichtungen und Formen. Neue treten an ihre Stelle. Schon gegenwärtig zeigt jede Fabrik, wie wenig Arbeiter sie besitzt, die noch den handwerksmäßig erlernten Beruf verfolgen. Die Arbeiter gehören den verschiedensten Berufen an, meist genügt kurze Zeit, um sie für eine Teilarbeit einzuüben, in der sie dann, entsprechend dem herrschenden Ausbeutungssystem, bei langer Arbeitszeit, ohne Abwechslung und ohne Rücksicht auf ihre Neigung, angespannt sind und an der Maschine selbst zur Maschine werden . Auch dieser Zustand wird bei veränderter Organisation der Gesellschaft aufgehoben. Für Handfertigkeiten und kunstgewerbliche Übungen ist Zeit in Menge vorhanden. Große, mit allem Komfort, technisch aufs Vollendetste eingerichtete Lehrwerkstätten erleichtern Jungen und Alten die Erlernung einer Tätigkeit. Chemische und physikalische Laboratorien, entsprechend allen Anforderungen an den Stand dieser Wissenschaften, werden vorhanden sein und nicht minder ausreichende Lehrkräfte. Jetzt erst wird man kennenlernen, welch eine Welt von Trieben und Fähigkeiten das kapitalistische Produktionssystem unterdrückte oder in falscher Weise zur Entwicklung kommen ließ .

 

Es besteht aber nicht nur die Möglichkeit, dem Abwechslungsbedürfnis Rechnung zu tragen, es muß der Zweck der Gesellschaft sein, seine Befriedigung zu verwirklichen, weil mit darauf die harmonische Ausbildung des Menschen beruht. Die Berufsphysiognomien, die heute unsere Gesellschaft aufweist – bestehe dieser Beruf in bestimmten einseitigen Leistungen irgendeiner Art oder in der Faulenzerei –, werden allmählich verschwinden. Es gibt gegenwärtig außerordentlich wenig Menschen, die eine Abwechslungsmöglichkeit in ihrer Tätigkeit besitzen. Manchmal finden sich durch besondere Verhältnisse Begünstigte, die sich dem Einerlei des Tagesberufs entziehen, und nachdem sie der physischen Arbeit ihren Tribut gezollt, sich bei geistiger erholen. Umgekehrt finden wir ab und zu geistig Arbeitende, die sich mit irgendeiner Handwerkstätigkeit, mit Gartenbau usw. beschäftigen. Die wohltätige Wirkung einer Tätigkeit, die auf der Abwechslung von geistiger und körperlicher Arbeit beruht, wird jeder Hygieniker bestätigen, sie allein ist naturgemäß. Voraussetzung ist, daß jede Tätigkeit mit Maß geübt wird und den individuellen Kräften entspricht.

 

In seiner Schrift "Die Bedeutung der Wissenschaft und der Kunst" geißelt Graf Leo Tolstoi den hypertrophischen und unnatürlichen Charakter, den bei der Unnatur unserer Gesellschaft Kunst und Wissenschaft angenommen haben. Er verurteilt aufs schärfste die Verachtung der physischen Arbeit, die in der heutigen Gesellschaft Platz gegriffen hat, und empfiehlt die Rückkehr zu natürlichen Verhältnissen. Es gelte für jeden Menschen, der naturgemäß und mit Genuß leben wolle, den Tag zu verbringen erstens mit körperlicher Arbeit im Ackerbau, zweitens mit handwerksmäßiger Arbeit, drittens mit geistiger Arbeit, viertens mit gebildetem geselligen Verkehr. Mehr als acht Stunden physische Arbeit sollte der Mensch nicht leisten. Tolstoi, der diese Lebensweise praktisch übt und seitdem er sie übt, wie er sagt, sich erst als Mensch fühlt, übersieht nur, daß, was für ihn, den unabhängigen Mann, möglich ist, für die große Masse der Menschen unter den heutigen Verhältnissen unmöglich ist. Ein Mensch, der täglich zehn bis zwölf und manchmal mehr Stunden schwer arbeiten muß, um die kümmerlichste Existenz sich zu sichern und in Unwissenheit erzogen wurde, kann sich die Tolstoische Lebensweise nicht verschaffen. Das können auch alle diejenigen nicht, die im Kampfe um die Existenz stehen und deren Anforderungen sich fügen müssen, und die wenigen, die es gleich Tolstoi könnten, haben in ihrer Mehrzahl kein Bedürfnis dazu. Es ist eine jener Illusionen, der Tolstoi sich hingibt, zu glauben, durch Predigt und Beispiel Gesellschaften umändern zu können. Die Erfahrungen, die Tolstoi mit seiner Lebensweise macht, beweisen, wie rationell sie ist, aber um diese Lebensweise als allgemeine Sitte einführen zu können, bedarf es anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, einer neuen Gesellschaft.

 

Die künftige Gesellschaft wird diese Verhältnisse haben, sie wird Gelehrte und Künstler jeder Art in ungezählter Menge besitzen, aber jeder derselben wird einen Teil des Tages physisch arbeiten und in der übrigen Zeit nach Geschmack seinen Studien und Künsten und geselligem Umgang obliegen .

 

Der bestehende Gegensatz zwischen Kopfarbeit und Handarbeit, ein Gegensatz, den die herrschenden Klassen nach Möglichkeit verschärfen, um sich auch die geistigen Mittel zur Herrschaft zu sichern, wird also aufgehoben werden müssen.

 

6. Steigerung der Konsumtionsfähigkeit

 

Aus dem bisher Gesagten geht ferner hervor, daß Zeiten der Krise und der Arbeitslosigkeit in der künftigen Gesellschaft unmöglich sind. Die Krisen entspringen dem Umstand, daß die kapitalistische Produktion, gereizt durch den Profit und ohne jedes zuverlässige Maß für den wirklichen Bedarf, die Überfüllung des Warenmarktes, die Überproduktion, erzeugt. Der Charakter der Produkte unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als Waren, die ihre Besitzer auszutauschen bestrebt sind, macht den Verbrauch der Waren von der Kauffähigkeit der Konsumenten abhängig. Die Kauffähigkeit ist aber bei der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung, die für ihre Arbeitsleistung unterwertig bezahlt wird und für dieselbe keine Verwendung findet, wenn ihre Anwender nicht Mehrwert aus derselben pressen kann, beschränkt. Kauffähigkeit und Konsumtionsfähigkeit sind in der bürgerlichen Welt zwei verschiedene Dinge. Viele Millionen haben Bedürfnisse nach neuen Kleidern, Schuhen, Möbeln, Wäsche, nach Eß- und Trinkwaren, aber sie besitzen kein Geld, und so bleiben ihre Bedürfnisse, das heißt, es bleibt ihre Konsumtionsfähigkeit unbefriedigt. Der Warenmarkt ist überfüllt, aber die Masse hungert; sie will arbeiten, aber sie findet niemand, der ihre Arbeit kauft, weil der Unternehmer nichts dabei verdienen kann. Stirb, verdirb, werde Vagabond, Verbrecher, ich, der Kapitalist, kann es nicht ändern, ich kann keine Waren gebrauchen, für die ich mit entsprechendem Profit keinen Abnehmer habe. Und der Mann hat in seiner Art vollkommen recht.

 

In der neuen Gesellschaft wird dieser Widerspruch beseitigt sein. Diese produziert nicht "Waren", um zu "kaufen" und zu "verkaufen", sondern sie produziert Lebensbedürfnisse, die verbraucht, konsumiert werden, sonst haben sie keinen Zweck. Bei ihr findet die Konsumtionsfähigkeit nicht, wie in der bürgerlichen Welt, an der Kauffähigkeit des einzelnen ihre Grenze, sondern an der Produktionsfähigkeit der Gesamtheit. Sind Arbeitsmittel und Arbeitskräfte vorhanden, so kann jedes Bedürfnis befriedigt werden. Die gesellschaftliche Konsumtionsfähigkeit findet ihre Schranke nur in der – Gesättigtheit der Konsumenten.

 

Gibt es aber in der neuen Gesellschaft keine "Waren", so gibt es schließlich auch kein Geld. Geld ist scheinbar der Gegensatz von Ware, aber es ist selbst Ware! Aber Geld, obgleich selbst Ware, ist zugleich die gesellschaftliche Äquivalentform, der Wertmesser für alle anderen Waren. Die neue Gesellschaft produziert aber nicht Waren, sondern Bedürfnisgegenstände, Gebrauchswerte, deren Herstellung ein gewisses Maß gesellschaftlicher Arbeitszeit erfordert. Die Arbeitszeit, die durchschnittlich nötig ist, um einen Gegenstand herzustellen, ist allein das Maß, an dem er für den gesellschaftlichen Gebrauch gemessen wird. Zehn Minuten gesellschaftlicher Arbeitszeit in einem Gegenstand sind gleich zehn Minuten gesellschaftlicher Arbeitszeit in einem anderen, nicht mehr und nicht weniger. Die Gesellschaft will nicht "verdienen", sie will nur den Austausch von Gegenständen gleicher Qualität, gleichen Gebrauchswerts unter ihren Gliedern bewerkstelligen, und schließlich hat sie nicht einmal nötig, einen Gebrauchswert festzusetzen, sie produziert, was sie bedarf. Findet zum Beispiel die Gesellschaft, daß zur Herstellung aller benötigten Produkte eine tägliche dreistündige Arbeitszeit nötig ist, so setzt sie eine dreistündige fest . Verbessern sich die Produktionsmethoden so, daß der Bedarf schon in zwei Stunden hergestellt werden kann, setzt sie zwei Stunden Arbeitszeit fest. Verlangt dagegen die Gesamtheit die Befriedigung höherer Bedürfnisse, als trotz Zunahme der Zahl der Arbeitskräfte und erhöhter Produktivität des Arbeitsprozesses in zwei oder drei Stunden hergestellt werden können, so setzt sie mehr Stunden fest. Ihr Wille ist ihr Himmelreich.

 

Wieviel jedes einzelne Produkt an gesellschaftlicher Arbeitszeit zur Herstellung bedarf, ist leicht zu berechnen . Danach bemißt sich das Verhältnis dieses Arbeitszeitteils zur ganzen Arbeitszeit. Irgendein Zertifikat, ein bedrucktes Stück Papier, Gold oder Blech, bescheinigt die geleistete Arbeitszeit und setzt den Inhaber in die Lage, diese Zeichen gegen Bedürfnisgegenstände der verschiedensten Art auszutauschen . Findet er, daß seine Bedürfnisse geringer sind, als was er für seine Leistung erhält, so arbeitet er entsprechend kürzere Zeit. Will er das Nichtverbrauchte verschenken, niemand hindert ihn daran; will er freiwillig für einen anderen arbeiten, damit dieser dem Dolce far niente obliegen kann, oder will er seine Ansprüche an die Gesellschaftsprodukte mit ihm teilen, niemand wehrt es ihm. Aber zwingen kann ihn niemand, zum Vorteil eines anderen zu arbeiten, niemand kann ihm einen Teil der Ansprüche für seine Arbeitsleistung vorenthalten. Jeder kann allen erfüllbaren Wünschen und Ansprüchen Rechnung tragen, aber nicht auf Kosten anderer. Er bekommt, was er der Gesellschaft leistet, nicht mehr, nicht weniger. und bleibt jeder Ausbeutung durch einen dritten entzogen.

 

7. Gleichheit der Arbeitspflicht für alle

 

"Aber wo bleibt der Unterschied zwischen Faulen und Fleißigen, zwischen Intelligenten und Dummen?" Das ist eine der Hauptfragen unserer Gegner, und die gegebene Antwort macht ihnen den größten Kopfschmerz. Daß zum Beispiel in unserer Beamtenhierarchie dieser Unterschied zwischen "Faulen" und "Fleißigen", "Intelligenten" und "Dummen" nicht gemacht wird, sondern das Dienstalter über die Höhe des Gehaltes und meist auch über das Avancement entscheidet, es sei denn, es wird eine besondere Vorbildung für einen höheren Posten erfordert, daran denkt keiner dieser Pfiffikusse und neunmal Weisen. Der Lehrer, der Professor – und es sind besonders die letzteren die naivsten Frager – rücken auf das Gehalt ein, das die Stelle bringt, nicht infolge ihrer Qualität. Wie in vielen Fällen die Avancements in unserer Militär-, Beamten- und Gelehrtenhierarchie nicht dem Tüchtigsten, sondern dem durch Geburt, Verwandtschaft, Freundschaft, Frauengunst Beglückten zufallen, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Daß aber auch der Reichtum sich nicht nach Fleiß und Intelligenz bemißt, beweisen schlagend die in der ersten Klasse des preußischen Dreiklassenwahlsystems wählenden Berliner Wirte, Bäcker, Fleischer, die manchmal nicht den Dativ vom Akkusativ unterscheiden können, wohingegen die Berliner Intelligenz, die Männer der Wissenschaft, die höchsten Beamten des Reiches und Staates in der zweiten oder dritten Klasse wählen. Einen Unterschied zwischen Faulen und Fleißigen, Intelligenten und Dummen gibt's nicht, weil, was wir darunter verstehen, verschwunden ist. "Faulenzer" nennt zum Beispiel die Gesellschaft den, welcher außer Arbeit geworfen, zum Vagabundieren gezwungen ist und schließlich wirklich Vagabund wird, oder den, der unter schlechter Erziehung aufgewachsen, verwahrloste. Wer aber den, der im Gelde sitzt und mit Nichtstun und Schlemmen die Zeit totschlägt, einen Faulenzer nennt, begeht eine Beleidigung, denn dieser ist ein "ehrenwerter" Mann.

 

Wie liegen nun in der neuen Gesellschaft die Dinge? Alle entwickeln sich unter gleichen Lebensbedingungen, und jeder ist dort tätig, wohin Neigung und Geschicklichkeit ihn hinweisen, daher werden die Unterschiede in der Leistung nur geringere sein . Die Atmosphäre der Gesellschaft, die jeden anregt, es dem anderen zuvorzutun, hilft ebenfalls die Unterschiede auszugleichen. Findet einer, daß er auf einem Gebiet nicht zu leisten vermag, was andere leisten, so wählt er sich ein anderes, das seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht. Wer mit einer größeren Zahl Menschen in einem Betrieb zusammenarbeitete, weiß, daß wer in einer gewissen Tätigkeit als unfähig und unbrauchbar sich erwies, an einen anderen Posten gestellt, denselben aufs beste ausfüllte. Es gibt keinen normal angelegten Menschen, der nicht in der einen oder anderen Tätigkeit, sobald er an den richtigen Platz gestellt wird, selbst den höchsten Ansprüchen gerecht wird. Mit welchem Rechte verlangt einer einen Vorzug vor dem anderen? Ist jemand von der Natur so stiefmütterlich bedacht, daß er beim besten Willen nicht zu leisten vermag, was andere leisten, so kann ihn die Gesellschaft für die Fehler der Natur nicht strafen. Hat umgekehrt jemand durch die Natur Fähigkeiten erhalten, die ihn über die anderen erheben, so ist die Gesellschaft nicht verpflichtet, zu belohnen, was nicht sein persönliches Verdienst ist. Für die sozialistische Gesellschaft kommt weiter in Betracht, daß alle die gleichen Lebens- und Erziehungsbedingungen haben, daß jedem die Möglichkeit geboten ist, sein Wissen und Können entsprechend seinen Anlagen und Neigungen auszubilden, und so ist auch hierdurch die Gewähr gegeben, daß in der sozialistischen Gesellschaft nicht nur das Wissen und Können viel höher ist als in der bürgerlichen, sondern daß es auch gleichmäßiger verteilt und dennoch vielgestaltiger ist.

 

Als Goethe auf einer Rheinreise den Kölner Dom studierte, machte er in den Bauakten die Entdeckung, daß die alten Baumeister ihre Arbeiter gleich hoch nach der Zeit bezahlten; sie taten es, weil sie gute und gewissenhaft ausgeführte Arbeit haben wollten. Das erscheint der bürgerlichen Gesellschaft vielfach als eine Anomalie. Sie führte das Stücklohnsystem ein, durch das sich die Arbeiter gegenseitig zum Überarbeiten zwingen, damit der Unternehmer um so leichter die Unterbezahlung, die Herabsetzung der Löhne vornehmen kann. Wie mit der materiellen Arbeitsleistung, ist es mit der geistigen bestellt. Der Mensch ist das Produkt von Zeit und Umständen, in denen er lebt. Ein Goethe, unter gleich günstigen Entwicklungsbedingungen im vierten statt im achtzehnten Jahrhundert geboren, wäre wahrscheinlich statt ein berühmter Dichter und Naturforscher ein großer Kirchenvater geworden, der vielleicht St. Augustin in den Schatten stellte. Wäre dagegen Goethe statt als Sohn eines reichen Frankfurter Patriziers als Sohn eines armen Schusters in Frankfurt zur Welt gekommen, er wäre kaum großherzoglich weimarischer Minister geworden, sondern wäre höchstwahrscheinlich ein Schuster geblieben und als ehrsamer Schustermeister gestorben. Goethe selbst anerkannte den Vorteil, den es für ihn hatte, daß er in materiell und gesellschaftlich günstiger Stellung geboren worden war und dadurch zu seiner Entwicklung gelangte; so in seinem "Wilhelm Meister". Wäre Napoleon I. zehn Jahre später geboren worden, er konnte nie Kaiser von Frankreich werden. Auch wäre ohne den Krieg von 1870/71 Gambetta nie geworden, was er geworden ist. Setzt das gut veranlagte Kind intelligenter Eltern unter Wilde, und es wird ein Wilder. Was also einer ist, das hat die Gesellschaft aus ihm gemacht. Die Ideen sind nicht ein Produkt, das durch höhere Inspiration von oben in dem Kopfe eines einzelnen entspringt, sondern ein Produkt, das durch das gesellschaftliche Leben und Weben, in dem er sich bewegt, den "Zeitgeist", im Kopfe des einzelnen erzeugt wird. Ein Aristoteles konnte nicht die Ideen eines Darwin haben, und ein Darwin mußte anders denken als ein Aristoteles. Jeder denkt, wie der Geist der Zeit, das heißt seine Umgebung und ihre Erscheinungen ihn zu denken zwingen. Daher die Wahrnehmung, daß oft verschiedene Menschen gleichzeitig ein und dasselbe denken, daß gleichzeitig ein und dieselben Erfindungen oder Entdeckungen auf weit voneinander liegenden Punkten gemacht werden. Daher auch die Tatsache, daß eine Idee, die fünfzig Jahre früher ausgesprochen, die Welt kalt ließ, aber fünfzig Jahre später wiederholt, die ganze Welt in Bewegung setzt. Kaiser Sigismund konnte 1415 wagen, Hus sein Wort zu brechen und in Konstanz ihn verbrennen zu lassen; Karl V., obgleich ein weit größerer Fanatiker, mußte 1521 Luther vom Reichstag zu Worms seines Weges ziehen lassen. Die Ideen sind das Produkt gesellschaftlichen Zusammenwirkens, gesellschaftlichen Lebens. Und was von der Gesellschaft im allgemeinen gilt, gilt im besonderen von den verschiedensten Klassen, aus welchen eine Gesellschaft in einer bestimmten geschichtlichen Epoche zusammengesetzt ist. Weil jede Klasse ihre besonderen Interessen hat, besitzt sie auch ihre besonderen Ideen und Anschauungen, die zu jenen Klassenkämpfen führen, von welchen die geschichtlich bekannten Zeitalter der Menschen erfüllt sind und die in den Klassengegensätzen und Klassenkämpfen der Gegenwart ihren Höhepunkt erreichten. Es kommt also nicht allein darauf an, in welchem Zeitalter jemand lebt, sondern auch in welcher Gesellschaftsschicht eines bestimmten Zeitalters er lebt, wodurch sein Fühlen, Denken und Handeln bestimmt wird.

 

Ohne die moderne Gesellschaft existieren keine modernen Ideen. Das scheint uns klar und einleuchtend. Für die neue Gesellschaft kommt hinzu, daß die Mittel, die jeder für seine Ausbildung in Anspruch nimmt, das Eigentum der Gesellschaft sind. Die Gesellschaft kann also nicht verpflichtet sein, das besonders zu honorieren, was sie erst möglich gemacht hat und was ihr eigenes Produkt ist.

 

Soviel über die Qualifikation physischer und geistiger Arbeit. Hieraus ergibt sich weiter, daß auch kein Unterschied zwischen höherer und niederer Arbeit bestehen kann, wie zum Beispiel nicht selten heute ein Mechaniker sich mehr dünkt als ein Tagarbeiter, der Straßenarbeiten und dergleichen verrichtet. Die Gesellschaft läßt nur gesellschaftlich nützliche Arbeiten verrichten, und so ist jede Arbeit für die Gesellschaft gleichwertig. Können unangenehme, widerliche Arbeiten nicht auf mechanischem respektive chemischem Wege verrichtet und durch irgendwelchen Prozeß in angenehme Arbeiten umgewandelt werden – was bei den Fortschritten, die wir auf technischem und chemischem Gebiet gemacht haben, gar nicht zu bezweifeln ist –, und sollten sich freiwillig die nötigen Kräfte nicht finden, so tritt für jeden die Verpflichtung ein, sobald die Reihe an ihn kommt, sein Maß Arbeit zu leisten. Da gibt's keine falsche Scham und keine widersinnige Verachtung nützlicher Arbeit. Diese besteht nur in unserem Drohnenstaat, in dem das Nichtstun als beneidenswertes Los angesehen wird, und der Arbeiter um so verachteter ist, je härter, mühevoller und unangenehmer die Arbeiten sind, die er verrichtet, und je notwendiger sie für die Gesellschaft sich erweisen. Heute wird die Arbeit in demselben Maße schlechter bezahlt, als sie unangenehmer ist. Der Grund ist, daß wir eine Menge auf niederster Kulturstufe gehaltene Arbeitskräfte haben, die durch die beständige Revolutionierung des Produktionsprozesses als Reservearmee auf dem Pflaster liegt, und diese Kräfte, um zu leben, sich für die niedrigsten Arbeiten zu Preisen hergeben, daß für solche Arbeiten sogar die Einführung von Maschinen "unrentabel" ist. Zum Beispiel ist Steineklopfen sprichwörtlich eine der schlechtestbezahlten und unangenehmsten Arbeiten. Es wäre aber eine Kleinigkeit, das Steineklopfen, wie in den Vereinigten Staaten; durch Maschinen verrichten zu lassen, aber wir haben eine solche Menge billiger Arbeitskräfte, daß die Maschine sich nicht "rentiert" . Straßenreinigen, Kloakenräumen, Schuttfahren, Tiefbauarbeiten usw. aller Art ließen sich schon bei dem heutigen Stande unserer Entwicklung mit Hilfe von Maschinen und technischen Einrichtungen in einer Weise erledigen, daß sie keine Spur von den Unannehmlichkeiten mehr haben, die damit vielfach für die Arbeiter verknüpft sind. Genaugenommen ist aber ein Arbeiter, der Kloaken auspumpt, um die Menschen vor gesundheitsgefährlichen Miasmen zu schützen, ein sehr nützliches Glied der Gesellschaft, wohingegen ein Professor, der gefälschte Geschichte im Interesse der herrschenden Klasse lehrt, oder ein Theologe, der mit übernatürlichen transzendenten Lehren die Gehirne zu umnebeln sucht, äußerst schädliche Individuen sind.

 

Unser heute in Amt und Würden stehendes Gelehrtentum repräsentiert zu einem großen Teile eine Gilde, die dazu bestimmt und bezahlt ist, die Herrschaft der leitenden Klassen mit der Autorität der Wissenschaft zu verteidigen und zu rechtfertigen, sie als gerecht und notwendig erscheinen zu lassen, sowie die vorhandenen Vorurteile zu erhalten. In Wahrheit treibt diese Gilde zu einem erheblichen Teile Afterwissenschaft, Gehirnvergiftung, kulturfeindliche Arbeit, geistige Lohnarbeit im Interesse der Bourgeoisie und ihrer Klienten . Ein Gesellschaftszustand, der künftig die Existenz solcher Elemente unmöglich macht, vollzieht eine menschheitsbefreiende Tat.

 

Andererseits ist echte Wissenschaft oft mit sehr unangenehmer, widerlicher Arbeit verbunden. Zum Beispiel wenn ein Arzt eine im Fäulnisprozeß befindliche Leiche seziert oder eiternde Körperteile operiert; oder wenn ein Chemiker Exkremente untersucht. Es sind dieses Arbeiten, die häufig widerlicher sind als die widerlichsten Arbeiten, die Taglöhner und ungelernte Arbeiter verrichten. Dieses anzuerkennen, daran denkt niemand. Der Unterschied besteht darin, daß die eine Arbeit, um getan zu werden, ein umfassendes Studium erfordert, die andere von jedem ohne großes Studium verrichtet werden kann. Daher die grundverschiedene Beurteilung. Aber in einer Gesellschaft, in der durch die allen gewährte höchste Bildungsmöglichkeit die heute bestehenden Unterscheidungen zwischen gebildet und ungebildet verschwinden, werden auch die Gegensätze zwischen gelernter und ungelernter Arbeit verschwinden, um so mehr, da die Entwicklung der Technik keine Grenzen kennt, wonach Handarbeit nicht auch von der Maschine oder durch technische Prozesse verrichtet werden könnte. Man sehe nur die Entwicklung unserer Kunsthandwerke, zum Beispiel der Kupferstecherei, der Xylographie usw. an. Wie die unangenehmsten Arbeiten oft die nützlichsten sind, so ist auch unser Begriff über angenehme und unangenehme Arbeit, wie so viele andere Begriffe in der bürgerlichen Welt, ein oberflächlicher, der nur an Äußerlichkeiten haftet.

 

8. Aufhebung des Handels. Umgestaltung des Verkehrs

 

Sobald die gesamte Produktion der neuen Gesellschaft auf eine ähnliche Basis wie die skizzierte gestellt ist, produziert sie, wie schon bemerkt, nicht mehr Waren, sondern Gebrauchsgegenstände für den Bedarf der Gesellschaft. Damit hört auch der Handel auf, soweit nicht der Verkehr mit anderen Völkern, die noch auf bürgerlicher Grundlage stehen, die alte Form des Handels notwendig macht, der nur in einer auf Warenproduktion beruhenden Gesellschaft Sinn und Existenzmöglichkeit hat. Dadurch wird eine große Armee von Personen beider Geschlechter für produktive Tätigkeit mobil. Diese große Armee wird frei für die Produktion; sie erzeugt nunmehr Bedarfsartikel und ermöglicht einen größeren Verbrauch von solchen, oder ihre Anwendung fördert die Einschränkung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Heute ernähren sich diese Personen mehr oder weniger als Parasiten von dem Arbeitsprodukt anderer und müssen, wie nicht bestritten werden soll, sich oft fleißig mühen und sorgen, ohne eine angemessene Existenz zu finden. In der neuen Gesellschaft sind sie als Handeltreibende, Wirte, Makler, Vermittler überflüssig. An Stelle der Dutzende, Hunderte und Tausende von Läden und Handelslokalitäten aller Art, die gegenwärtig jede Gemeinde im Verhältnis zu ihrer Größe besitzt, treten große Gemeindevorratshäuser, elegante Basare, ganze Ausstellungen, die ein verhältnismäßig geringes Verwaltungspersonal beanspruchen. Das ganze Getriebe des Handels wird in eine zentralisierte, rein verwaltende Tätigkeit umgewandelt, die äußerst einfache Verrichtungen zu erfüllen hat und durch die Zentralisation aller gesellschaftlichen Einrichtungen immer mehr vereinfacht wird. Eine ähnliche Umgestaltung erfährt das gesamte Verkehrswesen.

 

Telegraphen, Telephonwesen, Eisenbahnen, Posten, Fluß- und Seeschiffe, Straßenbahnen, Last- und Personenautomobile, Luftschiffe und Flugapparate und wie immer die Einrichtungen und Vehikel heißen, die den Verkehr der Gesellschaft vermitteln, sind nunmehr Gesellschaftseigentum. Viele dieser Anstalten, wie die Post, die Telegraphen, das Telephonwesen, die meisten Eisenbahnen sind in Deutschland schon Staatsinstitute, ihre Umwandlung in Gemeineigentum ist nur eine Formsache. Hier sind keine Privatinteressen mehr zu verletzen. Arbeitet der Staat in der jetzigen Richtung weiter, um so besser. Aber diese staatlich verwalteten Betriebe sind keine sozialistischen Betriebe, wie irrtümlich angenommen wird. Es sind Betriebe, die vom Staate ebenso kapitalistisch ausgebeutet werden wie in Händen der Privatunternehmer. Weder die Beamten noch die Arbeiter haben einen besonderen Vorteil davon. Der Staat behandelt sie nicht anders wie ein Privatunternehmer; wenn zum Beispiel in den Etablissements der Reichsmarine und der Eisenbahnverwaltung Verordnungen erlassen werden, über vierzig Jahre alte Arbeiter nicht in Arbeit zu nehmen, so ist das eine Maßregel, die den Klassencharakter des Staates als Staat der Ausbeuter an der Stirne trägt und die Arbeiter gegen den Staat empören muß. Solche und ähnliche Maßregeln, vom Staate als Arbeitgeber ausgehend, sind aber weit schlimmer, als gingen sie vom Privatunternehmer aus. Letzterer ist gegenüber dem Staate immer ein kleiner Unternehmer, und die Beschäftigung, die er versagt, gewährt vielleicht ein anderer. Der Staat hingegen kann durch solche Maximen als monopolisierten Arbeitgeber mit einem Schlage Tausende ins Elend stoßen. Das ist also nicht sozialistisch, sondern kapitalistisch gehandelt, und die Sozialisten haben allen Grund, sich dagegen zu verwahren, daß der heutige Staatsbetrieb als sozialistischer Betrieb angesehen und als Verwirklichung sozialistischer Bestrebungen betrachtet wird.

 

Wie an Stelle der Millionen Privatunternehmer, Händler und Mittelspersonen aller Art große zentralisierte Anstalten treten, so nimmt auch das gesamte Transportwesen eine andere Gestalt an. Die Millionen kleiner Sendungen, die täglich an fast ebensoviele Eigentümer gehen und eine große Verschwendung an Arbeit, Zeit und Materialien aller Art bedeuten, wachsen jetzt zu großen Transporten an, die nach den Gemeindedepots und Zentralproduktionsstätten befördert werden. Die Arbeit wird also auch hier sehr vereinfacht. Wie zum Beispiel der Transport von Rohmaterialien für einen Betrieb von tausend Arbeitern sich viel einfacher gestaltet als für Hunderte zerstreut liegender Kleinbetriebe, so werden die zentralisierten Produktions- und Distributionsstätten für ganze Gemeinden oder Teile derselben eine sehr bedeutende Ersparnis aller Art herbeiführen. Das kommt der ganzen Gesellschaft, aber auch jedem einzelnen zustatten, denn das Gemeininteresse und das persönliche Interesse decken sich jetzt. Die Physiognomie unserer Produktionsstätten, des Verkehrsmittelwesens und inssondere auch unserer Wohnorte wird dadurch gänzlich verändert, sie gewinnen ein viel erfreulicheres Aussehen. Das nervenzerstörende Geräusch, Gedränge und Gerenne unserer großen Städte mit ihren Tausenden von Vehikeln aller Art hört im wesentlichen auf. Der Straßenbau, die Straßenreinigung, die ganze Wohn- und Lebensweise, der Verkehr der Menschen untereinander, alles erfährt eine große Umgestaltung. Nunmehr können hygienische Maßregeln mit Leichtigkeit durchgeführt werden, die heute gar nicht oder nur mit den größten Kosten und nur unvollkommen durchzuführen sind und oft genug nur für die vornehmeren Viertel durchgeführt werden.

 

Das Kommunikationswesen muß unter solchen Verhältnissen seine höchste Vervollkommnung erfahren; vielleicht ist dann die Luftschiffahrt das vornehmste Verkehrsmittel. Die Verkehrsmittel sind die Adern, welche den Produktenaustausch – die Blutzirkulation – durch die ganze Gesellschaft leiten, die persönlichen und geistigen Beziehungen der Menschen vermitteln, sie sind deshalb im höchsten Grade geeignet, ein gleiches Niveau von Wohlbefinden und Bildung durch die ganze Gesellschaft zu verbreiten. Die Ausdehnung und Verzweigung der vollkommensten Verkehrsmittel bis in die entlegensten Orte der Provinzen ist also eine Notwendigkeit und ein allgemeines gesellschaftliches Interesse. Hier erstehen der neuen Gesellschaft Aufgaben, die jene weit übertreffen, welche die gegenwärtige sich stellen kann. Auch wird dieses aufs höchste vervollkommnete Kommunikationssystem die Dezentralisierung der gegenwärtig in den Großstädten und Industriezentren aufgehäuften Menschenmassen über das ganze Land begünstigen und so für die Gesundheit wie für die geistige und materielle Kulturförderung von der entscheidendsten Bedeutung werden.

 

Zweiundzwanzigstes Kapitel - Sozialismus und Landwirtschaft

 

1. Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden

 

Mit den Produktions- und Verkehrsmitteln gehört der Grund und Boden als eigentlicher Urstoff aller menschlichen Arbeit und Grundlage aller menschlichen Existenz der Gesellschaft. Die Gesellschaft nimmt auf vorgeschrittenster Stufe zurück, was sie bereits uranfänglich besaß. Bei allen auf einer gewissen Kulturstufe angelangten Völkern ist Gemeineigentum an Grund und Boden vorhanden. Gemeineigentum bildet die Grundlage jeder primitiven Vergesellschaftung, sie ist ohne jenes nicht möglich. Erst durch die Entstehung und Entwicklung des Privateigentums und der damit verknüpften Herrschaftsformen ist, wie wir sahen, unter schweren Kämpfen das Gemeineigentum beseitigt und als Privateigentum usurpiert worden. Der Raub des Grund und Bodens und seine Umwandlung in persönliches Eigentum bildete die erste Ursache der Knechtschaft, die von der Sklaverei bis zum "freien" Lohnarbeiter des zwanzigsten Jahrhunderts alle möglichen Stufen durchlaufen hat, bis endlich nach Jahrtausende langer Entwicklung die Geknechteten den Grund und Boden wieder in Gemeineigentum verwandeln.

 

Die Wichtigkeit des Grund und Bodens für die menschliche Existenz war Ursache, daß in allen sozialen Kämpfen der Welt – in Indien, China, Ägypten, Griechenland (Kleomenes), Rom (Gracchen), christliches Mittelalter (religiöse Sekten, Münzer, Bauernkrieg), im Azteken- und Inkareich, in den sozialen Bewegungen der Neuzeit – der Besitz an Grund und Boden das Hauptverlangen der Kämpfenden bildete. Auch jetzt noch finden Männer das Gemeineigentum an Grund und Boden gerechtfertigt – Adolf Samter, Adolf Wagner, Dr. Schäffle, Henry George und andere –, die auf anderen Gebieten von Gemeineigentum nichts wissen wollen .

 

Das Wohlbefinden der Bevölkerung hängt in erster Linie von der Bebauung und Ausnutzung des Grund und Bodens ab. Die Kultur desselben auf die höchste Stufe zu heben, ist im eminentesten Sinne Allgemeininteresse. Daß diese höchste Entwicklung unter der Form des Privateigentums nicht möglich ist, wurde schon dargelegt. Indes hängt die höchste Ausnutzung des Grund und Bodens nicht bloß von seiner Bewirtschaftung ab, es kommen hierbei auch Faktoren in Betracht, denen weder der größte Einzelbesitzer, noch die mächtigste Assoziation gewachsen ist, Faktoren, die unter Umständen selbst über den Rahmen des Staates hinausgreifen und international zu behandeln sind.

 

2. Bodenmeliorationen

 

Die Gesellschaft muß den Grund und Boden als Ganzes ins Auge fassen, seine topographische Beschaffenheit, seine Berge, Ebenen, Wälder, Seen, Flüsse, Teiche, Heiden, Sümpfe, Moore und Moräste. Diese topographische Beschaffenheit übt neben der geographischen Lage, die unabänderbar ist, gewisse Einflüsse auf Klima und Bodenbeschaffenheit aus. Hier ist ein Tätigkeitsfeld von größter Ausdehnung, auf dem noch eine Menge Erfahrungen gesammelt werden können und eine Menge Experimente versucht werden müssen. Was der Staat bisher in dieser Richtung leistete, ist wenig. Einmal wendet er zu solchen Kulturaufgaben nur geringe Mittel an, und außerdem würden, selbst wenn er den Willen hätte, in umfassender Weise einzugreifen, die großen Privateigentümer, die in der Gesetzgebung das entscheidende Wort sprechen, ihn daran hindern. Ohne starke Eingriffe in das Privateigentum kann aber auf diesem Gebiet nichts erreicht werden. Aber die Existenz des Staates beruht auf der "Heiligkeitserklärung" des Privateigentums, die großen Privateigentümer sind seine wichtigsten Stützen, und so fehlt ihm die Macht, in der bezeichneten Richtung vorzugehen. Es müßten großartige und umfassende Bodenmeliorationen, Bewaldungen und Entwaldungen, Be- und Entwässerungen, Bodenmischungen, Terrainänderungen, Anpflanzungen usw. vorgenommen werden, um den Grund und Boden zu höchster Ertragsfähigkeit zu bringen.

 

Eine hochwichtige Angelegenheit für die Kulturverhältnisse des Grund und Bodens bildet ein umfängliches, systematisch angelegtes Fluß- und Kanalnetz, das nach wissenschaftlichen Prinzipien geleitet werden muß. Die Frage des billigeren Transportes auf den Wasserwegen – so wichtig für die heutige Gesellschaft – wäre zwar für die neue von geringer Bedeutung, dagegen sind Wasserwege als bequeme, mit geringstem Kraft- und Materialaufwand zu benutzende Transportgelegenheit sehr zu beachten. Aber die wichtigste Rolle spielt das Fluß- und Kanalsystem hinsichtlich seiner Verwertung für ein umfassendes Ent- und Bewässerungssystem, für die Herbeischaffung der Dungstoffe und der Materialien zu Bodenmeliorationen, wie für die Abfuhr der Ernten usw.

 

Es ist durch Erfahrung festgestellt, daß wasserarme Länder weit mehr an kalten Wintern und heißen Sommern zu leiden haben als wasserreiche, daher kennen zum Beispiel Küstenländer die eigentlichen Witterungsextreme nur ausnahmsweise. Solche Witterungsextreme sind aber weder für die Pflanzen noch für die Menschen vorteilhaft und angenehm. Ein ausgedehntes Kanalsystem, in Verbindung mit Maßregeln in bezug auf Waldkultur, würde hier unzweifelhaft günstig wirken. Ein solches Kanalsystem, verbunden mit der Anlegung größerer Bassins, als Wasseransammler und Aufbewahrer von Wassermassen, würde, wenn Tauwetter oder heftige Regengüsse Flüsse und Ströme zum Anschwellen und Übertreten bringen, von großem Vorteil sein. Die gleichen Bauanlagen wären für die Gebirgsflüsse und Gebirgsbäche notwendig. Die Überschwemmungen mit ihren verheerenden Wirkungen wären alsdann unmöglich. Ausgedehnte Wasserflächen mit ihrer stärkeren Verdunstung würden vermutlich auch regelmäßigere Regenbildung befördern. Die Anlagen dieser Art ermöglichten ferner die Anbringung von Pump- und Hebewerken zu umfassender Bewässerung der Ländereien, sobald solche nötig würden.

 

Weite Landstrecken, die bis jetzt fast unfruchtbar sind, ließen sich durch künstliche Bewässerungsanlagen in fruchtbare Gegenden verwandeln. Wo jetzt kaum die Schafe dürftige Nahrung finden und günstigenfalls schwindsüchtige Föhren die mageren Äste gen Himmel recken, könnten üppige Ernten gedeihen und eine dichte Bevölkerung reichliche Nahrung und Genuß finden. So ist es zum Beispiel nur eine Frage des Arbeitsaufwandes, um die weiten Sandstrecken der Mark, des "heiligen Deutschen Reiches Streusandbüchse", in ein Eden an Fruchtbarkeit zu verwandeln. Das hob auch in einem Vortrag anläßlich der deutschen landwirtschaftlichen Ausstellung zu Berlin im Frühjahr 1894 ein Vortragender hervor . Die nötigen Kanalbauten, Bewässerungsanlagen, Meliorationen, Bodenmischungen usw. vorzunehmen, vermögen aber nicht die Grundbesitzer der Mark, und so bleiben unmittelbar vor den Toren der Reichshauptstadt weite Strecken Landes in einem Kulturzustand, der späteren Generationen unbegreiflich erscheinen wird. Andererseits können durch Kanalisationen weite Sumpfstrecken, Moore und Moorland entwässert und der Kultur gewonnen werden, so im Norden und Süden Deutschlands. Auch können die Wasserläufe für die Fischzucht ausgenutzt werden und lieferten eine ergiebige Nahrungsquelle, sie bildeten ferner für die Gemeinden, die keine Flüsse haben, Gelegenheit für die Errichtung der schönsten Badeanstalten .

 

In welchem Maßstab Bewässerung wirkt, dafür einige Beispiele. In der Nähe von Weißenfels ergaben 7½ Hektar gut bewässerte Wiesen 480 Zentner Grummet, danebenliegende 5 Hektar unbewässerte Wiesen von derselben Bodenbeschaffenheit nur 32 Zentner. Die ersteren hatten also im Verhältnis zu den letzteren mehr als zehnfachen Ertrag. Bei Riesa in Sachsen brachten 65 Acker bewässerte Wiesen eine Steigerung des Reinertrags von 5.850 Mark auf 11.100 Mark. Nach Buchenbenger wurde nach der Bewässerung des unfruchtbaren Sandbodens der Bocker Heide, auf dem rechten Ufer der Lippe, durch den gesamten Aufwand von 124.000 Mark auf einer früher fast ertraglosen Fläche ein jährlicher Bruttogewinn von rund 400.000 Mark erzielt. Die Bodenverbesserungen in Niederösterreich haben bei einem Aufwand von 1 Million Kronen eine Steigerung des Ertragswertes um 6 Millionen Kronen ergeben. Die teuren Anlagekosten rentierten sich. Nun gibt es aber in Deutschland, außer der Mark, noch weite Gegenden, deren Boden, wesentlich aus Sand bestehend, nur einen halbwegs guten Ertrag liefert, wenn ein sehr feuchter Sommer eintritt. Diese Gegenden mit Kanälen durchzogen und bewässert und in ihrer Bodenbeschaffenheit verbessert, würden in kurzer Zeit den fünf- und zehnfachen Ertrag ergeben. In Spanien sind Beispiele vorhanden, wonach der Ertrag von gut bewässertem Boden den siebenundreißigfachen Ertrag gegenüber dem von unbewässertem ergab. Also Wasser her, und neue Nahrungsmassen werden aus dem Boden gestampft.

 

Fast kein Jahr vergeht, in dem nicht ein-, zweimal und öfter in den verschiedensten Provinzen, in den verschiedensten Staaten Deutschlands mehr oder weniger große Überschwemmungen durch Bäche, Flüsse und Ströme eintreten. Weite Strecken des fruchtbarsten Bodens werden durch die Gewalt der Wellen weggeführt, andere werden mit Sand, Steinen und Schutt bedeckt und auf Jahre oder für immer unfruchtbar gemacht. Ganze Plantagen von Obstbäumen, die Jahrzehnte zu ihrer Entwicklung bedurften, werden entwurzelt. Häuser, Brücken, Straßen, Dämme werden unterwaschen, Eisenbahnen ruiniert, Menschenleben geopfert, Vieh wird zugrunde gerichtet, Bodenmeliorationen werden zerstört und Saaten vernichtet. Weite Strecken der Ländereien, die häufiger Überschwemmungsgefahr ausgesetzt sind, werden gar nicht oder nur geringwertig angebaut, um nicht immer wieder Schaden zu erleiden. Große Waldverwüstungen, namentlich auf den Bergen, insbesondere durch Privateigentümer, verstärken sie. Der unsinnigen, auf Profit berechneten Waldverwüstung soll eine Abnahme der Bodenfruchtbarkeit in den Provinzen Preußen und Pommern, in Kärnten und Steiermark, Italien, Frankreich, Spanien, Rußland usw. geschuldet sein.

 

Die Folgen der Waldverwüstung in den Gebirgen sind häufige Überschwemmungen. Die Rhein-, Oder- und Weichselüberschwemmungen werden hauptsächlich den Walddevastierungen in der Schweiz, respektive in Galizien und Polen zugeschrieben. Der gleichen Ursache sind die häufigen Überschwemmungen in Italien, namentlich des Po, geschuldet. Und aus den gleichen Ursachen haben Madeira, große Teile Spaniens, die fruchtbarsten Provinzen Rußlands, weite, einst üppige und fruchtbare Länder in Vorderasien den größten Teil ihrer Fruchtbarkeit eingebüßt .

 

Endlich hat man aber auch in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen, daß es mit dem Gehen- und Geschehenlassen auf diesem Gebiet nicht mehr getan ist und daß, vernünftige Maßregeln im großen angewandt, die kulturzerstörenden Kräfte zu kulturfördernden umgewandelt werden können. So schritt man zum Bau großer Stauwerke, die das Wasser in gewaltigen Massen ansammeln und dessen Kräfte zur Elektrisierung der Industrie und Landwirtschaft verwenden. Insbesondere nimmt der bayerische Staat die Stauarbeiten der Gebirgsflüsse und -bäche im großartigsten Maßstab vor, um damit Kräfte für die Elektrisierung seiner Eisenbahnen und aller möglichen industriellen Anlagen zu gewinnen. Das agrarische Altbayern wird damit allmählich in ein modernes Industrieland umgewandelt.

 

3. Umwandlung der Bodenbewirtschaftung

 

Es ist selbstverständlich, daß diese großen Aufgaben nicht im Handumdrehen zu lösen sind, aber eine neue Gesellschaft wird sie mit Aufgebot aller Kräfte in die Hand nehmen, weil ihre einzige Aufgabe ist, Kulturaufgaben zu lösen und kein Hemmnis darin zu dulden. Sie wird im Laufe der Zeit Werke schaffen und Aufgaben lösen, an welche die gegenwärtige Gesellschaft nicht denken kann, weil ihr bei dem bloßen Gedanken daran schwindelt.

 

Die gesamte Bodenbewirtschaftung wird durch Maßregeln wie die bezeichneten und ähnliche sich bedeutend günstiger gestalten. Zu den bereits erörterten Gesichtspunkten für Hebung der Bodenausnützung kommen andere. Heute werden viele Quadratmeilen Landes mit Kartoffeln bebaut, um in große Quantitäten Branntwein verwandelt zu werden, die fast ausschließlich unsere arme, in Not und Elend lebende Bevölkerung konsumiert. Der Branntwein ist der einzige Stimulus, der "Sorgenbrecher", den sie sich verschaffen kann. Für die Kulturmenschen einer neuen Gesellschaft ist der Branntweinkonsum verschwunden, es wird der Boden und die Arbeitskräfte für gesunde Nahrungsmittelerzeugung frei. Auch wurde bereits auf den Zuckerrübenbau und die Zuckerfabrikation für die Ausfuhr hingewiesen. Mehr als 400.000 Hektar des besten Weizenbodens werden bei uns alljährlich für den Zuckerrübenbau verwendet, um England, die Schweiz, die Vereinigten Staaten usw. mit Zucker zu versehen. Eine Konkurrenz, der die durch Klima begünstigten Zuckerrohr bauenden Länder unterliegen. Unser stehendes Heerwesen, die zersplitterte Produktion, der zersplitterte Verkehr, der zersplitterte Ackerbau usw. erfordern Millionen Pferde und dementsprechend Bodenflächen für Nahrung und die Aufzucht junger Pferde. Die total umgestalteten sozialen und politischen Verhältnisse machen künftig zum größten Teile die hierfür in Anspruch genommenen Bodenflächen frei. Es sind also wiederum große Bodenflächen und viele Arbeitskräfte für andere Kulturbedürfnisse gewonnen. Neuerdings werden große Bodenflächen in der Größe von vielen Quadratkilometern der Landwirtschaft entzogen und ganze Ortschaften dem Erdboden gleichgemacht, weil die neuen weittragenden Feuerwaffen und die veränderte Gefechtsweise Schieß- und Exerzierplätze notwendig machen, auf denen ganze Armeekorps zu manövrieren vermögen. Dies hört künftig ebenfalls auf.

 

Das große Gebiet der Boden-, Wald- und Wasserbewirtschaftung ist längst Gegenstand der Erörterung einer sehr umfänglichen Literatur. Kein Gebiet ist unberührt geblieben: Forstwirtschaft, Be- und Entwässerung, Kultur von Halm-, Hülsen- und Knollenfrüchten, Gemüsebau, Obst-, Beeren-, Blumen- und Zierpflanzenkultur, Anbau von Nahrungspflanzen für die Viehzucht, Wiesenkultur, rationelle Vieh-, Fisch-, Geflügel- und Bienenzucht, Dungstoffe und Dungmittel, Verwertung und Verwendung der Abfallstoffe in der Wirtschaft und in der Industrie, chemische Untersuchung des Bodens und seine Verwendung und Herrichtung für diese oder jene Kultur, Samenbeschaffenheit, Fruchtfolge, Maschinen- und Gerätewesen, zweckmäßige Anlage von Wirtschaftsbaulichkeiten aller Art, Witterungsverhältnisse usw., alles ist in den Kreis wissenschaftlicher Erörterungen und Untersuchungen gezogen. Kein Tag vergeht fast, an dem nicht neue Entdeckungen und Erfahrungen gemacht werden, welche Verbesserungen und Veredlungen für das eine oder andere der verschiedenen Gebiete im Gefolge haben. Die Bodenbewirtschaftung ist seit Thaer und J. v. Liebig eine Wissenschaft geworden, und zwar eine der ersten und wichtigsten Wissenschaften, die einen Umfang und eine Bedeutung erlangte, wie auf wenigen Gebieten materiell produzierender Tätigkeit. Vergleichen wir aber diese ungeheure Fülle von Fortschritten aller Art mit dem wirklichen Zustand unserer Landwirtschaft, so muß festgestellt werden, daß bisher nur ein Bruchteil der Privatbesitzer in der Lage war, einigermaßen die Fortschritte auszunutzen, und alle haben nur ihr Privatinteresse im Auge, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl. Der größte Teil unserer Landwirte, man kann wohl sagen 99 Prozent derselben, ist gar nicht in der Lage, von all den Vorteilen und Fortschritten, welche die Wissenschaft und der Fortschritt der Technik ihnen bietet, Gebrauch machen zu können, es fehlen ihnen die Mittel oder die Kenntnisse oder beides. Hier findet die neue Gesellschaft ein theoretisch und praktisch vorbereitetes Feld vor, auf dem sie nur zu organisieren braucht, um die großartigsten Resultate zu erzielen.

 

4. Großbetrieb und Kleinbetrieb. Die Entwicklung der Elektrokultur

 

Während selbst in sozialistischen Kreisen noch die Meinung vertreten wird, der Kleinbetrieb könne infolge des persönlichen Fleißes seines Leiters und dessen Angehörigen die Konkurrenz mit dem Großbetrieb aufnehmen, ist man in fachmännischen Kreisen längst anderer Ansicht. Mag der Bauer durch Überanstrengung seiner Person und seiner Angehörigen so viel leisten wie er will, schon vom Standpunkt des Kulturmenschen aus ist seine Lage zu bedauern. Das Höchste, was er infolge von Überanstrengung und Entbehrungen leistet, die moderne Technik und die Wissenschaft der Bodenbearbeitung leisten höheres. Vor allen Dingen aber ist die Anwendung von Technik und Wissenschaft allein imstande, auch den Bauern zum vollen Kulturmenschen zu machen, während er heute Sklave seines Besitzes und Helote seines Gläubigers ist.

 

Die Vorteile, die der Großbetrieb in der Landwirtschaft bei rationeller Anwendung aller Vorteile bietet, sind immens. Zunächst bedeutet derselbe eine erhebliche Erweiterung der auszunutzenden Fläche, weil die Unzahl der Fahr- und Fußwege und der Grenzraine verschwindet, die der zerstückelte Besitz erfordert. Durch den Wegfall des letzteren wird ferner eine Unmasse vergeudeter Zeit erspart. Fünfzig beschäftigte Personen im Großbetrieb können, abgesehen von den rationelleren Arbeitsmitteln, mit denen sie arbeiten, sehr viel mehr leisten als fünfzig beschäftigte Personen im Kleinbetrieb. Die Kombinierung und Dirigierung der Arbeitskräfte in der zweckmäßigsten Weise ermöglicht nur der Großbetrieb. Hierzu kommen die gewaltigen Vorteile, welche die Anwendung und Ausnutzung aller möglichen Maschinen und verbesserten Einrichtungen, die industrielle Ausnutzung der Erträge, die rationellere Vieh- und Geflügelzucht usw. ermöglicht. Ganz besonders bietet die Anwendung des elektrischen Betriebs in der Landwirtschaft Vorteile, die jede andere Bearbeitungsmethode in den Schatten stellt.

 

P. Mack stellt fest, daß bei der Einführung der Maschinenarbeit eine Ersparnis von über 5.000 Pferdetagen und bei der einmaligen Ausgabe von zirka 40.000 Mark Kapital eine Verbilligung des Produktes von über 12.000 Mark oder 48 pro Hektar erzielt werde, ohne Berücksichtigung der Mehrerträge bei Einführung der Tiefkultur, sowie der exakteren Kultivierung und Einwirkung durch Maschinen .

 

Der Mehrertrag an Körnern werde bei der Tiefkultur auf 20 bis 40 Prozent angegeben, während die Erträgnisse bei Hackfrüchten sich oftmals um 50 Prozent gesteigert hätten. Nehme man aber nur 20 Prozent Mehrertrag durchschnittlich, so ergebe sich bei dem in Frage stehenden Gut hierfür ein Mehrertrag von 55,45 Mark pro Hektar, was mit der bereits erwähnten Ersparnis zusammen 103,45 Mark pro Hektar ausmache. Nimmt man den Preis des Hektar Grund und Boden um 800 Mark an, so ist das ein Ertraggewinn von 13½ Prozent. Es handelt sich also darum, die nötigen elektrischen Zentralen zu schaffen, mit Hilfe deren der Betrieb unterhalten wird. Alsdann können aber nicht nur alle überhaupt zur Verwendung gelangenden Maschinen in Betrieb gesetzt, sondern auch Heizung und Beleuchtung gewonnen werden. Mit Hilfe der elektrischen Anlagen können außer den Wohnungen und Straßen die Ställe, Scheunen, Keller, Vorratshäuser und Fabrikgebäude mit elektrischer Beleuchtung versehen werden, und wenn die Notwendigkeit es erfordert, kann man bei Nacht ernten. Mack berechnet, daß durch allgemeine Einführung der Elektrizität für den landwirtschaftlichen Betrieb zwei Drittel der bisherigen Arbeitstiere (gleich 1.741.300 Stück) erspart werden könnten, was einen jährlichen Reingewinn von 1.002.989.000 Mark ergeben würde. Rechnet man hiervon die Ausgaben für die elektrische Kraft ab, so verbliebe eine Ersparnis von rund 741.794.000 Mark pro Jahr.

 

Die Anwendung des elektrischen Betriebs gibt der Landwirtschaft immer mehr den Charakter eines rein technisch-industriellen Prozesses. Ein Bild von der mannigfachen Anwendung der Elektrizität im landwirtschaftlichen Betrieb gibt folgende Zusammenstellung :

 

Vom Elektromotor können angetrieben werden: 1. Maschinen, welche den Rohertrag erhöhen: a. für die Bestellung: Getreidereinigungsmaschinen für Saatgut, Trieure, elektrische Pflüge (Entwicklung vollendet); b. für die Ernte: Mähmaschinen mit Selbstbinder (sind in Bearbeitung genommen), Kartoffelerntemaschinen (bestehen in kaum noch zu übertreffender Vollkommenheit), Bewässerungsanlagen. 2. Maschinen, welche die Unkosten vermindern: a. Hebevorrichtungen, Entladevorrichtungen in Scheunen, Elevatoren für die Beförderung von Getreide und Stroh auf die Mieten oder in die Scheunen, sowie des Heues auf den Boden, Sackaufzüge, Jauchepumpen; b. Transportmittel: Transportrinnen und Bänder, sowie Gebläse für die Beförderung der Körner, Feldbahnen, Spille und Winden zum Befördern schwerer Lasten; c. für die Verwertung: Strohpressen, Mahlmühlen, Häckselmaschinen für Verkaufsgut. 3. Die Maschinen der Landindustrie: a. Brennereimaschinen und Maschinen für die Stärkefabrikation, Wasserpumpen für alle Zwecke; b. Molkerei: Milchkühler, Zentrifugen, Butterfässer, Kneter, Pressen usw.; c. Schneidemühlen, Kreissägen und Gattersägen; d. Stellmachereimaschinen, Bandsägen, Bohrmaschinen, Drehbänke, Radmaschinen. 4. Futterbereitungsmaschinen für die Viehzucht: Häckselmaschinen, Rübenschneider, Schrotmühlen, Kartoffel-, Hafer- usw. Quetschen, Wasserpumpen. Nach Ermittlungen sind es bereits 15 Prozent der gesamten Gutsarbeit, welche durchschnittlich auf diese Weise unter ökonomischer Ausnutzung von Zeit und Betriebsmitteln durch den Elektromotor verrichtet werden können.

 

Es wurde der Bedarf an Handarbeit für das Dreschen und Versandfertigmachen von 1.000 Kilogramm Getreide ermittelt:

 

                                                                                  Arbeitsstunden

 

1. Wenn alle Arbeiten von Hand gemacht wurden auf          104

 

2. Wenn kleine Dreschmaschinen mit Göpel und
Reinigungsmaschine angewendet wurden, auf          41,4

 

3. Wenn elektrisch betriebener Dreschkasten mit
20 Pferdestärke-Motor verwendet wird, auf              26,4

 

4. Wenn elektrisch betriebener Riesendreschkasten
mit Ferneinleger, Kaff- und Kurzstrohgebläse,
Strohpresse und Elevator mit 60 Pferdestärke-Motor
betrieben wird, auf                                                    10,5

 

Einer allgemeinen Anwendung des Elektropfluges in landwirtschaftlichen Betrieben steht jetzt nichts mehr im Wege. So wie die elektrischen Transportbahnen haben die elektrisch betriebenen Pflügeapparate bereits einen hohen Grad der Vollkommenheit erlangt. Der schwere und teure Dampfpflug arbeitet nur auf größter Fläche und als Tiefpflug rationell. Er dient vielmehr lediglich dazu, höhere Hackfruchterträgnisse zu erzielen. Dagegen ist der Elektropflug in gleicher Weise für das Tief- und Flachpflügen brauchbar und ist fähig, sich auch das mittlere Wirtschaftsgut zu erobern. Er ermöglicht die Bearbeitung steiler Gehänge, wo selbst der Gespannpflug Schwierigkeiten findet. Er wirkt in hohem Grade arbeitsparend, wie die folgende Zusammenstellung der Pflugkosten bei Anwendung eines Elektropfluges im Vergleich zu Pferden, Ochsen und Dampfpflug zeigt:

 

 

Die leichte Zuführung und Teilbarkeit der elektrischen Energie, die äußerste Vereinfachung in der Bedienung und in der Instandhaltung der elektrischen Maschinen bilden durchschlagende Vorzüge für die Landwirtschaft mit ihren ausgedehnten Flächen, für deren Kraftversorgung ein dünner Draht genügt. Und da die Voraussetzung der Verwendung der elektrischen Maschinen ein Netz von Überlandzentralen, ein planmäßiges elektrisches Netz, so kann sehr leicht der elektrische Betrieb in der Landwirtschaft mit der Elektrokultur, mit direkter Beeinflussung des Pflanzenwachstums durch Elektrizität verbunden sein.

 

In den letzten Jahren waren die Pflanzenphysiologen und neben diesen auch praktische Agronomen auf das eifrigste bemüht, die Wirkungsweise der Elektrizität auf das Wachstum und Befruchten wichtiger Kulturpflanzen, insbesondere unserer Getreidearten zu studieren. Diese Aufgabe ist von dem im Jahre 1906 verstorbenen Professor K. S. Lemström gelöst. Er überspannte größere Flächen Kulturlandes mit einem Drahtnetz, dem er in den meisten Fällen mittels Influenzmaschinen eine positive Ladung gab, während der negative Pol an der Erde lag, und ließ eine dunkle Entladung während der ganzen Vegetationsperiode oder eines Teiles derselben auf ein solches Versuchsfeld einwirken, während ein gleich gelegenes Kontrollfeld unbeeinflußt blieb. Die Versuche wurden in den verschiedensten Breiten angestellt und ergaben bei richtiger Behandlung übereinstimmend einerseits eine Vermehrung des Ernteertrags, welche zwischen 30 und über 100 Prozent schwankte, zweitens eine Verkürzung der Dauer des Reifens und endlich eine wesentliche Verbesserung der Qualität. Bei dieser Methode machte sich aber noch eine Reihe praktischer Bedenken geltend, die Newman, ein englischer Landwirt, zu beseitigen verstand. Diesem gelang es, den berühmten englischen Physiker Oliver Lodge für die Lemströmsche Methode zu interessieren. Nach einem neueren Bericht von Lodge, der die bisher gebrauchte Influenzmaschine durch eigens gestaltete Quecksilbergleichrichter ersetzte, sind nun diese Versuche in den aufeinanderfolgenden Jahren 1906 bis 1908 auf eine beeinflußte Fläche von 10 Hektar ausgedehnt worden und dabei der wichtige Nachweis erbracht worden, daß das Drahtnetz eine Höhe von 5 Meter über dem Erdboden haben darf, ohne der günstigen Wirkung auf Ernteertrag Abbruch zu tun. Dies ist eine Höhe, welche es erlaubt, hochbeladene Erntewagen darunter bequem fahren zu lassen und überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten, wie Bearbeiten der Hackfrüchte, ohne Störung zu gestatten, während nach Lemström das Drahtnetz nicht weiter als 40 Zentimeter von den zu beeinflussenden Pflanzen entfernt sein sollte . Verschiedene Müller stellten vergleichende Backversuche an und fanden, daß der elektrisierte Weizen ein viel besseres Backmehl abgab als der nichtelektrisierte. Somit ist das neue Verfahren reif, um in die Praxis der Landwirtschaft und des Gartenbaues mit Erfolg überführt zu werden.

 

Der Fowlersche Dampfpflug mit zwei Compoundlokomotiven bedarf, um zweckmäßig ausgenutzt zu werden, eines Areals von 5.000 Hektar, das heißt mehr Fläche als die Ackerfläche der meisten Bauerngemeinden beträgt. Man berechnet, daß wenn zum Beispiel das im Jahre 1895 vorhandene Kulturland mit Anwendung der verschiedensten Maschinen und aller sonstigen Vorteile bewirtschaftet wurde, eine Ersparnis von 1.600 Millionen Mark erzielt worden wäre. Nach Ruhland würde eine erfolgreiche Bekämpfung der Getreidekrankheiten allein schon genügen, um die jetzige Getreideeinfuhr Deutschlands überflüssig zu machen. In der Broschüre "Unsere Wiesen- und Feldkräuter" von Dr. med. Sonnenberg in Worms wird mitgeteilt, daß nach einer amtlichen Enquete in Bayern die bayerische Landwirtschaft durch die Verunkrautung ihrer Felder einen Ernteverlust von 30 Prozent pro Jahr habe. Auf zwei Flächen von je vier Quadratmetern, von welchen die eine verunkrautet, die andere unkrautfrei war, fand Nowatzki folgende Resultate:

 

                                                Halme   Körner   Strohertrag

 

Auf der verunkrauteten Fläche             216        180  239 Gramm

 

Auf der unkrautfreien Fläche   423       528        1.077 Gramm

 

Dr. v. Rümker, Professor an dem landwirtschaftlichen Institut der Universität Breslau, erklärt, daß die Führung eines sorgfältigen Bodennährstoffhaushaltes auf Grundlage der Statistik des Landbaues so gut wie ganz in Deutschland fehle. Die Fruchtsaat sowie die Bodenbearbeitung finde oft rein schematisch, gedankenlos und mit so unvollkommenen und unpassenden Werkzeugen statt, daß der Ertrag der Mühe und Arbeit ein geringer bleiben muß. Nicht einmal die leichte Arbeit einer rationellen Saatgutsortierung werde von den deutschen Landwirten geübt. Professor v. Rümker zeigt an nachstehender Tabelle, in welcher Weise durch Sortierung des Samens der Ertrag pro Hektar gesteigert werden könnte:

 

 

Der Mehrertrag durch die Sortierung beträgt also nach der Tabelle 1.200 Kilogramm Korn pro Hektar, der, mit 15 Mark pro Doppelzentner bewertet, einen Geldwert von 180 Mark repräsentiert. Wenn die Sortierungskosten pro Hektar mit höchstens 4,40 Mark berechnet werden, so bleibt noch eine bare Reineinnahme aus der Verwertung des Korns allein von 1 75,60 Mark pro Hektar übrig, ohne den Mehrertrag für Stroh und Spreu mit in Anschlag zu bringen. Aus einer Reihe von Anbauversuchsergebnissen ermittelte Rümker ferner, daß man durch Auswahl der für jede Örtlichkeit ertragreichsten Sorte durchschnittlich mehr ernten und die Roheinnahmen verbessern könnte bei:

 

 

Nehmen wir den Mehrertrag durch die Sortierung des Saatgutes und durch richtige Auswahl der Sorte für Weizen zusammen, so könnte allein bei der Weizenproduktion der Ertrag um 1.500 bis 2.000 Kilogramm Korn oder um 220 bis 295 Mark pro Hektar gesteigert werden.

 

In einer Schrift "Die Zukunft der deutschen Landwirtschaft" wird nachgewiesen, welche gewaltigen Mehrerträge für alle landwirtschaftlichen Produkte erzielt werden könnten, wenn durch reichliche und sachgemäße Düngung – Zuführung mineralischen Düngers: Superphosphat und Thomasmehldüngung, Kainit und Phosphorsäure – der Boden ertragreicher gemacht wird. Vom deutschen Weizenboden könne alsdann sehr wohl ein Durchschnittsertrag von 36 Doppelzentner, vom Roggenboden von 24 Doppelzentner pro Hektar gewonnen werden. Auch würde ein beträchtlicher Teil des jetzigen Roggenlandes durch bessere Düngung und Bearbeitung zur Weizenproduktion ausgenutzt werden können, so daß sich der Durchschnittsertrag vom Ackerland an Brotgetreide – zwei Fünftel Weizen, drei Fünftel Roggen – auf 28,8 Doppelzentner pro Hektar beziffern könnte. Nach Abzug für Saatgut und geringwertiges Getreide blieben für die Volksernährung 26 Doppelzentner übrig. Die 7,9 Millionen Hektar, die zurzeit mit Brotgetreide bestellt würden, könnten noch um 1,5 Millionen Hektar von Weideland, Brache und Ödland – Heide und Moore – vermehrt werden, so daß bei einem Durchschnittsertrag von 26 Doppelzentner pro Hektar und bei einer Anbaufläche von 9,4 Millionen Hektar eine Produktion von 251,92 Millionen Doppelzentner Brotgetreide erzielt werden könnte. Bei einem Jahreskonsum von 175 Kilogramm pro Kopf würde dann für 144 Millionen Menschen Brotgetreide geliefert werden können. Bei der Volkszählung im Jahre 1900 hatte Deutschland rund 56.345.000 Einwohner, es könnte also schon bei dem damaligen Stande der Technik und Wissenschaft der deutsche Boden sogar die zweiundeinhalbfache Bevölkerungszahl mit Brotgetreide versehen. Bei der gegenwärtigen Wirtschaftsweise des zerstückelten Privatbesitzes ist Deutschland genötigt, durchschnittlich ein Neuntel seines Bedarfs an Brotgetreide vom Ausland einzuführen. Sollten unter der gegenwärtigen Wirtschaftsweise auch nur annähernd ähnliche Erträge erzeugt werden, so bedingte das so hohe Lebensmittelpreise, daß die Mehrzahl der Menschen sie nicht erschwingen könnte, womit der Zweck nicht erreicht würde. Nur bei kommunistischem Betrieb auf größter Stufenleiter lassen sich diese Resultate erzielen, woran die genannten Verfasser natürlich nicht denken. Nach einer von ihnen aufgestellten Berechnung würden bei Durchführung intensiver Kultur in der deutschen Landwirtschaft mehr erlangt werden können (in Millionen Doppelzentner):

 

An Brotgetreide                                 145,1

 

An Kartoffeln                                   444,0

 

An Hafer, Gerste, Erbsen und Bohnen           78,7

 

An Wiesenheu                                  146,2

 

An Heu- und Futterfelder                  110,0

 

An Futterrüben                                  226,0

 

Ziehen wir aber in Betracht, daß nach den weiter oben ausgeführten Vorschlägen von Mack durch Einführung des elektrischen Betriebs eine sehr große Zahl von Arbeitstieren erspart würden, so könnte die Schlachtviehzucht sehr erheblich gesteigert oder das dafür nötige Land anderweit mit Nahrungsmitteln für Menschen angebaut werden.

 

Ein anderes Gebiet landwirtschaftlicher Tätigkeit, das in ganz anderem Maße ausgebeutet werden kann, ist die Zucht von Federvieh und die Eiergewinnung. Der Wert der jährlich in Deutschland eingeführten Eier beläuft sich auf 149,7 Millionen Mark (1907) und an lebendem Federvieh auf über 40 Millionen Mark. Auf diesen verschiedenen Gebieten befinden sich Zucht- und Kultureinrichtungen noch sehr im Rückstand. Im weiteren wird die mit dem konzentrierten Großbetrieb verbundene Konzentration der Stallungen, der Vorratshäuser aller Art, der Kellereien, der Futter- und Fütterungseinrichtungen, der Düngerstätten nicht nur abermals eine große Zeit-, Kraft- und Materialersparnis bedeuten, sie werden auch in bezug auf rationelle Ausnützung Vorteile gewähren, die der Klein- und Mittelbetrieb gar nicht, der Großbetrieb nur selten genießt. Wie dürftig sind zum Beispiel die hygienischen Einrichtungen in der großen Mehrzahl der Stallungen, wie mangelhaft die Futtereinrichtungen und die Behandlung des Vieh- und Geflügelstapels. Daß Reinlichkeit, Licht und Luft den Tieren ebenso nötig sind wie den Menschen und auf ihr Befinden günstig einwirken, ist eine dem Bauer des zwanzigsten Jahrhunderts noch wenig bekannte Tatsache. Daß damit die Gewinnung und Erzeugung von Milch, Butter, Käse, Eiern, Honig, Fleisch unter viel rationelleren, gesünderen und vorteilhafteren Verhältnissen vor sich gehen wird, ist selbstverständlich.

 

Mit der geschickten Verbindung und Ausnutzung der vorhandenen Menschen- und maschinellen Kräfte wird aber außer der Bestellung auch die Aberntung der Felder in bisher nicht geahntem Maße betrieben werden können. Die Anlegung großer Schutzhallen, Trockenhäuser usw. wird die Ernte bei jeder Witterung ermöglichen, und die rasche Einbringung derselben wird die enormen Verluste vermeiden lassen, die jetzt so häufig vorkommen. So gehen nach v. d. Goltz in einer einzigen ungünstigen Erntezeit in Mecklenburg für 8 bis 9 Millionen Mark, im Regierungsbezirk Königsberg für 12 bis 15 Millionen Mark Ernteerträge zugrunde.

 

5. Weinbau der Zukunft

 

Auch die Obst-, Beeren- und Gartenbaukultur wird in der Zukunft eine bisher kaum für möglich gehaltene Entwicklung erlangen und ihren Ertrag vervielfältigen. Wie sehr noch bei uns in bezug auf Obstzucht gesündigt wird, obgleich gerade Deutschland für Obst- und speziell für die Apfelzucht ein besonders günstiges Klima besitzt, geht daraus hervor, daß jährlich für mehr als 40 Millionen Mark frisches Obst und für mehr als 20 Millionen gedörrtes Obst eingeführt wird. Ein Blick auf den schlechten Zustand unserer Obstbäume im weitaus größten Teile Deutschlands und selbst in Ländern, die durch ihren Obstbau einen Namen haben, wie Württemberg, läßt dies begreiflich erscheinen. Hier ist ein großes Feld für landwirtschaftlich-gärtnerische Tätigkeit. Ähnlich steht es mit der Beerenkultur, die erst in ihren Anfängen steckt.

 

Durch Anwendung künstlicher Wärme und Feuchtigkeit in großen, geschützten Hallen wird die Gemüse-, Obst- und Beerenzucht im großen zu jeder Jahreszeit ausführbar. Die Blumenläden unserer Großstädte weisen mitten im strengsten Winter einen Blumenflor auf, der mit jenem, den sie im Sommer besitzen, wetteifert. Einen der großartigsten Fortschritte auf dem Gebiete der künstlichen Obstzucht liefert zum Beispiel der künstliche "Weinberg" des Gartendirektors Haupt in Brieg in Schlesien, der mittlerweile eine große Reihe Nachahmer gefunden hat und Vorgänger in anderen Ländern längst schon besaß, zum Beispiel in England. Die Einrichtung und die Resultate desselben wurden in der "Vossischen Zeitung" vom 27. September 1890 so verlockend geschildert, daß diese Schilderung auszugsweise hier folgen mag. Das Blatt schrieb:

 

"Auf einer annähernd quadratischen Bodenfläche von 500 Quadratmetern, das heißt ein Fünftel Morgen, ist das Glashaus von 4,5 bis 5 Meter Höhe errichtet, dessen Wände genau nach Norden, Süden, Osten, Westen orientiert sind. In der Richtung von Süden und Norden sind darin zwölf Reihen Doppelspaliere, je 1,8 Meter jedes vom anderen entfernt, aufgestellt, welche zugleich dem flach geneigten Dache als Stütze dienen. In ein Erdbeet von 1,25 Meter Tiefe über einer 25 Zentimeter starken Schüttlage, welche ein Netz von Drainröhren mit Vertikalröhren zur Bodenventilation enthält, ein Beet, dessen sehr schwere Betten durch Zufuhr von Kalk- und Bauschutt, Sand, verrottetem Dünger, Knochenmehl und Kalisalz locker, durchlässig und fruchtbar gemacht sind, pflanzte Herr Haupt an jenen Doppelspalieren dreihundertundsechzig Weinstöcke von solchen Sorten, welche im Rheingau die edelsten Rebensäfte liefern, also: weißen und roten Riesling, Traminer, weißen und blauen Muskateller und Burgunder.

 

Die Ventilation des Raumes wird außer durch mehrere Öffnungen in den Seitenwänden durch 20 Meter lange große Klappen im Dache bewerkstelligt, welche durch eine eiserne mit Schraubenspindel und Kurbel versehene Hebelvorrichtung geschlossen und geöffnet und in jeder Lage sturmsicher festgestellt werden können. Zur Bewässerung der Stöcke dienen 26 Brausen, die an 1,25 Meter langen, von einer Hochwasserleitung herunterhängenden Gummischläuchen befestigt sind. Doch noch ein anderes, wahrhaft geistreich erfundenes Mittel zur raschen und gründlichen Bewässerung führte Herr Haupt in seiner ›Weinhalle‹ und seinem ›Weinberge‹ ein: den künstlichen Regenerzeuger. In der Höhe unter dem Dache liegen vier lange kupferne Rohrstränge, die in Entfernungen von einem halben Meter fein gelocht sind. Die durch die Öffnungen nach oben austretenden aufsteigenden feinen Wasserstrahlen treffen gegen kleine runde Siebe aus Fenstergaze und werden beim Durchtritt durch dieselben zu feinen Fontainen zerstäubt: ein tüchtiges Durchspritzen mittels der Gummischläuche erfordert immer einige Stunden; aber nur einen Hahn braucht man zu öffnen und im ganzen weiten Hause rieselt ein sanfter, erfrischender Regen aus der Höhe auf Rebstöcke, Erdreich und Granitplattenstege gleichmäßig hernieder. Die ohne jede etwaige künstliche Heizung einzig durch die natürlichen Eigenschaften des Glashauses bewirkte Steigerung der Temperatur läßt sich auf 8 bis 10 Grad Reaumur über die der äußeren Luft bringen. Um die Stöcke vor dem verderblichsten und dem gefährlichsten Gegner, der Reblaus, falls sie sich einmal zeigen sollte, zu schützen, genügt es, die Drainröhren zu schließen und alle Hähne der Wasserleitung zu öffnen. Der dadurch bewirkten Unterwassersetzung der Stöcke widersteht dieser Feind bekanntlich nicht. Gegen Sturm, Kälte, Fröste, überflüssigen Regen schützen den künstlichen Weinberg Glasdach und Wände; gegen etwaigen Hagelschlag seine Drahtgitter über denselben; gegen Dürre und Trockenheit die künstliche Regenvorrichtung. Der Winzer eines solchen ›Weinbergs‹ ist sein eigener Wettermacher und kann der Gefahren aller der unberechenbaren Launen und Tücken der ›gleichgültigen‹ oder grausamen Natur lachen, welche die Frucht aller Mühen und Arbeiten des Weinbauers mit Vernichtung bedrohen.

 

Was Herr Haupt erwartet hatte, traf vollkommen ein. Die Weinstöcke gediehen in dem gleichmäßigen warmen Klima vortrefflich. Die Trauben reiften bis zur vollen Edelreife aus und ergaben schon im Herbst 1885 einen Most, der an reichlichem Zucker- und geringem Säuregehalt den im Rheingau allgemein erzielten Mosten nicht nachstand. Ebenso gediehen die Trauben im nächsten Jahre und in dem ungünstigen Jahre 1887 vortrefflich. In diesem Raume lassen sich, wenn die Stöcke ihre volle Höhe von 5 Meter erreicht haben und bis zur Spitze Trauben in strotzender Fülle tragen, jährlich etwa 20 Hektoliter Wein erzeugen und die Selbstkosten einer Flasche edeln Weines werden nicht mehr als 40 Pfennig betragen.

 

Kein Umstand ist abzusehen, welcher den vollständig fabrikmäßigen Betrieb dieses neuen, die höchsten und gleichmäßigsten Erträge verheißenden Weinbaues im großen verhindern könnte. Glashäuser von solcher Art wie hier über einer Bodenfläche von 1/5 Morgen lassen sich mit gleichen Ventilations- und Bewässerungs-, Drainage- und Regeneinrichtungen zweifellos auch über morgengroßen Grundstücken errichten. Auch in ihnen wird die Vegetation schon einige Wochen früher beginnen als im Freien, werden die Reben gegen Maifröste, Regen, Kälte während der Blüte, gegen Dürre während des Wachstums der Beeren, gegen naschende Vögel und Traubendiebe, gegen Nässe während des Reifens, gegen die Reblaus während des ganzen Jahres geschützt sein und bis November, Dezember am Stocke hängen. In seinem 1888 dem ihn besuchenden Verein zur Beförderung des Gartenbaus gehaltenen Vortrag, dem ich in dieser Schilderung des Hauptschen ›Weinbergs‹ manches Technische entnommen habe, eröffnete der Erfinder und Begründer desselben zum Schluß noch diese lockende Perspektive in die Zukunft: Da nun dieser Weinbau in ganz Deutschland, namentlich aber auch auf sonst unfruchtbarem, sandigem und steinigem Boden (wie zum Beispiel dem schlechtesten märkischen), der urbar gemacht und bewässert werden kann, möglich ist, so erhellt daraus das große Landeskulturinteresse, welches der ›Weinbau unter Glas‹ bietet. Ich möchte diese Kultur als ›Weinbau der Zukunft‹ bezeichnen."

 

Der Verfasser schildert dann, wie auch der aus den Trauben gewonnene Wein das höchste Lob der Sachkenner gefunden habe, und fügt hinzu: "daß der Weinberg auch noch genügenden Raum zum gleichzeitigen Betriebe anderer lohnender Neben- oder Zwischenkulturen gewähre. So ziehe Herr Haupt zwischen je zwei Rebstöcken noch immer einen Rosenstock, der im April und Mai die reichste Blütenfülle biete, und an den Ost- und Westwänden Pfirsische an Spalieren, deren Blütenpracht im April dem Innern dieses gläsernen Weinpalastes ein Aussehen von märchenhaftem Reiz verleihen muß". Neuerdings ist es insbesondere Belgien, das dieser Art Obstzucht große Aufmerksamkeit schenkt. Aber auch in Deutschland ist diese Kulturmethode in größerem Umfang vorhanden, zum Beispiel für die Zucht von Ananas.

 

Nichts hindert, daß ähnliche Anlagen noch in viel großartigerem Maßstabe für die verschiedensten Kulturen eingerichtet werden, so daß wir uns für viele Bodenprodukte den Luxus einer doppelten und dreifachen Ernte verschaffen können. Heute sind diese Unternehmungen in erster Linie eine Frage der Rentabilität, und ihre Produkte sind nur den Privilegierten der Gesellschaft zugängig, die sie bezahlen können. Eine sozialistische Gesellschaft kennt keine andere Frage als die nach genügenden Arbeitskräften, und sind diese vorhanden, so wird das Werk zum Vorteil aller vollbracht.

 

6. Maßnahmen gegen Bodenerschöpfung

 

So sehen wir, wie schon unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine vollständige Umwandlung in den Ernährungsverhältnissen sich anbahnt. Die Ausnutzung aller dieser Entdeckungen ist aber eine äußerst langsame, weil mächtige Klassen – das Agrariertum und seine sozialen und politischen Stützen – aufs lebhafteste dabei interessiert sind, sie nicht aufkommen zu lassen. Man betet zwar im Frühjahr allsonntäglich in allen Kirchen um eine gute Ernte, aber unter demselben stillen Vorbehalt, mit dem Gläubige zu dem heiligen Florian beten sollen: Heiliger Florian, schütz' mein Haus, zünd' andere an. Ist nämlich die Ernte in allen Ländern eine gute, so sinken mächtig die Preise und davor empfindet der Agrarier ein Grauen. Ihm schadet, was allen andern nützt und so ist er ein stiller Gegner jeder Erfindung oder Entdeckung, die nicht nur ihm, sondern auch anderen Vorteil bringt. Unsere Gesellschaft ist überall im Widerspruch mit sich selbst.

 

Die Erhaltung des Grund und Bodens in fruchtbarem Zustande und die Steigerung desselben hängt in erster Linie von genügenden Dungstoffen ab. Die Gewinnung derselben ist also auch für die neue Gesellschaft eine der wichtigsten Aufgaben . Dünger ist für den Boden, was für den Menschen die Nahrung, und zwar ist für den Boden ebensowenig jeder Dünger gleichwertig, wie für den Menschen jede Nahrung gleich nahrhaft ist. Es müssen dem Boden genau diejenigen chemischen Bestandteile zugeführt werden, die er durch die Entnahme einer Ernte eingebüßt hat, und es müssen ihm solche chemische Bestandteile in verstärktem Quantum zugeführt werden, die der Anbau einer bestimmten Pflanzengattung vorzugsweise erfordert. Daher wird das Studium der Chemie und ihre praktische Anwendung eine heute noch ungekannte Ausdehnung erlangen.

 

Nun enthalten die tierischen und menschlichen Abfallstoffe die chemischen Bestandteile, die für die Wiedererzeugung menschlicher Nahrung geeignet sind. Es muß also die vollkommenste Gewinnung und zweckmäßigste Verteilung derselben zu erlangen gesucht werden. Darin wird gegenwärtig sehr viel gesündigt. Besonders sind es die Städte und Industrieorte, die massenhaft Nahrungsmengen zugeführt erhalten, aber die kostbarsten Auswurf- und Abfallstoffe nur zum allergeringsten Teile dem Boden wieder zuführen. Die Folge ist, daß die von Städten und Industrieorten entfernter gelegenen Güter, die jährlich den größten Teil ihrer Produkte in dieselben führen, empfindlich an Dungstoffen Mangel leiden – denn oftmals genügen die Dungstoffe des auf den Gütern vorhandenen Menschen- und Viehbestandes nicht, weil dieser Bestand nur einen Teil der Bodenernte konsumiert – und so griffe ein Raubbausystem Platz, das den Boden entkräftete und die Ernten verminderte, würde nicht durch Zufuhr künstlichen Düngers ersetzt, was an natürlichem fehlt. Alle Länder, die Bodenprodukte ausführen, aber keine Dungstoffe zurückerhalten, gehen früher oder später notwendig an Bodenverarmung zugrunde, so Ungarn, Rußland, die Donaufürstentümer usw.

 

Liebig entwickelte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Lehre vom Stoffersatz für den Ackerboden, daraus folgte die Anwendung der konzentrierten Düngemittel. Schulze-Lupitz wies nach, daß, obgleich gewisse Pflanzen keine Stickstoffdüngung erhielten, sie dennoch den Boden an Stickstoff bereicherten, ein Phänomen, dessen Erklärung und Lösung Hellriegel zufiel. Dieser zeigte, daß es die Milliarden Bazillen sind, welche die Symbiose mit gewissen Hülsenfrüchten den Stickstoff der Luft unmittelbar den Pflanzen zum Aufbau verschaffen . Wenn die Agrikulturchemie seit Liebig die eine Seite des wissenschaftlichen Bodenbaues bildet, so die Agrikulturbakteriologie die andere Seite. Obendrein besitzt Deutschland in seinen Kali- und Kainitlagern, im Thomasmehl, dem Superphosphat und der Phosphorsäure eine Reihe unerschöpflicher mineralischer Düngequellen, deren richtige Anwendung mit zweckmäßiger Bearbeitung des Grund und Bodens enorme Quantitäten an Nahrungsstoffen zu erzeugen ermöglicht.

 

Von der Bedeutung dieser verschiedenen künstlichen Düngemittel liefert die Angabe eine Vorstellung, daß Deutschland im Jahre 1906 davon für etwa 300 Millionen Mark verbrauchte, darunter schwefelsaures Ammoniak für 58,3 Millionen, Chilesalpeter für 120, während der Rest auf Thomasmehl und Superphosphat, Kaliumsalze, Guano und Sonstiges fällt. Von diesen Düngemitteln ist das wichtigste die Stickstoffdüngung. Wie außerordentlich groß ihre Einwirkung ist, zeigt folgende Angabe. Während nach den Untersuchungen Wagners der Haferertrag gegenüber Volldüngung auf einem hessischen Boden bei Phosphorsäuremangel um 17 Prozent, bei Kalimangel um 19 Prozent zurückging, sank er bei Stickstoffmangel um 89 Prozent. Im Mittel aller Versuche und Versuchsjahre wurde, auf ein Jahr und einen Hektar berechnet, an Reingewinn erhalten: 96 Mark, wenn Volldüngung gegeben war, 62 Mark, wenn an der Volldüngung das Kali fehlte, 48 Mark, wenn an der Volldüngung die Phosphorsäure fehlte, 5 Mark, wenn an der Volldüngung der Stickstoff fehlte. Es ist berechnet worden, daß, wenn Deutschland seine Stickstoffdüngung verdoppeln würde, es nicht nur seinen gesamten Bedarf an Getreide und Kartoffeln decken, sondern noch erhebliche Mengen für den Export erübrigen könnte. Und die Hauptquelle dieses wertvollsten Düngemittels, die Salpeterlager Chiles, genau so wie die Guanolager, gehen rasch ihrer Erschöpfung entgegen, während der Bedarf an Stickstoffpräparaten – in Deutschland, Frankreich, England und in den letzten zehn Jahren auch in den Vereinigten Staaten von Amerika – immer größer wird. Der englische Chemiker William Crookes hat schon im Jahre 1899 diese Frage aufgeworfen und bezeichnete sie als eine Angelegenheit von weit größerer Bedeutung als die Möglichkeit einer nahen Erschöpfung der britischen Kohlenfelder. Als die Hauptaufgabe der Chemie betrachtete er demnach die Lösung des Problems, Stickstoffdüngemittel aus dem ungeheuren Stickstoffreservoir der Luft zu fabrizieren. Man bedenke nur, daß das über einen Quadratzentimeter Boden befindliche Luftquantum rund ein Kilogramm wiegt und daß vier Fünftel hiervon Stickstoff sind, woraus sich berechnet, daß der Stickstoffgehalt der irdischen Atmosphäre rund 4.000 Millionen Tonnen beträgt. Dem steht ein jetziger jährlicher Verbrauch von Salpeter entsprechend rund 300.000 Tonnen Stickstoff gegenüber. Wenn also überhaupt kein Ersatz des Stickstoffs stattfände, so würde seine chemische Bindung genügen, um den heutigen Salpeterbedarf der Welt während mehr als 14.000 Millionen Jahren zu decken.

 

Und diese Aufgabe ist heute gelöst. Schon im Jahre 1899 stellten A. Frank und N. Caro durch Einwirkung von atmosphärischem Stickstoff und Kalziumkarbid (Kalk und Kohle) bei hoher Temperatur Kalziumzyanamid her, welches in der rohen Masse 14 bis 22 Prozent Stickstoff enthält. Das neue Düngemittel ist unter dem Namen Kalkstickstoff in den Handel gebracht. Aber dieses Verfahren ist nicht das einzige. Den Norwegern C. Birkeland und S. Eyde ist es im Jahre 1903 gelungen, den Luftstickstoff unmittelbar durch Verbrennung auf elektrischem Wege in Salpetersäure überzuführen. Das zweite Verfahren liefert ein Produkt, das dem Chilisalpeter in jeder Beziehung ebenbürtig, auf gewissen Bodenarten sogar überlegen ist. Seit einigen Jahren ist er auf dem deutschen Düngermarkt als Norgesalpeter eingeführt. Und im Jahre 1905 gelang es Otto Schönherr, ein Verfahren aufzufinden, welches sich im Vergleich zu demjenigen von Birkeland-Eyde als technisch noch vorteilhafter darstellt. Es erfordert außer der elektrischen Kraft nur die allerbilligsten Materialien, nämlich Wasser und Kalkstein. Dagegen hat man zur Erzeugung von Kalkstickstoff auch noch Kohle nötig, und der erforderliche Stickstoff kann nicht in der Form von Luft angewendet, sondern muß aus dieser eigens abgetrennt werden. Somit ist der Landwirtschaft ein neues Düngemittel zugeführt, das auf dem Wege eines rein technisch-industriellen Prozesses hergestellt wird und in unermeßlichen Mengen zur Verfügung steht .

 

Nach A. Müller scheidet ein gesunder, erwachsener Mensch durchschnittlich jährlich 48,5 Kilogramm feste und 438 Kilogramm flüssige Exkremente aus. Diese Stoffe repräsentieren nach dem heutigen Stande der Düngerpreise, wenn sie ohne Wertverluste durch Ausdünstungen usw. verwendet werden können, einen Geldwert von zirka 5,15 Mark. Die große Schwierigkeit, diese Stoffe voll auszunutzen, liegt wesentlich an der Herstellung zweckmäßiger, umfassender Sammelvorrichtungen und in den hohen Transportkosten. Ein großer Teil der Exkremente aus den Städten wird unseren Flüssen und Strömen zugeführt und verschmutzt dieselben. Ebenso werden die Abfälle der Küche, der Gewerbe und Industrien, die ebenfalls als Dünger verwendbar sind, meist leichtfertig vergeudet.

 

Die neue Gesellschaft wird Mittel und Wege finden, dieser Verschwendung zu begegnen. Sie wird diese Frage leichter lösen, und zwar auch dadurch, daß die großen Städte allmählich aufhören zu existieren, indem die Bevölkerung sich dezentralisiert.

 

7. Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land

 

Unsere heutige Großstädtebildung wird niemand für ein gesundes Produkt ansehen. Das herrschende Industrie- und Wirtschaftssystem zieht beständig große Massen der Bevölkerung nach den größeren Städten . Dort ist der Hauptsitz der Industrie und des Handels, dort laufen die Verkehrswege zusammen, dort sitzen die Inhaber der großen Vermögen, die Zentralbehörden, die Militärkommandos, die höheren Gerichte. Dort gibt es die großen Bildungsanstalten, die Künstlerakademien, die großen Vergnügungs- und Unterhaltungsorte, Ausstellungen, Museen, Theater, Konzertsäle usw. Tausende zieht der Beruf, Tausende das Vergnügen, noch mehr Tausende die Hoffnung auf leichteren Verdienst und angenehmeren Lebensunterhalt hin.

 

Aber diese Großstadtbildung macht, bildlich gesprochen, den Eindruck eines Menschen, dessen Bauchumfang beständig zunimmt, wohingegen die Beine immer dünner werden und schließlich die Last nicht mehr tragen können. In unmittelbarer Nähe dieser Städte nehmen sämtliche Dörfer ebenfalls einen städtischen Charakter an, in denen sich das Proletariat ansammelt. Die meist vermögenslosen Gemeinden müssen die Steuerkraft aufs äußerste anspannen und können dennoch den gestellten Anforderungen nicht genügen. Sind sie schließlich an die Großstadt und diese an sie herangerückt, so fliegen sie wie ein der Sonne zu nahe gekommener Planet in diese hinein. Aber damit werden die gegenseitigen Lebensbedingungen nicht verbessert. Diese werden vielmehr immer ungünstiger durch die Anhäufung der Massen in überfüllten Wohnräumen. Diese in der gegenwärtigen Entwicklung notwendigen, gewissermaßen die Revolutionszentren bildenden Massenansammlungen haben in der neuen Gesellschaft ihren Zweck erfüllt. Ihre allmähliche Auflösung ist notwendig, indem jetzt umgekehrt die Bevölkerung von den großen Städten auf das Land wandert, dort neue, den veränderten Verhältnissen entsprechende Gemeinden bildet und ihre industrielle Tätigkeit mit der landwirtschaftlichen verbindet.

 

Sobald die Stadtbevölkerung durch Ausgestaltung der Verkehrsmittel, der Produktionseinrichtungen usw. die Möglichkeit hat, alles, was sie an gewohnten Kulturbedürfnissen besitzt, auf das Land zu übertragen, dort ihre Bildungsanstalten, Museen, Theater, Konzertsäle, Bibliotheken, Gesellschaftslokale usw. wiederzufinden, wird die Wanderung beginnen. Das Leben wird die Annehmlichkeiten der bisherigen Großstadt ohne ihre Nachteile erlangen. Die Bevölkerung wird weit gesünder und angenehmer wohnen. Die Landbevölkerung wird sich an der Industrie, die Industriebevölkerung an dem Acker- und Gartenbau beteiligen, eine Abwechslung in der Beschäftigung, die gegenwärtig nur wenig Menschen genießen und meist nur unter der Bedingung eines Übermaßes von Arbeitszeit und Anstrengung.

 

Wie auf allen Gebieten, so arbeitet auch auf diesem die bürgerliche Welt dieser Entwicklung vor, indem von Jahr zu Jahr immer mehr industrielle Unternehmungen auf das Land siedeln. Die ungünstigen Lebensbedingungen der Großstadt, teure Mieten, höhere Löhne zwingen viele Unternehmer zu dieser Übersiedlung. Andererseits werden die Großgrundbesitzer immer mehr Industrielle (Zuckerfabrikanten, Schnapsbrenner, Bierbrauer, Zement-, Tonwaren-, Ziegel-, Holzbearbeitungs-, Papierfabrikanten usw.). Auch wohnen schon heute Zehntausende in den Vororten der großen Städte, denen die Beförderungsmittel diese Wohnweise ermöglichen.

 

Durch die Dezentralisierung der Bevölkerung wird auch der gegenwärtig bestehende Gegensatz zwischen Land- und Stadtbevölkerung verschwinden.

 

Der Bauer, dieser moderne Helote, der bisher in seiner Vereinsamung auf dem Lande von aller höheren Kulturentwicklung abgeschnitten war, wird jetzt ein freier Mensch, weil er im vollsten Maße Kulturmensch wird . Des Fürsten Bismarck einstmaliger Wunsch, die großen Städte vernichtet zu sehen, wird erfüllt, aber in einem anderen Sinne, als er erwartete .

 

Dreiundzwanzigstes Kapitel - Aufhebung des Staates

 

Überblicken wir die bisherige Darlegung, so finden wir, daß mit der Aufhebung des Privateigentums an den Arbeitsmitteln und mit ihrer Umwandlung in gesellschaftliches Eigentum allmählich die Menge der Übel verschwindet, welche die bürgerliche Gesellschaft auf Schritt und Tritt uns zeigt und immer unerträglicher werden. Die Herrschaft einer Klasse hört auf, die Gesellschaft wendet ihre gesamte Tätigkeit nach selbstgegebenem Plane an und leitet und kontrolliert sich selbst. Wie durch Aufhebung des Lohnsystems, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, so wird dem Schwindel und Betrug, der Nahrungsmittelverfälschung, dem Börsentreiben usw. jeder Boden entzogen. Die Hallen der Mammonstempel stehen leer, denn Staatspapiere, Aktien, Schuld- und Pfandbriefe, Hypothekenscheine usw. sind Makulatur geworden. Das Schillersche Wort: "Unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt", hat reale Wirklichkeit erlangt, und das biblische Wort: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", gilt nunmehr auch für die Helden der Börse und die Drohnen des Kapitalismus. Indes die Arbeit, die sie als gleichberechtigte Glieder der Gesellschaft zu leisten haben, wird sie nicht erdrücken und wird ihr körperliches Befinden wesentlich heben. Die Sorge um den Besitz, die nach den pathetisch vorgetragenen Versicherungen unserer Unternehmer und Kapitalisten oft schwerer zu tragen sein soll als das unsichere und dürftige Los des Arbeiters, wird für immer ihnen abgenommen. Die Aufregungen der Spekulation, die unseren Börsenjobbern so viele Herzleiden und Schlaganfälle verursachten und sie mit Nervosität belasten, werden ihnen erspart. Für sie und ihre Nachkommen wird die Sorglosigkeit ihr Los, und sie werden sich sehr wohl dabei finden.

 

Mit der Aufhebung des Privateigentums und der Klassengegensätze fällt auch allmählich der Staat. "Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung bei Strafe des Unterganges zu vollziehen hat. Indem sie mehr und mehr auf Verwandlung der vergesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum drängt, zeigt sie selbst den Weg an zur Vollziehung dieser Umwälzung....

 

Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum der Sklaven haltende Staatsbürger, im Mittelalter der Feudaladel, in unserer Zeit die Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ›abgeschafft‹, er stirbt ab" .

 

Mit dem Staat verschwinden seine Repräsentanten: Minister, Parlamente, stehendes Heer, Polizei und Gendarmen, Gerichte, Rechts- und Staatsanwälte, Gefängnisbeamte, die Steuer- und Zollverwaltung, mit einem Wort: der ganze politische Apparat. Kasernen und sonstige Militärbauten, Justiz- und Verwaltungspaläste, Gefängnisse usw., harren jetzt einer besseren Bestimmung. Zehntausende von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen werden Makulatur, sie besitzen nur noch historischen Wert. Die großen und doch so kleinlichen parlamentarischen Kämpfe, bei denen die Männer der Zunge sich einbilden, durch ihre Reden die Welt zu beherrschen und zu lenken, sind verschwunden, sie haben Verwaltungskollegien und Verwaltungsdelegationen Platz gemacht, die sich mit der besten Einrichtung der Produktion, der Distribution, der Festsetzung der Höhe der notwendigen Vorräte, der Einführung und Verwendung zweckentsprechender Neuerungen in der Kunst, dem Bildungswesen, dem Verkehrswesen, dem Produktionsprozeß usw. in Industrie und Landwirtschaft zu befassen haben. Das sind alles praktische, sichtbare und greifbare Dinge, denen jeder objektiv gegenübersteht, weil für ihn kein der Gesellschaft feindliches persönliches Interesse vorhanden ist. Keiner hat ein anderes Interesse als die Allgemeinheit, das darin besteht, alles aufs beste, zweckmäßigste und vorteilhafteste einzurichten und herzustellen.

 

Die Hunderttausende ehemaliger Repräsentanten des Staates treten in die verschiedensten Berufe über und helfen mit ihrer Intelligenz und ihren Kräften, den Reichtum und die Annehmlichkeiten der Gesellschaft vermehren. Man wird künftig weder politische Verbrechen und Vergehen, noch gemeine kennen. Die Diebe sind verschwunden, weil das Privateigentum verschwunden ist und jeder in der neuen Gesellschaft leicht und bequem seine Bedürfnisse durch Arbeit befriedigen kann. Auch "Stromer und Vagabunden" existieren nicht mehr, sie sind das Produkt einer auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaft, und sie hören auf zu sein, sobald dieses fällt. Mord? Weshalb? Keiner kann am anderen sich bereichern, auch der Mord aus Haß oder Rache hängt direkt oder indirekt mit dem Sozialzustand der Gesellschaft zusammen. Meineid, Urkundenfälschung, Betrug, Erbschleicherei, betrügerischer Bankrott? Das Privateigentum fehlt, an dem und gegen das diese Verbrechen begangen werden konnten. Brandstiftung? Wer soll daran Freude oder Befriedigung suchen, da die Gesellschaft ihm jede Möglichkeit zum Hasse nimmt. Münzverbrechen? "Ach, das Geld ist nur Schimäre", der Liebe Müh' wäre umsonst. Religionsschmähung? Unsinn; man überläßt dem allmächtigen und allgütigen Gott zu bestrafen, wer ihn beleidigt, vorausgesetzt, daß man sich noch um die Existenz Gottes streitet.

 

So werden alle Fundamente der heutigen "Ordnung" zur Mythe. Die Eltern erzählen später den Kindern davon wie aus alten märchenhaften Zeiten. Und die Erzählungen von den Hetzereien und Verfolgungen, womit man einst die Männer der neuen Ideen überschüttete, werden ihnen genau so klingen, als wenn wir von Ketzer- und Hexenverbrennungen hören. Alle die Namen der "großen" Männer, die mit ihren Verfolgungen gegen die neuen Ideen sich hervortaten und dafür von ihren beschränkten Zeitgenossen mit Beifall überschüttet wurden, sind vergessen und stoßen höchstens dem Geschichtsforscher auf, wenn er in alten Werken blättert. Leider leben wir noch. nicht in den glücklichen Zeiten, in welchen die Menschheit frei atmen darf.

 

Vierundzwanzigstes Kapitel - Die Zukunft der Religion

 

Und wie mit dem Staate, so geht's mit der Religion. Diese wird nicht "abgeschafft", man wird "Gott nicht absetzen", nicht "den Leuten die Religion aus dem Herzen reißen", und wie sonst die albernen Reden lauten, womit man atheistisch gesinnte Sozialdemokraten anklagt. Solche Verkehrtheiten überläßt die Sozialdemokratie den bürgerlichen Ideologen, die in der Französischen Revolution solche Mittel versuchten und natürlich elend Schiffbruch litten. Ohne gewaltsamen Angriff und ohne Unterdrückung der Meinungen, welcher Art immer sie sind, werden die religiösen Organisationen und mit ihnen die Kirchen allmählich verschwinden.

 

Die Religion ist die transzendente Widerspiegelung des jeweiligen Gesellschaftszustandes. In dem Maße, wie die menschliche Entwicklung fortschreitet, die Gesellschaft sich transformiert, transformiert sich die Religion, sie ist, wie Marx sagt, das Streben nach illusorischem Glück des Volkes, das einem Zustand der Gesellschaft entspringt, welcher der Illusion bedarf , aber verschwindet, sobald die Erkenntnis des wirklichen Glückes und die Möglichkeit seiner Verwirklichung die Massen durchdringt. Die herrschenden Klassen streben in ihrem eigenen Interesse, diese Erkenntnis zu verhindern, und so suchen sie die Religion als Mittel für ihre Herrschaft zu konservieren, was am deutlichsten in dem bekannten Satz sich ausdrückt: "Dem Volke muß die Religion erhalten werden." Dieses Geschäft wird in einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaft eine wichtige amtliche Funktion. Es bildet sich eine Kaste, welche diese Funktion übernimmt und ihren ganzen Scharfsinn darauf richtet, das Gebäude zu erhalten und zu erweitern, weil damit ihre eigene Macht und ihr Ansehen wächst.

 

Anfangs Fetischismus auf unterster Kulturstufe, in primitiven gesellschaftlichen Verhältnissen, wird die Religion Polytheismus bei höherer Entwicklung, Monotheismus bei noch vorgeschrittenerer Kultur. Es sind nicht die Götter, welche die Menschen erschaffen, es sind die Menschen, die sich die Götter, Gott machen. "Sich selbst (dem Menschen) zum Bilde, zum Ebenbilde schuf er ihn" (den Gott), nicht umgekehrt. Bereits hat sich auch der Monotheismus in einen alles umfassenden, alles durchdringenden Pantheismus aufgelöst und verflüchtigt sich immer mehr. Die Naturwissenschaft machte die Lehre von der Schöpfung der Erde in sechs Tagen zur Mythe; die Astronomie, die Mathematik und Physik machen den Himmel zu einem Luftgebilde, die Sterne am Himmelszelt, auf denen die Engel thronen, zu Fixsternen und Planeten, deren Natur jedes Engelleben ausschließt.

 

Die herrschende Klasse, die sich in ihrer Existenz bedroht sieht, klammert sich an die Religion als die Stütze aller Autorität, wie das jede herrschende Klasse bisher so gehalten hat . Die Bourgeoisie glaubt selbst nichts, sie hat durch ihre ganze Entwicklung, durch die aus ihrem Schoße hervorgegangene moderne Wissenschaft den Glauben an die Religion und alle Autorität zerstört. Ihr Glaube ist nur Scheinglaube, und die Kirche nimmt die Hilfe der falschen Freundin an, weil sie selbst der Hilfe bedarf. "Die Religion ist für das Volk nötig."

 

Für die neue Gesellschaft existieren keine Rücksichten. Der unausgesetzte menschliche Fortschritt und die unverfälschte Wissenschaft sind ihr Panier. Hat jemand noch religiöse Bedürfnisse, so mag er sie mit seinesgleichen befriedigen. Die Gesellschaft kümmert sich nicht darum. Auch der Priester muß arbeiten, um zu leben, und da er dabei lernt, so kommt auch für ihn die Zeit, wo er einsieht, daß das Höchste ist: ein Mensch zu sein.

 

Sittlichkeit und Moral bestehen auch ohne die Religion; das Gegenteil können nur Einfältige oder Heuchler behaupten wollen. Sittlichkeit und Moral sind der Ausdruck für Begriffe, welche die Beziehungen der Menschen zueinander und ihre Handlungen regeln, die Religion umfaßt die Beziehungen der Menschen zu übersinnlichen Wesen. Aber wie die Religion, so entspringen auch die Begriffe über die Moral dem jeweiligen Sozialzustand der Menschen . Der Kannibale betrachtet Menschenfresserei als sehr moralisch; als moralisch sahen Griechen und Römer die Sklaverei an, der Feudalherr des Mittelalters die Leibeigenschaft und Hörigkeit; hochmoralisch erscheint dem modernen Kapitalisten das Lohnarbeitsverhältnis, die Ausbeutung der Frauen und die Demoralisation der Kinder durch gewerbliche Arbeit . Vier Gesellschaftsstufen und vier Moralbegriffe, aber in keiner herrscht der höchste Moralbegriff. Der höchste moralische Zustand ist derjenige, in dem die Menschen sich als Freie und Gleiche gegenüberstehen, in dem der Grundsatz: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu", alle menschlichen Beziehungen beherrscht. Im Mittelalter galt der Stammbaum des Menschen, in der Gegenwart entscheidet sein Besitz, in der Zukunft gilt der Mensch als Mensch. Und die Zukunft gehört dem Sozialismus.

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel - Das sozialistische Erziehungswesen

 

Der verstorbene Abgeordnete Dr. Lasker hielt in den siebziger Jahren in Berlin einen Vortrag, in dem er zu dem Schlusse gelangte: ein gleiches Bildungsniveau für alle Glieder der Gesellschaft sei möglich. Dr. Lasker war aber ein Antisozialist, ein starrer Anhänger des Privateigentums und des Kapitalismus, die Bildungsfrage ist aber heute im eminenten Sinne eine Geldfrage. Unter solchen Verhältnissen ist ein gleiches Bildungsniveau für alle unmöglich. Einzelne können unter verhältnismäßig günstigen Umständen durch Überwindung vieler Schwierigkeiten und durch Anwendung großer Energie, die nicht viele besitzen, sich eine höhere Bildung aneignen. Die Masse nie, so lange sie in sozialer Unterdrückung und Abhängigkeit lebt .

 

In der neuen Gesellschaft sind die Existenzbedingungen für alle gleich. Die Bedürfnisse und die Neigungen sind verschieden und werden, weil in der Natur des Menschen begründet, verschieden bleiben, aber jeder kann sich nach Maßgabe der für alle gleichen Daseinsbedingungen entwickeln. Die uniforme Gleichheit, die man dem Sozialismus andichtet, ist wie so vieles ein Unsinn. Erstrebte er sie, er handelte unvernünftig, denn er käme mit der Natur des menschlichen Wesens selbst in Widerspruch und müßte darauf verzichten, die Gesellschaft nach seinen Prinzipien sich entwickeln zu sehen . Ja, gelänge es dem Sozialismus, die Gesellschaft zu überrumpeln und in unnatürliche Verhältnisse zu pressen, in kurzer Zeit würden diese neuen Verhältnisse, die sich als Fesseln fühlbar machten, gesprengt, und der Sozialismus wäre für immer gerichtet. Die Gesellschaft entwickelt sich nach den ihr immanenten Gesetzen, und sie handelt danach .

 

Eine der Hauptaufgaben der neuen Gesellschaft muß sein, die Nachkommenschaft entsprechend zu erziehen. Jedes Kind, das geboren wird, ist ein der Gesellschaft willkommener Zuwachs; sie erblickt darin die Möglichkeit ihres Fortbestandes, ihre eigene Fortentwicklung; sie empfindet also auch die Verpflichtung, für das neue Lebewesen nach Kräften einzutreten. Der erste Gegenstand ihrer Sorge ist demnach die Gebärende, die Mutter. Bequeme Wohnung, angenehme Umgebung, Einrichtungen aller Art, wie sie diesem Stadium der Mutterschaft entsprechen, aufmerksame Pflege für sie und das Kind sind erste Bedingung. Die Mutterbrust dem Kinde zu erhalten, so lange als es möglich und notwendig erscheint, ist selbstverständlich. Moleschott, Sonderegger, alle Hygieniker und Ärzte sind darin einig, daß nichts die Nahrung der Mutter voll ersetzt.

 

Diejenigen, die wie Eugen Richter sich darüber entrüsten, daß die junge Mutter an einen Niederkunftsort kommt, an dem sie von allem umgeben ist, was heute nur der Reichtum ermöglicht, und dieser vermag nicht zu leisten, was eigens eingerichtete Anstalten zu leisten vermögen, seien daran erinnert, daß gegenwärtig mindestens vier Fünftel der Menschen unter den primitivsten Verhältnissen und Zuständen geboren werden, die ein Hohn für unsere Kultur und Zivilisation sind. Und von dem letzten Fünftel unserer Mütter ist wieder nur eine Minderheit in der Lage, einigermaßen die Pflege und Annehmlichkeiten zu genießen, die in diesem Zustand einer Frau zukommen sollen. Tatsächlich gibt es in Städten mit vortrefflichen Einrichtungen für die Gebärenden auch schon heute nicht wenig Frauen, die, sobald sie ihre Stunde nahen fühlen, sich in jene Anstalten begeben und ihre Niederkunft erwarten. Die Kosten in diesen Anstalten sind aber so hohe, daß nur wenige Frauen davon Gebrauch machen können; andere schreckt allerdings das Vorurteil zurück. Wir haben also auch hier wieder ein Beispiel, wie überall die bürgerliche Welt die Keime für die Zukunftsgestaltungen in ihrem Schoße trägt.

 

Die Mutterschaft der meisten vornehmen Frauen bekommt übrigens einen eigentümlichen Beigeschmack durch die Tatsache, daß sie die Mutterpflichten so rasch als möglich an eine – proletarische Amme übertragen. Wie bekannt, ist zum Beispiel die wendische Lausitz (der Spreewald) die Gegend, aus der die Frauen der Berliner Bourgeoisie, die ihre Neugeborenen nicht selbst stillen wollen oder nicht zu stillen vermögen, ihre Ammen beziehen. Die Ammenzüchterei, die darin besteht, daß die Landmädchen sich schwängern lassen, um nach der Geburt ihrer Kinder sich als Amme an eine wohlhabende Berliner Familie vermieten zu können, wird gewerbsmäßig betrieben. Mädchen, die drei und vier uneheliche Kinder gebären, um sich als Amme verdingen zu können, sind keine Seltenheit, und je nachdem sie bei diesem Geschäft verdienen, erscheinen sie den jungen Männern des Spreewaldes als Frau begehrenswert. Vom Standpunkt der bürgerlichen Moral ist dieses eine verwerfliche Handlungsweise, aber vom Standpunkt des Familieninteresses der Bourgeoisie erscheint sie löblich und wünschenswert.

 

Sobald das Kind größer geworden ist, harren seiner die Altersgenossen zu gemeinsamem Spiele unter gemeinsamer Obhut. Alles, was nach dem Stande der Einsicht und des Bedürfnisses für seine geistige und körperliche Entwicklung geleistet werden kann, ist vorhanden. Jeder, der Kinder beobachtet hat, weiß, daß dieselben am leichtesten in Gesellschaft ihresgleichen erzogen werden; ihr Geselligkeits- und Nachahmungstrieb ist sehr lebhaft. Insbesondere nehmen die Kleineren gern die Erwachseneren als Vorbild und Beispiel und folgen diesen mehr als den Eltern. Diese Eigenschaften können mit Vorteil für die Erziehung ausgenutzt werden .

 

Den Spielsälen und Kindergärten folgt die spielende Einführung in die Anfänge des Wissens und der verschiedenen gewerblichen Tätigkeiten. Es folgt angemessene geistige und körperliche Arbeit, verbunden mit gymnastischen Übungen und freier Bewegung auf dem Spiel- und Turnplatz, auf der Eisbahn, im Schwimmbad; Übungsmärsche, Ringkämpfe und Exerzitien für beide Geschlechter folgen und ergänzen sich. Es soll ein gesundes, abgehärtetes, körperlich und geistig normal entwickeltes Geschlecht herangebildet werden. Die Einführung in die verschiedenen praktischen Tätigkeiten, die Gartenkultur, den Ackerbau, das Fabrikwesen, die Technik des Produktionsprozesses folgt Schritt vor Schritt. Die geistige Ausbildung in den verschiedensten Wissensgebieten wird nicht vernachlässigt.

 

Im Erziehungssystem wird derselbe Reinigungs- und Verbesserungsprozeß wie im Produktionssystem vorgenommen werden. Eine Menge veralteter, überflüssiger, die geistige und körperliche Entwicklung hemmender Methoden und Lehrgegenstände fällt. Die Kenntnis natürlicher Dinge, dem Verstand angepaßt, werden den Lerntrieb mehr anfeuern als ein Erziehungssystem, bei dem ein Lehrgegenstand sich mit dem anderen im Widerspruch befindet und seine Wirkung aufhebt, zum Beispiel wenn auf der einen Seite Religion auf Grund der Bibel gelehrt wird, auf der anderen Seite Naturwissenschaften und Naturgeschichte. Dem hohen Kulturstand der neuen Gesellschaft entsprechend, ist die Ausstattung der Lehrräume, der Erziehungseinrichtungen und der Bildungsmittel beschaffen. Bildungs- und Lehrmittel, Kleidung, Unterhalt stellt die Gesellschaft; kein Zögling wird gegen den anderen benachteiligt . Das ist wieder ein Kapitel, über das unsere bürgerlichen "Ordnungsmänner" entrüstet sind . Die Schule solle zur Kaserne gemacht, den Eltern soll jeder Einfluß auf ihre Kinder genommen sein, rufen die Gegner. Von alledem ist gar keine Rede. Da in der künftigen Gesellschaft die Eltern ein unendlich größeres Maß freier Zeit zur Verfügung haben, als dieses gegenwärtig bei der sehr großen Mehrzahl der Fall ist – es sei erinnert an die zehn- und mehrstündige Arbeitszeit der meisten Arbeiter, der Post-, Bahn-, Gefängnis- und Polizeibeamten usw., an die Inanspruchnahme der Gewerbetreibenden, der Kleinbauern, der Kaufleute, der Militärs, vieler Ärzte usw. –, so können sie sich ihren Kindern in einem Maße widmen, wie es heute unmöglich ist. Außerdem haben die Eltern die Ordnung des Erziehungswesens in der Hand, denn sie bestimmen die Maßregeln und Einrichtungen, die getroffen und eingeführt werden sollen. Wir leben alsdann in einer durch und durch demokratischen Gesellschaft. Die Erziehungsausschüsse, die bestehen, sind aus den Eltern – Männern und Frauen – und aus den Erziehern zusammengesetzt. Glaubt man, daß diese wider ihre Gefühle und Interessen handeln? Das geschieht in der heutigen Gesellschaft, in der der Staat seine Erziehungsinteressen gegen den Willen der meisten Eltern durchfuhrt.

 

Unsere Widersacher tun, als gehöre es zu den größten Annehmlichkeiten der Eltern, den ganzen Tag die Kinder um sich zu haben, um sie zu erziehen. In der Wirklichkeit ist es anders. Welche Schwierigkeiten und Mühe die Erziehung eines Kindes verursacht, wissen diejenigen Eltern am besten zu beurteilen, die in dieser Lage sind oder waren. Mehrere Kinder erleichtern zwar die Erziehung, aber sie verursachen so viel Arbeit und Mühe, daß namentlich die Mutter, welche die Hauptlast mit ihnen hat, froh ist, wenn die Schulzeit herankommt, damit sie für einen Teil des Tages dieselben aus dem Hause bekommt. Auch können die allermeisten Eltern ihre Kinder nur sehr ungenügend erziehen. Der sehr großen Mehrzahl fehlt die Zeit dazu; die Väter haben ihren Geschäften, die Mütter den Haushaltungsarbeiten nachzugehen, wenn sie nicht selbst zur Erwerbsarbeit gehen müssen. Haben sie aber selbst zur Erziehung die Zeit, so fehlt ihnen in unzähligen Fällen die Fähigkeit dazu. Wie viel Eltern sind denn imstande, den Bildungsgang ihrer Kinder in der Schule zu verfolgen und ihnen an die Hand zu gehen? Sehr wenige. Die Mutter, die es in einer Anzahl Fällen am ehesten könnte, hat selten die Fähigkeit, weil sie dazu nicht genügend vorgebildet ist. Auch wechseln die Lehrmethoden und der Lehrstoff so häufig, daß die Eltern demselben fremd gegenüberstehen.

 

Ferner sind die häuslichen Einrichtungen der weitaus größten Zahl der Kinder so dürftige, daß sie weder die nötige Bequemlichkeit, noch die Ordnung, noch die Ruhe finden, ihre Schularbeiten zu Hause zu verrichten oder angemessene Unterstützung finden. Oft fehlt dazu alles Notwendige. Die Wohnung ist mangelhaft und überfüllt, alle bewegen sich auf dem engsten Raume; das Mobiliar ist dürftig und bietet dem Kinde, das arbeiten will, nicht die geringste Bequemlichkeit. Nicht selten fehlen Licht, Luft und Wärme; die Lehr- und Arbeitsmaterialien sind, wenn überhaupt vorhanden, von der schlechtesten Qualität; häufig wühlt auch der Hunger in den Eingeweiden der Kleinen und raubt ihnen Sinn und Lust für ihre Tätigkeit. Außerdem werden viele Hunderttausende von Kindern zu allen möglichen häuslichen und gewerblichen Arbeiten herangezogen, die ihnen die Jugend vergällen und sie zur Erledigung ihrer so geringen Bildungsaufgaben unfähig machen. Auch haben oft die Kinder den Widerstand beschränkter Eltern zu überwinden, wenn sie sich die Zeit für ihre Schulaufgaben oder für das Spiel nehmen wollen. Kurz, der Hemmnisse sind so unendlich viele, daß man sich nur wundern muß, daß die Jugend noch so gut erzogen ist. Ein Beweis für die Gesundheit der Menschennatur und den ihr innewohnenden Drang nach Fortschritt und Vervollkommnung.

 

Die bürgerliche Gesellschaft erkennt selbst einen Teil dieser Übel an, indem sie dadurch die Jugenderziehung erleichtert, daß sie die Unentgeltlichkeit des Schulunterrichtes einführt und hier und da auch die Lehrmittel unentgeltlich gewährt, zwei Dinge, die noch Mitte der Achtziger Jahre der damalige sächsische Kultusminister gegenüber den sozialistischen Landtagsabgeordneten als "sozialdemokratische Forderungen" bezeichnete. In Frankreich, in dem nach langer Vernachlässigung die Volkserziehung um so größere Fortschritte machte, ist man, wenigstens in Paris, noch weitergegangen und gewährt die gemeinsame Speisung der Kinder auf Gemeindekosten. Die Armen erhalten das Essen unentgeltlich, und die Kinder bessersituierter Eltern haben dafür einen geringen Betrag an die Gemeindekasse zu bezahlen. Das ist also bereits eine kommunistische Einrichtung, die sich zur Zufriedenheit der Eltern und Kinder aufs beste bewährte.

 

Für die Unzulänglichkeit des heutigen Schulwesens – es kann öfter nicht die mäßigen Aufgaben, die es sich gestellt, erfüllen – spricht weiter, daß Tausende und aber Tausende von Kindern infolge mangelhafter Nahrung unfähig sind, ihren Schulpflichten zu genügen. Es vergeht kein Winter, in dem in unseren Städten nicht Tausende von Kindern vorhanden sind, die, ohne ein Frühstück genossen zu haben, in die Schule kommen. Die Ernährung von Hunderttausenden anderen ist ungenügend. Für alle diese Kinder wäre die öffentliche Verpflegung wie die Bekleidung eine große Wohltat; sie werden in einem Gemeinwesen, das sie durch ordentliche Verpflegung und Bekleidung lehrt, was es heißt, ein Mensch zu sein, kein "Zuchthaus" erblicken. Die bürgerliche Gesellschaft kann dieses Elend nicht leugnen, und so vereinigen sich mitleidige Seelen zur Gründung von Frühstücks- und Suppenanstalten, um auf dem Wege der Wohltätigkeit einigermaßen zu erfüllen, was Pflicht der Gesellschaft wäre. Auch greifen neuerdings eine Anzahl Gemeinden ein und gewähren armen Kindern die nötigste Verpflegung aus Gemeindemitteln. Alles, alles das ist unzulänglich und wird als Wohltat gewährt, was ein Recht sein sollte .

 

Mit Recht werden in unseren Schulen die sogenannten häuslichen Schularbeiten möglichst beschränkt, weil man die Unzulänglichkeit der in der elterlichen Wohnung vollendeten Schularbeiten erkannte. Der Schüler wohlhabender Eltern ist gegen den ärmeren nicht nur durch die äußere Lage bevorzugt, sondern auch dadurch, daß öfter Bonnen oder Hauslehrer zur Verfügung stehen, die ihn unterstützen. Dagegen wird bei dem reichen Schüler Faulheit und Liederlichkeit dadurch begünstigt, daß der Reichtum der Eltern ihm das Lernen als überflüssig erscheinen lassen, ihm oft die moralisch verwerflichsten Beispiele vor Augen kommen und ihm die Verführung besonders nahetritt. Wer täglich und stündlich hört und sieht, wie Rang, Stand und Reichtum alles bedeuten, erlangt absonderliche Begriffe von dem Menschen und seinen Pflichten und von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen.

 

Streng genommen hat die bürgerliche Gesellschaft keine Ursache, sich über die kommunistische Kindererziehung, welche die Sozialisten erstreben, zu entrüsten, denn sie hat diese für bevorrechtete Kreise teilweise selbst eingeführt, nur in verzerrter Weise. Wir erinnern an die Kadettenhäuser, Militärwaisenhäuser, Alumnate, Seminarien, Priesterschulen usw. In diesen werden viele Tausend von Kindern, zum Teil aus den höchsten Ständen, in der einseitigsten und verkehrtesten Weise und in strengster klösterlicher Klausur erzogen und für bestimmte Berufe ausgebildet. Auch geben viele Angehörige der bessersituierten Klassen, die als Ärzte, Geistliche, Beamte, Fabrikherren, Gutsbesitzer, Großbauern usw. auf dem Lande oder in kleinen Orten wohnen, wo höhere Bildungsanstalten fehlen, ihre Kinder nach den größeren Städten in Pension und bekommen sie während des ganzen Jahres höchstens in den Ferien zu sehen.

 

Es ist also ein Widerspruch, wenn unsere Widersacher sich über eine kommunistische Kindererziehung und über Entfremdung der Kinder von den Eltern entrüsten, und selbst eine ähnliche Erziehung, nur in verhunzter, falscher und unzulänglicher Weise für ihre eigenen Kinder eingeführt haben. Auch über die Erziehung der Kinder der wohlhabenden Klassen durch Ammen, Bonnen, Gouvernanten, Hauslehrer ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben, das seltsame Streiflichter auf ihr Familienleben werfen würde. Es würde sich zeigen, daß auch hier vielfach die Heuchelei herrscht und nichts weniger als ein Idealzustand, weder für die Lehrenden noch die Lernenden.

 

Entsprechend dem total veränderten Erziehungssystem, das die körperliche wie die geistige Entwicklung und Ausbildung der Jugend im Auge hat, muß die Zahl der Lehrkräfte wachsen. Für die Erziehung des Nachwuchses der Gesellschaft sollte in ähnlicher Weise gesorgt werden wie im Militärwesen für die Ausbildung der Soldaten, bei dem ein Unteroffizier auf acht bis zehn Gemeine kommt. Wird künftig eine ähnliche Schülerzahl von einem Lehrer unterrichtet, so ist erreicht, was erreicht werden muß. Auch wird die Einführung in die mechanischen Tätigkeiten, in den aufs vollkommenste eingerichteten Lehrwerkstätten, in die Garten- und Feldarbeiten, einen wesentlichen Teil der Jugenderziehung bilden. Man wird das alles mit Abwechslung und ohne Überanstrengung durchzuführen wissen, um möglichst vollkommen ausgebildete Menschen zu erziehen.

 

Die Erziehung muß ferner für beide Geschlechter gleich und gemeinsam sein. Die Trennung derselben rechtfertigt sich nur in den Fällen, wo die Verschiedenheit des Geschlechts sie zur absoluten Notwendigkeit macht. In dieser Art Erziehung sind uns bereits die Vereinigten Staaten weit voraus. Dort ist die Erziehung der beiden Geschlechter von der Primärschule bis zu den Universitäten eine gemeinsame. Nicht nur ist der Unterricht, sondern auch die Lehrmittel sind unentgeltlich, einschließlich der Gegenstände für die Handarbeit und den Kochunterricht, für den Unterricht in der Chemie und Physik und die Gegenstände, die der Schüler am Experimentier- und Arbeitstisch nötig hat. Mit den meisten Schulen sind Turnhallen, Badeeinrichtungen, Schwimmbassins, Spielhallen verbunden. In den höheren Schulen wird auch das weibliche Geschlecht im Turnen, Schwimmen, Rudern, Marschieren ausgebildet .

 

Das sozialistische Erziehungssystem wird noch Höheres leisten. Gehörig geregelt und geordnet und unter ausreichende Kontrolle gestellt, währt es bis zu dem Alter, in dem die Gesellschaft ihre Jugend für mündig erklärt. Nunmehr sind beide Geschlechter im vollsten Maße befähigt, allen Rechten und Pflichten in jeder Richtung zu genügen. Jetzt hat die Gesellschaft die Sicherheit, nur tüchtige, nach allen Seiten entwickelte Glieder erzogen zu haben, Menschen, denen nichts Menschliches fremd ist, die ebenso vertraut mit ihrer eigenen Natur und ihrem eigenen Wesen sind, wie mit dem Wesen und dem Zustand der Gesellschaft, in der sie als Vollberechtigte eintreten.

 

So werden die täglich sich mehrenden Auswüchse bei unserer heutigen Jugend, welche die natürliche Folge des in Fäulnis und Zersetzung begriffenen Gesellschaftszustandes sind, verschwinden. Ungebärdigkeit, Disziplinlosigkeit, Immoralität und rohe Genußsucht, wie sie insbesondere bei der Jugend unserer höheren Bildungsanstalten, auf unseren Gymnasien, Polytechniken, Universitäten usw. sich zeigen, Untugenden, die durch die Zerfahrenheit und Unruhe des häuslichen Lebens und die vergiftenden Einflüsse des sozialen Lebens hervorgerufen und gestärkt werden. Ebenso werden die üblen Einwirkungen des Fabriksystems, der Wohnungsmißverhältnisse, der Ungebundenheit und Selbständigkeit der Jugend in einem Alter, in dem der Mensch am meisten der Zügel und der Erziehung zur Selbstzucht und Selbstbeherrschung bedarf, ihr Ende erreichen. Alle diese Übel wird die künftige Gesellschaft, ohne daß sie nötig hat, zu Zwangsmitteln zu greifen, vermeiden. Die gesellschaftlichen Einrichtungen und die daraus hervorgehende und die Gesellschaft beherrschende geistige Atmosphäre machen sie unmöglich. Wie in der Natur nur Krankheiten und Zerstörung von Organismen eintreten können, wo ein Zersetzungsprozeß vorhanden ist, so auch in der Gesellschaft.

 

Niemand wird bestreiten wollen, daß unser heutiges Bildungs- und Erziehungswesen an großen und gefährlichen Übelständen krankt, und zwar sind davon mehr die höheren Schulen und Bildungsanstalten betroffen als die niederen. Eine Dorfschule ist ein Muster moralischer Gesundheit gegen ein Gymnasium, eine weibliche Handarbeitsschule für ärmere Kinder ein Muster an Moralität gegenüber einer großen Zahl vornehmer Pensionate. Der Grund ist nicht weit zu suchen. In den oberen Klassen der Gesellschaft ist jedes Streben nach höheren Zielen erstickt, sie haben keine Ideale mehr. Infolge des Mangels an Idealen und höherer zielbewußter Tätigkeit greift die Genußsucht und der Hang zur Ausschweifung mit ihren physischen und moralischen Auswüchsen um sich. Wie kann die Jugend, die in dieser Atmosphäre aufwächst, anders sein? Materieller Lebensgenuß ohne Maß und Grenze ist, was sie sieht und kennenlernt. Warum streben, wenn der Eltern Reichtum das Streben überflüssig erscheinen läßt? Das Bildungs maximum der großen Mehrzahl der Söhne unserer Bourgeoisie besteht in der Ablegung des Einjährig-Freiwilligenexamens. Ist dieses erreicht, so glauben sie, den Pelion und Ossa erstiegen zu haben und fühlen sich als Halbgötter. Haben sie ein Reserveoffizierspatent in der Tasche, so kennt ihr Stolz und Hochmut kaum noch eine Grenze. Den Einfluß, den diese in den meisten ihrer Glieder an Charakter und Wissen schwache, aber an Gesinnungstüchtigkeit und Strebertum starke Generation ausübt, kennzeichnet die gegenwärtige Periode als das Reserveoffizierszeitalter. Seine Eigentümlichkeit ist, viel Gesinnung, aber keinen Charakter und wenig Wissen zu haben. Man ist servil nach oben, hochmütig und brutal nach unten.

 

Die Töchter der höheren Klassen werden zu einem guten Teile zu Zierpuppen, Modenärrinnen und Salondamen erzogen, die von Genuß zu Genuß jagen und schließlich übersättigt an Langeweile und an allen möglichen eingebildeten und wirklichen Krankheiten leiden. Alt geworden, werden sie frömmelnde Betschwestern, Spiritisten und Gesundbeter, die über die Verderbtheit der Welt die Augen verdrehen und die Askese predigen. Für die unteren Schichten macht man Versuche, das Bildungsniveau herabzusetzen. Der Proletarier möchte zu klug werden, das Knechtschaftsverhältnis satt bekommen und sich wider seine irdischen Götter empören. Je dümmer die Masse ist, je leichter läßt sie sich beherrschen und regieren. "Der dümmste Arbeiter ist uns der liebste", erklärten wiederholt ostelbische Großgrundbesitzer auf ihren Versammlungen. In diesem einen Satze liegt ein ganzes Programm.

 

So steht in bezug auf die Bildungs- und Erziehungsfrage die heutige Gesellschaft ebenso ziellos und ratlos da, wie in allen anderen sozialen Fragen. Was tut sie? Sie ruft nach dem Stocke und predigt Religion, das heißt Ergebenheit und Zufriedenheit denen, die nur allzu ergeben und zufrieden sind; sie lehrt Enthaltsamkeit dort, wo man sich schon des Notwendigsten enthalten muß, weil man es nicht besitzt. Die in ihrer Roheit sich auflehnen, bringt man in sogenannte Besserungsanstalten, die unter pietistischem Einfluß stehen. Damit ist die pädagogische Weisheit unserer Gesellschaft zu Ende. Die ganze Verderbtheit der Erziehungsmethoden für heruntergekommene Proletarierkinder zeigen die zahlreichen Mißhandlungsfälle, die von den leitenden Persönlichkeiten in den sogenannten Erziehungsheimen begangen werden und zu Strafprozessen gegen dieselben führen. Hier wurde enthüllt, wie ein religiöses Muckertum fanatischster Art mit sadistischer Freude Mißhandlungen haarsträubendster Art sich zuschulden kommen läßt. Und wie viel des Schrecklichen mag der Öffentlichkeit verborgen bleiben!

 

Sechsundzwanzigstes Kapitel - Kunst und Literatur in der sozialistischen Gesellschaft