Zweiter Abschnitt - Die Frau in der Gegenwart

 

Siebentes Kapitel - Die Frau als Geschlechtswesen

 

1. Der Geschlechtstrieb

 

In der bürgerlichen Welt rangiert die Frau an zweiter Stelle. Erst kommt der Mann, dann sie. Es besteht also fast das umgekehrte Verhältnis wie im Zeitalter der Mutterfolge. Die Entwicklung vom primitiven Kommunismus zur Herrschaft des Privateigentums hat in erster Linie diese Umwandlung herbeigeführt.

 

Plato dankte den Göttern für acht Wohltaten, die sie ihm erwiesen hätten. Als die erste Wohltat betrachtete er, daß sie ihn als Freien und nicht als Sklaven geboren sein ließen, aber die zweite war, daß er als Mann und nicht als Frau geboren wurde. Ein ähnlicher Gedanke spricht sich im Morgengebet der Judenmänner aus. Diese beten: "Gelobt seist du Gott unser Herr und Herr aller Welt, der mich nicht zu einem Weibe gemacht hat." Dagegen beten die Judenfrauen an der entsprechenden Stelle: ".. . der mich nach seinem Willen geschaffen hat." Der Gegensatz in der Stellung der Geschlechter kann nicht schärfer zum Ausdruck kommen, als es im Ausspruch Platos und im Gebet der Juden geschieht. Der Mann ist der eigentliche Mensch nach zahlreichen Stellen in der Bibel, wie nach der englischen und französischen Sprache, in der für Mann und Mensch das gleiche Wort vorhanden ist. Auch wenn wir vom Volke sprechen, denken wir in der Regel nur an die Männer. Die Frau ist eine vernachlässigte Größe und auf alle Fälle der Mann ihr Gebieter. Das findet die Männerwelt in der Ordnung und die Mehrheit der Frauenwelt nimmt es bis jetzt als unabweisbare Schickung hin. In dieser Auffassung widerspiegelt sich die Lage des weiblichen Geschlechts.

 

Ganz unabhängig von der Frage, ob die Frau als Proletarierin unterdrückt ist, sie ist es in der Welt des Privateigentums als Geschlechtswesen. Eine Menge Hemmnisse und Hindernisse, die der Mann nicht kennt, bestehen für sie auf Schritt und Tritt. Vieles, was dem Mann erlaubt ist, ist ihr untersagt; eine Menge gesellschaftlicher Rechte und Freiheiten, die jener genießt, sind, wenn von ihr ausgeübt, ein Fehler oder ein Verbrechen. Sie leidet als soziales und als Geschlechtswesen. Es ist schwer zu sagen, in welcher von beiden Beziehungen sie am meisten leidet. und daher ist der Wunsch vieler Frauen begreiflich, daß sie möchten als Mann und nicht als Weib geboren worden sein.

 

Unter allen Naturtrieben, die der Mensch besitzt, ist nächst dem Trieb zu essen, um zu leben, der Geschlechtstrieb der stärkste. Der Trieb, die Gattung fortzupflanzen, ist der potenzierteste Ausdruck des "Willens zum Leben". Dieser Trieb ist jedem normal entwickelten Menschen tief eingepflanzt, und nach erlangter Reife ist die Befriedigung desselben eine wesentliche Bedingung für seine physische und geistige Gesundheit. Luther hat recht, wenn er sagt: "Wer nun dem Naturtrieb wehren will und nicht lassen gehen, wie Natur will und muß, was tut er anders, denn er will wehren, daß Natur nicht Natur sei, daß Feuer nicht brenne, Wasser nicht netze, der Mensch nicht esse, noch trinke, noch schlafe." Diese Worte sollte man in Stein über die Türen unserer Kirchen meißeln, in welchen so eifrig gegen das "sündhafte Fleisch" gepredigt wird. Treffender kann kein Arzt und Physiologe die Notwendigkeit der Befriedigung des Liebesbedürfnisses im Menschen bezeichnen.

 

Es ist ein Gebot des Menschen gegen sich selbst, das er erfüllen muß, will er in normaler und gesunder Weise sich entwickeln, daß er kein Glied seines Körpers in der Übung vernachlässigt und keinem natürlichen Trieb seine normale Befriedigung versagt. Jedes Glied soll die Funktionen, für die es von Natur bestimmt ist, erfüllen, bei Strafe der Schädigung des Organismus. Die Gesetze der physischen Entwicklung des Menschen müssen ebenso studiert und befolgt werden, wie die der geistigen Entwicklung. Die geistige Tätigkeit des Menschen hängt von der physiologischen Beschaffenheit seiner Organe ab. Die volle Gesundheit beider hängt auf das innigste zusammen. Eine Störung in dem einen muß auch störend auf den anderen Teil wirken. Die sogenannten tierischen Bedürfnisse nehmen keine andere Stufe ein wie die sogenannten geistigen. Die einen und die anderen sind Wirkung desselben Organismus und sind die einen von den anderen beeinflußt. Das gilt für den Mann wie für die Frau.

 

Daraus folgt, daß die Kenntnis der Eigenschaften der Geschlechtsorgane ebenso notwendig ist wie die aller anderen Organe, und der Mensch ihrer Pflege die gleiche Sorge angedeihen lassen muß. Er muß wissen, daß Organe und Triebe, die jedem Menschen eingepflanzt sind und einen sehr wesentlichen Teil seiner Natur ausmachen, ja in gewissen Lebensperioden ihn vollständig beherrschen, nicht Gegenstand der Geheimnistuerei, falscher Scham und kompletter Unwissenheit sein dürfen. Daraus folgt weiter, daß Kenntnis und Physiologie und Anatomie der verschiedenen Organe und ihrer Funktionen bei Männern und Frauen ebenso verbreitet sein sollte als irgendein anderer Zweig menschlichen Wissens. Ausgestattet mit einer genauen Kenntnis seiner physischen Natur, wird der Mensch viele Lebensverhältnisse mit anderen Augen ansehen. Es würde die Beseitigung von Übelständen sich von selbst aufdrängen, an denen gegenwärtig die Gesellschaft schweigend in heiliger Scheu vorübergeht, die aber fast in jeder Familie sich Beachtung erzwingen. In allen sonstigen Dingen gilt Wissen für eine Tugend, als das erstrebenswerteste, menschlich schönste Ziel, aber nur nicht Wissen in den Dingen, die mit dem Wesen und der Gesundheit unseres eigenen Ichs und mit der Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklung in engster Beziehung stehen.

 

Kant sagt: "Mann und Frau bilden erst zusammen den vollen und ganzen Menschen, ein Geschlecht ergänzt das andere." Schopenhauer erklärt: "Der Geschlechtstrieb ist die vollkommenste Äußerung des Willens zum Leben, mithin Konzentration alles Wollens." "... Die Bejahung des Willens zum Leben konzentriert sich im Zeugungsakt, und dieser ist ihr entschiedenster Ausdruck." Und lange vor diesen äußerte Buddha: "Der Geschlechtstrieb ist schärfer als der Haken, womit man wilde Elefanten zähmt; er ist heißer als Flammen, er ist wie ein Pfeil, der in den Geist des Menschen getrieben wird. "

 

Bei solcher Intensität des Geschlechtstriebs darf es nicht verwundern, daß geschlechtliche Enthaltsamkeit im reifen Alter nicht selten bei dem einen wie bei dem anderen Geschlecht derart auf das Nervenleben und den ganzen Organismus einwirkt, daß sie zu schweren Störungen und Verirrungen, unter Umständen zu Wahnsinn und zum Selbstmord führt. Allerdings macht sich der Geschlechtstrieb nicht bei allen Naturen gleich heftig geltend: es kann auch viel zu seiner Zügelung geschehen durch Erziehung und Selbstbeherrschung, namentlich durch Vermeidung des Anreizes dazu infolge von entsprechender Unterhaltung, Lektüre, Alkoholismus und dergleichen. Im allgemeinen soll der Reiz sich weniger bei Frauen als bei Männern bemerkbar machen, ja sogar manchmal bei Frauen ein gewisser Widerwille gegen den Geschlechtsakt bestehen. Aber das ist eine kleine Minderzahl, bei der physiologische und psychologische Anlagen diesen Zustand herbeiführen.

 

Man darf also sagen, daß in dem Maße, wie die Triebe und Lebensäußerungen bei den Geschlechtern sich ausprägen, sowohl in organischer als in seelischer Ausbildung und in Form und Charakter zum Ausdruck kommen, um so vollkommener ist der Mensch, sei er Mann oder Frau. Jedes Geschlecht ist zur höchsten Vollendung seiner selbst gekommen. "Bei dem sittlichen Menschen", sagt Klencke in seiner Schrift "Das Weib als Gattin", "ist allerdings der Zwang des Gattungslebens unter die Leitung des von der Vernunft diktierten sittlichen Prinzips gestellt, aber es wäre selbst der höchstmöglichsten Freiheit nicht möglich, die zwingende Mahnung der Gattungserhaltung, welche die Natur in den normalen organischen Ausdruck beider Geschlechter legte, gänzlich zum Schweigen zu bringen, und wo gesunde männliche oder weibliche Individuen dieser Pflicht gegen die Natur zeitlebens nicht nachkommen, da war es nicht der freie Entschluß des Widerstandes, auch wo er als solcher ausgegeben oder in Selbsttäuschung als Willensfreiheit bezeichnet werden sollte, sondern die Folge sozialer Hemmungen und Folgerungen, die das Naturrecht schmälerten und die Organe verwelken ließen, aber auch dem Gesamtorganismus den Typus der Verkümmerung, des geschlechtlichen Gegensatzes, sowohl in der Erscheinung als im Charakter aufdrücken und durch Nervenverstimmung krankhafte Richtungen und Zustände des Gemüts und Körpers hervorrufen. Der Mann wird weibisch, das Weib männlich in Gestalt und Charakter, weil der Geschlechtsgegensatz nicht zur Verwirklichung im Naturplan gelangte, der Mensch einseitig blieb und nicht zur Ergänzung seiner selbst, nicht zum vollen Höhepunkt seines Daseins kam." Und Elisabeth Blackwell sagt in ihrer Schrift "The moral education of the young in relation to sex": "Der Geschlechtstrieb existiert als eine unerläßliche Bedingung des Lebens und der Begründung der Gesellschaft. Er ist die stärkste Kraft in der menschlichen Natur.... Unentwickelt, kein Gegenstand der Gedanken, aber nichtsdestoweniger das Zentralfeuer des Lebens, ist dieser unvermeidliche Trieb der natürliche Hüter vor jeder Möglichkeit der Vernichtung" . Der praktische Luther kommt gleich mit positiven Ratschlägen. Er empfiehlt: "Wer sich nicht findet geschickt zur Keuschheit, der tue beyzeiten dazu, daß er etwas schaffe und zu arbeiten habe, und wage es danach in Gottes Namen und greife zur Ehe. Ein Knabe aufs längste, wenn er zwanzig; ein Mägdlein, wenn's fünfzehn oder achtzehn Jahre ist, so sind sie noch gesund und geschickt und lassen Gott sorgen, wie sie mit ihren Kindern ernährt werden. Gott macht Kinder, der wird sie wohl auch ernähren" . Die Befolgung der guten Ratschläge Luthers ist leider bei unseren sozialen Verhältnissen unmöglich, und von dem Gottvertrauen auf die Ernährung der Kinder will weder der christliche Staat noch die christliche Gesellschaft etwas wissen.

 

Die Wissenschaft stimmt also mit den Ansichten der Philosophen und mit dem gesunden Menschenverstand Luthers überein, woraus folgt, daß der Mensch in normaler Weise Triebe soll befriedigen können, die mit seinem innersten Sein aufs innigste verknüpft, ja das Sein selbst sind. Wird ihm dieses durch die gesellschaftlichen Einrichtungen oder Vorurteile unmöglich gemacht, so wird er in der Entwicklung seines Wesens gehemmt. Was die Folgen davon sind, darüber wissen unsere Ärzte, die Spitäler, Irrenhäuser und Gefängnisse zu erzählen, von den Tausenden zerstörter Familienleben zu schweigen. In einer in Leipzig erschienenen Schrift äußert zwar der Verfasser: "Der Geschlechtstrieb ist weder moralisch noch unmoralisch, er ist eben nur natürlich, wie Hunger und Durst, und die Natur weiß nichts von Moral" , aber von der Anerkennung dieses Satzes ist die Gesellschaft weit entfernt.

 

2. Ehelosigkeit und Selbstmordhäufigkeit

 

Unter Ärzten und Physiologen ist die Anschauung sehr verbreitet, daß selbst eine mangelhafte Ehe besser ist als Ehelosigkeit, und die Erfahrungen sprechen dafür. "Daß die Sterblichkeit unter den Verheirateten (wenn man etwa vergleichen wollte zwischen 1.000 dreißigjährigen Ledigen und 1.000 dreißigjährigen Verheirateten) sich geringer stellt, scheint nachgerade feststehend, und diese Erscheinung ist recht frappant. Namentlich bei den Männern handelt es sich um große Differenzen. Sie beträgt in manchen Altersklassen geradezu das Doppelte. Sehr merkwürdig ist auch die hohe Sterblichkeit der Männer, die in frühen Jahren Witwer werden" .

 

Man behauptet, daß insbesondere auch die Selbstmordziffer durch ungesunde geschlechtliche Verhältnisse erhöht würde. Im allgemeinen ist in allen Ländern die Zahl der Selbstmorde bei den Männern erheblich höher als bei den Frauen. So kamen zum Beispiel:

 

 

Im Deutschen Reiche war in den Jahren 1898 bis 1907 die Zahl der Selbstmörder:

 

 

Auf je 100 männliche Selbstmörder kamen weibliche 1898 26,8, 1899 27,2, 1900 26,8, 1904 28,5, 1907 31. Aber im Lebensalter zwischen 15 und 30 Jahren ist allgemein die prozentuale Selbstmordziffer der Frauen höher als der Männer. So betrug der Prozentsatz der Selbstmörder im Lebensalter zwischen 15 bis 20 und 21 bis 30 Jahren im Durchschnitt:

 

 

In Sachsen kamen auf 1.000 Selbstmörder im Lebensalter zwischen 21 und 30 Jahren im Durchschnitt der Jahre:

 

In den Jahren  Männer   Frauen

 

1854 – 1868   14,95      18,64

 

1868 – 1880   14,71      18,79

 

1881 – 1888   15,30      22,30

 

Die höhere Selbstmordziffer zeigt sich auch bei Verwitweten und Geschiedenen im Vergleich zur Durchschnittsziffer der Selbstmörder. In Sachsen kommen auf die geschiedenen Männer siebenmal, auf die geschiedenen Frauen dreimal so viel Selbstmorde, als die Durchschnittsziffer der Selbstmorde bei Männern oder Frauen beträgt. Auch ist der Selbstmord unter geschiedenen oder verwitweten Männern und Frauen häufiger, wenn dieselben keine Kinder haben. Unter den unverheirateten Frauen, die im Alter von 21 bis 30 Jahren zum Selbstmord getrieben werden, ist gar manche, die wegen verratener Liebe oder infolge eines "Fehltritts" sich das Leben nimmt. Die Statistik zeigt, daß fast durchweg einer Steigerung des Prozentsatzes unehelicher Geburten eine Steigerung der Zahl der Selbstmörderinnen entspricht. Auch ist unter den weiblichen Selbstmördern die Zahl derselben im Alter von 16 bis 21 Jahren ungewöhnlich groß, was ebenfalls darauf schließen läßt, daß unbefriedigter Geschlechtstrieb, Liebesgram, heimliche Schwangerschaft oder Betrug seitens der Männerwelt stark in Frage kommen.

 

Über die Lage der Frauen als Geschlechtswesen äußert sich Professor v. Krafft-Ebing : "Eine nicht zu unterschätzende Quelle für das Irresein beim Weib liegt dagegen wieder in der sozialen Position desselben. Das Weib, von Natur aus geschlechtsbedürftiger als der Mann, wenigstens im idealen Sinne, kennt keine andere ehrbare Befriedigung dieses Bedürfnisses als die Ehe (Maudsley).

 

Diese bietet ihm auch die einzige Versorgung. Durch unzählige Generationen hindurch ist sein Charakter nach dieser Richtung hin ausgebildet. Schon das kleine Mädchen spielt Mutter mit seiner Puppe. Das moderne Leben mit seinen gesteigerten Anforderungen bietet immer weniger Aussichten auf Befriedigung durch die Ehe. Dies gilt namentlich für die höheren Stände, in welchen die Ehen später und seltener geschlossen werden.

 

Während der Mann als der Stärkere, durch seine größere intellektuelle und körperliche Kraft und seine freie soziale Stellung, sich geschlechtliche Befriedigung mühelos verschafft, oder in einem Lebensberuf, der seine ganze Kraft beansprucht, leicht ein Äquivalent findet, sind diese Wege ledigen Weibern aus besseren Ständen verschlossen. Dies führt zunächst bewußt oder unbewußt zu Unzufriedenheit mit sich und der Welt, zu krankhaftem Brüten. Eine Zeitlang wird vielfach in der Religion ein Ersatz gesucht, allein vergeblich. Aus der religiösen Schwärmerei, mit oder ohne Masturbation, entwickelt sich ein Heer von Nervenleiden, unter denen Hysterie und Irresein nicht selten sind. Nur so begreift sich die Tatsache, daß die größte Frequenz des Irreseins bei ledigen Weibern in die Zeit des 25. bis 35. Lebensjahres fällt, das heißt die Zeit, wo Blüte und damit Lebenshoffnungen schwinden, während bei Männern das Irresein am häufigsten im 35. bis 50. Jahre, der Zeit der größten Anforderungen im Kampfe ums Dasein, auftritt.

 

Es ist gewiß kein Zufall, daß mit der zunehmenden Ehelosigkeit die Frage der Frauenemanzipation immer mehr auf die Tagesordnung gelangt ist. Ich möchte sie als Notsignal eines mit der fortschreitenden Ehelosigkeit immer unerträglicher werdenden sozialen Verhältnisse des Weibes in der modernen Gesellschaft betrachtet wissen, einer berechtigten Forderung an diese, dem Weibe ein Äquivalent für das zu verschaffen, worauf es von der Natur angewiesen ist, und was ihm die modernen sozialen Zustände zum Teil versagen."

 

Und Dr. H. Ploß sagt in seinem Werke "Das Weib in der Natur und Völkerkunde" , indem er die Wirkungen erörtert, die mangelnde Befriedigung des Geschlechtstriebs für unverheiratete Frauen im Gefolge hat: "Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, nicht allein für den Arzt, sondern auch für den Anthropologen, daß es ein wirksames und niemals versagendes Mittel gibt, diesen Prozeß des Verwelkens (bei alternden Jungfrauen) nicht nur in seinem Fortschreiten aufzuhalten, sondern auch die bereits geschwundene Blüte, wenn auch nicht ganz in der alten Pracht, doch in nicht unerheblichem Grade wieder zurückkehren zu lassen, nur schade, daß unsere sozialen Verhältnisse in den allerseltensten Fällen seine Anwendung zulassen und ermöglichen. Dieses Mittel besteht in einem regelmäßigen und geordneten Geschlechtsverkehr. Man sieht nicht eben selten, daß bei einem bereits verblühten oder dem Verwelktsein nicht mehr fernstehenden Mädchen, wenn sich ihm noch die Gelegenheit zur Ehe bietet, bereits kurze Zeit nach seiner Vermählung alle Formen sich wieder runden, die Rosen auf den Wangen zurückkehren und die Augen ihren einstigen frischen Glanz wieder erhalten. Die Ehe ist also der wahre Jugendbrunnen für das weibliche Geschlecht. So hat die Natur ihre feststehenden Gesetze, welche mit unerbittlicher Strenge ihr Recht fordern, und jede vita praeter naturam, jedes unnatürliche Leben, jeder Versuch der Anpassung an Lebensverhältnisse, welche der Art nicht entsprechen, kann nicht ohne bemerkenswerte Spuren der Degeneration an dem Organismus, dem tierischen sowohl als auch dem menschlichen, vorübergehen."

 

Es entsteht nun die Frage: Erfüllt die Gesellschaft die Anforderungen an eine vernünftige Lebensweise insbesondere des weiblichen Geschlechts? Und falls sie verneint wird, entsteht die Frage: Kann sie dieselben erfüllen? Müssen aber beide Fragen verneint werden, so entsteht die dritte: Wie können dieselben erfüllt werden?

 

Achtes Kapitel - Die moderne Ehe

 

1. Die Ehe als Beruf

 

"Ehe und Familie sind die Grundlagen des Staates, wer daher Ehe und Familie angreift, greift die Gesellschaft und den Staat an und untergräbt beide", rufen die Verteidiger der heutigen Ordnung. Die monogamische Ehe ist, wie zur Genüge bewiesen wurde, Ausfluß der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentumsordnung, sie bildet also unbestreitbar eine der wichtigsten Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, ob sie aber den natürlichen Bedürfnissen und einer gesunden Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entspricht, ist eine andere Frage. Wir werden zeigen, daß diese auf den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen beruhende Ehe mehr oder weniger Zwangsehe ist, die viele Übelstände aufweist und vielfach ihren Zweck nur unvollkommen oder gar nicht erreicht. Wir werden ferner zeigen, daß sie eine soziale Einrichtung ist, die für Millionen unerreichbar bleibt und keineswegs jene auf freier Liebeswahl beruhende Ehe ist, die, wie ihre Lobredner behaupten, allein dem Naturzweck entspricht.

 

Mit Bezug auf die heutige Ehe ruft John Stuart Mill: "Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, welche das Gesetz kennt." Nach der Auffassung Kants bilden Mann und Frau erst den ganzen Menschen. Auf der normalen Verbindung der Geschlechter beruht die gesunde Entwicklung des Menschengeschlechtes. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde physische und geistige Entwicklung des Mannes wie der Frau. Aber der Mensch ist kein Tier, und so genügt ihm für die höhere Befriedigung seines ungestümsten Triebes bloß physische Stillung nicht, er verlangt auch geistige Anziehungskraft und Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem er eine Verbindung eingeht. Ist diese nicht vorhanden, so vollzieht sich die geschlechtliche Vermischung rein mechanisch, und sie ist alsdann eine unsittliche. Der höherstehende Mensch verlangt, daß die beiderseitige Anziehungskraft auch über die Vollziehung des Geschlechtsaktes hinaus dauere und seine veredelnde Wirkung auf das aus der beiderseitigen Verbindung entsprießende Lebewesen ausdehne . Die Tatsache, daß solche Ansprüche in der heutigen Gesellschaft an unzählige Ehen nicht gestellt werden können, veranlaßt auch Varnhagen v. Ense, zu schreiben: "Was wir in dieser Art vor Augen hatten, sowohl von geschlossenen als von noch zu schließenden Ehen war nicht gemacht, uns von solcher Verbindung einen guten Begriff zu geben; im Gegenteil, die ganze Einrichtung, der nur Liebe und Achtung zugrunde liegen sollte, und die wir in allen diesen Beispielen eher auf alles andere gegründet sahen, wurde uns gemein und verächtlich, und wir stimmten schreiend in den Spruch von Friedrich Schlegel ein, den wir in den Fragmenten des ›Athenäums‹ lasen: Fast alle Ehen sind Konkubinate, Ehen an der linken Hand oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen nach allen geistigen und weltlichen Rechten darin besteht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen" . Das ist ganz im Sinne Kants gedacht.

 

Die Freude an der Nachkommenschaft und die Verpflichtung gegen diese machen das Liebesverhältnis zweier Menschen zu einem länger dauernden. Ein Paar, das in ein Eheverhältnis treten will, soll sich also darüber klar sein, ob sich die beiderseitigen Eigenschaften zu einer solchen Verbindung eignen. Die Antwort müßte aber auch unbeeinflußt erfolgen können. Das kann aber nur geschehen durch die Fernhaltung jedes anderen Interesses, das mit dem eigentlichen Zwecke der Verbindung, Befriedigung des Naturtriebs und Fortpflanzung des eigenen Wesens in der Fortpflanzung der Rasse, nichts zu tun hat und durch ein Maß von Einsicht, das die blinde Leidenschaft zügelt. Da jedoch diese Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft in ungemein zahlreichen Fällen nicht vorhanden sind, so ergibt sich, daß die heutige Ehe vielfach entfernt ist, ihren wahren Zweck zu erfüllen, und daß es daher nicht gerechtfertigt ist, sie als eine ideale Institution anzusehen.

 

Wie viele Ehen von ganz anderen Anschauungen aus, als den dargelegten, geschlossen werden, läßt sich nicht beweisen. Die Beteiligten sind interessiert, ihre Ehe vor der Welt anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Es besteht hier ein Zustand der Heuchelei, wie ihn keine frühere Gesellschaftsperiode in ähnlichem Maße kannte. Und der Staat, der politische Repräsentant dieser Gesellschaft, hat kein Interesse, Untersuchungen anzustellen, deren Resultat die Gesellschaft in ein bedenkliches Licht setzten. Die Maximen, die der Staat selbst in bezug auf die Verehelichung seiner Beamten und Diener verfolgt, vertragen einen Maßstab nicht, wie er der Ehe zugrunde liegen soll.

 

2. Der Rückgang der Geburten

 

Die Ehe soll eine Verbindung sein, die zwei Menschen aus gegenseitiger Liebe eingehen, um ihren Naturzweck zu erreichen. Dieses Motiv ist aber gegenwärtig in den seltensten Fällen rein vorhanden. Die große Mehrheit der Frauen sieht die Ehe als eine Versorgungsanstalt an, in die sie um jeden Preis eintreten muß. Umgekehrt betrachtet ein großer Teil der Männerwelt die Ehe vom reinen Geschäftsstandpunkt aus und erwägt und berechnet aus materiellen Gesichtspunkten die Vorteile und Nachteile derselben. Und selbst in die Ehen, für die niedrige und egoistische Motive nicht maßgebend waren, bringt die rauhe Wirklichkeit so viel Störendes und Auflösendes, daß nur in seltenen Fällen die Hoffnungen erfüllt werden, welche die Eheschließenden in ihrem Enthusiasmus erwarteten.

 

Das ist natürlich. Soll die Ehe beiden Ehegatten ein befriedigendes Zusammenleben gewähren, so erfordert sie neben der gegenseitigen Liebe und Achtung die Sicherung der materiellen Existenz, das Vorhandensein desjenigen Maßes von Lebensnotwendigkeiten und Annehmlichkeiten, das sie glauben für sich und ihre Kinder notwendig zu haben. Die schwere Sorge, der harte Kampf um das Dasein sind der erste Nagel zum Sarge ehelicher Zufriedenheit und ehelichen Glückes. Die Sorge wird daher um so größer, je fruchtbarer sich die eheliche Gemeinschaft erweist, also in je höherem Grade sie ihren Zweck erfüllt. Der Bauer zum Beispiel ist vergnügt über jedes Kalb, das seine Kuh ihm bringt, er zählt mit Behagen die Zahl der Jungen, die ein Mutterschwein ihm wirft, und mit Befriedigung berichtet er das Ergebnis seinen Nachbarn; aber er blickt düster, wenn seine Frau ihm zu der Zahl seiner Sprößlinge, die er glaubt ohne schwere Sorge erziehen zu können – und groß darf sie nicht sein –, einen neuen Zuwachs schenkt, um so düsterer, wenn das Neugeborene das Unglück hat, ein Mädchen zu sein.

 

Man darf also sagen, sowohl die Eheschließungen wie die Geburten werden von den ökonomischen Zuständen beherrscht. Am klassischsten zeigt sich dieses in Frankreich. Dort herrscht in der Landwirtschaft das Parzellensystem. Aber Grund und Boden, unter eine gewisse Grenze zerstückelt, ernährte keine Familie mehr. Daher das berühmt und berüchtigt gewordene Zweikindersystem, das sich in Frankreich zur sozialen Institution ausgebildet hat und sogar die Bevölkerung in vielen Provinzen, zum Schrecken der Staatslenker, fast stationär erhält, ja einen erheblichen Rückgang derselben verursacht. Was die Entwicklung der Warenproduktion und der Geldwirtschaft auf dem Lande verursacht, das erzeugt noch in stärkerem Maße die Industrie in den Städten. Hier nimmt die eheliche Fruchtbarkeit am schnellsten ab.

 

Die Zahl der Geburten fällt in Frankreich stetig, trotz Vermehrung der Zahl der Eheschließungen, aber nicht bloß in Frankreich, sondern in den meisten Kulturländern. Es drückt sich darin eine Entwicklung als Folge unserer sozialen Zustände aus, die den herrschenden Klassen zu denken geben sollte. In Frankreich wurden 1881 937.057 Kinder geboren, aber 1906 nur noch 806.847, 1907 773.969. Die Geburten blieben also im Jahre 1907 gegen das Jahr 1881 um 163.088 zurück. Charakteristisch ist aber, daß die Zahl der unehelichen Geburten, die in Frankreich im Jahre 1881 70.079 betrug und in der Periode von 1881 bis 1890 im Jahre 1884 mit 75.754 den höchsten Stand erreichte, 1906 immer noch 70.866 Köpfe stark war, so daß die Verminderung der Geburten ausschließlich auf die ehelichen fiel. Diese Abnahme der Geburten ist ein Charakteristikum, das durch das ganze Jahrhundert sich bemerkbar macht. Es fielen Geburten in Frankreich auf je 10.000 Einwohner im Jahre:

 

1801 – 1810  332

 

1811 – 1820  316

 

1821 – 1830  308

 

1831 – 1840  290

 

1841 – 1850  273

 

1851 – 1860  262

 

1861 – 1870  261

 

1881 – 1890  239

 

1891 – 1900  221

 

1905              206

 

1906              206

 

1907              197

 

Das ist eine Abnahme der Geburten im Jahre 1907 im Vergleich zu 1801 (333) um 136 auf je 10.000 Einwohner. Man kann sich vorstellen, daß dieses Resultat den französischen Staatsmännern und Sozialpolitikern große Kopfschmerzen bereitet. Aber Frankreich steht in dieser Beziehung nicht allein. Deutschland, insbesondere Sachsen, weist seit geraumer Zeit eine ähnliche Erscheinung auf, und die Abnahme der Geburtsziffer vollzieht sich noch schneller. So kamen in Deutschland auf je 10.000 Einwohner Geburten im Jahre:

 

1875   423

 

1880   391

 

1885   385

 

1890   370

 

1895   373

 

1900   368

 

1905   340

 

1906   341

 

1907   332

 

Die Mehrzahl der übrigen Staaten Europas zeigt uns ein ähnliches Bild. So kamen auf 1.000 Einwohner Geburten in:

 

 

Die Abnahme der Geburten ist also ganz allgemein, und obwohl Frankreich und Irland die niedrigsten Quoten aufweisen, vollzieht sich diese Verminderung der Geburtenziffer am schnellsten in England, Deutschland (Sachsen) und Schottland. Die gleiche Erscheinung finden wir in den Vereinigten Staaten und Australien. Noch stärker tritt diese Tendenz hervor, wenn wir statt der allgemeinen Geburtenziffer die eheliche Fruchtbarkeit in Betracht ziehen, das heißt die Beziehung der ehelich Geborenen zu dem mittleren Bestand der verheirateten Frauen in gebärfähigem Alter, also vom 15. bis vollendeten 49. Jahre:

 

Lebendgeborene eheliche Kinder auf 1.000 verheiratete Frauen
im Alter von 15 bis 49 Jahren (im Jahresdurchschnitt)

 

 

Die angeführten Tatsachen zeigen, daß die Geburt eines Menschen, "Gottes Ebenbild", wie die Religiösen sagen, durchschnittlich unterwertiger taxiert wird als ein neugeborenes Haustier, das spricht aber für den unerfreulichen Zustand, in dem wir uns befinden. In mancher Beziehung unterscheiden sich unsere Anschauungen wenig von denen barbarischer Völker. Bei diesen wurden häufig Neugeborene getötet, insbesondere traf dieses Schicksal die Mädchen, und manche Völkerschaften halten es noch heute so. Wir töten die Mädchen nicht mehr, dazu sind wir zu zivilisiert, aber sie werden nur zu oft als Parias behandelt. Der stärkere Mann drängt die Frau überall im Kampfe um das Dasein zurück, und nimmt sie dennoch den Kampf auf, so wird sie nicht selten von dem stärkeren Geschlecht als unliebsam Konkurrentin mit Haß verfolgt. Besonders sind es die Männer der höheren Schichten, die gegen die weibliche Konkurrenz am erbittertsten sind und sie am heftigsten bekämpfen. Daß auch Arbeiter den Ausschluß der Frauenarbeit fordern, kommt nur ausnahmsweise vor. Als zum Beispiel ein solcher Antrag im Jahre 1876 auf einem französischen Arbeiterkongreß gestellt wurde, erklärte sich die große Mehrheit dagegen. Seitdem aber hat gerade unter den klassenbewußten Arbeitern aller Länder die Auffassung, daß die Arbeiterin ein gleichberechtigtes Wesen ist, gewaltige Fortschritte gemacht, was insbesondere die Beschlüsse der internationalen Arbeiterkongresse zeigen. Der klassenbewußte Arbeiter weiß, daß die gegenwärtige ökonomische Entwicklung die Frau zwingt, sich zum Konkurrenten des Mannes aufzuwerfen, er weiß aber auch, daß die Frauenarbeit zu verbieten ebenso unsinnig wäre wie ein Verbot der Anwendung von Maschinen, und so trachtet er danach, die Frau über ihre Stellung in der Gesellschaft aufzuklären und sie zur Mitkämpferin in dem Befreiungskampf des Proletariats gegen den Kapitalismus zu erziehen.

 

3. Die Geldehe und die Ehebörse

 

Die heutige Gesellschaft steht zweifellos höher als jede frühere, aber die Auffassung in bezug auf das Verhältnis der beiden Geschlechter ist vielfach dieselbe geblieben. Professor L. v. Stein veröffentlichte 1876 eine Schrift: "Die Frau auf dem Gebiet der Nationalökonomie", die wenig ihrem Titel entspricht, in der er ein sehr poetisch gefärbtes Gemälde der Ehe gibt. In diesem Gemälde zeigt sich aber die untertänige Stellung der Frau gegenüber dem "Löwen" Mann. Stein schreibt: "Der Mann will ein Wesen, das ihn nicht bloß liebt, das ihn auch versteht. Er will jemanden, dem nicht bloß das Herz für ihn schlägt, sondern dessen Hand ihm auch die Stirn glättet, das in seiner Erscheinung den Frieden, die Ruhe, die Ordnung, die stille Herrschaft über sich selbst und die tausend Dinge ausstrahlt, zu denen er täglich zurückkehrt; er will jemanden, der um alle diese Dinge jenen unaussprechlichen Duft der Weiblichkeit verbreitet, der die belebende Wärme für das Leben des Hauses ist."

 

In diesem anscheinenden Lobgesang auf die Frau verbirgt sich ihre Erniedrigung und der Egoismus des Mannes. Der Herr Professor malt die Frau als ein duftiges Wesen, das aber, mit der nötigen praktischen Rechenkunst ausgestattet, das Soll und Haben der Wirtschaft im Gleichgewicht zu erhalten versteht und im übrigen zephirartig, wie holder Frühling, um den Herrn des Hauses, den gebietenden Löwen, schwebt, um ihm jeden seiner Wünsche an den Augen abzusehen und ihm mit der weichen Hand die Stirn zu glätten, die er, der "Herr des Hauses", vielleicht im Brüten über seine eigenen Dummheiten runzelt. Kurz, der Herr Professor schildert eine Frau und eine Ehe, wie unter hundert kaum eine vorhanden ist und vorhanden sein kann. Von den vielen Tausenden unglücklicher Ehen und der großen Zahl derjenigen Frauen, die nie dazu kommen, eine Ehe zu schließen, wie von den Millionen, die von früh bis spät neben dem Ehegatten als Lasttiere zu sorgen haben und sich abrackern müssen, um das bißchen Brot für den laufenden Tag zu erwerben, sieht und weiß er nichts. Bei diesen allen streift die herbe, rauhe Wirklichkeit die poetische Färbung leichter ab als die Hand den Farbenstaub von den Flügeln des Schmetterlings. Ein Blick auf jene ungezählten Dulderinnen würde dem Herrn Professor sein poetisch gefärbtes Gemälde arg zerstört und ihm sein Konzept verdorben haben. Die Frauen, die er sieht, bilden nur eine winzige Minorität und daß diese auf der Höhe ihrer Zeit stehen, darf man bezweifeln.

 

Ein oft zitierter Ausspruch lautet: "Der beste Maßstab für die Kultur eines Volkes ist die Stellung, welche die Frau einnimmt." Wir lassen das gelten, aber es wird sich dann zeigen, daß unsere so gerühmte Kultur noch nicht weit her ist. In seiner Schrift "Die Hörigkeit der Frau" – der Titel charakterisiert die Auffassung, die der Verfasser von der Stellung der Frau hat – äußert John Stuart Mill: "Das Leben der Männer ist häuslicher geworden. Die steigende Zivilisation legt dem Manne gegen die Frau mehr Fesseln an." Das ist in bedingtem Maße richtig, insofern zwischen Mann und Frau ein aufrichtiges eheliches Verhältnis besteht, aber man darf bezweifeln, daß dieser Ausspruch für eine starke Minderheit gilt. Der verständige Mann wird es für sich selbst von Vorteil erachten, daß die Frau mehr aus dem engen Kreis der häuslichen Tätigkeit in das Leben tritt und mit den Zeitströmungen vertraut wird. Die "Fesseln", die er sich damit auferlegt, drücken nicht. Dagegen entsteht die Frage, ob das moderne Leben nicht Faktoren in das Eheleben einführte, die in höherem Grade als früher die Ehe zerstören.

 

Die Ehe ist in hohem Grade Gegenstand materieller Spekulation geworden. Der Mann, der heiraten will, trachtet danach, mit der Frau auch Eigentum zu erheiraten. Dieses war schon in früherer Zeit der vornehmste Grund, daß die Töchter, die man anfangs, als die Vaterfolge maßgebend wurde, vom Erbe ausgeschlossen hatte, wieder Erbrecht erlangten. Aber in keiner früheren Zeit war die Ehe in so zynischer Weise, sozusagen auf offenem Markte, Gegenstand der Spekulation und bloßes Geldgeschäft wie heute. Gegenwärtig wird der Eheschacher häufig mit einer Schamlosigkeit betrieben, daß die stetig wiederholte Phrase von der "Heiligkeit" der Ehe als purer Hohn erscheint. Diese Erscheinung hat, wie alles, ihren zulänglichen Grund. In keiner früheren Zeit wurde es der großen Mehrzahl der Menschen schwerer, sich zu einem gewissen Wohlstand emporzuschwingen, als gegenwärtig; zu keiner Zeit war aber auch das berechtigte Streben nach menschenwürdiger Existenz und Lebensgenuß so allgemein. Wer das gesteckte Ziel nicht erreicht, empfindet dieses um so schwerer, weil alle glauben, das gleiche Recht zu genießen zu haben. Formell besteht kein Stände- und Klassenunterschied. Jeder will erlangen, was er, nach seiner Lebenslage, als erstrebenswertes Ziel ansieht. Aber viele fühlen sich berufen und wenige sind auserwählt. Damit einer in der bürgerlichen Gesellschaft in Behaglichkeit leben kann, müssen zwanzig andere darben. Und damit einer in allen Genüssen schwelgen kann, müssen Hunderte oder Tausende elend bleiben. Aber jeder will zu den Begünstigten gehören und ergreift jedes Mittel, das ihn zum Ziele zu führen scheint, vorausgesetzt, daß er sich nicht zu stark kompromittiert. Eines der bequemsten und naheliegendsten Mittel, eine bevorzugte soziale Stellung zu erreichen, ist die Geldehe. Das Verlangen nach möglichst viel Geld auf der einen und die Sehnsucht nach Rang, Titeln und Würden auf der anderen Seite findet auf diese Weise in den höheren Schichten der Gesellschaft gegenseitige Befriedigung. Hier wird die Ehe meist als Geschäft angesehen, sie ist ein konventionelles Band, das beide Teile äußerlich respektieren, im übrigen handelt nur zu oft jeder Teil nach seinen Neigungen .

 

In jeder größeren Stadt gibt es bestimmte Orte und Tage, an denen die höheren Klassen wesentlich zu dem Zweck zusammentreffen, um den Abschluß von Ehen zu befördern. Diese Zusammenkünfte werden deshalb passend "Ehebörsen" genannt. Denn wie an der Börse, so spielen auch hier die Spekulation und der Schacher die Hauptrolle und bleiben Betrug und Schwindel nicht aus. Mit Schulden überladene Offiziere, die aber einen alten Adelstitel präsentieren können, durch die Debauche brüchig gewordene Roués, die im ehelichen Hafen die ruinierte Gesundheit wiederherstellen möchten und einer Pflegerin bedürfen, Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers, die manchmal vor dem Bankrott und vor dem Zuchthaus stehen und gerettet sein wollen, endlich alle, die nach Erlangung oder Vermehrung von Geld und Reichtum trachten, erscheinen neben Beamten, die Aussicht auf Avancement besitzen, aber einstweilen in Geldnöten sind, als Kunden und schließen den Ehehandel ab. Dabei ist es nicht selten einerlei, ob die künftige Frau jung oder alt, hübsch oder häßlich, gerade oder bucklig, gebildet oder ungebildet, fromm oder frivol, Christin oder Jüdin ist. Lautete nicht der Ausspruch eines sehr berühmten Staatsmannes: "Eine Ehe zwischen einem christlichen H. und einer jüdischen St. ist sehr empfehlenswert"? Das bezeichnenderweise dem Pferdestall entnommene Bild findet, wie die Erfahrung lehrt, in den hohen Kreisen unserer Gesellschaft lebhaften Beifall. Das Geld gleicht alle Schäden aus und wiegt alle Untugenden auf. Das deutsche Strafgesetzbuch (§§ 180 und 181) bestraft die Kuppelei mit schwerer Zuchthausstrafe oder Gefängnis, aber wenn Eltern, Vormünder und Verwandte ihre Kinder, Mündel oder Anverwandte an einen ungeliebten Mann oder an eine ungeliebte Frau für das Leben verkoppeln, nur des Geldes, des Gewinnes, des Ranges oder eines sonstigen Vorteils wegen, kann kein Staatsanwalt eingreifen, und doch liegt ein Verbrechen vor. Es gibt zahlreiche wohlorganisierte Heiratsbureaus und Kuppler und Kupplerinnen aller Art, die auf Beute ausgehen und die Kandidaten und Kandidatinnen für den "heiligen Stand der Ehe" suchen. Solche Geschäfte sind besonders profitabel, wenn sie für die Glieder der höheren Stände "arbeiten". 1878 fand in Wien ein Kriminalprozeß gegen eine Kupplerin wegen Giftmischerei statt, der mit ihrer Verurteilung zu fünfzehn Jahren Zuchthaus endete. In demselben wurde unter anderem festgestellt, daß der frühere französische Gesandte in Wien, Graf Banneville, diesem Weibe für die Beschaffung seiner Frau 22.000 Gulden Kuppellohn bezahlte. Andere Mitglieder der hohen Aristokratie wurden in diesem Prozeß ebenfalls aufs schwerste kompromittiert. Gewisse staatliche Organe ließen das Weib in seinem dunklen und verbrecherischen Treiben jahrelang gewähren. Das Warum dürfte nach dem Mitgeteilten nicht zweifelhaft sein. In der deutschen Reichshauptstadt erzählt man sich ähnliche Geschichten, sie sind ein alltägliches Vorkommnis, wo immer Ehesuchende sich befinden. Besonderer Gegenstand des Eheschachers sind in den letzten Jahrzehnten für den geldbedürftigen europäischen Adel die Töchter und Erbinnen der reichen nordamerikanischen Bourgeoisie, die wieder ihrerseits Bedürfnis nach Rang und Würden hat, die es in ihrer amerikanischen Heimat nicht gibt. Über dieses Treiben gab charakteristische Aufschlüsse eine Reihe von Veröffentlichungen, die im Herbst 1889 in einem Teile der deutschen Presse erschienen. Danach hatte ein adliger Industrieritter in Kalifornien sich als Eheagent in deutschen und österreichischen Zeitungen empfohlen. Die Anerbietungen, die er erhielt, zeigten zur Genüge, welche Auffassung über die "Heiligkeit" der Ehe und ihre "ethische" Seite in den betreffenden Kreisen herrschen. Zwei preußische Gardeoffiziere, dem ältesten preußischen Adel angehörend, waren bereit, auf die Heiratsanerbietungen einzugehen, weil sie, wie sie offenherzig erklärten, zusammen über 60.000 Mark Schulden hätten. In ihrem Schreiben an den Kuppler sagten sie wörtlich: "Es ist selbstverständlich, daß wir kein Geld im voraus bezahlen. Ihre Remuneration erhalten Sie nach der Hochzeitsreise. Empfehlen Sie uns nur Damen, gegen deren Familien kein Anstand erhoben werden kann. Ebenso wäre es sehr erwünscht, mit Damen von möglichst einnehmendem Äußern bekannt gemacht zu werden. Wenn verlangt, übergeben wir Ihrem Agenten, der uns die näheren Umstände erklären und Photographien usw. zeigen wird, unsere Photographien für diskretionäre Zwecke. Wir betrachten die ganze Angelegenheit im vollsten Vertrauen als eine Sache der Ehre (!) und verlangen natürlich dasselbe von Ihnen. Wir erwarten baldigst Antwort durch Ihren hiesigen Agenten, falls Sie einen solchen haben.

 

Berlin, Friedrichstraße 107,                               Baron v. M.............

 

15. Dezember 1889.                                         Artur v. W.........................

 

Ein junger deutscher Adliger, Hans v. H., schrieb aus London, er sei 5 Fuß 10 Zoll groß, von altadliger Familie und im diplomatischen Dienst beschäftigt. Er machte das Geständnis, daß sein Vermögen durch unglückliche Wetten bei Pferderennen sehr zusammengeschmolzen sei, und er sich deshalb in die Notwendigkeit versetzt sehe, Ausschau nach einer reichen Braut zu halten, um das Defizit decken zu können. Auch sei er bereit, sofort eine Reise nach den Vereinigten Staaten zu unternehmen.

 

Der erwähnte Industrieritter behauptete, außer vielen Grafen, Baronen usw. hätten sich drei Prinzen und sechzehn Herzoge als Heiratskandidaten gemeldet. Aber nicht nur Adlige, auch Bürgerliche gelüstet es nach reichen Amerikanerinnen. So verlangte ein Architekt Max W. aus Leipzig eine Braut, die nicht nur Geld, sondern auch Schönheit und Bildung besitzen müsse. Aus Kehl am Rhein schrieb ein junger Fabrikbesitzer, Robert D., daß er sich mit einer Braut, die bloß 400.000 Mark habe, zufrieden gebe und versprach im voraus, sie glücklich zu machen. Doch wozu in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nahe. Man werfe nur einen Blick in die zahlreichen Heiratsannoncen der größeren bürgerlichen Zeitungen, und man findet oft Ehegesuche, die nur einer total verlotterten Gesinnung entsprungen sein können. Die Straßendirne, die aus bitterer Not ihr Gewerbe betreibt, ist zuweilen ein Ausbund von Anstand und Tugend gegen diese Ehesucher. Ein sozialdemokratischer Expedient, der einer solchen Annonce Aufnahme in sein Blatt gewährte, würde aus seiner Partei ausgestoßen. Die bürgerliche Presse genieren aber solche Annoncen nicht, sie bringen Geld ein, und sie denkt wie Kaiser Vespasian: non olet (es riecht nicht). Das verhindert aber diese Presse nicht, gegen die ehezerstörerischen Tendenzen der Sozialdemokratie zu eifern. Ein heuchlerischeres Zeitalter als das unsere hat es nie gegeben.

 

Werbebureaus für Heiraten sind heute die Annoncenblätter der meisten unserer Zeitungen. Wer immer, sei es Männlein oder Weiblein, unter der Hand nichts Passendes zur Heirat findet, vertraut sein Herzensbedürfnis frommen konservativen oder moralisch liberalen Zeitungen an, die für Geld und ohne gute Worte sorgen, daß die gleichgesinnten Seelen sich finden. Mit der Ausbeute eines einzigen Tages aus einer Anzahl der größeren Zeitungen ließen sich ganze Seiten füllen. Auch kommt ab und zu die interessante Tatsache zum Vorschein, daß man auf dem Wege der Annonce sogar Geistliche als Ehemänner zu erobern sucht und umgekehrt Geistliche nach einer Ehefrau angeln. Manchmal erbieten sich auch die Bewerber unter der Bedingung, daß die gesuchte Frau reich sei, einen Fehltritt zu übersehen. Kurz, die moralische Verkommenheit gewisser Kreise unserer Gesellschaft kann nicht besser als durch diese Art von Heiratsbewerbung an den Pranger gestellt werden.

 

Neuntes Kapitel - Zerrüttung der Familie

 

1. Das Wachstum der Ehescheidungen

 

Auch Staat und Kirche spielen bei einer solchen "heiligen Ehe" eine keineswegs hübsche Rolle. Mag der staatliche Beamte oder der Geistliche, dem die Eheschließung obliegt, überzeugt sein, daß das vor ihm stehende Brautpaar durch die schmutzigsten Praktiken zueinander geführt wurde; mag es offenbar sein, daß beide weder nach ihrem Alter, noch nach ihren körperlichen oder geistigen Eigenschaften zueinander passen; mag zum Beispiel die Braut zwanzig, der Bräutigam siebzig Jahre alt sein oder umgekehrt; mag die Braut jung, schön, lebenslustig, der Bräutigam alt, mit Gebresten behaftet, mürrisch sein, den Vertreter des Staats oder der Kirche ficht es nicht an. Der Ehebund wird "gesegnet", und mit um so größerer Feierlichkeit gesegnet, je reichlicher die Bezahlung für die "heilige Handlung" fließt.

 

Stellt sich aber nach einiger Zeit heraus, daß eine solche Ehe, wie jedermann vorausgesehen und das unglückliche Opfer, das in der Mehrzahl der Fälle die Frau ist, selbst voraussah, eine höchst unglückliche wurde, und entschließt sich der eine Teil zur Trennung, dann erheben Staat wie Kirche, die vorher nicht fragen, ob Liebe und moralische Triebe oder nackter, schmutziger Egoismus das Band knüpfte, die größten Schwierigkeiten. Jetzt wird nicht als genügender Grund für die Trennung der moralische Abscheu angesehen, jetzt werden handgreifliche Beweise verlangt, Beweise, die den einen Teil in der öffentlichen Meinung entehren oder herabsetzen, sonst wird die Trennung nicht ausgesprochen. Daß die katholische Kirche die Ehescheidung überhaupt nicht zuläßt, es sei denn durch besonderen Dispens des Papstes, der sehr schwer zu erlangen ist und äußerstenfalls sich nur zu einer Trennung von Tisch und Bett versteht, verschlimmert den Zustand, unter dem alle katholischen Bevölkerungen leiden. Auch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch hat die Ehescheidung bedeutend erschwert. So ist die Ehescheidung auf gegenseitige Einwilligung, die zum Beispiel nach dem preußischen Landrecht zulässig war, weggefallen, eine Bestimmung, auf Grund deren eine erhebliche Zahl von Ehescheidungen ausgesprochen wurde, häufig auch solche, bei denen viel gravierendere Ursachen vorlagen, die aber aus Rücksicht auf die Schädigung des schuldigen Teils verschwiegen wurden. So kamen zum Beispiel in Berlin unter 5.623 Ehescheidungsfällen, die von 1886 bis 1892 verhandelt wurden, 1.400, rund 25 Prozent, auf gegenseitige Einwilligung. In zahlreichen Fällen kann die Ehescheidung nur eintreten, wenn der Antrag innerhalb sechs Monaten von dem Zeitpunkt an, in dem der klagende Ehegatte von dem Scheidungsgrund Kenntnis erlangte, gestellt wird (§ 1565 bis 1568 BGB). Nach dem preußischen Landrecht währte der Termin ein Jahr. Man nehme zum Beispiel den Fall an, eine junge Ehefrau entdeckt kurz nach der Ehe, daß sie einen Mann ehelichte, der kein Ehemann ist. Da ist es ihr unter Umständen viel zugemutet, innerhalb sechs Monaten den Scheidungsantrag zu stellen, zu dem eine gewisse moralische Stärke gehört. Als Grund für die Erschwerungen wurde angeführt: "Nur durch möglichste Erschwerung der Ehescheidung könne man der fortschreitenden Auflösung der Familie entgegentreten und die Familie neu festigen." Das ist eine Begründung, die an innerem Widerspruch leidet. Eine zerrüttete Ehe wird dadurch nicht wieder erträglich, daß man die Ehegatten zwingt, trotz innerlicher Entfremdung und gegenseitigem Widerwillen beisammen zu bleiben. Ein solcher Zustand, vom Gesetz gestützt, ist durch und durch unmoralisch. Die Folge ist, daß in so und so vielen Fällen ein Ehebruchsgrund, den der Richter beachten muß, geschaffen wird, wodurch weder Staat noch Gesellschaft gewinnen. Eine Konzession an die katholische Kirche ist es auch, daß man die Scheidung von Tisch und Bett aufnahm, die dem früheren bürgerlichen Recht fremd war. Auch ist es kein Ehescheidungsgrund mehr, wenn durch Verschulden des einen Teiles die Ehe kinderlos bleibt. Daß man auch die Bestimmung in das Bürgerliche Gesetzbuch aufnahm (§ 1588): "Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnitts (über die Ehe) nicht berührt", ist ebenfalls eine Konzession an die Kirchen; sie hat zwar nur eine mehr dekorative Bedeutung, sie charakterisiert aber den Geist, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland herrscht. Uns genügt das Zugeständnis, daß man die Ehescheidung erschwerte, um der fortschreitenden Auflösung der Familie entgegenzuarbeiten.

 

Es bleiben also Menschen wider ihren Willen ihr Leben lang aneinander gekettet. Der eine Teil wird zum Sklaven des anderen und gezwungen, sich den intimsten Umarmungen des anderen Teiles aus "ehelicher Pflicht" zu unterwerfen, die er vielleicht mehr verabscheut als Schimpfworte und schlechte Behandlung. Mit vollem Recht sagt Mantegazza: "Es gibt wohl keine größere Tortur als die, welche ein menschliches Wesen zwingt, sich die Liebkosungen einer ungeliebten Person gefallen zu lassen ..." Ist eine solche Ehe nicht schlimmer als Prostitution? Die Prostituierte hat bis zu einem gewissen Grade die Freiheit, sich ihrem schmählichen Gewerbe zu entziehen, und sie hat, wenn sie nicht in einem öffentlichen Hause lebt, das Recht, den Kauf der Umarmung desjenigen zurückzuweisen, der ihr aus irgendeinem Grunde nicht zusagt. Aber eine verkaufte Ehefrau muß sich die Umarmungen ihres Mannes gefallen lassen, habe sie auch hundert Gründe, ihn zu hassen und zu verachten.

 

Ist von vornherein die Ehe, mit Wissen beider Teile, als Geld- oder Standesehe geschlossen, dann liegt die Sache günstiger. Man akkommodiert sich gegenseitig und trifft einen modus vivendi. Man will keinen Skandal, und namentlich zwingt die Rücksicht auf etwa vorhandene Kinder, ihn zu vermeiden, obgleich es gerade diese sind, die unter einem kalten, liebeleeren Leben der Eltern am meisten leiden, auch wenn es nicht in offene Feindschaft, Zank und Hader übergeht. Noch häufiger akkommodiert man sich, um materiellen Schaden zu verhüten. In der Regel ist es der Mann, dessen Verhalten in der Ehe den Stein des Anstoßes bildet, das zeigen die Ehescheidungsprozesse. Kraft seiner Herrschaftsstellung weiß er sich anderwärts zu entschädigen, wenn die Ehe ihm nicht zusagt und er in ihr keine Befriedigung findet. Die Frau kann Abwege weit weniger betreten, einmal aus physiologischen Gründen, weil, als empfangender Teil, das weit gefährlicher für sie ist, dann, weil jede Übertretung ehelicher Treue ihr als Verbrechen angerechnet wird, das auch die Gesellschaft nicht verzeiht. Die Frau allein begeht einen "Fehltritt" – sei sie Ehefrau, Witwe oder Jungfrau –, der Mann handelt im gleichen Falle höchstens "inkorrekt". Es wird also ein und dieselbe Handlung ganz verschieden beurteilt, je nachdem sie ein Mann oder eine Frau begeht, und die Frauen selbst urteilen in der Regel über eine "gefallene" Schwester am härtesten und unbarmherzigsten .

 

In der Regel wird die Frau nur in Fällen schwerster männlicher Untreue oder Mißhandlung sich entschließen, die Scheidung zu beantragen, weil sie meist in einer materiell abhängigen Lebenslage sich befindet und gezwungen ist, die Ehe als Versorgungsanstalt anzusehen; dann weil sie sich als geschiedene Frau gesellschaftlich in keiner beneidenswerten Lage befindet. Sie wird sozusagen als Neutrum angesehen und behandelt. Gehen dennoch die meisten Ehescheidungsklagen von Frauen aus, so ist dies ein Beweis, unter welch moralischer Tortur sie leiden. In Frankreich stellten schon die Frauen, bevor noch die neuere Ehescheidungsgesetzgebung in Kraft trat (1884), die weitaus meisten Anträge auf Trennung von Tisch und Bett. Auf Ehescheidung konnten sie gegen den Mann nur klagen, falls dieser die Frau, mit der er intimen Umgang pflog, gegen den Willen der Ehefrau in die eheliche Wohnung aufnahm. So wurden Anträge auf Trennung von Tisch und Bett gestellt durchschnittlich pro Jahr von:

 

Frauen           Männern

 

1856 – 1861  1.729 184

 

1861 – 1866  2.135 260

 

1866 – 1871  2.591 330

 

1901 – 1905  2.368 591

 

Aber die Frauen stellten nicht allein die weitaus meisten Anträge, die Zahlen zeigen auch, daß dieselben von Periode zu Periode zunehmen.

 

Auch anderwärts zeigt sich, soweit uns zuverlässige Mitteilungen vorliegen, daß die Anträge auf Ehescheidung in der Mehrzahl von der Frau ausgehen. Die folgende Tabelle ermöglicht diesen Vergleich .

 

 

 

In den Vereinigten Staaten, wo wir jetzt eine Statistik haben, die sich über vierzig Jahre erstreckt, verteilen sich die Ehescheidungsklagen wie folgt:

 

 

Wir sehen also, daß die Frauen mehr als zwei Drittel aller Anträge auf Ehescheidung stellten . Und ein ähnliches Bild zeigt uns Italien. Es wurden dort in den Jahren 1887 und 1904 1.221 und 2.103 Ehescheidungsklagen erledigt. Von diesen hatten die Frau 593 und 1.142, der Mann 214 und 454, beide Ehegatten 414 und 507 veranlaßt.

 

Die Statistik belehrt uns aber nicht allein, daß die Frauen die meisten Anträge auf Ehescheidung stellen, sie belehrt uns auch, daß die Zahl der Ehescheidungen in rascher Zunahme begriffen ist. In Frankreich ist seit 1884 die Ehescheidung gesetzlich neu geregelt, und seitdem haben die Ehescheidungen von Jahr zu Jahr erheblich zugenommen. Es fielen Ehescheidungen in die Jahre 1884 1.657, 1885 4.123, 1890 6.557, 1895 7.700, 1900 7.820, 1905 10.019, 1906 10.573, 1907 10.938.

 

Auch in der Schweiz sind die Ehescheidungen im Steigen. Im Jahresdurchschnitt von 1886 bis 1890 wurden durchschnittlich 882 Ehen geschieden, im Jahresdurchschnitt von 1891 bis 1895 898, 1897 1.011, 1898 1.018, 1899 1.091, 1905 1.206, 1906 1.343.

 

In Österreich kam es im Jahre 1899 zu 856 Ehescheidungen und 133 Ehetrennungen, 1900 1.310 und 163, 1905 1.885 und 262. Es hat sich also im Laufe eines Jahrzehntes die Zahl der Ehescheidungen und Ehetrennungen mehr als verdoppelt. In Wien fanden 1870 bis 1871 148 Ehescheidungen statt, sie stiegen Jahr für Jahr und beliefen sich 1878 bis 1879 auf 319 Fälle. Aber in Wien, als einer überwiegend katholischen Stadt, sind Ehescheidungen sehr schwer durchzusetzen; nichtsdestoweniger konnte schon Mitte der Achtziger Jahre ein Wiener Richter die Äußerung machen: "Die Klagen wegen gebrochener Ehe sind so häufig wie die wegen zerbrochener Fensterscheiben."

 

In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl der Ehescheidungen im Jahre 1867 9.937, 1886 25.535, 1895 40.387, 1902 61.480, 1906 72.062. Wäre die Zahl der Ehescheidungen im Verhältnis zu der Bevölkerung im Jahre 1905 dieselbe geblieben als im Jahre 1870, so wäre die absolute Zahl der Ehescheidungen im Jahre 1905 nur 24.000 und nicht 67.791 stark gewesen, wie sie in der Wirklichkeit war. Im ganzen betrug dort die Zahl der Ehescheidungen in dem Zeitraum von 1867 bis 1886 328.716, von 1887 bis 1906 945.625. Überhaupt finden in den Vereinigten Staaten absolut und relativ die meisten Ehescheidungen statt. Auf je 100.000 bestehende Ehen kamen Ehescheidungen: 1870 81, 1880 107, 1890 148, 1900 200. Die Gründe, warum diese dort häufiger sind als in jedem anderen Lande, dürften darin zu suchen sein, daß erstens die Ehescheidung, insbesondere in einzelnen Staaten, leichter ist als in den meisten anderen Ländern, und zweitens, daß die Frauen eine weit unabhängigere Stellung einnehmen als in jedem anderen Lande, und sich daher von ihren Eheherren weniger tyrannisieren lassen.

 

In Deutschland war die Zahl der rechtskräftigen Urteile für Ehescheidungen von 1891 bis 1900 folgende:

 

1891   6.678

 

1892   6.513

 

1893   6.694

 

1894   7.502

 

1895   8.326

 

1896   8.601

 

1897   9.005

 

1898   9.143

 

1899   9.563

 

1900   7.928

 

Wir sehen, daß von 1899 auf 1900 die Zahl der Ehescheidungen um 1.635 sank, und zwar weil mit dem 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen erschwerenden Bestimmungen in Kraft trat. Aber das Leben war stärker als das Gesetz. Die Ehescheidungen haben, nachdem ihre Zahl in den Jahren 1900 bis 1902 zurückging, seither wieder von Jahr zu Jahr noch schneller zugenommen. Die Zunahme geschieht auf Grund der häufigeren Anwendung des § 1568 BGB (Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses). Wie groß die Scheidungshäufigkeit nach 1900 geworden ist, zeigen folgende Zahlen: 1901 7.964, 1902 9.069, 1903 9.933, 1904 10.868, 1905 11.147, 1906 12.180, 1907 12.489. In Sachsen bewegt sich die Ehescheidungsziffer trotz aller Schwankungen auch in aufsteigender Linie. So entfielen:

 

Im Jahrfünft  Ehescheidungen  Auf 100.000 Ehen

 

1836 – 1840  356                     121

 

1846 – 1850  395                     121

 

1871 – 1875  581                     122

 

1891 – 1895  921                     138

 

1896 – 1900  1.130                  151

 

1901 – 1905  1.385                  168

 

Von 100.000 bestehenden Ehen wurden in Preußen im Durchschnitt jährlich geschieden von 1881 bis 1885 67,62, 1886 bis 1890 80,55, 1891 bis 1895 86,77, 1896 101,97, 1905 106, 1908 121 Ehen.

 

Das ist eine bedeutende Steigerung. Dieses Wachsen der Scheidungshäufigkeit ist eine internationale Erscheinung. So kamen auf je 100.000 bestehende Ehen im Durchschnitt jährlich Ehelösungen durch Scheidung oder Trennung in:

 

 

Es wäre verkehrt, wollte man aus der großen Verschiedenheit der Zahlen zwischen den verschiedenen Ländern zu günstigen oder ungünstigen Schlußfolgerungen über den so verschiedenen "Moralzustand" kommen. Niemand wird behaupten wollen, daß die schwedische Bevölkerung viermal mehr Ursachen zu Ehescheidungen habe als die englische. In erster Linie ist die Gesetzgebung ins Auge zu fassen, die in einem Lande die Ehescheidung erschwert und sie in anderen bald mehr, bald weniger erleichtert . Erst in zweiter Linie kommt der Moralzustand in Betracht, das heißt ein Durchschnittsmaß von Gründen, das bald der Mann, bald die Frau als maßgebend für die Stellung eines Antrags auf Trennung ansieht. Aber die Zahlen bestätigen: Im allgemeinen wachsen die Ehescheidungen rascher als die Bevölkerung, und sie wachsen, während die Eheschließungen vielfach fallen. Darüber weiter unten.

 

Sehr erheblich wirken auf die Ehescheidungen größere Altersunterschiede der Eheleute ein, sei es, daß der Mann wesentlich älter ist als die Frau oder die Frau als der Mann. Das beweist die folgende Zusammenstellung auf Grund der schweizerischen amtlichen Statistik:

 

 

Über die Frage, wie sich die Ehescheidungsklagen auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung verteilen, liegen uns unter anderem Angaben vor aus Sachsen aus den Jahren 1905 bis 1906 und aus Preußen 1895 bis 1905

 

 

Die Ehescheidungen waren also am häufigsten in Sachsen in der Beamtenwelt und in freien Berufen, in Preußen im Handel und Verkehr. Dann folgen für Sachsen Handel und Verkehr, für Preußen Beamte und freie Berufe. Die Industrie mit 220 für Sachsen und 158 für Preußen nimmt den dritten Rang ein. Am niedrigsten ist die Zahl in der Landwirtschaft. Die wachsende Zahl der Ehescheidungen in der städtischen Bevölkerung im Vergleich mit der ländlichen spricht dafür, daß im allgemeinen mit der zunehmenden Industrialisierung der ganzen Gesellschaft und der abnehmenden Stabilität des öffentlichen Lebens die Eheverhältnisse immer ungünstiger werden und die Faktoren sich vermehren, welche die Ehe zerstören. Andererseits sind sie ein Beweis, daß eine immer größere Zahl Frauen sich entschließt, das ihr unerträglich dünkende Joch abzuschütteln.

 

2. Bürgerliche und proletarische Ehe

 

Die ehelichen Übel aber wachsen, und die Korrumpierung der Ehe nimmt zu in dem Maße, wie der Kampf ums Dasein sich verschärft und die Ehe immer mehr Geld- beziehentlich Kaufehe wird. Die immer größer werdende Schwierigkeit, eine Familie zu unterhalten, bestimmt auch viele Männer, auf die Ehe überhaupt zu verzichten, und so wird die Redensart, die Frau müsse in ihrer Tätigkeit auf das Haus beschränkt bleiben, sie müsse als Hausfrau und Mutter ihren Beruf erfüllen, immer mehr gedankenlose Phrase. Andererseits müssen diese Zustände die außereheliche Befriedigung des Geschlechtsverkehrs begünstigen und die Zahl der Prostituierten vermehren; auch steigt die Zahl derer, die an unnatürlicher Befriedigung des Geschlechtstriebs kranken.

 

In den besitzenden Klassen sinkt die Frau nicht selten, ganz wie im alten Griechenland, zum bloßen Gebärapparat für legitime Kinder herab, zur Hüterin des Hauses oder zur Pflegerin des in der Debauche ruinierten Gatten. Der Mann unterhält zu seinem Vergnügen und für sein Liebesbedürfnis Hetären – bei uns Kurtisanen oder Mätressen genannt –, die in den schönsten Stadtvierteln wohnen. Andere, denen die Mittel keine Mätressen zu unterhalten gestatten, halten es in wie vor der Ehe mit den Phrynen, für die ihr Herz mehr als für die Ehefrau schlägt; mit ihnen amüsieren sie sich, und ein Teil unserer Ehefrauen ist korrupt genug, solche Unterhaltungen in der Ordnung zu finden .

 

In den oberen und mittleren Klassen der Gesellschaft ist also die Hauptquelle der Übel in der Ehe die Geld- und Standesheirat. Die Ehe wird aber noch mehr verderbt durch die Lebensweise dieser Klassen. Dieses trifft auch die Frau, die sich häufig dem Müßiggang oder korrumpierenden Beschäftigungen überläßt. Ihre geistige Nahrung besteht oft nur im Lesen zweideutiger Romane und in Zotenlektüre, im Besuch frivoler Theaterstücke, im Genuß sinnenkitzelnder Musik, in berauschenden Nervenstimulanzien, in Unterhaltungen über die Skandalaffären aller Art. Oder der Müßiggang und die Langeweile verleitet sie zu galanten Abenteuern, die noch häufiger der Mann sucht. Sie jagt von einem Vergnügen in das andere, von einem Gastmahl zum anderen, und im Sommer eilt sie in die Bäder und Sommerfrischen, um sich von den Strapazen des Winters zu erholen und neue Unterhaltung zu finden. Die Chronique scandaleuse findet bei dieser Lebensweise ihre Rechnung; man verführt und läßt sich verführen.

 

In den unteren Klassen ist die Geldehe so gut wie unbekannt. In der Regel heiratet der Arbeiter aus Neigung, aber an störenden Ursachen in der Ehe fehlt es nicht. Reicher Kindersegen schafft Sorgen und Mühen, und nur zu oft kehrt die Not ein. Krankheiten und Tod sind in den Arbeiterfamilien häufig gesehene Gäste. Arbeitslosigkeit treibt das Elend auf seinen Gipfel. Und wie vieles schmälert dem Arbeiter den Verdienst oder raubt ihm zeitweilig denselben ganz. Handels- und Industriekrisen machen ihn arbeitslos, die Einführung neuer Maschinen oder Arbeitsmethoden wirft ihn als überzählig aufs Pflaster; Kriege, ungünstige Zoll- und Handelsverträge, Einführung neuer indirekter Steuern, Maßregelung seitens der Unternehmer wegen Betätigung seiner Überzeugung usw. vernichten seine Existenz oder schädigen sie schwer. Bald tritt das eine, bald das andere ein, wodurch er bald längere, bald kürzere Zeit ein Arbeitsloser, das heißt ein Hungernder wird. Unsicherheit ist die Signatur seiner Existenz. Solche Schicksalsschläge erzeugen Mißstimmung und Verbitterung, und diese Stimmung kommt zunächst im häuslichen Leben zum Ausbruch, wenn täglich und stündlich Anforderungen für das Allernotwendigste gestellt werden, die nicht befriedigt werden können. Zank und Streit brechen aus. Ruin der Ehe und Familie ist die Folge.

 

Oder beide, Mann und Frau, gehen auf Arbeit. Die Kinder sind sich selbst oder der Überwachung älterer Geschwister überlassen, die selbst der Überwachung und Erziehung bedürften. In fliegender Eile wird in der Mittagstunde das meist elende Essen hinabgeschlungen, vorausgesetzt, daß die Eltern überhaupt Zeit haben, nach Hause zu eilen, was in Tausenden von Fällen wegen der Entfernung der Arbeitsstätte von der Wohnung und der Kürze der Pausen nicht möglich ist; müde und abgespannt kehren beide abends heim. Statt einer freundlichen, anmutenden Häuslichkeit finden sie eine enge, ungesunde Wohnung, die oft der Luft und des Lichtes entbehrt, und in der meist auch die nötigsten Bequemlichkeiten fehlen. Die zunehmende Wohnungsnot mit den daraus erwachsenden entsetzlichen Mißständen ist eine der dunkelsten Seiten unserer sozialen Ordnung, die zu zahlreichen Übeln, zu Lastern und Verbrechen führt. Und die Wohnungsnot wird trotz aller Versuche zur Abhilfe in den Städten und Industriebezirken mit jedem Jahre größer. Immer weitere Schichten werden von ihr erfaßt: kleine Gewerbetreibende, Beamte, Lehrer, kleine Kaufleute usw. Die Frau des Arbeiters, die abends müde und abgehetzt nach Hause kommt, hat von neuem alle Hände voll zu tun; Hals über Kopf muß sie arbeiten, um in der Wirtschaft nur das Notwendigste instand zu setzen. Die Kinder werden eiligst ins Bett gebracht, die Frau sitzt und näht und flickt bis in die späte Nacht. Die ihr so nötige Unterhaltung und Aufrichtung fehlt ihr. Der Mann ist oft unwissend, die Frau weiß noch weniger, und das Wenige, was man sich sonst zu sagen hat, ist rasch erledigt. Der Mann geht ins Wirtshaus, um dort die Annehmlichkeiten zu finden, die ihm zu Hause fehlen; er trinkt, und ist es noch so wenig, er verbraucht für seine Verhältnisse zu viel. Unter Umständen verfällt er dem Laster des Spieles, das auch in den höheren Kreisen der Gesellschaft viele Opfer fordert, und verliert noch mehr, als er vertrinkt. Unterdes sitzt die Frau zu Hause und grollt; sie muß wie ein Lasttier arbeiten, für sie gibt es keine Ruhepause und Erholung; der Mann benutzt, so gut er kann, die Freiheit, die ihm der Zufall gibt, als Mann geboren zu sein. So entsteht die Disharmonie. Ist aber die Frau weniger pflichtgetreu, sucht sie am Abend, nachdem sie müde von der Arbeit heimgekehrt ist, eine berechtigte Erholung, so geht die Wirtschaft rückwärts, und das Elend ist doppelt groß. Aber wir leben trotzdem in "der besten aller Welten".

 

So wird auch die Ehe des Proletariers immer mehr zerrüttet. Sogar günstige Arbeitszeiten üben ihren zersetzenden Einfluß, denn sie zwingen ihn zur Sonntags- und Überstundenarbeit und nehmen ihm die Zeit, die er für seine Familie noch übrig hatte. In unzähligen Fällen hat er ganze Stunden bis zur Arbeitsstätte; die Mittagspause zum Heimweg zu benutzen ist für ihn eine Unmöglichkeit; er steht morgens mit dem frühsten auf, wenn die Kinder noch im tiefsten Schlafe liegen, und kehrt erst spät am Abend, wenn sie bereits wieder in dem gleichen Zustand sich befinden, an den Herd zurück. Tausende von Arbeitern, namentlich die Bauarbeiter in den größeren Städten, bleiben der weiten Entfernung wegen die ganze Woche von Hause fern und kehren erst am Schlusse derselben zu ihrer Familie zurück. Bei solchen Zuständen soll das Familienleben gedeihen! Nun nimmt aber auch die Frauenarbeit immer mehr überhand, insbesondere in der Textilindustrie, die ihre Tausende von Dampfwebstühlen und Spindelmaschinen von billigen Frauen- und Kinderhänden bedienen läßt. Hier hat sich das frühere Verhältnis umgekehrt. Frau und Kind gehen in die Fabrik, und nicht selten sitzt der brotlos gewordene Mann zu Hause und besorgt die häuslichen Verrichtungen. "So findet man im Chemnitzer Bezirk in Appreturanstalten viele Frauen, die nur im Winter daselbst tätig sind, weil ihre Männer als Handarbeiter, Maurer, Zimmerer usw. im Winter gar keinen oder nur geringen Verdienst haben. In anderen Bezirken suchen die Frauen von Bauarbeitern während der Wintermonate Beschäftigung in Fabriken. Es kommt sehr häufig vor, daß während der Abwesenheit der Frau der Mann die Wirtschaft besorgt" . In Nordamerika, das bei seiner rapiden kapitalistischen Entwicklung alle Übel europäischer Industriestaaten in viel größerem Umfang erzeugt, hat man für den Zustand, den diese Verhältnisse hervorriefen, einen sehr charakteristischen Namen. Man nennt Industrieorte, in denen hauptsächlich die Frauen beschäftigt sind, während die Männer zu Hause sitzen, she towns, wörtlich "Siestädte", Frauenstädte .

 

Die Zulassung der Frauen zu allen gewerblichen Berufen ist heute allseitig zugestanden. Die bürgerliche Gesellschaft, jagend nach Profit und Gewinn, hat längst erkannt, welch ein vortreffliches Ausbeutungsobjekt im Vergleich mit dem Manne die sich leichter fügende und schmiegende und anspruchslosere Arbeiterin ist . So ist die Zahl der Berufe und Beschäftigungsarten, in welchen Frauen als Arbeiterinnen Anwendung finden, eine mit jedem Jahre wachsende. Die Ausdehnung und Verbesserung der Maschinerie, die Vereinfachung des Arbeitsprozesses durch immer größere Arbeitsteilung, der wachsende Konkurrenzkampf der Kapitalisten unter sich wie der auf dem Weltmarkt in Rivalität stehenden Industrieländer begünstigt die immer weitere Anwendung der Frauenarbeit. Das ist eine Erscheinung, die allen Industriestaaten gemeinsam ist. Aber in dem Maße, wie die Zahl der Arbeiterinnen sich vermehrt, werden diese vielfach Konkurrenten der männlichen Arbeiter. Zahlreiche Äußerungen in den Berichten der Fabrikinspektoren wie in den statistischen Angaben über die Beschäftigung von Arbeiterinnen bestätigen dieses.

 

Am schlimmsten ist die Lage der Frauen in denjenigen Gewerbezweigen, in welchen sie überwiegend beschäftigt sind, wie zum Beispiel in der Bekleidungs- und Wäscheindustrie, namentlich in den Arbeitszweigen, in welchen die Arbeit in der eigenen Wohnung für den Unternehmer verrichtet wird. Die stattgehabten Untersuchungen über die Lage der Arbeiterinnen in der Wäschefabrikation und der Konfektionsbranche, die im Jahre 1886 der Bundesrat veranstaltete, haben auch ergeben, daß die erbärmlichen Lohnverhältnisse dieser Arbeiterinnen sie vielfach zu Nebenverdienst durch Preisgabe ihres Körpers zwingen.

 

Unser christlicher Staat, dessen Christentum man in der Regel dort vergeblich sucht, wo es angewendet werden sollte, und dort findet, wo es überflüssig oder schädlich ist, dieser christliche Staat handelt wie der christliche Bourgeois, was den nicht wundert, der weiß, daß der christliche Staat nur der Kommis unseres christlichen Bourgeois ist. Der Staat entschließt sich schwer zu Gesetzen, welche die Frauenarbeitszeit auf ein erträgliches Maß beschränken und die Kinderarbeit verbieten, wie er auch vielen seiner Beamten weder ausreichende Sonntagsruhe noch eine normale Arbeitszeit gewährt und so ihr Familienleben schädigt. Post-, Eisenbahn-, Gefängnisbeamte usw. müssen häufig weit über das zulässige Zeitmaß ihren Dienst versehen, aber ihre Entlohnung steht im umgekehrten Verhältnis.

 

Da ferner die Wohnungsmieten im Vergleich zum Einkommen des Arbeiters, des niederen Beamten und des kleinen Mannes viel zu hoch sind, müssen sie sich aufs äußerste einschränken. Es werden Schlafburschen oder Logiermädchen in die Wohnung genommen, öfter auch beide zugleich . Alte und Junge wohnen auf engstem Raume, ohne Scheidung der Geschlechter zusammengepfercht, oft Zeuge der intimsten Vorgänge. Wie dabei Schamgefühl und Sittlichkeit fahren, darüber gibt es schauerliche Tatsachen. Die vielfach erörterte Zunahme der Verrohung und Verwilderung der Jugend ist vorzugsweise solchen Zuständen geschuldet, die in der Stadt und auf dem Lande bestehen. Und welche Wirkung muß für die Kinder die Erwerbsarbeit haben? Die schlechteste, die sich denken läßt, sowohl physisch wie moralisch.

 

Die immer mehr zunehmende industrielle Beschäftigung auch der verheirateten Frau ist namentlich bei Schwangerschaften, Geburten und in der ersten Lebenszeit der Kinder, während diese auf die mütterliche Nahrung angewiesen sind, von den verhängnisvollsten Folgen. Es entstehen während der Schwangerschaft eine Menge Krankheiten, die sowohl auf die Leibesfrucht als auf den Organismus der Frau zerstörend wirken und Früh- und Totgeburten hervorrufen. Ist das Kind zur Welt, so ist die Mutter gezwungen, wieder so rasch als möglich zur Fabrik zurückzukehren, damit ihr Platz nicht von einer Konkurrentin besetzt wird. Die unausbleiblichen Folgen für die kleinen Würmer sind: vernachlässigte Pflege, unpassende Nahrung, auch gänzlicher Mangel an Nahrung; sie werden, um ruhig zu sein, mit Opiaten gefüttert. Und die weiteren Folgen sind: massenhaftes Sterben oder Siechtum und Verkümmerung, mit einem Worte: Degeneration der Rasse. Vielfach wachsen die Kinder auf, ohne rechte mütterliche oder väterliche Liebe genossen und wahre Elternliebe empfunden zu haben. So gebiert, lebt und stirbt das Proletariat. Und Staat und Gesellschaft wundern sich, daß sich Roheit, Sittenlosigkeit und Verbrechen häufen.

 

Als im Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in den englischen Baumwolldistrikten infolge des nordamerikanischen Sklavenbefreiungskriegs viele Tausende von Arbeiterinnen feiern mußten, machten die Ärzte die auffallende Entdeckung, daß ungeachtet der großen Not der Bevölkerung die Kindersterblichkeit abnahm. Die Ursache war, die Kinder genossen jetzt die Nahrung von der Mutter und erhielten eine bessere Pflege, als sie je gehabt hatten. Die gleiche Tatsache ist seitens der Ärzte in der Krise der siebziger Jahre in Nordamerika, besonders in New York und Massachusetts, konstatiert worden. Die Arbeitslosigkeit zwang die Frauen zu feiern und ließ ihnen Zeit zur Kinderpflege. Ähnliche Beobachtungen hat man während des Generalstreiks in Schweden (August und September 1909) gemacht. Die Sterblichkeitsziffer in Stockholm und auch in anderen größeren schwedischen Städten hat sich seit langen Zeiten nicht so günstig gestaltet wie in den Wochen dieses Riesenstreiks. Eine der hervorragendsten medizinischen Autoritäten Stockholms hat sich dahin ausgesprochen, daß diese ungemein befriedigenden Sterblichkeits- wie überhaupt Gesundheitsverhältnisse ganz zweifellos mit dem Riesenstreik in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Am wichtigsten sei zweifellos der Umstand, daß die großen Scharen, aus denen sich die "Armee des Müßiggangs" während der Streikwochen zusammensetzte, Gelegenheit gehabt hätten, sich fast unausgesetzt unter freiem Himmel, in frischer Luft, aufzuhalten, was der körperlichen Gesundheit natürlich äußerst dienlich gewesen sei. Wie umfassend die für die Arbeitsräume geltenden sanitären Vorschriften auch sein mögen, so sei die Luft in den Arbeitslokalen doch im allgemeinen immer so beschaffen, daß sie in gesundheitlicher Beziehung mehr oder weniger schädlich wirken müsse. Die Bedeutung des Alkoholverbots während des Riesenstreiks dürfe auch nicht unterschätzt werden.

 

In der Hausindustrie, die volkswirtschaftliche Romantiker so idyllisch darstellen, liegen die Verhältnisse nicht besser. Hier ist neben dem Manne die Frau von früh bis in die Nacht an die Arbeit gekettet, und die Kinder werden vom frühesten Alter zu gleichem Werke angehalten. Zusammengepfercht auf den kleinsten Raum leben Mann, Frau, Familie und etwaige Hilfspersonen mitten unter den Arbeitsabfällen und bei den unangenehmsten Dünsten und Gerüchen. Dem Wohn- und Arbeitslokal entsprechen die Schlafräume. In der Regel dunkle Löcher, ohne Ventilation, sind diese schon für die Gesundheit bedenklich, wenn darin nur ein Teil der in ihnen untergebrachten Menschen hauste.

 

Der immer schwerer werdende Kampf ums Dasein zwingt auch oft Frauen und Männer zu Handlungen, die sie unter anderen Verhältnissen verabscheuten. So wurde 1877 in München konstatiert, daß unter den polizeilich eingetragenen und überwachten Prostituierten nicht weniger als 203 Frauen von Arbeitern und Handwerkern waren. Und wie viele verheiratete Frauen geben aus Not sich preis, ohne daß sie sich der polizeilichen Kontrolle unterwerfen, die Schamgefühl und Menschenwürde aufs tiefste verletzt.

 

Zehntes Kapitel - Die Ehe als Versorgungsanstalt

 

1. Die Abnahme der Eheschließungen

 

Es bedarf wohl keines weiteren Nachweises, daß unter den geschilderten Verhältnissen die Zahl derer wächst, die die Ehe nicht als Paradies ansehen und Bedenken tragen, in eine solche einzutreten. Daher die Erscheinung, daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Kulturstaaten im Rückgang begriffen ist oder stationär bleibt. Erfahrungsgemäß wirkten früher schon die hohen Kornpreise eines einzigen Jahres nachteilig auf die Zahl der Eheschließungen wie der Geburten ein. Aber je mehr die Industrialisierung eines Landes fortschreitet, desto mehr wird diese Zahl bedingt durch das Auf und Ab der gesamten ökonomischen Konjunktur. Wirtschaftliche Krisen und wachsende Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage müssen dauernd ungünstig wirken. Das bestätigt die Ehestatistik fast aller Kulturländer.

 

Nach der neuesten Regierungsenquete wurden in den Vereinigten Staaten im Zeitraum von 1887 bis 1906 12.832.044 Ehen geschlossen.

 

1887   483.096

 

1891   562.412

 

1892   577.870

 

1893   578.673

 

1894   566.161

 

1902   746.733

 

1903   786.132

 

1904   781.145

 

1905   804.787

 

1906   853.290

 

Wir sehen also, daß infolge der Krise 1893/94 die Zahl der Eheschließungen im Jahre 1894 nicht nur keine Steigerung erfährt, sondern um 12.512 sinkt. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich im Jahre 1904, das ein Minus von 4.987 Ehen aufweist.

 

In Frankreich zeigten die Eheschließungen folgendes Bild:

 

1873 – 1877  299.000

 

1878 – 1882  281.000

 

1883 – 1887  284.000

 

1888 – 1892  279.000

 

1893 – 1897  288.000

 

1898 – 1902  296.000

 

1903 – 1907  306.000

 

Die höchste Zahl weist das Jahr 1873 mit 321.238 Ehen auf. Von da an vermindert sich die Zahl der Eheschließungen, um mit dem Aufschwung des Wirtschaftslebens wieder in die Höhe zu gehen. Im Jahre 1907 zeigt Frankreich die höchste Zahl nach 1873: 314.903 Eheschließungen. Diese Zunahme ist in einem gewissen Grade die Folge des neuen Gesetzes vom 21. Juni 1907, das die zur Eheschließung notwendigen Formalitäten vereinfacht und in den armen Bezirken zum Aufschnellen der Eheziffern geführt hat.

 

Es kamen auf 1.000 der mittleren Bevölkerung Eheschließende:

 

 

Daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Ländern, je nachdem industrielle Prosperität oder Krise herrscht, schwankt, zeigt sich ganz eklatant in Deutschland. 1872, das Jahr nach dem Deutsch-Französischen Kriege, ergab für Deutschland, wie das Jahr 1873 für Frankreich, die höchste Zahl der Eheschließenden (423.900). Von 1873 ab fällt diese Zahl und erreicht im Jahre 1879, dem Jahre des Tiefstandes der Krise, ihren niedersten Grad (335.113); sie steigt dann langsam bis zum Jahre 1890, das noch ein Prosperitätsjahr war; sie fällt abermals im Jahre 1892 und steigt wieder mit den Jahren der Prosperität, um im Jahre 1899 und 1900, dem Höchststand der industriellen Blüte, den Höhepunkt zu erreichen (476.491 im Jahre 1900, 471.519 im Jahre 1899). Die neue Krise bringt einen Niedergang. Im Jahre 1902 fällt die Zahl der Eheschließungen abermals auf 457.208, um in den Jahren 1906 und 1907 (498.990 und 503.964) wieder den Höhepunkt zu erreichen. Und wenn im Jahre 1906 die Zahl der Eheschließungen um 13.004 höher war als 1905, so zeigen sich schon die Wirkungen der Krise von 1907 in einer verminderten absoluten Zunahme (nur 4.974 im Vergleich mit 1906) und einer relativen Abnahme (statt 8,2 auf 1.000 Einwohner nur 8,1).

 

Im allgemeinen aber verraten die Zahlen in den meisten Ländern eine sinkende Tendenz der Eheschließungen. Der Höchststand der Eheschließenden um die Mitte der siebziger Jahre wird bis Ende der neunziger Jahre nur ausnahmsweise erreicht, und wie aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich ist, bleibt die große Mehrzahl der europäischen Länder dahinter zurück.

 

Aber nicht bloß die Erwerbsverhältnisse, auch die Eigentumsverhältnisse wirken in hohem Grade auf die Eheschließungen ein. Schmollers Jahrbuch für 1885, Heft 1, gibt Mitteilungen über die Bevölkerungsstatistik des Königreichs Württemberg, aus welchen schlagend hervorgeht, daß mit der Zunahme des Großgrundbesitzes die Zahl der verheirateten Männer im Alter von 25 bis 30 Jahren abnimmt und die Zahl der unverheirateten Männer zwischen 40 und 50 Jahren zunimmt.

 

 

Der kleine Grundbesitz begünstigt die Eheschließungen, er ermöglicht einer größeren Zahl von Familien eine, wenn auch bescheidene Existenz, dagegen wirkt der große Grundbesitz den Eheschließungen entgegen. Mit fortschreitender Industrialisierung des Landes steigt die Zahl der Eheschließungen in städtischen Berufen. So treffen in Schweden auf je 1.000 Berufsangehörige Eheschließungen in den Jahren 1901 bis 1904:

 

Landwirtschaft                  4,78

 

Industrie und Bergbau       7,17

 

Handel und Verkehr         7,75

 

Freie und sonstige Berufe 6,33

 

Im Durchschnitt                5,92

 

Alle diese Zahlen beweisen aber, daß nicht moralische, sondern materielle Ursachen entscheidend sind. Die Zahl der Eheschließungen ist wie der Moralzustand einer Gesellschaft einzig von ihren materiellen Grundlagen abhängig.

 

2. Kindesmord und Fruchtabtreibung

 

Furcht vor Mangel und Bedenken, die Kinder nicht standesgemäß erziehen zu können, ist es auch hauptsächlich, was Frauen aus allen Klassen zu Handlungen treibt, die nicht mit dem Naturzweck, oft auch nicht mit dem Strafgesetzbuch in Übereinstimmung sind. Dahin gehören die verschiedensten Mittel zur Verhinderung der Empfängnis oder, wenn diese wider Willen stattgefunden hat, die Beseitigung der Leibesfrucht, der Abortus. Es wäre falsch, zu behaupten, daß diese Mittel nur von leichtfertigen, gewissenlosen Frauen angewandt wurden. Vielmehr sind es oft sehr pflichttreue Frauen, welche die Kinderzahl einschränken möchten; und um dem Dilemma zu entgehen, sich dem Gatten versagen zu müssen oder ihn auf Abwege zu drängen, die zu wandeln er Neigung hat, sich lieber der Gefahr der Anwendung abortativer Mittel unterwerfen. Daneben gibt es wieder Frauen, die, um einen "Fehltritt" zu verdecken, oder aus Widerwillen gegen die Unbequemlichkeiten der Schwangerschaft, des Gebärens und der Erziehung, oder aus Furcht, ihre Reize rascher einzubüßen und bei dem Gatten oder der Männerwelt an Ansehen zu verlieren, solche Handlungen begehen und für schweres Geld bereitwillig ärztliche und geburtshelferische Unterstützung finden.

 

Der künstliche Abortus kommt, nach verschiedenen Anzeichen zu schließen, immer mehr in Übung. Schon bei den alten Völkern war der Abortus vielfach in Anwendung, und er ist es heute von den zivilisiertesten bis hinab zu den barbarischen. Die alten Griechen betrieben ihn offen, ohne daß die Landesgesetze ihm entgegentreten. Zur Zeit Platos war es Hebammen erlaubt, Aborte herbeizuführen, und Aristoteles ordnete die vorzeitige Geburt bei den Verheirateten in den Fällen an, in denen "die Frau entgegen aller Voraussicht schwanger wurde" . Nach Jules Rouyer nahmen die Frauen Roms aus mehreren Gründen Zuflucht zum Abortus. Einmal wollten sie das Ergebnis ihrer unerlaubten Beziehungen verschwinden machen, ferner wollten sie sich der Ausschweifung ununterbrochen hingeben können, sie wollten aber auch die Veränderungen vermeiden, die Schwangerschaft und Geburt am Körper der Frau herbeiführen . Bei den Römern war eine Frau mit 25 bis 30 Jahren alt, und so ging diese allem aus dem Wege, was ihre Reize beeinträchtigen konnte. Im Mittelalter war der Abortus mit schweren Leibesstrafen, sogar mit der Todesstrafe bedroht, und eine freie Frau, die ihn ausführte, wurde Leibeigene.

 

In der Gegenwart ist besonders der Abortus in der Türkei und in den Vereinigten Staaten in Übung. "Die Türken sind der Ansicht, daß der Fötus bis zum fünften Monat kein wirkliches Leben besitzt; sie haben auch keine Skrupel, einen Abort herbeizuführen. Auch in der Zeit, wo der Abort strafbar wird, wird er nicht weniger ausgeübt. Allein im Zeitraum von sechs Monaten wurden 1872 zu Konstantinopel mehr als 3.000 Fälle von künstlichem Abort verhandelt" .

 

Noch öfter wird er geübt in den Vereinigten Staaten. In allen größeren Städten der Union gibt es Anstalten, in welchen Mädchen und Frauen eine frühzeitige Entbindung bewerkstelligen können; viele amerikanische Zeitungen enthalten Anzeigen solcher Anstalten . Man spricht in der dortigen Gesellschaft fast ebenso ungeniert über einen künstlichen Abortus wie über eine regelrechte Geburt. In Deutschland und anderen europäischen Ländern bestehen darüber andere Begriffe, und das deutsche Strafgesetzbuch bedroht beispielsweise den Täter wie den Helfer eventuell mit Zuchthausstrafe.

 

In vielen Fällen ist der Abortus von den schlimmsten Folgen begleitet, nicht selten tritt der Tod ein, in vielen Fällen ist Zerstörung der Gesundheit für immer das Endergebnis. "Die Beschwerden der beschwerlichen Schwangerschaft und Geburt sind unendlich geringer als die künstlichem Abortus folgenden Leiden" . Unfruchtbar werden ist eine seiner gewöhnlichsten Wirkungen. Trotz alledem wird er auch in Deutschland immer häufiger angewandt. So wurden wegen Abtreibung verurteilt in den Jahren 1882 bis 1886 839 Personen, 1897 bis 1901 1.565, 1902 bis 1906 2.236 . Die Chronique scandaleuse der letzten Jahre hatte sich mehrfach mit Fällen von Abortus zu befassen, die großes Aufsehen erregten, weil dabei angesehene Ärzte und Frauen aus der vornehmen Gesellschaft eine Rolle spielten. Auch mehren sich, nach der steigenden Zahl der bezüglichen Offerten in unseren Zeitungen zu schließen, die Anstalten und Orte, in welchen verheiratete und unverheiratete Frauen Gelegenheit geboten wird, die Folgen von "Fehltritten" in aller Heimlichkeit abzuwarten .

 

Die Furcht vor zu großer Kinderzahl in Rücksicht auf das vorhandene Eigentum und die Kosten der Erziehung hat auch in ganzen Klassen und bei ganzen Völkern die Anwendung von Präventivmaßregeln zu einem System entwickelt, das zur öffentlichen Kalamität zu werden droht. So ist es eine allgemein bekannte Tatsache, daß fast in allen Schichten der französischen Gesellschaft das Zweikindersystem durchgeführt wird. In wenig Kulturländern der Welt sind verhältnismäßig die Ehen so zahlreich als in Frankreich, aber in keinem Lande ist durchschnittlich die Kinderzahl eine so geringe und die Bevölkerungsvermehrung eine so langsame. Der französische Bourgeois wie der Kleinbürger und Parzellenbauer befolgen dieses System, und der französische Arbeiter schließt sich ihnen an. In manchen Gegenden Deutschlands scheinen die eigenartigen bäuerlichen Verhältnisse zu ähnlichen Zuständen geführt zu haben. So gibt es eine reizende Gegend in Südwestdeutschland, in welcher in dem Garten eines jeden Bauernhofs der Sevenbaum steht, dessen Bestandteile als abortatives Mittel angewandt werden. In einem anderen Bezirk desselben Landes besteht schon längst unter den Bauern das Zweikindersystem; sie wollen ihre Höfe nicht teilen. Auffällig ist auch, in welchem Maße die Literatur in Deutschland an Umfang und Absatz zunimmt, in der Mittel für "fakultative Sterilität" behandelt und anempfohlen werden. Natürlich stets unter "wissenschaftlicher" Flagge und mit Hinweis auf die angeblich gefahrdrohende Übervölkerung.

 

Neben dem Abortus und der künstlichen Verhinderung der Empfängnis spielt das Verbrechen eine Rolle. In Frankreich sind Kindermorde und Kinderaussetzungen im Steigen, beides befördert durch das Verbot des französischen Zivilgesetzes, nach der Vaterschaft zu forschen. Der § 340 des Code civil bestimmt: "La recherche de la paternité est interdite", dagegen der § 314: "La recherche de la maternité est admise." Nach der Vaterschaft eines Kindes zu forschen ist verboten, aber nach der Mutterschaft zu forschen gestattet, ein Gesetz, das unverhüllt die Ungerechtigkeit gegen die Verführte zum Ausdruck bringt. Die Männer Frankreichs können so viele Frauen und Mädchen verführen, als sie vermögen, sie sind von jeder Verantwortung frei und haben keine Alimente zu bezahlen. Diese Bestimmungen sind unter dem Vorwand erlassen worden, das weibliche Geschlecht müsse abgeschreckt werden, Männer zu verführen. Man sieht, es ist überall der schwache Mann, dieser Angehörige des starken Geschlechts, der verführt wird und nie verführt. Die Konsequenz des Artikels 340 Code civil war der Artikel 312, der bestimmt: "L'enfant conçu pendant le mariage a pour père le mari" (das während der Ehe empfangene Kind hat den Ehemann zum Vater). Ist die Nachforschung nach der Vaterschaft verboten, so muß sich logischerweise der mit Hörnern gekrönte Ehemann auch gefallen lassen, daß er ein Kind, das seine Ehefrau von einem Fremden empfing, als das seine ansehen muß. Man kann der französischen Bourgeoisie wenigstens nicht die Konsequenz absprechen. Alle Versuche, den Artikel 340 aufzuheben, sind bis jetzt gescheitert.

 

Andererseits suchte die französische Bourgeoisie die Grausamkeit, die sie beging, als sie durch Gesetz den betrogenen Frauen unmöglich machte, sich um Alimente an den Vater ihres Kindes zu wenden, durch die Gründung von Findelhäusern auszugleichen. Man nahm also dem Neugeborenen nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter. Nach französischer Fiktion sind Findelkinder Waisenkinder, und so läßt die französische Bourgeoisie ihre unehelichen Kinder auf Staatskosten als "Kinder des Vaterlandes" erziehen. Eine herrliche Einrichtung. In Deutschland lenkt man auch mehr in französische Bahnen ein. Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich enthalten über die Rechtsverhältnisse der unehelichen Kinder Grundsätze, die zum Teil mit dem früher geltenden humaneren Recht im Widerspruch stehen. So heißt es darin: "Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt." Dagegen dekretierte schon Kaiser Josef II. die Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern. "Keinen Vater hat das uneheliche Kind; für dessen Mutter die conceptio plurium (der Umgang mit mehreren Männern) in die Zeit der Empfängnis fällt." Der Leichtsinn, die Schwachheit oder Armut der Mutter wird an dem Kinde bestraft. Leichtsinnige Väter kennt das Gesetz nicht. "Die Mutter hat das Recht und die Pflicht, für die Person des unehelichen Kindes zu sorgen. Die elterliche Gewalt steht ihr nicht zu. Der Vater des unehelichen Kindes ist verpflichtet, dem Kinde bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahres den der Lebensstellung der Mutter entsprechenden Unterhalt zu gewähren, einschließlich der Kosten der Erziehung und der Vorbildung. Diese Verpflichtung besteht für den Vater über das sechzehnte Lebensjahr des Kindes hinaus, wenn dieses infolge von Gebrechen unfähig ist, sich selbst zu erhalten. Der Vater ist verpflichtet, der Mutter die Kosten der Entbindung, sowie die Kosten des Unterhalts für die ersten sechs Wochen nach der Entbindung und etwaige notwendige Aufwendungen als Folgen der Schwangerschaft oder der Entbindung zu ersetzen." Und so weiter. Nach dem preußischen Landrecht war aber eine außer der Ehe geschwängerte, unbescholtene ledige Frauensperson oder Witwe von dem Schwängerer nach dessen Stande und Vermögen abzufinden, doch durfte die Abfindungssumme den vierten Teil des Vermögens des Schwängerers nicht übersteigen. Dem unehelichen Kinde stand ein Anspruch gegen den Vater auf Unterhalt und Erziehung zu, ohne Rücksicht darauf, ob die Mutter eine unbescholtene Person war, jedoch nur in dem Betrage, den die Erziehung eines ehelichen Kindes Leuten vom Bauern- oder gemeinen Bürgerstand kostete. Hatte der außereheliche geschlechtliche Verkehr unter der Zusage einer künftigen Ehe stattgefunden, so hatte der Richter der Geschwächten den Namen, Stand und Rang des Schwängerers, sowie alle Rechte einer geschiedenen, für den unschuldigen Teil erklärten Ehefrau zuzuerkennen, und hatte in einem solchen Falle das uneheliche Kind die Rechte der aus einer vollgültigen Ehe erzeugten Kinder. Das hat nun aufgehört. Die Rückwärtserei ist in unserer Gesetzgebung Leitmotiv.

 

In der Periode von 1831 bis 1880 wurden vor den französischen Assisen 8.568 Kindesmorde verhandelt, und zwar stieg ihre Zahl von 471 in den Jahren 1831 bis 1835 auf 970 in den Jahren 1876 bis 1880. In demselben Zeitraum wurden über 1.032 Fälle Abortus abgeurteilt, und zwar im Jahre 1880 100 . Selbstverständlich kommt nur der kleinste Teil der Fälle von künstlichem Abortus zur Kenntnis der Gerichte, in der Regel nur, wenn schwere Erkrankungen oder Todesfälle folgen. Bei den Kindesmorden war die Landbevölkerung mit 75 Prozent und beim Abortus die Städte mit 67 Prozent beteiligt. Die Frauen in der Stadt haben mehr Mittel an der Hand, die normale Geburt zu verhindern, daher viele Fälle von Abortus und verhältnismäßig wenig Kindesmorde. Auf dem Lande liegen die Verhältnisse umgekehrt. In Deutschland wurden wegen Kindesmordes verurteilt in den Jahren 1882 bis 1886 884, 1897 bis 1901 887, 1902 bis 1906 745 Personen .

 

Das ist das Bild, das die heutige Gesellschaft in bezug auf ihre intimsten Beziehungen bietet. Es weicht stark ab von dem Gemälde, das poetische Phantasten von ihr entwerfen, nur hat es den Vorzug – wahr zu sein. Aber es müssen noch einige charakterisierende Pinselstriche hinzugefügt werden.