Obgleich die gekennzeichnete Entwicklung in der Stellung der Frau mit Händen zu greifen ist, jeder sie sehen muß, der offene Augen hat, hört man noch täglich das Geschwätz vom "Naturberuf" der Frau, der sie auf Häuslichkeit und Familie hinweise. Diese Redeweise wird am lautesten dort gehört, wo die Frau den Versuch macht, in den Kreis der höheren Berufsarten einzudringen, zum Beispiel in die höheren Lehr- und Verwaltungsfächer, den ärztlichen und juristischen Beruf, die Naturwissenschaften usw. Die lächerlichsten Einwendungen werden hervorgesucht und unter dem Scheine der Gelehrsamkeit verteidigt. Als gelehrt geltende Herren berufen sich hier, wie in vielen anderen Dingen, auf die Wissenschaft, um das Absurdeste und Widersinnigste zu verteidigen. Ihr Haupttrumpf ist, die Frau sei an geistiger Befähigung dem Manne inferior, sie könne auf geistigem Gebiet nichts Bemerkenswertes leisten.

 

Diese Einwände entsprechen so sehr dem Vorurteil der meisten Männer über Beruf und Fähigkeiten der Frau, daß, wer sie erhebt, auf ihren Beifall rechnen kann.

 

Neue Ideen werden, so lange allgemeine Bildung und Einsicht so tief noch stehen wie heute, stets harten Widerspruch finden, namentlich wenn es im Interesse der herrschenden Klassen liegt, Einsicht und Bildung möglichst auf ihre Schicht zu beschränken. Daher werden neue Ideen anfangs nur eine kleine Minderheit für sich gewinnen, und diese wird in der Regel verspottet, verlästert und auch verfolgt. Sind aber die neuen Ideen gute und vernünftige, sind sie als notwendige Konsequenz aus den bestehenden Zuständen erwachsen, so werden sie an Verbreitung gewinnen, die Minderheit wird schließlich Mehrheit. So erging es bisher allen neuen Ideen im Laufe der Geschichte, und die Idee, die wirkliche und volle Emanzipation der Frau herbeizuführen, wird den gleichen Erfolg haben.

 

Waren einst nicht auch die Bekenner des Christentums eine kleine Minderheit? Hatten nicht die Reformatoren, das moderne Bürgertum übermächtige Gegner? Trotzdem haben sie gesiegt. Oder wurde die Sozialdemokratie vernichtet, weil sie im Deutschen Reiche zwölf Jahre ausnahmegesetzlich geknebelt wurde? Nie war ihr Sieg gewisser, als da man glaubte, sie tot gemacht zu haben.

 

Die Berufung auf den Naturberuf der Frau, wonach sie Haushälterin und Kinderwärterin sein soll, ist ebenso sinnreich als die Berufung darauf, daß es ewig Könige geben müsse, weil, so lange es eine Geschichte gebe, es irgendwo solche gab. Wir wissen nicht, wo der erste König entstand, so wenig wie wir wissen, wo der erste Kapitalist sich zeigte, aber wir wissen und sehen, daß sich das Königtum im Laufe der Jahrtausende wesentlich verändert hat, und die Tendenz der Entwicklung ist, es mehr und mehr seiner Macht zu entkleiden, bis eine Zeit kommt, und sie ist nicht mehr fern, in der es überflüssig ist. Wie das Königtum, so ist jede staatliche und gesellschaftliche Institution beständigen Wandlungen und Umformungen und schließlich dem Untergang unterworfen. Wir sahen in den historischen Darlegungen dieser Schrift, daß die heute geltende Form der Ehe und die Stellung der Frau keineswegs "ewig" so war wie heute, daß vielmehr beide das Produkt eines geschichtlichen Entwicklungsganges sind, der keineswegs seinen Abschluß gefunden hat. Konnte es vor ca. 2350 Jahren Demosthenes als den einzigen Beruf der Frau hinstellen, "legitime Kinder zu gebären und treue Hüterin des Hauses zu sein", so ist heute dieser Standpunkt überwunden. Wer wagte heute solches als "naturgemäß" zu verteidigen, ohne sich den Vorwurf der Geringschätzung der Frau zuzuziehen? Allerdings gibt es auch noch heute solche Käuze, die im stillen die Auffassung des alten Atheners teilen, aber keiner wagt öffentlich auszusprechen, was vor Jahrtausenden einer der bedeutendsten Männer Griechenlands frei und offen als selbstverständlich erklären durfte. Darin liegt der Fortschritt.

 

Hat nun die moderne Entwicklung Millionen Ehen untergraben, so hat sie auch andererseits wieder die Entwicklung der Ehe günstig beeinflußt. Vor wenigen Jahrzehnten galt es in jedem Bürger- und Bauernhause nicht nur als selbstverständlich, daß die Frau nähte, strickte und wusch, obgleich auch das schon vielfach aus der Mode gekommen ist, sie buk auch das Brot, spann, wob, bleichte, braute Bier, kochte Seife, zog Lichte. Außerhalb des Hauses ein Kleidungsstück anfertigen zu lassen, wurde als maßlose Verschwendung angesehen. Wasserleitung, Gasbeleuchtung, Gas- oder Petroleumkocher usw. – von der Elektrizität zu schweigen – nebst einer Unzahl anderer, heute in Haus und Küche vorhandenen Einrichtungen, waren unbekannte Dinge. Allerdings bestehen auch noch heute veraltete Zustände, aber sie sind Ausnahmen. Die Mehrzahl der Frauen unterläßt viele früher als selbstverständlich angesehene Verrichtungen, weil sie durch die Industrie besser, praktischer und billiger besorgt werden, als es die Hausfrau vermag, weshalb auch, wenigstens in den Städten, jede häusliche Einrichtung dazu fehlt. So hat in wenigen Jahrzehnten sich innerhalb unseres Familienlebens eine große Revolution vollzogen, der wir nur so wenig Beachtung schenken, weil wir sie für selbstverständlich halten. Veränderungen, die dem Menschen sozusagen unter den Augen hervorwachsen, beachtet er nicht, wenn sie nicht plötzlich vor ihn treten und die gewohnte Ordnung stören, aber gegen neue Meinungen, die ihn aus dem gewohnten Schlendrian zu reißen drohen, lehnt er sich auf.

 

Diese Revolution, die sich in unserem häuslichen Leben vollzog und immer weiter vorschreitet, hat die Stellung der Frau in der Familie auch nach anderer Richtung wesentlich verändert. Die Frau ist freier, unabhängiger geworden. Unsere Großmütter durften, waren sie ehrsame Meistersfrauen, nicht daran denken und dachten nicht daran, zum Beispiel Arbeiter und Lehrburschen fern vom Haushalt und vom Tische zu halten, dafür aber Theater, Konzerte und Vergnügungslokale, sogar an einem Wochentage, zu besuchen. Und welche von jenen guten, alten Frauen wagte daran zu denken, sich um öffentliche Angelegenheiten zu bekümmern, wie das bereits von vielen Frauen geschieht. Man gründet Vereine für die verschiedensten Zwecke, hält und gründet Zeitungen, beruft Kongresse. Als Arbeiterinnen treten sie in Gewerkschaften zusammen, sie kommen in die Versammlungen und Vereine der Männer, und besaßen bereits hier und da – wir reden jetzt von Deutschland – das Recht, zu Gewerbeschiedsgerichten wählen zu dürfen, ein Recht, das ihnen die rückständige Reichstagsmehrheit im Jahre des Heils Eintausendachthundertundneunzig wieder aberkannte.

 

Welcher Zopf wollte die geschilderten Veränderungen beseitigen, obgleich sich nicht bestreiten läßt, daß neben den Licht- auch Schattenseiten vorhanden sind, die mit unseren gärenden und faulenden Zuständen zusammenhängen – aber es überwiegen die Lichtseiten. Die Frauen selbst, so konservativ sie bis jetzt im ganzen sind, besitzen auch gar keine Neigung mehr, in die alten, engen, patriarchalischen Verhältnisse früherer Zeit zurückzukehren.

 

In den Vereinigten Staaten steht die Gesellschaft zwar auch auf bürgerlichem Boden, aber sie hat sich weder mit alten europäischen Vorurteilen, noch überlebten Einrichtungen herumzuschlagen, und ist daher weit geeigneter, neue Ideen und Einrichtungen anzunehmen, wenn sie Vorteil versprechen. Dort sieht man seit geraumer Zeit die Stellung der Frau anders an als bei uns. Dort ist man zum Beispiel in bessersituierten Kreisen schon längst auf den Gedanken gekommen, daß es nicht bloß mühselig und umständlich, und für den Geldbeutel nicht einmal vorteilhaft ist, wenn die Frau noch selber Brot bäckt und Bier braut, man hält es auch für überflüssig, daß sie in der eigenen Küche kocht. Die mit allen möglichen Maschinen und zweckmäßigen Hilfsmitteln eingerichtete Zentralküche der Speisegenossenschaft hat die Privatküche ersetzt; die Frauen der Genossenschaft versehen abwechselnd den Dienst und das Essen wird billiger und wohlschmeckender hergestellt, es bietet mehr Abwechslung und seine Herstellung verursacht bedeutend weniger Mühe. Unsere Offiziere, die keine Sozialisten und Kommunisten sind, machen es ähnlich; sie bilden in ihren Kasinos eine Wirtschaftsgenossenschaft, ernennen einen Verwalter, der den Einkauf der Lebensmittel im großen besorgt; der Speisezettel wird vereinbart und die Fertigstellung der Speisen in der Dampfküche der Kaserne bewerkstelligt. Sie leben weit billiger als im Hotel und haben ein mindestens ebenso gutes Essen. Wie bekannt, leben auch Tausende der reichsten Familien das ganze Jahr, oder Teile des Jahres hindurch, in Pensionen und Hotels, ohne daß sie die häusliche Küche vermissen; sie halten es für eine große Annehmlichkeit, von der Privatküche befreit zu sein. Die ablehnende Haltung, namentlich wohlhabender und reicher Frauen gegen die Beschäftigung in oder mit der Küche, spricht auch nicht dafür, daß diese Tätigkeit zum "Naturberuf" der Frau gehört, ja die Tatsache, daß fürstliche und vornehme Familien, wie die größeren Hotels, sämtlich Köche zur Herstellung der Speisen engagieren, könnte sogar dafür sprechen, daß Kochen eine männliche Beschäftigung ist. Das denen zur gefälligen Beachtung, die sich die Frau nicht ohne schwingenden Kochlöffel vorstellen können.

 

Nun liegt nichts näher, als mit der Zentralküche die Zentralwaschanstalt und entsprechende Trockenvorrichtungen – wie solche bereits in allen größeren Städten von reichen Privaten oder Spekulanten errichtet sind und sich vortrefflich bewähren – für den allgemeinen Gebrauch einzurichten; ferner mit der Zentralküche die Zentralfeuerung, neben der Kaltwasser- die Warmwasserleitung einzurichten, und eine Menge lästiger und zeitraubender Arbeiten sind beseitigt. Große Hotels, viele Privathäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kasernen, öffentliche Gebäude aller Art usw. haben diese und ähnliche Einrichtungen – elektrisches Licht, Badeeinrichtungen usw. –, der Fehler ist, daß es nur öffentliche Anstalten und die wohlhabenden Klassen sind, die diese Vorteile genießen, die, allen zugängig gemacht, ein enormes Maß von Zeit, Mühe, Arbeitskraft und Material ersparen und die Lebenshaltung und das Wohlsein aller erheblich steigern würden. Im Sommer 1890 brachten die Zeitungen eine Beschreibung der Fortschritte, die in den Vereinigten Staaten betreffs der zentralen Beheizung und Luftversorgung im Werke waren. Darin hieß es unter anderem:

 

"Die in neuerer Zeit hauptsächlich in Nordamerika angestellten Versuche, die Beheizung ganzer Häuserviertel oder Stadtteile von einer Stelle aus zu bewirken, haben nicht unbeträchtliche Erfolge zu verzeichnen und sind in konstruktiver Beziehung so sorgfältig und zweckmäßig durchgeführt, daß in Anbetracht der günstigen Erfahrungen und der gebotenen finanziellen Vorteile eine weitere Verbreitung erwartet werden darf. Neuerdings ist man noch weiter bemüht, nicht allein die Beheizung, sondern auch die Versorgung mit frischer Luft, sei es in erwärmtem, sei es in abgekühltem Zustande, für einzelne räumlich nicht allzuweit ausgedehnte Stadtteile von Zentralstellen aus zu bewirken."

 

Was damals projektiert wurde, ist heute vielfach und verbessert verwirklicht. Die spießbürgerliche Engherzigkeit und Beschränktheit zuckt gern bei uns die Achsel über solche und ähnliche Pläne, obgleich wir uns auch in Deutschland in jener technischen Revolution befinden, welche die Privatküche und andere bisher in der Häuslichkeit vorgenommenen Verrichtungen gerade so überflüssig erscheinen lassen, wie es der handwerksmäßige Betrieb durch die Maschine und die moderne Technik geworden ist. Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erklärte selbst ein Napoleon die Idee, ein Schiff durch Dampf in Bewegung zu setzen, für die Idee eines Verrückten; die Idee, eine Eisenbahn zu bauen, wurde von für klug geltenden Leuten als eine Albernheit erklärt, kein Mensch könne auf solch einem Fahrzeug am Leben bleiben, weil die Raschheit des Fahrens dem Passagier den Atem benehme, und so werden noch heute eine Menge neuer Ideen ähnlich behandelt. Wer unseren Frauen vor hundert Jahren den Vorschlag gemacht hätte, das Wasserholen durch eine Wasserleitung abzunehmen, wäre der Anklage ausgesetzt gewesen, er wolle Frauen und Dienstboten zur Faulheit verleiten.

 

Aber die große technische Revolution ist auf allen Gebieten in vollem Marsche, nichts hält sie mehr auf, und die bürgerliche Gesellschaft hat die geschichtliche Aufgabe, diese Revolution, wie sie dieselbe ins Leben rief, auch ihrem Höhepunkt entgegen zu treiben und auf allen Gebieten die Keime zu Umgestaltungen ans Licht zu fördern, die eine auf neuer Grundlage stehende Gesellschaft nur ins Große und Allgemeine zu entwickeln und zum Gemeingut aller zu machen hat.

 

Die Entwicklung unseres sozialen Lebens geht also nicht dahin, die Frau wieder ins Haus und an den Herd zu bannen, wie unsere Häuslichkeitsfanatiker wollen, und wonach sie, wie die Juden in der Wüste, nach den verlorenen Fleischtöpfen Ägyptens schreien, sondern sie fordert das Heraustreten der Frau aus dem engen Kreise der Häuslichkeit und ihre volle Teilnahme an dem öffentlichen Leben – zu dem man alsdann die Männer nicht mehr allein zählen wird – und an den Kulturaufgaben der Menschheit. Laveleye hat recht, wenn er schreibt : "In dem Maße, in welchem das, was wir Zivilisation zu bezeichnen pflegen, zunimmt, schwächen sich die Gefühle der Pietät und die Bande der Familie ab und üben weniger Einfluß auf die Handlungen der Menschen aus. Diese Tatsache ist so allgemein, daß man in derselben ein soziales Entwicklungsgesetz erblicken kann." Nicht allein ist die Stellung der Frau eine andere geworden, sondern auch die Stellung von Sohn und Tochter zur Familie, die allmählich eine Selbständigkeit erlangt haben, die früher unbekannt war, namentlich in den Vereinigten Staaten, in welchen die Erziehung zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit des einzelnen in weit höherem Grade als bei uns stattfindet. Die Schattenseiten, die auch heute diese Form der Entwicklung besitzt, sind nicht notwendig mit ihr verbunden, sie liegen in den sozialen Zuständen unserer Zeit. ,

 

Die bürgerliche Gesellschaft ruft keine neue erfreuliche Erscheinung hervor, die nicht auch ihre dunkle Seite hat, sie ist in allen ihren Fortschritten, wie schon Fourier sehr scharfsinnig hervorhob, doppelseitig und zwieschlächtig.

 

Wie Laveleye erkennt auch Dr. Schäffle den veränderten Charakter der Familie unserer Zeit als Wirkung der sozialen Entwicklung an. Er sagt :

 

"Durch die Geschichte zieht sich allerdings die unter II. erörterte Tendenz, die Zurückbildung der Familie auf ihre spezifische Funktionen hindurch. Die Familie gibt eine provisorisch und stellvertretend gehandhabte Funktion um die andere ab, sie weicht, soweit sie bloß surrogativ in der Lücke sozialer Funktionen eingetreten war, den selbständigen Anstalten für Recht, Ordnung, Macht, Gottesdienst, Unterricht, Technik usw., sobald sich diese Anstalten ausbilden."

 

2. Die geistigen Fähigkeiten der Frau

 

Die Frauen drängen weiter, wenn zunächst auch nur in einer Minorität, und darunter nur ein Teil mit vollkommen klaren Zielen. Sie wollen nicht bloß ihre Kräfte auf dem gewerblichen und industriellen Gebiet mit jenen des Mannes messen, sie wollen nicht nur eine freiere, unabhängigere Stellung in der Familie einnehmen, sie wollen auch ihre geistigen Fähigkeiten in höheren Lebensstellungen und im öffentlichen Leben verwerten. Man macht ihnen mit Vorliebe den Einwand, daß sie dazu nicht fähig, weil von Natur nicht veranlagt seien. Die Frage der höheren Berufstätigkeit geht in der heutigen Gesellschaft nur eine kleine Zahl Frauen an, aber sie ist von prinzipieller Wichtigkeit. Die große Mehrzahl der Männer glaubt allen Ernstes, die Frauen müßten stets ihnen auch geistig untergeordnet bleiben und besäßen kein Recht auf Gleichstellung, und sie sind deshalb die entschiedensten Gegner dieser Bestrebungen.

 

Dieselben Männer, die nichts dagegen einzuwenden haben, daß die Frau in Beschäftigungsarten Stellung findet, von denen viele äußerst anstrengend, oft gefährlich sind, in welchen ihrer Weiblichkeit die höchste Gefahr droht, in denen sie ihre Mutterpflichten in eklatantester Weise verletzt, wollen sie von Berufen ausschließen, in welchen diese Hemmnisse und Gefahren weit weniger vorhanden sind und die ihrer Körperverfassung weit besser zusagen.

 

Namentlich hat die in Deutschland reger gewordene Agitation für die Zulassung von Frauen zum Studium auf den Universitäten eine starke Gegnerschaft auf den Plan getrieben, die sich namentlich gegen ihre Zulassung zum Studium der Medizin wendet. So Pochhammer, Fehling, S. Binder, Hegar usw.; v. Bärenbach glaubte namentlich die Befähigung der Frau zur Wissenschaft damit zurückweisen zu können, daß bisher unter den Frauen noch kein Genie erstanden sei und sie offenbar für das philosophische Studium unfähig seien. Hat die Welt genug männliche Philosophen, so kann sie ohne Schaden auf weibliche verzichten. Auch der Einwand, die Frauen hätten noch keine Genies hervorgebracht, ist weder stichhaltig noch beweiskräftig. Genies fallen nicht vom Himmel, sie müssen Gelegenheit zur Ausbildung und Entwicklung haben, und diese hat den Frauen bisher gemangelt, man hat sie Jahrtausende unterdrückt und ihnen Gelegenheit und Möglichkeit zur Ausbildung ihrer geistigen Kräfte genommen oder verkümmert. Sagt man, die Frauen besitzen keine Anlage zum Genie, weil man glaubt, der immerhin leidlich großen Zahl bedeutender Frauen Genie absprechen zu müssen, so ist das eben so schief, als behauptete man, in der Männerwelt seien nicht mehr Genies vorhanden gewesen, als die man als solche betrachtet. Jeder Dorfschullehrer weiß aber, welche Menge von Fähigkeiten unter seinen Schülern nicht zur vollen Entwicklung kommt, weil die Möglichkeit ihrer Ausbildung fehlt. Ja jeder einzelne von uns hat im Leben Menschen kennengelernt, von denen er sich sagen muß, daß wenn sie unter glücklicheren Umständen ihre Fähigkeiten hätten entfalten können, sie Zierden des Gemeinwesens, geniale Menschen geworden wären. Die Zahl der Talente und Genies unter den Männern ist weit größer, als bisher sich offenbaren konnte. Genau so verhält es sich mit den Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts, das seit Jahrtausenden noch weit mehr als das männliche geistig unterdrückt, gehemmt und verkrüppelt wurde. Wir haben keinen Maßstab, wonach wir genau beurteilen könnten, welche Fülle von geistigen Kräften und Fähigkeiten sich bei Männern und Frauen entwickeln, sobald diese sich unter naturgemäßen Bedingungen zu entfalten vermögen.

 

Heute ist es in der Menschenwelt wie in der Pflanzenwelt. Millionen kostbarer Samenkeime gelangen nicht zur Entfaltung, weil der Boden, auf den sie fallen, ungünstig ist oder bereits okkupiert wurde und so dem jungen Pflänzlein Luft, Licht und Nahrung geraubt wird. Dieselben Gesetze wie in der Natur gelten im Menschenleben. Wenn ein Gärtner oder Landwirt von einer Pflanze behaupten wollte, dieselbe ließe sich nicht vervollkommnen, obgleich er den Versuch dazu nicht machte, so würde er von jedem seiner aufgeklärteren Nachbarn für einen Einfaltspinsel erklärt. Dasselbe geschähe, wenn er es ablehnte, eines seiner weiblichen Haustiere mit dem männlichen einer vollkommeneren Rasse zu kreuzen, um ein vollkommeneres Tier zu erhalten.

 

Heute gibt es keinen Bauer mehr, der so unwissend ist, nicht die Vorteile einer vernünftigen Behandlungsweise seines Pflanzen- oder Viehbestandes einzusehen – eine andere Frage ist, ob seine Mittel ihm erlauben, die bessere Methode durchzuführen –; nur in der Menschenwelt wollen selbst gelehrte Leute nicht gelten lassen, was von ihnen für die übrige Welt als unumstößliches Gesetz angesehen wird. Und doch kann jeder, ohne Naturforscher zu sein, im Leben seine lehrreichen Beobachtungen machen. Woher kommt es, daß Bauernkinder sich von Stadtkindern unterscheiden? Woher kommt es, daß Kinder der bessersituierten Klassen sich in der Regel von Kindern armer Leute in der Gesichts- wie der Körperbildung und in gewissen geistigen Eigenschaften unterscheiden? Es kommt von der Verschiedenartigkeit der Lebens- und Erziehungsbedingungen.

 

Die Einseitigkeit, die in der Ausbildung zu einem bestimmten Beruf liegt, drückt dem Menschen einen besonderen Charakter auf. In den meisten Fällen wird mit Leichtigkeit ein Pfarrer oder ein Schullehrer durch seine Haltung und seinen Gesichtsausdruck erkannt, ebenso ein Militär, auch wenn er im Zivilrock steckt. Ein Schuhmacher wird sehr leicht von einem Schneider, ein Tischler von einem Schlosser unterschieden. Zwei Zwillingsbrüder, die in der Jugend sich sehr ähnlich waren, werden im späteren Alter bedeutende Abweichungen zeigen, wenn die Berufsart eine ganz verschiedene ist; der eine harter Handarbeit, zum Beispiel als Schmied, der andere dem Studium der Philosophie oblag. Vererbung auf der einen, Anpassung auf der anderen Seite spielen in der menschlichen Entwicklung so gut wie im Tierreich eine entscheidende Rolle, und zwar ist der Mensch das bieg- und schmiegsamste aller Geschöpfe. Oft genügen wenige Jahre einer anderen Lebens- und Berufsweise, um aus einem Menschen einen anderen zu machen. Veränderungen im Äußeren treten nirgends auffallender hervor, als wenn ein Mensch aus ärmlichen und kleinen Verhältnissen in wesentlich bessere versetzt wird. Seine Vergangenheit wird er vielleicht am wenigsten in seiner Geisteskultur verleugnen; das liegt daran, daß die meisten Menschen über ein gewisses Alter hinaus kein Streben nach geistiger Weiterbildung empfinden und oft auch nicht nötig haben. Ein Emporkömmling hat unter diesem Fehler selten zu leiden. In unserer Zeit, die auf Geld und materielle Mittel sieht, beugt man sich weit bereitwilliger vor dem Manne mit großem Geldbeutel, als vor dem Manne von Wissen und großen Geistesgaben, namentlich wenn dieser das Unglück hat, arm zu sein und keinen Rang zu besitzen. Die Anbetung des goldenen Kalbes stand zu keiner Zeit höher als in unseren Tagen. Dafür leben wir "in der besten der Welten".

 

Das schlagendste Beispiel dafür, was grundverschiedene Lebensbedingungen und Erziehung aus dem Menschen machen, sehen wir in unseren Industriebezirken. Dort bilden schon äußerlich Arbeiter und Unternehmer einen solchen Gegensatz, als gehörten sie zwei verschiedenen Menschenrassen an. In einer fast erschreckenden Weise kam uns dieser Gegensatz anläßlich einer Wahlversammlung vor Augen, die im Winter 1877 in einer erzgebirgischen Industriestadt stattfand. Die Versammlung, in der ein Disput mit einem liberalen Professor stattfinden sollte, war so arrangiert, daß beide Parteien gleich stark vertreten waren. Den vorderen Teil des Saales hatten die Gegner eingenommen, fast ohne Ausnahme gesunde, kräftige, oft große Gestalten, im hinteren Teile des Saales und auf den Galerien standen die Arbeiter und Kleinbürger, zu neun Zehntel Weber, meist kleine, schmalbrüstige, bleichwangige Gestalten, denen Kummer und Not aus dem Gesicht sah. Die einen repräsentierten die satte Tugend und zahlungsfähige Moral der bürgerlichen Welt, die anderen die arbeitenden Bienen und Lasttiere, aus deren Arbeitsertrag die Herren so wohl aussahen. Man setze eine Generation unter gleich günstige Lebensbedingungen, und der Gegensatz wird bei der Mehrzahl verschwinden, er ist sicher bei ihren Nachkommen getilgt.

 

Im allgemeinen ist es bei den Frauen schwerer, ihre soziale Stellung festzustellen, als bei den Männern, sie finden sich mit großer Leichtigkeit in neue Verhältnisse und nehmen rasch höhere Lebensgewohnheiten an. Ihre Anpassungsfähigkeit ist größer als die des schwerfälligeren Mannes.

 

Was für die Pflanze guter Boden, Licht und Luft, sind für den Menschen gesunde soziale Verhältnisse, die ihm die Entfaltung seiner geistigen und körperlichen Anlagen gestatten. Der bekannte Satz: "Der Mensch ist, was er ißt", drückt etwas zu einseitig einen ähnlichen Gedanken aus. Es handelt sich nicht bloß um das, was der Mensch ißt, sondern um seine ganze Lebenshaltung, um das soziale Milieu, in dem er sich bewegt, das seine körperliche und geistige Entwicklung hemmt oder fördert, sein Fühlen, sein Denken, sein Handeln in günstigem oder ungünstigem Sinne beeinflußt. Wir sehen jeden Tag, daß Menschen auch in guten materiellen Verhältnissen geistig und moralisch zugrunde gehen, weil außerhalb des engen Rahmens ihrer häuslichen oder persönlichen Verhältnisse ungünstige Einflüsse sozialer Natur auf sie einwirken und so übermächtigen Einfluß auf sie erlangen, daß sie in falsche Bahnen gelenkt werden. Die allgemeinen Zustände, unter denen jemand lebt, sind sogar von weit größerer Bedeutung als die in der Familie. Sind aber die sozialen Entwicklungsbedingungen für beide Geschlechter die gleichen, besteht für keines irgendeine Hemmung und ist der Sozialzustand der Gesellschaft ein gesunder, so erhebt auch die Frau sich auf eine Höhe der Vollkommenheit ihres Wesens, von dem wir noch keine rechte Vorstellung besitzen, weil bisher ein solcher Zustand in der Entwicklungsgeschichte der Menschen fehlte. Was zeitweilig einzelne Frauen leisteten, läßt das Beste erwarten, denn diese ragen über die Masse ihres Geschlechts ebenso bedeutend hervor, wie die männlichen Genies über die Masse ihrer Geschlechtsgenossen. Mit dem Maßstab gemessen, mit dem man zum Beispiel Fürsten zu messen pflegt, haben sogar die Frauen durchschnittlich zum Regieren mehr Talent bewiesen als die Männer. Als Beispiele seien erwähnt Isabella und Blanche von Kastilien, Elisabeth von Ungarn, Katharina Sforza, Herzogin von Mailand und Imola, Elisabeth von England, Katharina von Rußland, Maria Theresia usw. Gestützt auf die Tatsache, daß Frauen unter allen Rassen und in allen Teilen der Welt ausgezeichnet regierten, selbst über die wildesten, turbulentesten Horden, veranlaßt Burbach zu der Bemerkung, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Frauen sich besser für die Politik eignen wurden als die Männer . Als im Jahre 1901 die Königin Viktoria von England starb, machte ein großes englisches Blatt den Vorschlag, man solle in England ausschließlich die weibliche Thronfolge einführen, da die Geschichte Englands zeige, daß seine weiblichen Könige besser regierten als seine männlichen.

 

Mancher große Mann wurde in der Geschichte bedeutend zusammenschrumpfen, wüßte man immer, was er sich selbst, was er anderen zu danken hat. Als eines der größten Genies der Französischen Revolution wird von den deutschen Geschichtsschreibern, zum Beispiel von Sybel, Graf Mirabeau angesehen. Aber die Forschung hat ergeben, daß er die Konzepte fast aller seiner Reden der bereitwilligen Hilfe einiger Gelehrten zu danken hatte, die im stillen für ihn arbeiteten und die er zu benutzen verstand. Auf der anderen Seite verdienen Erscheinungen wie eine Sappho, eine Diotima zur Zeit des Sokrates, eine Hypatia von Alexandrien, eine Madame Roland, Marie Wollstonecraft, Olympe de Gouges, Frau v. Staël, George Sand usw. die größte Hochachtung; neben ihnen erbleicht mancher männliche Stern. Was Frauen als Mütter bedeutender Männer wirkten, ist ebenfalls bekannt. Die Frauen haben geleistet, was unter den für sie im ganzen äußerst ungünstigen Umständen möglich war, und das berechtigt für die Zukunft zu den besten Hoffnungen. Tatsächlich hat erst die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begonnen, den Frauen in größerer Anzahl die Wege zu ebnen und sie zum Wettbewerb mit dem Manne auf den verschiedensten Gebieten zuzulassen. Die erlangten Resultate sind sehr zufriedenstellende.

 

Aber gesetzt den Fall, die Frauen wären durchschnittlich nicht so entwicklungsfähig als die Männer, es gäbe unter ihnen keine Genies und großen Philosophen, war denn dieser Umstand für die Männer maßgebend, als man ihnen, nach dem Wortlaut der Gesetze, die volle Gleichberechtigung mit den "Genies" und "Philosophen" einräumte? Dieselben Gelehrten, die der Frau die höhere Befähigung absprechen, sind geneigt, dies auch gegenüber dem Handwerker und Arbeiter zu tun. Beruft sich der Adel auf sein "blaues" Blut und seinen Stammbaum, so lächeln sie spöttisch und zucken die Achseln; aber gegenüber dem Manne niederen Standes halten sie sich für eine Aristokratie, die, was sie geworden ist, nicht den günstigeren Lebensumständen zu verdanken hat, sondern einzig dem ihnen eigentümlichen Talent. Dieselben Männer, die auf dem einen Gebiet zu den vorurteilslosesten gehören und eine geringe Meinung von jenen besitzen, die gleich ihnen nicht frei denken, sind auf anderen Gebieten, sobald es sich um ihr Standes- oder Klasseninteresse, um ihre Eitelkeit oder Eigenliebe handelt, beschränkt bis zur Borniertheit und gegnerisch gesinnt bis zum Fanatismus. Die höhere Männerwelt urteilt absprechend über die niedere, und ähnlich fast die gesamte Männerwelt über die Frauen. Die Männer sehen in ihrer großen Mehrzahl in den Frauen nichts als Mittel zu ihrem Nutzen und Vergnügen, sie als Gleichberechtigte anzusehen, widerstrebt ihrem Vorurteil. Die Frau soll demütig und bescheiden sein, sie soll sich auf das Haus beschränken und alles übrige dem "Herrn der Schöpfung" als Domäne überlassen. Die Frau soll ihren Gedanken und Neigungen jeden denkbaren Zügel anlegen und abwarten, was ihre irdische Vorsehung, der Vater oder Gatte, über sie beschließt. Je mehr sie allen diesen Forderungen nachkommt, um so "vernünftiger, sittsamer und tugendhafter" wird sie gepriesen, mag sie als Folge ihrer Zwangsstellung unter der Last physischer und moralischer Leiden zugrunde gehen. Spricht man aber von der Gleichheit aller Menschen, dann ist es ein Unding, davon die Hälfte des Menschengeschlechts ausschließen zu wollen.

 

Die Frau hat das gleiche Recht wie der Mann auf Entfaltung ihrer Kräfte und auf freie Betätigung derselben; sie ist Mensch wie der Mann, und sie soll wie er die Freiheit haben, über sich zu verfügen als ihr eigener Herr. Der Zufall, als Frau geboren worden zu sein, darf daran nichts ändern. Die Frau, weil sie als Frau und nicht als Mann geboren ist – woran der Mann so unschuldig ist wie die Frau –, von der Gleichberechtigung auszuschließen, ist ebenso ungerecht, als wenn Rechte und Freiheiten von dem Zufall der Religion oder der politischen Gesinnung abhängig gemacht werden, und ebenso unsinnig, wie daß sich zwei Menschen als Feinde betrachten, weil sie durch den Zufall der Geburt verschiedenen Volksstämmen oder verschiedenen Nationalitäten angehören. Das sind eines freien Menschen unwürdige Anschauungen. Der Fortschritt der Menschheit besteht darin, alles zu beseitigen, was einen Menschen von dem anderen, eine Klasse von der anderen, ein Geschlecht von dem anderen in Abhängigkeit oder Unfreiheit erhält. Es hat keine andere Ungleichheit Berechtigung als jene, welche die Natur in der Verschiedenheit des Wesens der einzelnen und zur Erreichung des Naturzwecks schuf. Die Naturschranken wird aber kein Geschlecht überschreiten, weil es damit seinen Naturzweck vernichtete.

 

3. Die Verschiedenheiten in der körperlichen und geistigen Beschaffenheit von Mann und Frau

 

Die Gegner der Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne spielen als Haupttrumpf aus, die Frau habe kleineres Gehirn als der Mann, auch stehe sie in anderen Eigenschaften hinter dem Manne zurück, damit sei ihre dauernde Inferiorität (Unterbürtigkeit) bewiesen. Fest steht, daß Mann und Frau zwei Menschen verschiedenen Geschlechts sind, daß jedes dem Geschlechtszweck entsprechend besondere Organe hat, und daß auf Grund der Aufgaben, die jedes Geschlecht zur Erreichung des Naturzwecks erfüllen muß, eine Reihe Verschiedenheiten in ihren physiologischen und psychischen Zuständen vorhanden sind. Das sind Tatsachen, die niemand bestreiten kann und bestreiten wird, aber diese begründen keinen Unterschied in der sozialen oder politischen Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Menschheit, die Gesellschaft besteht aus beiden Geschlechtern, beide sind für den Bestand und die Fortentwicklung derselben unentbehrlich. Auch der genialste Mann wurde von einer Mutter geboren, der er oft das Beste, was er besitzt, verdankt. Mit welchem Recht will man also der Frau die Gleichberechtigung mit dem Manne versagen?

 

Die wesentlichsten Verschiedenheiten, die sich in der körperlichen und geistigen Beschaffenheit von Mann und Weib nach Anschauung hervorragender Autoritäten ergeben, sind folgende: Bezüglich der Körpergröße finden wir zum Beispiel bei Havelock Ellis 170 Zentimeter als Durchschnittsgröße für den Mann, für das Weib 160 Zentimeter (bei Vierordt 172 und 160, in Norddeutschland nach Krause 173 und 163 Zentimeter). Der Unterschied beträgt also durchschnittlich 10 bis 12 Zentimeter. Das Verhältnis der Körpergrößen ist gleich 100:93. Als rundes Gewichtsmittel kann für Erwachsene 65 und 54 Kilogramm gelten. Das Überwiegen der relativen Rumpflänge beim weiblichen Geschlecht ist ein lange bekannter Unterschied; er wird aber, wie genaue, messende Untersuchung ergibt, zumeist beträchtlich überschätzt. Die Beine sind bei einer mittelgroßen Frau um bloß 15 Millimeter kürzer als bei einem gleichfalls mittelgroßen Manne, und Pfitzner bezweifelt, daß dieser Unterschied bei Betrachtung der Figur merklich werden könne. "Die Gliederung der Körperlänge in Stammlänge und Beinlänge wird ausschließlich durch die Statur beeinflußt und ist vom Geschlecht durchaus unabhängig." Dagegen ist der weibliche Arm ausgesprochen kürzer als der männliche (100:91,5). Abgesehen von Größe und Breite der männlichen Hand ist beim Manne der Ringfinger in der Regel länger als der Zeigefinger, bei der Frau umgekehrt. Die männliche Hand wird hierdurch affenähnlicher, wie ja auch der längere Arm ein "pithekoides" (affenähnliches) Merkmal ist.

 

Was die Größe des Kopfes betrifft, so läßt sich ein Verhältnis der absoluten Werte für männliche und weibliche Kopfhöhe gleich 100:94 berechnen; die relativen Kopfhöhen verhalten sich aber wie 100: 100,8, was einen absolut kleineren, aber relativ etwas größeren Kopf für das Weib ergibt. Nach Pfitzner verhalten sich nun die absoluten Kopflängen wie 100: 96, 1. Die relative Kopflänge des Mannes aber verhält sich zu der des Weibes wie 100: 103; hier wird der relativ größere Kopf des Weibes etwas deutlicher ersichtlich. Die Knochen der Frau sind kleiner, dünner, zarter gebaut und an der Oberfläche glatter, denn die schwächere Muskulatur bedarf weniger rauher Flächen zum Ansatz. Diese geringere Entwicklung bei Muskulatur ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Weibes; sie äußert sich in der geringeren Dicke der einzelnen Muskeln, überdies sind die Muskeln des Weibes weicher und wasserreicher. (Der Wassergehalt der Muskulatur beträgt nach v. Bibra beim Manne 72,5 Prozent, beim Weibe 74,4 Prozent.) Diesem Verhalten der Muskulatur steht ein umgekehrtes des Fettgewebes gegenüber. Es ist beim Weibe bedeutend reichlicher entwickelt als beim Manne. Der Brustkorb ist verhältnismäßig kürzer und gedrungener, andere Verschiedenheiten hängen direkt mit dem Geschlechtszweck zusammen. Die Angaben verschiedener Autoren über absolutes und relatives Gewicht der Eingeweide widersprechen sich oft sehr bedeutend. So verhält sich das Herzgewicht zum Körpergewicht beim Manne nach Vierordt wie 1:215, nach Cleudinning wie 1:158, beim Weibe nach denselben Autoren wie 1:206 bzw. 1:149. Im allgemeinen kann man wohl annehmen, daß die weiblichen Eingeweide, wenn auch meist absolut kleiner, so doch relativ, auf das Körpergewicht bezogen, schwerer sind. Das Herzgewicht des Mannes stellt sich auf 350, das der Frau auf 310 Gramm.

 

Für das Blut ergibt sich ein etwas größerer Wassergehalt (80,11 Prozent gegen 78,15), eine geringere Zahl von Blutzellen (Blutkörperchen) in der Raumeinheit (4,5 gegen 3 Millionen im Kubikmillimeter) und ein geringerer Gehalt an Blutfarbstoff (der Unterschied beträgt nach Ellis 8 Prozent). Bei dem Weibe bewirkt die geringere Größe des Herzens, das engere Gefäßsystem und wahrscheinlich auch der größere Wassergehalt des Blutes einen weniger intensiven Stoffverbrauch und eine geringere Ernährung. Auch der schwächere Kieferapparat mag hieraus verständlich werden. "So erklärt es sich, daß auch der zivilisierte Mann noch in manchem dem Tiere, besonders dem Affen nähersteht als das Weib, daß er ›pithekoide‹ Charaktere aufweist, zu denen außer der Entwicklung des Gesichtsskeletts auch die Länge der Gliedmaßen genannt werden kann."

 

Was die Schädelunterschiede der Geschlechter betrifft, so muß gleich hervorgehoben werden, daß nach Bartels ein durchgreifendes, in jedem einzelnen Falle nachweisbares Merkmal für die Zugehörigkeit eines Schädels zu einem der beiden Geschlechter bisher nicht bekannt ist und wohl überhaupt nicht existiert. Absolut genommen ist der männliche Schädel in sämtlichen Dimensionen größer als beim Weibe. Dementsprechend ist auch der Schädelinnenraum und das Gewicht größer (Verhältnis 1.000:888). Die gesonderte Betrachtung von Hirn- und Gesichtsschädel fährt aber zu etwas anderen Ergebnissen. Der letztere ist beim Manne nicht nur absolut, sondern auch relativ größer. Dagegen sind die Dimensionen des Hirnschädels beim Weibe durchweg relativ größer. Auch aus den Zahlen für den Schädelinhalt ergibt sich ein relativ größerer Schädel für das Weib.

 

Als Mittelzahl für sämtliche normale Gehirne erwachsener Personen ergibt sich für den Mann (nach Grosser) ein Gewicht von 1.388 Gramm, für das Weib von 1.252 Gramm . Die überwiegende Mehrzahl der Gewichte für das männliche Geschlecht (84 Prozent) liegt zwischen 1.250 und 1.550, für das weibliche (91 Prozent) zwischen 1.100 und 1.450 Gramm. Diese Gewichte sind aber nicht direkt vergleichbar, da das Weib kleiner ist als der Mann. Wir sind also auf Feststellung des relativen Hirngewichtes angewiesen. Beim Vergleich mit dem Körpergewicht entfallen beim Manne 21,6 Gramm, beim Weibe 23,6 Gramm Hirnsubstanz auf das Kilogramm Körpergewicht. Die Erklärung für dieses Überwiegen wird hauptsächlich in der Tatsache gesucht, daß die weibliche Statur kleiner ist .

 

Andere Resultate gibt der Vergleich von gleich großen Individuen verschiedenen Geschlechts. Nach Marchand ist das weibliche Hirngewicht für alle Größenklassen ausnahmslos geringer als das gleich großer Männer. Aber dies Verfahren ist ebensowenig korrekt wie der Vergleich mit der Körperlänge. Er setzt voraus als bewiesen, was noch zu beweisen ist: eine direkte Beziehung zwischen Körperlänge und Hirngewicht. Blakeman, Alice Lee und Karl Pearson haben auf Grund englischer Daten und Messungen festgestellt, daß im Hirngewicht kein merklicher relativer Unterschied zwischen Mann und Weib besteht, das heißt ein Mann mit gleicher Körpergröße, Lebensalter und Kopfmaßen wie das Durchschnittsweib würde von diesem keine Differenz im Hirngewicht zeigen .

 

Sogar Marchand hebt hervor, daß die Kleinheit des weiblichen Gehirnes vielleicht durch größere Feinheit seiner Nervenelemente bedingt ist. "Allerdings", sagt Grosser, "ist dies noch nicht mikroskopisch nachgewiesen und würde auch nur schwer festzustellen sein. Doch muß im Wege der Analogie darauf hingewiesen werden, daß ja auch Augapfel und Ohrlabyrinth beim Weibe etwas kleiner sind als beim Manne, ohne daß deswegen diese Apparate in irgendeiner Hinsicht weniger fein und leistungsfähig wären. Ein weiterer, ja wohl der Hauptgrund für eine wirklich geringere Entwicklung des weiblichen Gehirns liegt in dem Umstand, daß die weibliche Muskulatur schwächer entwickelt ist" .

 

Soweit die angegebenen Verschiedenheiten auf der Natur des Geschlechtsunterschieds beruhen, sind sie selbstverständlich nicht zu ändern. Wieweit diese Verschiedenheiten in der Blut- und Gehirnverfassung durch andere Lebensweise (Ernährung, geistige und physische Gymnastik, Beschäftigungsweise usw.) sich modifizieren lassen, entzieht sich zunächst jedem bestimmten Urteil. Daß die Frau der heutigen Zeit sich in stärkerer Differenzierung vom Manne befindet als die Frau der Urzeit oder Frauen rückständigerer Völker, scheint festzustehen und ist nach der sozialen Entwicklung, welche die letzten 1.000 bis 1.500 Jahre unter den Kulturvölkern für die Frau hervorriefen, nur zu erklärlich.

 

Nach Havelock Ellis betrug die Schädelkapazität des Weibes (die des Mannes mit 1.000 angenommen):

 

Neger                      984

 

Hottentotten            951

 

Hindu                      944

 

Eskimo                    931

 

Holländer                919 (909)

 

Russen                    884

 

Deutsche                 838 bis 897

 

Chinesen                 870

 

Engländer                860 bis 862

 

Pariserin (19. Jahr)  858

 

Die widersprechenden Angaben bei den Deutschen zeigen, daß die Messungen an sehr verschiedenem Material – quantitativ und qualitativ – vorgenommen worden sind und daher nicht absolut zuverlässig sind. Eines aber geht sicher aus den Zahlen hervor. Neger-, Hottentotten-, Hindufrauen haben eine erheblich größere Schädelkapazität als Deutsche, Engländerinnen und Pariserinnen, und doch sind die letzteren sämtlich intelligenter.

 

Bei der Vergleichung des Hirngewichts bekannter verstorbener Männer stellen sich ähnliche Widersprüche und Seltsamkeiten heraus. Nach Professor Reclam wog das Gehirn des Naturforschers Cuvier 1.830 Gramm, das Byrons 1.807, das des berühmten Mathematikers Gauß 1.492, des Philologen Hermann 1.358, des Pariser Präfekten Hausmann 1.226 Gramm. Letzterer hatte ein Hirn, das unter dem Durchschnittsgewicht eines weiblichen Gehirns wog. Auch das Gehirn Gambettas wog erheblich unter allem Durchschnitt weiblicher Gehirne, es war nur 1.180 Gramm schwer. Auch Dante soll ein Gehirn gehabt haben, das unter dem Durchschnittsgewicht eines Männerhirnes lag. Angaben ähnlicher Art finden wir bei Havelock Ellis. Danach hatte ein gewöhnliches Individuum, dessen Hirn Bischoff wog, 2.222 Gramm, das Hirn des Dichters Turgeniew 2.012 Gramm, dagegen war das drittgrößte Hirn das eines Narren aus der Grafschaft Hants; das Hirn eines gewöhnlichen Arbeiters wog 1.925 Gramm, das ebenfalls Bischoff untersuchte. Die schwersten Frauenhirne wogen zwischen 1.742 und 1.580 Gramm, zwei von diesen rührten von geisteskranken Frauen her. Auf dem deutschen Anthropologenkongreß, der im August 1902 zu Dortmund stattfand, konstatierte Professor Waldeyer, daß eine Untersuchung des Schädels des im Jahre 1716 verstorbenen Philosophen Leibniz ergeben habe, daß dessen Inhalt nur 1.450 Kubikzentimeter beträgt, was einem Hirngewicht von 1.300 Gramm entspricht. Nach Hanseman, der die Gehirne von Mommsen, Bunsen und Adolf v. Menzel untersucht hatte, wog das Gehirn Mommsens 1.429,4 Gramm und war also nicht schwerer als das mittlere Gehirngewicht eines erwachsenen Mannes. Menzels Gehirn wog nur 1.298 Gramm und Bunsens noch weniger – 1.295 Gramm, also niedriger als das Durchschnittsgewicht und nicht bedeutend größer als das Gehirngewicht einer Frau. Das sind frappante Tatsachen, welche die alte Auffassung, daß die geistigen Fähigkeiten nach dem Schädelinhalt bemessen werden könnten, vollständig über den Haufen werfen.

 

Raymond Pearl kommt nach einer Untersuchung der englischen Daten zu folgendem Schlusse: "Es gibt keinen Beweis, daß zwischen den geistigen Fähigkeiten und dem Gehirngewicht engere Beziehungen vorhanden sind" .

 

Der englische Anthropologe W. Duckworth sagt: "Es gibt keinen bestimmten Beweis, daß bei den Menschen ein großes Hirngewicht von hohen geistigen Fähigkeiten begleitet ist. Weder das Hirngewicht, weder die Schädelkapazität noch der Kopfumfang, wo sie festgestellt werden konnten, sind als Gradmesser der geistigen Fähigkeiten von irgendwelchem Nutzen" .

 

Kohlbrügge, der in den letzten Jahren mit einer Reihe von Untersuchungen über Gehirne der Menschenrassen hervorgetreten ist, äußert: "Intelligenz und Gehirngewicht sind zwei ganz voneinander unabhängige Größen. Auch das oft hervorgehobene höhere Gehirngewicht berühmter Männer wird als nicht beweiskräftig zurückgewiesen, weil es wohl das mittlere allgemeine Gehirngewicht übertrifft, aber nicht das der oberen gesellschaftlichen Klasse, zu welcher doch alle diese Männer gehörten. Mit diesen Äußerungen soll aber nicht bestritten werden, daß das Gehirngewicht besonders durch übermäßigen Arbeitsreiz in der Jugend zunehmen kann, wodurch das größere Gehirn der höheren Gesellschaftsklasse oder der besseren Schüler (Schädelkapazität) sich erklären ließe, zumal wenn, wie bei bessersituierten Leuten Regel ist, Überernährung hinzutritt. Diese durch geistige Überanstrengung hervorgerufene Gewichtszunahme hat bekanntlich auch ihre Schattenseite: Gehirne von Irren sind häufig sehr schwer. Hauptsache ist, daß nicht nachgewiesen werden kann, daß Intelligenz (ganz etwas anderes als Arbeitsleistung) irgendwelche Beziehungen zum Gewicht hat. Auch für die äußere Formbildung gilt, daß bisher keine Beziehungen zwischen bestimmten Formen und höherer geistiger Ausbildung, Genialität oder Intelligenz nachgewiesen werden konnte" .

 

Es steht also fest, daß so wenig wie die Körpergröße einen Schluß auf die Körperkraft zuläßt, ebensowenig gestattet das Gewicht der Gehirnmasse einen Schluß auf die geistigen Fähigkeiten. Die großen Säugetiere, Elefant, Walfisch, Delphin usw. besitzen größere und schwerere Gehirne. In bezug auf das relative Hirngewicht übertreffen sie die meisten Vögel und kleinen Säugetiere. Wir haben sehr kleine Tiere (Ameisen, Bienen), die an Intelligenz weit größere (zum Beispiel Schaf, Kuh) übertreffen, ebenso wie oft Menschen von großer Gestalt an Geistesfähigkeit weit hinter solchen von kleiner und unscheinbarer Gestalt zurückstehen. Es kommt mit größter Wahrscheinlichkeit weniger auf die Gehirnmasse an, als auf die Gehirnorganisation und auf die Übung und Anwendung der Gehirnkräfte.

 

"Es ist meiner Ansicht nach – sagt Professor L. Stieda – der feinere Bau der Hirnrinde die unzweifelhafte Ursache für die Verschiedenheit der psychischen Funktionen: die Nervenzellen, die Zwischensubstanz, die Anordnung der Blutgefäße, die Beschaffenheit, Form, Größe, Anzahl der Nervenzellen und nicht zu vergessen ihre Ernährung, der Stoffwechsel in ihnen" .

 

Das Gehirn muß, wenn es seine Fähigkeiten voll entwickeln soll, so gut wie jedes andere Organ fleißig geübt und entsprechend genährt werden; unterbleibt dieses oder wird die Ausbildung nach falscher Richtung unternommen, so tritt statt normaler Entwicklung nicht nur Hemmung, sondern geradezu Verkrüppelung ein. Die eine Richtung wird auf Kosten der anderen gefördert.

 

Es gibt mehrere Anthropologen, wie Manouvrier und andere, die sogar beweisen, daß das Weib in morphologischer Beziehung höher steht als der Mann. Das ist eine Übertreibung. "Wenn wir die beiden Geschlechter vergleichen – sagt Duckworth –, so stellt sich heraus, daß es keinen konstanten Unterschied gibt, der ein Geschlecht in morphologischer Beziehung höher erscheinen läßt als das andere" .

 

Havelock Ellis will nur eine Beschränkung gelten lassen. Er glaubt, daß die Variationsbreite der Merkmale beim weiblichen Geschlecht geringer ausfällt als beim männlichen. Aber Karl Pearson hat in einer Gegenkritik ausführlich bewiesen, daß es nur ein pseudowissenschaftlicher Aberglaube ist .

 

Niemand, der einigermaßen die Geschichte der Frauenentwicklung kennt, wird aber bestreiten, daß seit Jahrtausenden an der Frau stark gesündigt wurde und noch gesündigt wird. Wenn dagegen Professor Bischoff behauptet, die Frau habe so gut als der Mann ihr Gehirn und ihre Intelligenz ausbilden können, so zeigt diese Behauptung in bezug auf den erörterten Gegenstand ein unerlaubtes und unerhörtes Maß von Ignoranz. Die in dieser Schrift gegebene Darstellung über die Stellung der Frau im Laufe unserer Kulturentwicklung läßt es vollkommen erklärlich erscheinen, daß die Jahrtausende währende Herrschaftsstellung des Mannes wesentlich die großen Unterschiede in der geistigen und physischen Entwicklung verschuldete.

 

Unsere Naturforscher sollten anerkennen, daß die Gesetze ihrer Wissenschaft auch voll auf den Menschen anzuwenden sind. Vererbung und Anpassung gelten für den Menschen wie für jedes andere Naturwesen. Macht aber der Mensch keine Ausnahme in der Natur, so muß auch die Entwicklungslehre auf ihn angewandt werden, wodurch sonnenklar wird, was sonst trübe und dunkel bleibt und dann Gegenstand wissenschaftlicher Mystik oder mystischer Wissenschaft wird.

 

Entsprechend der verschiedenen Erziehung der Geschlechter – wenn diese Bezeichnung für einen großen Teil der Vergangenheit, namentlich für die Frau erlaubt und der Ausdruck Aufziehung nicht richtiger ist – hat sich auch die Gehirn bildung bei den Geschlechtern entwickelt. Die Physiologen sind einig darüber, daß die Hirnpartien, die den Verstand beeinflussen, in den vorderen Partien des Gehirns liegen, und diejenigen, die vorzugsweise das Gefühls- und Gemütsleben beeinflussen, im Mittelkopf zu suchen sind. Bei dem Manne ist der Vorderkopf, bei der Frau der Mittelkopf mehr entwickelt. Demgemäß hat sich der Schönheitsbegriff für Mann und Frau ausgebildet. Nach dem griechischen Schönheitsbegriff, der noch heute maßgebend ist, soll die Frau eine schmale, der Mann eine hohe und namentlich breite Stirne haben. Und dieser Schönheitsbegriff, der ein Ausdruck ihrer Erniedrigung ist, ist unseren Frauen so eingeprägt, daß sie eine höhere Stirne als eine Unschönheit betrachten, und die Natur durch die Kunst zu verbessern suchen, indem sie sich die Haare über die Stirne ziehen, damit sie niedriger erscheint.

 

4. Der Darwinismus und der Zustand der Gesellschaft

 

Es ist also nicht erwiesen, daß die Frauen infolge ihrer Gehirnmasse gegenüber den Männern unterbürtig sind, demnach braucht man sich nicht zu wundern, daß gegenwärtig die Frauen geistig sind, wie sie sind. Darwin hat sicher recht, zu sagen, daß eine Liste der ausgezeichnetsten Männer in Poesie, Malerei, Skulptur, Musik, Wissenschaft und Philosophie neben einer gleichen Liste der ausgezeichnetsten Frauen auf diesen Gebieten nebeneinander gestellt, keinen Vergleich miteinander aushalten. Aber kann es anders sein? Verwunderlich würde sein, wenn es nicht so wäre. Deshalb antwortet auch Dr. Dodel-Zürich , daß dies sich anders verhalten würde, wenn eine Reihe von Generationen hindurch Frauen und Männer gleichmäßig erzogen und in der Ausübung jener Künste und Disziplinen unterwiesen würden. Die Frau ist durchschnittlich genommen auch physisch schwächer als der Mann, was bei vielen wilden Völkern keineswegs der Fall ist . Was Übung und Erziehung von Jugend auf vermögen, sieht man zum Beispiel an Zirkusdamen und Akrobatinnen, die an Mut, Waghalsigkeit, Gewandtheit und Körperkraft das Erstaunlichste leisten.

 

Da eine solche Entwicklung Sache der Lebensbedingungen und der Erziehung, naturwissenschaftlich derb ausgedrückt der "Züchtung" ist, darf als sicher angenommen werden, daß das physische und geistige Leben der Menschen zu den schönsten Resultaten führt, sobald der Mensch zweck- und zielbewußt in seine Entwicklung eingreift.

 

Wie Pflanzen und Tiere von ihren Existenzbedingungen abhängen, günstige sie fördern, ungünstige sie hemmen, und Zwangsverhältnisse sie nötigen, ihr Wesen und ihren Charakter zu ändern, vorausgesetzt, daß sie unter deren Einwirkung nicht zugrunde gehen, so ergeht es auch dem Menschen. Die Art und Weise, wie der Mensch seine Existenz gewinnt und erhält, beeinflußt nicht nur sein äußeres Wesen, sondern auch sein Fühlen, sein Denken und Handeln. Sind ungünstige Existenzbedingungen der Menschen – das heißt Mangelhaftigkeit des Sozialzustandes – Ursache mangelhafter individueller Entwicklung, so folgt daraus, daß durch Veränderung seiner Existenzbedingungen, das heißt seines Sozialzustandes, der Mensch selbst verändert wird. Es handelt sich also darum, die sozialen Zustände in der Weise zu gestalten, daß jeder Mensch die Möglichkeit zur vollen ungehinderten Entwicklung seines Wesens erhält, daß die Gesetze der Entwicklung und Anpassung, die nach Darwin mit der Bezeichnung des Darwinismus belegt werden, zweck- und zielbewußt für alle Menschen zur Wirksamkeit kommen. Das ist aber nur möglich im Sozialismus.

 

Die Menschen müssen als denkende und erkennende Wesen ihre Lebensbedingungen, das heißt ihre sozialen Zustände und alles, was damit zusammenhängt, zielbewußt ändern und vervollkommnen, und zwar dergestalt, daß für alle gleich günstige Daseinsbedingungen vorhanden sind. Jeder einzelne soll seine Anlagen und Fähigkeiten zu seinem eigenen wie zum Wohle der Gesamtheit entwickeln können, er darf aber nicht die Macht haben, anderen oder der Gesamtheit zu schaden. Sein eigener Vorteil und derjenige aller sollen sich decken. Die Interessenharmonie muß an Stelle der Interessengegensätze treten, die heute die Gesellschaft beherrschen.

 

Der Darwinismus ist wie jede wirkliche Wissenschaft eine eminent demokratische Wissenschaft ; behauptet ein Teil seiner Vertreter das Gegenteil, so weiß dieser die Tragweite seiner eigenen Wissenschaft nicht zu beurteilen. Die Gegner, insbesondere die Geistlichkeit, die stets eine feine Nase hat, sobald es sich für sie um Vorteile oder Schaden handelt, haben das begriffen, und deshalb denunzieren sie den Darwinismus als sozialistisch oder atheistisch. Hierin stimmt auch Professor Virchow mit seinen heftigsten Gegnern überein, der auf der Naturforscherversammlung in München im Jahre 1877 gegen Professor Häckel auftrumpfte: "Die Darwinsche Theorie führt zum Sozialismus" . Virchow versuchte den Darwinismus zu diskreditieren, weil Häckel die Aufnahme der Entwicklungslehre in den Schulplan verlangte. Die Naturwissenschaft im Sinne Darwins und der neuen Naturforschung in der Schule zu lehren, dagegen kämpft alles, was an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge festhalten will. Man kennt die revolutionäre Wirkung dieser Lehren, deshalb das Verlangen, sie nur im Kreise der Auserwählten gelehrt zu sehen. Wir denken aber: Führen die Darwinschen Theorien zum Sozialismus, wie Virchow behauptet, so beweist das nichts gegen diese Theorien, sondern für den Sozialismus. Männer der Wissenschaft dürfen nicht danach fragen, ob die Konsequenzen einer Wissenschaft zu dieser oder jener Staatseinrichtung, zu diesem oder jenem Sozialzustand führen oder ihn rechtfertigen, sie haben zu prüfen, ob die Theorien richtig sind, und sind sie das, so sind sie mit allen Konsequenzen anzunehmen. Wer anders handelt, sei es aus persönlichem Vorteil, sei es wegen Gunst von oben, oder aus Klassen- oder Parteiinteresse, handelt verächtlich und macht der Wissenschaft keine Ehre. Die Vertreter der zünftigen Wissenschaft, insbesondere an unseren Universitäten, können allerdings nur in seltenen Fällen auf Selbständigkeit und Charakter Anspruch machen. Die Furcht, die Pfründe zu verlieren, an Gunst von oben einzubüßen, auf Titel, Orden und Beförderung Verzicht leisten zu müssen, veranlaßt die meisten dieser Vertreter, sich zu ducken und ihre Überzeugungen zu verbergen oder gar öffentlich das Gegenteil von dem zu sagen, was sie glauben und wissen. Wenn ein Dubois-Reymond gelegentlich einer Huldigungsfeier an der Berliner Universität 1870 ausrief: "Die Universitäten sind die Erziehungsstätten für die geistige Leibwache der Hohenzollern", dann kann man beurteilen, wie die Mehrzahl der übrigen über den Zweck der Wissenschaft denkt, die an Bedeutung tief unter Dubois-Reymond steht . Die Wissenschaft wird zur dienenden Magd der Gewalt herabgewürdigt.

 

Es ist erklärlich, daß Professor Häckel und seine Anhänger, Professor O. Schmidt, v. Hellwald und andere, sich energisch gegen den entsetzlichen Vorwurf wehren, der Darwinismus arbeite dem Sozialismus in die Hände, und behaupten, das Gegenteil sei richtig, der Darwinismus sei aristokratisch, indem er lehre, daß überall in der Natur das höher organisierte und stärkere Lebewesen das niedere unterdrücke. Und da, nach ihnen, die besitzenden und gebildeten Klassen diese höher organisierten und stärkeren Lebewesen innerhalb der Gesellschaft darstellten, so betrachten sie deren Herrschaft als selbstverständlich, weil naturgesetzlich berechtigt.

 

Diese Richtung unter unseren Darwinianern hat keine Ahnung von den wirtschaftlichen Gesetzen, welche die bürgerliche Gesellschaft beherrschen, deren blinde Herrschaft weder den Besten, noch den Geschicktesten, noch den Tüchtigsten auf die gesellschaftliche Höhe erhebt, oft aber den Geriebensten und Verdorbensten, und diesen in die Lage setzt, die Daseins- und Entwicklungsbedingungen für seine Nachkommen zu den angenehmsten zu machen, ohne daß diese dafür einen Finger zu krümmen brauchen. Unter keinem Wirtschaftssystem besitzen, durchschnittlich genommen, Individuen mit menschlich guten und edlen Eigenschaften so wenig Aussicht auf Emporkommen und Obenbleiben als unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Man kann ohne Übertreibung sagen, diese Unwahrscheinlichkeit wächst, wie dieses Wirtschaftssystem seinem Höhepunkt entgegenstrebt. Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit in der Wahl und Anwendung der Mittel sind unendlich wirksamere, mehr Erfolg versprechende Waffen als alle menschlichen Tugenden zusammengenommen. Und eine auf solcher Basis aufgebaute Gesellschaft als eine Gesellschaft "der Fähigsten und Besten" anzusehen, das kann nur jemand, dessen Kenntnis von dem Wesen und der Natur dieser Gesellschaft gleich Null ist, oder der von bürgerlichen Vorurteilen beherrscht, in bezug auf sie das Denken und das Schlüsseziehen verlernt hat. Der Kampf ums Dasein ist bei allen Organismen vorhanden, ohne Einsicht in die Umstände, die sie dazu nötigen, er vollzieht sich ihnen unbewußt. Dieser Kampf ums Dasein ist auch in der Menschenwelt, unter den Gliedern jeder Gesellschaft vorhanden, in der die Solidarität verschwand oder noch nicht zur Geltung kam. Dieser Kampf ums Dasein ändert sich nach den Formen, welche im Laufe der Entwicklung die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander nehmen; er nimmt den Charakter von Klassenkämpfen an, die sich auf immer höherer Stufenleiter abspielen. Aber diese Kämpfe führen – und darin unterscheiden sich die Menschen von allen anderen Wesen – zu immer höherer Einsicht in das Wesen der Gesellschaft und schließlich zur Erkenntnis der Gesetze, welche ihre Entwicklung beherrschen und bedingen. Schließlich haben die Menschen nur nötig, diese Erkenntnis auf ihre politischen und sozialen Einrichtungen anzuwenden und diese entsprechend umzuformen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist also, daß der Mensch ein denkendes Tier genannt werden kann, das Tier aber kein denkender Mensch ist. Das begreift ein großer Teil unserer Darwinianer in ihrer Einseitigkeit nicht. Daher der falsche Zirkelschluß, den sie machen .

 

Professor Häckel und seine Anhänger bestreiten auch, daß der Darwinismus zum Atheismus führe, und so machen sie, nachdem sie durch alle ihre wissenschaftlichen Ausführungen und Beweise den "Schöpfer" beseitigt haben, krampfhafte Versuche, ihn durch die Hintertür hereinzuschmuggeln. Zu diesem Zwecke bildet man sich seine eigene Art von "Religion", die man "höhere Sittlichkeit", "sittliche Prinzipien" usw. nennt. Professor Häckel machte 1882 auf der Naturforscherversammlung in Eisenach in Gegenwart der großherzoglich Weimarschen Familie den Versuch, nicht nur die Religion zu retten, sondern auch seinen Meister Darwin als religiös hinzustellen. Der Versuch scheiterte, wie jeder, der jenen Vortrag und den dabei zitierten Brief Darwins gelesen, bestätigen wird . Der Brief Darwins besagte das Gegenteil von dem, allerdings in vorsichtigen Ausdrücken, was er nach Professor Häckel besagen sollte. Darwin mußte Rücksicht auf die "Frömmigkeit" seiner Landsleute, der Engländer, nehmen, deshalb wagte er nie, öffentlich über die Religion seine wahre Meinung zu sagen. Aber privatim tat er dieses, wie kurz nach der Weimarer Versammlung bekannt wurde, gegenüber Dr. L. Büchner, dem er mitteilte, daß er seit seinem vierzigsten Lebensjahr – also seit 1849 – nichts mehr glaube, weil er keine Beweise für den Glauben habe erlangen können. Darwin unterstützte auch in den letzten Jahren seines Lebens eine in New York erscheinende atheistische Zeitung.

 

5. Die Frau und die freien Berufe

 

Die Frauen sollen auch auf geistigem Gebiet den Wettkampf mit dem Manne aufnehmen; sie haben nicht zu warten, bis es den Männern beliebt, ihre Gehirnfunktionen zu entwickeln und ihnen freie Bahn zu schaffen. Diese Bewegung ist in vollem Fluß. Schon haben die Frauen viele Hindernisse hinweggeräumt und sich in die geistige Arena begeben – in einer Reihe von Ländern mit besonderem Erfolg. Die Bewegung, die sich unter ihnen für die Zulassung zum Studium auf Universitäten und Hochschulen und zu den diesem Studium entsprechenden Wirkungskreisen immer mehr bemerkbar macht, ist nach der Natur unserer Verhältnisse auf die bürgerlichen Frauenkreise beschränkt. Die proletarischen sind dabei nicht direkt interessiert, denn ihnen sind vorläufig diese Studien und die auf Grund derselben zugängigen Stellungen verschlossen. Gleichwohl ist diese Bewegung und ihr Erfolg von allgemeinem Interesse. Einmal handelt es sich um eine prinzipielle Forderung, welche die Stellung der Frau im allgemeinen gegenüber der Männerwelt betrifft, dann soll bewiesen werden, was die Frauen schon gegenwärtig, unter im ganzen für ihre Entwicklung höchst ungünstigen Verhältnissen, zu leisten vermögen. Weiter haben die Frauen ein Interesse, zum Beispiel in Krankheitsfällen, von Ärzten ihres Geschlechtes, welchen sie sich ungenierter anvertrauen als männlichen, behandelt zu werden, falls sie dies für notwendig erachten. Für einen großen Teil unserer Frauen sind weibliche Ärzte eine Wohltat, denn der Umstand, daß sie sich in Krankheitsfällen und in ihren so verschiedenartigen, mit dem Geschlechtszweck zusammenhängenden körperlichen Störungen Männern anvertrauen sollen, hindert sie häufig, rechtzeitig oder überhaupt ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daraus entstehen eine Menge von Unannehmlichkeiten und die schlimmsten Folgen nicht bloß für die Frauen, sondern auch für ihre Männer. Es gibt kaum einen Arzt, der über diese manchmal verbrecherische Zurückhaltung der Frauen und ihre Abneigung, ihre Übel einzugestehen, nicht zu klagen hätte. Das ist begreiflich, unvernünftig ist, daß die Männer, und namentlich auch viele Ärzte, nicht einsehen wollen, wie berechtigt und notwendig deshalb auch das Studium der Medizin für Frauen ist.

 

Weibliche Ärzte sind keine neue Erscheinung. Bei den meisten alten Völkern, insbesondere auch den alten Deutschen, waren es Frauen, die dem Beruf der Heilpflege oblagen. Ärztinnen und Operateurinnen von großem Rufe gab es im neunten und zehnten Jahrhundert im Araberreich, insbesondere unter der Herrschaft der Araber (Mauren) in Spanien, wo sie an der Universität Cordoba studierten. Dem Einfluß der Mauren war auch das Studium der Frauen auf verschiedenen italienischen Universitäten, wie zu Bologna und Palermo, geschuldet. Als später der "heidnische" Einfluß in Italien schwand, ging man zum Verbot dieser Studien über. So dekretierte 1377 das Universitätskollegium zu Bologna:

 

"Und weil das Weib das Haupt der Sünde, die Waffe des Teufels, die Ursache der Vertreibung aus dem Paradies und das Verderbnis des alten Gesetzes ist, und weil deswegen jede Unterhaltung mit demselben eifrigst zu vermeiden ist, so untersagen und verbieten wir ausdrücklich, daß irgendeiner sich unterfange, irgendein Weib, und sei daselbst auch noch so ehrbar, in das genannte Kollegium einzuführen. Und wenn solches einer dennoch tut, so soll er vom Rektor schwer bestraft werden."

 

Die Zulassung der Frauen zum Studium hat vor allen Dingen den Erfolg, daß die weibliche Konkurrenz sehr vorteilhaft auf den Lerneifer unserer männlichen Jugend wirkt, der viel zu wünschen übrig läßt, wie von den verschiedensten Seiten bestätigt wird. Das allein ist schon ein großer Gewinn. Auch würden dadurch ihre Sitten wesentlich verbessert; die Trunk- und Händelsucht, das Kneipleben unserer studierenden Jugend erhielte einen derben Stoß; an den Stätten, von denen unsere Staatslenker, Richter, Staatsanwälte, höhere Polizeibeamten, Geistlichen und Volksvertreter usw. hauptsächlich ausgehen, würde sich ein Ton einbürgern, der mehr den Aufgaben entspricht, für die sie gegründet wurden und unterhalten werden. Und nach dem einstimmigen Urteil unparteiischer Sachverständiger ist eine Verbesserung dieses Tones dringend geboten.

 

Die Zahl der Staaten, die Frauen zum Studium auf ihren Universitäten und Hochschulen zulassen, ist in den letzten Jahrzehnten in rascher Zunahme begriffen. Keiner, der Anspruch darauf macht, ein Kulturstaat zu sein, kann sich auf die Dauer diesem Verlangen verschließen. Allen voran gingen die Vereinigten Staaten, ihnen folgte Rußland, zwei Staatswesen, die in jeder Beziehung die schroffsten Gegensätze darstellen. In der Nordamerikanischen Union sind die Frauen in allen Staaten zum Studium zugelassen; in Utah seit 1850, in Iowa seit 1860, in Kansas seit 1866, in Wisconsin seit 1868, in Minnesota seit 1869, in Kalifornien und Missouri seit 1870, in Ohio, Illinois und Nebraska seit 1871, und seitdem folgten alle übrigen Staaten nach. Entprechend dieser Ausdehnung des Frauenstudiums haben sich in den Vereinigten Staaten auch die Frauen ihre Stellungen erobert. Nach dem Zensus von 1900 gab es 7.399 weibliche Ärzte und Wundärzte, 5.989 Schriftstellerinnen, 1.041 weibliche Architekten, 3.405 weibliche Geistliche, 1.010 weibliche Rechtsanwälte, 327.905 Lehrerinnen.

 

In Europa war es vorzugsweise die Schweiz, die ihre Universitäten dem Studium der Frauen öffnete. Die Gesamtheit der Studierenden einschließlich der Hörer und Hörerinnen betrug:

 

 

Auf die verschiedenen Fakultäten verteilen sich die Studentinnen im Wintersemester 1906/07: Rechtswissenschaft 75, Medizin 1.181, Philosophie 648. Nach der Nationalität waren 172 Schweizerinnen und 1.732 Ausländerinnen. Die Zahl der studierenden weiblichen Deutschen hat abgenommen, weil diese nunmehr auf den deutschen Universitäten, wenn auch unter gewissen Beschränkungen, zugelassen werden. Im Jahre 1906/07 betrug die Zahl der regelrecht immatrikulierten Studentinnen zirka 30 Prozent aller immatrikulierten Studenten und einschließlich der Hörerinnen 37 Prozent aller Studierenden und Hörer. In England sind die Frauen zu den Universitätsvorlesungen zugelassen, aber in Oxford und Cambridge bleibt ihnen die Zulassung zu den Graden verwehrt. In Frankreich gab es im Jahre 1905 33.168 Studierende, darunter 1.922 Studentinnen (774 Ausländerinnen). Sie verteilten sich folgendermaßen: Rechtswissenschaft 57, Medizin 386, Naturwissenschaften 259, Literatur 838, Sonstige 382. Staaten, in denen die Frauen zum Studium zugelassen werden, sind die Vereinigten Staaten, England, Holland, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Schweiz, Frankreich, Türkei und Australien. Weibliche Ärzte sind zugelassen in Indien, Abessinien, Persien, Marokko, China usw. Insbesondere finden in den orientalischen Staaten weibliche Ärzte immer mehr Boden. Die Beschränkungen, die in diesen Ländern Religion und Sitte der Frau auferlegen, lassen hier weibliche Ärzte als eine große Wohltat erscheinen.

 

Nach langen Kämpfen und großen Anstrengungen ist endlich auch Deutschland, wenn auch erst zaghaft, in neue Bahnen eingelenkt. Durch Beschluß des Bundesrats vom 24. April 1899 sind den Frauen die medizinischen und zahnärztlichen Prüfungen sowie die Prüfung zum Apothekerberuf unter den gleichen Bedingungen wie den Männern freigegeben. Durch einen zweiten Beschluß des Bundesrats vom 28. Juli 1900 wurden die im Ausland approbierten Ärztinnen im Deutschen Reiche, wenn sie Reichsangehörige sind, zugelassen, auch werden Ärztinnen ihre im Ausland begonnenen Studien angerechnet. Schon vor dem Jahre 1898 war an einzelnen deutschen Universitäten, so in Heidelberg und Göttingen, Frauen das Studium gestattet worden. Im Wintersemester 1901/02 wurden bereits in den Universitätsverzeichnissen 1.270 Hörerinnen aufgeführt. Auch wurden von einer Reihe deutscher Städte Mädchengymnasien und Realgymnasien gegründet, so in Karlsruhe, Stuttgart, Hannover, Königsberg, Hamburg, Frankfurt a. M., Breslau, Berlin, Schöneberg, Mannheim usw. Erst im Frühjahr 1902 war wiederum das Gesuch um Immatrikulation weiblicher Studierender, wenn sie das Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiums haben, vom Senat der Berliner Universität abgelehnt worden. Der Widerstand sehr einflußreicher Kreise in Deutschland gegen das Frauenstudium war noch nicht gebrochen. So hielt der preußische Kultusminister im März 1902 im preußischen Landtag eine Rede, in der er unter anderem ausführte: Die Mädchengymnasien seien ein Experiment, das die Unterrichtsverwaltung ablehnen müsse; er fürchte, daß die durch die Natur gegebenen und durch die Kultur entwickelten Unterschiede zwischen Mann und Frau durch den Gymnasiums- und Universitätsbesuch leiden könnten. Der deutschen Familie müsse die Eigentümlichkeit der deutschen Frau nach Möglichkeit erhalten werden. Das ist ganz nach der alten Schablone gedacht. Auch ein großer Teil der deutschen Professoren war nach wie vor dem weiblichen Studium abgeneigt, obgleich andere zugaben, daß viele der zum Studium zugelassenen Frauen den an sie gestellten Ansprüchen im vollsten Maße entsprechen, manche sogar in ausgezeichneter Weise. Und wie ein Teil der Studentenschaft – wahrscheinlich die sehr große Mehrheit – über das Frauenstudium dachte, davon legt ein Protest der Klinikerschaft zu Halle aus dem März 1902 Zeugnis ab, den dieser zur Unterstützung an die Kliniker Deutschlands veröffentlichte. Nachdem darin auseinandergesetzt worden war, daß die Agitation des Vereins "Frauenbildung–Frauenstudium" in Berlin für Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium ihren Protest veranlaßt habe, heißt es: "Nachdem durch diesen Schritt die Frage vor das Forum der Öffentlichkeit gezogen ist, wendet sich die Hallenser Klinikerschaft an die Kreise, für welche die Entscheidung in dieser Frage in erster Linie Interesse und Bedeutung hat, an die Kliniker der deutschen Universitäten, weil sie entweder die erwähnten Unzuträglichkeiten aus eigener Erfahrung kennen oder sich doch vorstellen können, welche peinlichen und jeder Schamhaftigkeit spottenden Situationen dieser gemeinsame klinische Unterricht hier und da herbeiführen muß, Situationen, welche zu widerwärtig sind, als daß man sie, ohne Anstoß zu erregen, hier genauer präzisieren könnte. Die medizinische Fakultät der Universität Halle hat als eine der ersten im Deutschen Reiche den Versuch gemacht, Frauen zum medizinischen Studium zuzulassen, und dieser Versuch ist als durchaus mißglückt zu bezeichnen. In den Stätten ehrlichen Strebens ist mit den Frauen der Zynismus eingezogen, und Szenen, für Lehrer und Schüler wie für die Patienten in gleichem Maße anstoßerregend, sind an der Tagesordnung. Hier wird die Emanzipation der Frau zur Kalamität, hier gerät sie mit der Sittlichkeit in Konflikt, und deshalb muß ihr hier ein Riegel vorgeschoben werden. Kollegen! Wer könnte es wagen, angesichts dieser Tatsachen noch Stellung zu nehmen gegen unsere berechtigten Forderungen! Wir fordern die Ausschließung der Frauen vom klinischen Unterricht, weil uns die Erfahrung gelehrt hat, daß ein gemeinsamer klinischer Unterricht der männlichen und weiblichen Zuhörer sich mit dem Interesse eines gründlichen medizinischen Studiums ebensowenig verträgt als mit den Grundsätzen der Schicklichkeit und Moral. Die von uns angeregte Frage hat jetzt ihren lokalen Charakter verloren. Schon hat man höheren Ortes von einer definitiven Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium etwas verlauten lassen. Ihr alle seid jetzt in gleicher Weise an unserer Sache interessiert, und deshalb fordern wir euch auf: Nehmt Stellung zu dieser Frage und vereinigt euch mit uns zum gemeinsamen Protest."

 

Dieser "Protest" ist ein schlagender Beweis für die Beschränktheit, aber auch für den Konkurrenzneid der studierenden Kliniker, denn auf diesen sind die moralischen Bedenken zurückzuführen. Was in den meisten Kulturstaaten ohne jeden Schaden für Moral und Schicklichkeitsgefühl der Studierenden, zum Teil seit Jahrzehnten zulässig ist, sollte für Deutschland eine Gefahr sein. Die deutschen Studenten stehen nicht im Rufe besonderer Tugendboldigkeit und sollten solche Scherze unterlassen . Verschlägt es der Schicklichkeit und Moral nichts, daß Pflegerinnen in Gegenwart der Ärzte allen möglichen Operationen an männlichen und weiblichen Kranken beiwohnen und dabei die ausgiebigste Hilfe leisten, ist es schicklich und moralisch, daß Dutzende junger Männer Studienzwecke halber als Zuschauer am Bette einer Kreißenden oder bei Operationen weiblicher Kranken teilnehmen, dann ist es lächerlich, weiblichen Studenten nicht das gleiche Recht einräumen zu wollen.

 

Einen ganz anderen Grund wie die Haller Kliniker führte der verstorbene Professor Bischoff gegen die Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium an, nämlich: die Roheit der Studenten! worüber er wohl am besten urteilen konnte. Doch wie immer man sich von seiten beschränkter oder konkurrenzneidischer Männerkreise zum Studium der Frauen stellte, die Frage ist zugunsten des weiblichen Geschlechtes entschieden. Am 18. August 1908 erschien ein Erlaß, betreffend die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium in Preußen, das bisher Frauen nur als Hörerinnen zuließ. Die Vorschriften für die Studierenden der Landesuniversitäten finden auf Frauen mit der Maßgabe Anwendung, daß Reichsinländerinnen in einem Falle und Ausländerinnen in allen Fällen zur Immatrikulation der Genehmigung des Ministers bedürfen . Die Gesamtzahl der im Wintersemester 1908/09 an den deutschen Universitäten immatrikulierten studierenden Frauen betrug 1.077 gegenüber 377 im Sommer 1908 und 254 in 1906. Davon studierten in Berlin 400, in Bonn 69, in Breslau 50, in Erlangen 11, in Freiburg 67, in Gießen 23, in Göttingen 71, in Greifswald 5, in Halle 22, in Heidelberg 109, in Jena 13, in Kiel 2, in Königsberg 17, in Leipzig 44, in Marburg 27, in München 134, in Tübingen 6, in Würzburg 7. Nur an den Universitäten Straßburg, Rostock und Münster ist das noch nicht der Fall. Die Zahl der Hörerinnen betrug im Sommersemester 1908 1.787 und im Wintersemester 1908/09 1.767, davon in Berlin 313, Straßburg 249, Breslau 168, München 131, Bonn 120, Königsberg 116, Leipzig 95, Gießen 93, Göttingen 73, Tübingen 67, Halle 54, Freiburg 50 und in allen anderen weniger als 50. Von den immatrikulierten Frauen studierten Theologie 3, Jurisprudenz 31, Medizin 334, Philosophie 709.

 

Die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium machte eine durchgreifende Reform des höheren Mädchenschulwesens notwendig. Die Bestimmungen vom 31. Mai 1899 hatten eine Schulzeit von neun Jahren für die höhere Mädchenschule als Regel vorgesehen und eine zehnjährige Dauer als Ausnahme hingestellt. Demgegenüber drängte die Entwicklung immer stärker auf die feste Einfügung einer zehnten Klasse in den Lehrplan der höheren Mädchenschule. Während nach der Statistik vom Jahre 1901 unter den 213 öffentlichen höheren Mädchenschulen 90 mit neun und 34 mit zehn aufsteigenden Klassen waren, war im Oktober 1907 die Zahl der neunklassigen Schulen von 90 auf 69 gesunken, die Zahl der zehnklassigen dagegen von 54 auf 132 gestiegen. Und auch unter den privaten höheren Mädchenschulen waren im Oktober 1907 neben 110 neunklassigen schon 138 zehnklassige vorhanden. Es blieb nichts übrig, als dieser tatsächlichen Entwicklung das bureaukratische Siegel zu geben und soviel als möglich "die Eigentümlichkeit der deutschen Frau" zu retten. Nach der Reform vom 18. August 1908 soll fortan die höhere Mädchenschule aus zehn aufsteigenden Klassenstufen bestehen. Für "eine Ergänzung ihrer Bildung in der Richtung der künftigen Lebensaufgabe einer deutschen Frau" ist der Aufbau eines zweijährigen oder einjährigen Lyzeums in Aussicht genommen. Und um die Vorbereitung der jungen Mädchen der höheren Stände auch für akademische Berufe zu ermöglichen, sind Studienanstalten geplant, die mit der höheren Mädchenschule unter einer Leitung zu vereinigen sind.

 

Damit wird ein Experiment, das die Unterrichtsverwaltung noch im März 1902 ablehnte, jetzt von demselben Ministerium nach sechs Jahren, unter dem Drucke der ökonomischen Entwicklung, in einem nationalen Maßstab durchgeführt. Hören wir die offizielle Begründung:

 

"Die rasche Entwicklung unserer Kultur und die damit gegebene Verschiebung der Gesellschafts-, Erwerbs- und Bildungsverhältnisse der Gegenwart haben es mit sich gebracht, daß gerade in den mittleren und höheren Ständen viele Mädchen unversorgt bleiben und viele für die Gesamtheit wertvolle Frauenkraft brach liegt. Der Überschuß der weiblichen über die männliche Bevölkerung und die zunehmende Ehelosigkeit der Männer in den höheren Ständen zwingen einen größeren Prozentsatz der Mädchen gebildeter Kreise zum Verzicht auf ihren natürlichen Beruf als Gattin und Mutter. Ihnen sind die Wege zu einem ihrer Erziehung angemessenen Beruf zu bahnen, bei den meisten auch zwecks Erwerbung der nötigen Mittel zum Lebensunterhalt, nicht allein in der Oberlehrerinnenlaufbahn, sondern auch in anderen, auf Universitätsstudien begründeten Lebensstellungen, soweit sie für Frauen in Betracht kommen." Man könnte fast glauben, daß man einen Auszug aus meinem Buche lese!

 

Wie dem auch sei, das Frauenstudium ist nicht mehr rückgängig zu machen. Weibliche Ärzte sind bereits in allen Kulturländern der Erde und sogar in Ländern, die noch nicht als Kulturstaaten gelten, in mehr oder weniger großer Zahl beschäftigt. Der verstorbene Li-Hung-Chang hatte eine chinesische Ärztin, die im Frauenhospital ihrer Vaterstadt Futschang praktizierte, zu seinem Hausarzt ernannt. Die verstorbene Frau v. Kowalewska, die berühmte Mathematikerin, war von 1889 an bis zu ihrem Tode im Jahre 1891 Professor der Mathematik in Stockholm. Weibliche Professoren gibt es in den Vereinigten Staaten eine große Anzahl, vereinzelt auch in Italien, in der Schweiz, in England, Frankreich, wo die berühmte Physikerin Marie Curie, die mit ihrem Manne die radioaktiven Elemente Radium und Polonium entdeckte, jetzt nach dem Tode ihres Mannes (1906) seine Nachfolgerin an der Universität wurde. Wir sehen Frauen als Ärzte, Zahnärzte, Juristen, Richter, Chemiker, Physiker, Geologen, Botaniker; höhere Lehrerinnen usw. im öffentlichen oder in Privatstellungen tätig, und es ist einzig Sache der Frauen, selbst durch ihre Tätigkeit zu beweisen, daß sie die ihnen anvertrauten Posten ebenso gut und gewissenhaft wie die Männer auszufüllen vermögen. Im Sommer 1899 hat sogar die Mehrheit der Wähler im Kanton Zürich bei der Volksabstimmung sich dafür ausgesprochen, Frauen zur Ausübung der Advokatur zuzulassen. Der betreffende Beschluß wurde mit 21.717 gegen 20.046 Stimmen gefaßt. In Amerika sind die Frauen in 34 Staaten als Advokatinnen zugelassen. Außerdem in Frankreich, Holland, Schweden, Dänemark, Finnland, Rußland, Kanada und Australien.

 

Was viele Männer, namentlich auch in gelehrten Kreisen, gegen das Studium der Frauen einnimmt, ist, daß sie dadurch eine Herabwürdigung der Wissenschaft befürchten, deren Ansehen im allgemeinen leiden müsse, wenn sogar auch Frauen wissenschaftliche Studien betreiben könnten. Sie sehen im wissenschaftlichen Studium eine besondere Bevorzugung, das nur für Auserwählte des männlichen Geschlechts zugängig sein solle.

 

Leider befindet sich unser Universitätswesen, wie das gesamte Bildungswesen noch in einer mangelhaften Verfassung. Wie in der Volksschule dem Kinde die kostbarste Zeit geraubt wird, um sein Hirn mit Dingen anzufüllen, die weder mit der Vernunft noch wissenschaftlicher Erkenntnis im Einklang stehen; wie ihm eine Masse Ballast aufgebürdet wird, den es im Leben nicht verwenden kann, der es vielmehr in seinem Fortkommen und seiner Entwicklung hemmt, so auch in unseren höheren Schulen. In den Vorbereitungsanstalten zu den Universitäten wird den Schülern eine Masse trockenen unbrauchbaren Lehr- und Memorierstoffs eingepaukt, der ihre meiste Zeit, ihre kostbarsten Gehirnkräfte in Anspruch nimmt, und auf der Universität wird meist in derselben Richtung fortgewirkt. Eine Masse von Althergebrachtem, Überlebtem und Überflüssigem wird ihnen neben Nützlichem und Gutem gelehrt. Die einmal geschriebenen Kollegienhefte werden von den meisten Professoren Semester für Semester bis auf die eingestreuten Witze heruntergeleiert. Das hohe Lehramt wird bei vielen zum gewöhnlichen Handwerk, und für die Lernenden bedarf es keines Scharfsinns, das herauszufühlen. Auch sorgen die überkommenen Begriffe vom Universitätsleben dafür, daß die jungen Leute die Studienjahre nicht zu ernst nehmen, und mancher, der sie ernst nehmen will, wird durch die pedantische und ungenießbare Lehrweise vieler Professoren abgeschreckt. Die Abnahme des Lern- und Studiereifers ist eine auf unseren Universitäten und höheren Schulen allgemein beobachtete Tatsache, die selbst in maßgebenden Kreisen Bedenken erweckt. Damit steht in engster Beziehung das Streber- und Gönnertum, das in unserer charakterarmen Zeit die größten Fortschritte macht und die Hochschulen immer mehr überwuchert. Gute Familienbeziehungen, "gute Gesinnung" treten an Stelle des Wissens und Könnens und machen sich breit; ein Patriot zu sein, das heißt ein Mann, der keine eigene Meinung hat, sondern sich sorgsam nach oben richtet, sieht, wie dort der Wind weht und kriecht und sich schmiegt, gilt mehr als ein Charakter und ein Mann von Können und Wissen. Kommt für diese Streber die Examenzeit, so wird rasch in ein paar Monaten eingepaukt, was unumgänglich notwendig erscheint, um notdürftig bestehen zu können. Ist schließlich das Examen glücklich vorüber und eine amtliche oder berufliche Stellung erlangt, so arbeiten die meisten dieser Studierten nur rein mechanisch und handwerksmäßig fort, sie nehmen es aber sehr übel, wenn ein "Nichtstudierter" ihnen nicht mit der größten Hochachtung begegnet und sie nicht als eine höhere Menschenrasse ansieht und behandelt. Die Mehrzahl der Angehörigen unserer höheren Berufe, der Rechtsanwälte, Richter, Mediziner, Professoren, Beamten, Künstler usw., sind nichts als Handwerker in ihrem Fache, die froh sind, an der Krippe zu stehen. Nur der strebsame Mann entdeckt später erst, wie viel Unnützes er gelernt, oft gerade das nicht lernte, was er am nötigsten braucht, und fängt nun erst an zu lernen. Während des besten Teils seines Lebens hat man ihn mit viel Unnützem oder Schädlichem gequält; einen zweiten Teil des Lebens braucht er, um das Unnütze und Schädliche abzustreifen und sich zur Höhe der Zeitanschauung durchzuarbeiten, und nun erst kann er ein nützliches Glied der Gesellschaft werden. Viele kommen über das erste Stadium nicht hinaus, andere bleiben im zweiten stecken, und wenige haben die Energie, sich zum dritten emporzuarbeiten.

 

Aber das Dekorum erfordert, daß der mittelalterliche Plunder und der unnütze Lernstoff beibehalten bleibe, und da bisher die Frauen, infolge ihres Geschlechts, von vornherein von den Vorschulen und Präparieranstalten ausgeschlossen waren und vielfach noch sind, so bildet dieser Umstand den bequemen Vorwand, ihnen die Türen zum Hörsaal zu verschließen. In Leipzig machte in den siebziger Jahren einer der berühmtesten Professoren der Medizin einer Dame gegenüber unverhohlen das Geständnis: "Die Gymnasialbildung ist zwar nicht notwendig zum Verständnis der Medizin, aber man muß sie zur Vorbedingung des Eintritts machen, damit das Ansehen der Wissenschaft nicht leidet."

 

Allmählich machte sich auch in Deutschland die Opposition gegen die Notwendigkeit der klassischen Bildung für das Studium der Medizin bemerkbar. Die ungeheuren Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihre Bedeutung für das gesamte Leben bedingen das Einweihen in dieselben; die gymnasiale Erziehung mit ihrer Bevorzugung der klassischen Sprachen, Griechisch und Latein, betrachtet aber die Naturwissenschaften als minderwertig und vernachlässigt sie, und so kommt es, daß die angehenden Studenten häufig nicht die nötigen naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse besitzen, die für gewisse Studienfächer, wie zum Beispiel die Medizin, von entscheidender Bedeutung sind. Gegen diese einseitige Art der Bildung hat sich endlich die Opposition selbst in den Lehrerkreisen erhoben. Im Ausland, zum Beispiel in der Schweiz, hat man längst dem naturwissenschaftlichen Studium das Hauptgewicht beigelegt und läßt jeden, auch ohne die sogenannte klassische Vorbildung, zum Studium der Medizin zu, der ausreichende Vorkenntnisse in den Naturwissenschaften und der Mathematik besitzt.

 

Im gleichen Sinne handelt man in Rußland, in den Vereinigten Staaten usw.

 

In Rußland, in dem die Verfolgung und Rechtloshaltung der Juden zu den Staatsmaximen gehört, ist durch einen kaiserlichen Ukas vom Jahre 1897 vorgeschrieben worden, daß in das damals neu zu eröffnende medizinische Fraueninstitut nur 5 Prozent Hörerinnen nichtchristlicher Konfession aufgenommen werden dürfen. Und zwar sollen von diesen nur 3 Prozent von Jüdinnen gestellt werden dürfen, während die übrigen 2 Prozent Hörerinnen muselmännischer Abstammung vorbehalten bleiben sollen. Das einer der Rückschritte, die in Rußland an der Tagesordnung sind. Die russische Regierung hätte um so weniger Ursache zu solchen Bestimmungen, weil es einesteils in dem ungeheuren Reiche noch sehr an Ärzten fehlt und andererseits die russischen Ärztinnen ohne Unterschied des Religionsbekenntnisses oder der Abstammung sich das Zeugnis größter Aufopferung in ihrem Beruf erworben haben. So teilt Prof. Dr. Erismann, der viele Jahre in Rußland tätig war, in einem Vortrag, den er auf der 54. Versammlung des ärztlichen Zentralvereins in Olten hielt, folgendes mit: "Sehr günstige Erfahrungen hatte man in diesen ersten Jahren auch in bezug auf die Tätigkeit der weiblichen Ärzte gemacht. Dieselben verstanden es von Anfang an, sich das Zutrauen der Bevölkerung zu erwerben; in dem edlen Wettstreit mit ihren männlichen Kollegen trugen sie sogar den Sieg davon; es stellte sich bald heraus, daß auf jeden weiblichen Arzt im Jahresdurchschnitt mehr Patienten kamen als auf die männlichen Ärzte, obgleich auch die letzteren mit großer Hingabe und Selbstaufopferung ihres Amtes walteten, namentlich wandten sich die kranken Frauen massenhaft um ärztlichen Beistand an die weiblichen Äskulapen" .

 

Auf der anderen Seite hat sich die von der interessierten Männerwelt vielfach befürchtete Konkurrenz der Frauen, namentlich bei der ärztlichen Praxis, nirgends nachteilig bemerkbar gemacht. Einmal scheint es, daß weibliche Ärzte einen Patientenkreis aus ihrem eigenen Geschlecht erhalten, der selten und nur im äußersten Notfall einen männlichen Arzt zu Rate zieht, dann aber hat sich auch die Tatsache herausgestellt, daß ein erheblicher Teil der Frauen, die sich dem Studium widmeten, sobald sie später in die Ehe traten, entweder eine Praxis überhaupt nicht eröffneten oder sie in kurzer Zeit aufgaben. Es zeigt sich, daß die in der bürgerlichen Welt an die Ehefrau gestellten häuslichen Pflichten, namentlich wenn auch noch Kinder in Betracht kommen, so große sind, daß es vielen Frauen unmöglich ist, zwei Herren zugleich zu dienen. Insbesondere muß die Ärztin jede Stunde, bei Tag und bei Nacht, für die Ausübung ihres Berufs bereit sein. Und das ist nicht vielen möglich .

 

Nachdem England nebst den Vereinigten Staaten und Frankreich damit vorangegangen waren, Frauen auch für die Gewerbeinspektion zu verwenden, wofür das Bedürfnis um so größer ist, da, wie gezeigt, die Zahl der Arbeiterinnen mit jedem Jahr wächst und auch die Zahl der Betriebe sich vermehrt, in denen Arbeiterinnen ausschließlich oder überwiegend beschäftigt werden, sind auch eine Reihe deutscher Staaten diesem Beispiel gefolgt. Baden, Bayern, Hessen, das Königreich Sachsen, Weimar, Württemberg usw. haben weibliche Hilfsbeamte den Gewerbeinspektoren beigegeben, und einige derselben haben sich bereits durch ihre Tätigkeit große Anerkennung erworben. In Preußen stehen der Gewerbeaufsicht zur Verfügung in Berlin drei Beamtinnen, in Düsseldorf, Breslau und Wiesbaden je eine. Diese Tatsache beweist, daß Preußen auch in dieser Beziehung sehr weit hinter dem zurückgeblieben ist, was unbedingt notwendig wäre. Gibt es doch keine einzige weibliche Hilfskraft selbst in Bezirken wie Potsdam (mit 32.229 Arbeiterinnen), Frankfurt a. O. (mit 31.971) und Liegnitz (mit 31.798) und anderen mehr, wo sie unbedingt notwendig sind. Es zeigt sich auch hier, daß die Arbeiterin zu einer Vertreterin ihres Geschlechts größeres Vertrauen besitzt, und die weiblichen Inspektionsbeamten manche Aufschlüsse erhalten, die ihren männlichen Kollegen versagt bleiben. Ein Mangel der Einrichtung ist noch, daß diese Hilfsbeamten nicht überall die selbständige Stellung besitzen, die für ihre Tätigkeit notwendig ist, und auch die Bezahlung läßt zu wünschen übrig. Man ging seitens der meisten Regierungen nur tastend und zagend mit der neuen Einrichtung vor .

 

In Deutschland ist das Mißtrauen und die Konkurrenzfeindschaft gegen die Anwendung von Frauen in öffentlichen Berufsstellungen besonders stark, weil der Militärstand alljährlich so viele ausrangierte Offiziere und ausgediente Unteroffiziere zu Anwärtern für alle möglichen Stellungen im Staats- und Gemeindedienst schafft, daß für Arbeitskräfte aus anderen Kreisen kaum Platz vorhanden ist. Stellt man aber dennoch Frauen an, so nur mit erheblich geringerem Gehalt, wodurch sie von vornherein der mißgünstigen Männerwelt einmal als unterwertig, dann aber auch als Lohn- und Gehaltsdrücker erscheinen.

 

Die Vielseitigkeit weiblicher Befähigung kam besonders auf der Weltausstellung zu Chicago im Jahre 1893 zur Geltung. Nicht nur war der Prachtbau für die Ausstellung für weibliche Kunst- und Gewerbeerzeugnisse von weiblichen Architekten erstellt worden, auch die Ausstellungserzeugnisse, die nur von Frauen herrührten, wurden vielfach wegen ihres Geschmacks und ihrer künstlerischen Ausführung bewundert. Auch auf dem Gebiet der Erfindungen haben die Frauen schon Erkleckliches geleistet und werden in Zukunft mehr leisten. So veröffentlichte ein amerikanisches Fachblatt eine Liste der Erfindungen, die Frauen zu Urhebern haben, die sich auf folgende Gegenstände beziehen: Eine verbesserte Spinnmaschine; ein rotierender Webstuhl (rotary loom), der dreimal so viel leistet als ein gewöhnlicher; ein Kettenelevator; eine Kurbel für Schraubendampfer; ein Rettungsapparat für Feuersgefahr; ein Apparat zum Wiegen der Wolle, eine der empfindlichsten Maschinen, die je erfunden wurden und von unschätzbarem Werte für die Wollindustrie; ein tragbares Wasserreservoir zum Löschen von Schadenfeuern; ein Verfahren zur Anwendung von Petroleum an Stelle von Holz und Kohlen als Brennmaterial bei Dampfmaschinen; ein verbesserter Funkenfänger für Lokomotiven; ein Signal für Straßenübersetzungen an Eisenbahnen; ein System der Waggonheizung ohne Feuer; ein ölender Filz (lubricating felt) zur Verminderung der Reibung (im Eisenbahnbetrieb); eine Schreibmaschine; eine Signalrakete für die Marine; ein Tiefseeteleskop; ein System zur Dämpfung des Lärmes bei Hochbahnen; Rauchverzehrer; eine Maschine zum Falzen von Papiersäcken usw. Namentlich sind viele Verbesserungen von Nähmaschinen von Frauen gemacht worden, so zum Beispiel ein Behelf zum Nähen von Segeln und schweren Tüchern; ein Apparat zum Einfädeln während des Ganges der Maschine; eine Verbesserung der Maschine zum Nähen von Leder usw. Letztere Erfindung ist von einer Frau gemacht, die seit Jahren eine Sattlerei in New York betreibt. Das Tiefseeteleskop, erfunden von Frau Mather und verbessert von deren Tochter, ist eine Erfindung von höchster Wichtigkeit, indem sie es ermöglicht, den Kiel des größten Schiffes zu besichtigen, ohne daß dieses in das Trockendock gebracht werden muß. Mit Hilfe dieses Fernrohrs kann man vom Schiffsbord aus versunkene Wracks besichtigen, Schiffahrtshindernisse und Torpedos aufsuchen usw.

 

Zu den Maschinen, die wegen ihrer außerordentlichen Kompliziertheit und genialen Konstruktion in Amerika wie in Europa Aufsehen erregten, ist eine zur Fabrikation von Papiersäcken zu zählen. Viele Männer, darunter hervorragende Mechaniker, hatten bisher ohne Erfolg eine solche Maschine herzustellen versucht. Eine Frau, Miß Maggie Knight, erfand dieselbe; seitdem hat die Dame wieder eine Maschine zum Falzen von Papiersäcken konstruiert, welche die Arbeit von dreißig Personen verrichtet; sie selbst leitete die Aufstellung dieser Maschine zu Amherst in Massachusetts.

 

Fünfzehntes Kapitel - Die rechtliche Stellung der Frau

 

1. Der Kampf um die zivilrechtliche Gleichberechtigung

 

Die soziale Abhängigkeit einer Rasse, einer Klasse oder eines Geschlechts erhält stets ihren Ausdruck in den Gesetzen und politischen Einrichtungen des betreffenden Landes. Die Gesetze sind der in Paragraphen formulierte Ausdruck der maßgebenden Interessen, der zum Rechte eines Landes erhoben wird. Die Frauen als abhängiges, unterdrücktes Geschlecht finden dementsprechend ihre Stellung im Rechte eines Landes zugewiesen. Die Gesetze sind negativer und positiver Art. Negativ, insofern sie bei der Verteilung von Rechten von dem Unterdrückten keine Notiz nehmen, positiv, indem sie ihm seine unterdrückte Stellung anweisen und etwaige Ausnahmen bezeichnen.

 

Unser gemeines Recht beruht auf dem römischen Rechte, das den Menschen nur als besitzendes Wesen kennt. Das alte germanische Recht, das die Frau würdiger behandelte, hat nur teilweise seine Wirksamkeit behalten. Wie in der französischen Sprache der Mensch und der Mann durch ein und dasselbe Wort, "l'homme", bezeichnet werden, und ebenso in der englischen durch man, so kennt das französische Recht den Menschen nur als Mann, und ganz ähnlich war es bis vor wenigen Jahrzehnten in England, woselbst die Frau sich in sklavischster Abhängigkeit vom Manne befand. So einst auch in Rom. Es gab römische Bürger und Frauen römischer Bürger, keine Bürgerinnen.

 

In Deutschland hat sich der Rechtszustand für die Frau insofern verbessert, als an Stelle der bunten Musterkarte ein einheitliches bürgerliches Recht getreten ist, und dadurch Rechte, die sie hier und dort besaß, verallgemeinert wurden. Danach erlangte die unverheiratete Frau die unbeschränkte Zulassung zur Vormundschaft; Frauen erhielten das Recht, als Zeugen bei Eheschließungen und Testamentsaufnahmen zu fungieren; die Frau erlangte ferner vollkommene Geschäftsfähigkeit, das heißt das Recht, Verträge abzuschließen, ausgenommen sie verpflichtet sich (als Ehefrau) in Person zu einer Leistung, auch darf sie ohne Zustimmung des Ehemannes keine Vormundschaft übernehmen. Die Verpflichtung zur ehelichen Gemeinschaft besteht für beide Teile, soweit nicht die Ansprüche des anderen Teiles sich als Mißbrauch seines Rechtes herausstellt. Bestehen aber hierüber widersprechende Ansichten der Ehegatten, so steht dem Manne die Entscheidung zu, namentlich hat er auch über Wohnort und Wohnung zu bestimmen. Rechtsmißbrauch des Mannes entbindet die Frau von der Folgeleistung. Die Leitung des Hauswesens steht allein der Frau zu; sie besitzt die sogenannte Schlüsselgewalt, kraft deren sie im häuslichen Wirkungskreis die Geschäfte des Mannes besorgen und ihn vertreten kann. Der Mann muß für die von ihr eingegangenen Verpflichtungen haften. Doch kann der Mann die Schlüsselgewalt seiner Frau ganz aufheben oder beschränken. Mißbraucht er dieses Recht, so kann das Vormundschaftsgericht die Beschränkung aufheben. Zur Übernahme von Arbeiten im Hauswesen und im Geschäft des Mannes ist die Ehefrau verpflichtet, doch nur, wenn eine solche Tätigkeit nach den Lebensverhältnissen des Gatten üblich ist.

 

Das Verlangen, die eheliche Gütertrennung als Regel einzuführen, lehnte der Reichstag ab. Diese kann nur durch den Ehevertrag gesichert werden, was bei Abschluß der Ehe oft genug unterlassen werden wird und nachher zu Unzuträglichkeiten führt. Dagegen wurde die sogenannte Verwaltungsgemeinschaft eingeführt. Hiernach steht die Verwaltung und Nutznießung des Vermögens der Frau dem Manne zu, aber sie ist auf das eingebrachte Gut beschränkt. Dagegen steht der Frau die uneingeschränkte Verwaltung und Verfügung über das zu, was von ihr während der Ehe durch ihre Arbeit und durch den Betrieb eines Geschäftes erworben wird. Der Mann hat nicht das Recht, die Frau durch Rechtsgeschäfte auf das von ihr eingebrachte Vermögen zu verpflichten. Auch kann die Frau Sicherheitsleistung verlangen, im Falle sie begründete Besorgnis hat, daß ihr Eingebrachtes gefährdet ist, was sie häufig zu spät erfahren dürfte. Auch kann sie Klage auf Aufhebung der Verwaltungsgemeinschaft erheben, falls der Mann durch sein Verhalten den Unterhalt von Frau und Kindern erheblich gefährdet. Der Mann haftet für den Schaden, der aus schlechter Verwaltung entstanden ist.

 

Großes Unrecht kann der Frau durch die Ehescheidung zugefügt werden. Im Falle der Scheidung verbleibt nämlich dem Manne das in gemeinsamer Arbeit der Eheleute erworbene Vermögen, auch wenn der Mann der Schuldige ist und die Frau am meisten erworben hat, wohingegen die Frau den standesgemäßen Unterhalt nur insoweit beanspruchen kann, als sie ihn nicht aus den Einkünften ihres eigenen Vermögens oder dem Ertrag ihrer Arbeit zu bestreiten vermag. Ferner verbleibt im Scheidungsfall dem Manne das Vermögen, das etwa aus nicht verwendeten Einkünften des Vermögens der Frau angesammelt wurde.

 

Die väterliche Gewalt ist durch die elterliche ersetzt, aber bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern geht die Meinung des Vaters vor. Stirbt der Vater, so geht die Ausübung der elterlichen Gewalt einschließlich der Nutznießung vom Vermögen des Kindes auf die Mutter über. Eine geschiedene Frau, auch wenn ihr die Erziehung zufällt, entbehrt des Rechtes der Vertretung und der Vermögensverwaltung der Kinder, wohingegen der Vater die vollen Elternrechte genießt.

 

In England schrieb bis 1870 das Gewohnheitsrecht des Landes dem Manne das Besitztum der Ehefrau an beweglichen Gütern zu. Nur an unbeweglichen Gütern blieb das Eigentumsrecht ihr bewahrt, aber der Ehemann besaß das Recht der Verwaltung und der Nutznießung. Vor Gericht war die englische Frau eine Null; sie konnte keinerlei Rechtshandlungen begehen und nicht einmal ein gültiges Testament abfassen; sie war Leibeigene ihres Mannes. Für ein Verbrechen, das sie in Gegenwart des Mannes beging, war dieser verantwortlich; sie wurde als Unmündige angesehen. Fügte sie jemand Schaden zu, so wurde dieser beurteilt, als sei er durch Haustiere begangen worden; der Mann hatte dafür einzustehen. Nach einem Vortrag, den im Jahre 1888 Bischof J. N. Wood in der Kapelle zu Westminster hielt, durfte die Frau noch vor hundert Jahren nicht bei Tische essen und nicht eher sprechen, als bis sie gefragt wurde. Über dem Bette hing als Zeichen der eheherrlichen Gewalt eine Peitsche, die der Mann handhaben durfte, wenn die Gattin üble Laune zeigte. Nur die Töchter hatten ihren Befehlen zu gehorchen, die Söhne sahen in ihr eine Dienerin.

 

Durch die betreffenden Gesetze von 1870, 1882 und 1893 bleibt die Frau nicht nur alleinige Besitzerin alles dessen, das sie in die Ehe bringt, sie ist auch Besitzerin alles dessen, was sie erwirbt oder durch Erbschaft und Schenkung erhält. Diese Rechtsverhältnisse können nur durch besonderen Vertrag zwischen den Ehegatten geändert werden. Die englische Gesetzgebung folgt hier dem Beispiel jener der Vereinigten Staaten. Seit der Custody of Infants Act von 1886 geht die elterliche Gewalt nach dem Tode des Vaters auf die Mutter über. In dem seit der Intestate Estates Act von 1890 geltenden reformierten Erbrecht ist der Mann nach wie vor bevorzugt. Beide Gatten besitzen Testierfreiheit. Sind aber keine Verfügungen getroffen, so behält der Vater das ganze bewegliche Vermögen der verstorbenen Frau. Die Witwe dagegen erbt nur ein Drittel des beweglichen Gutes und bezieht ein Drittel der Rente des Grundbesitzes, das übrige fällt den Kindern zu. Nach dem neuen Married Women's Property Act von 1908 ist die verheiratete Frau den Eltern und dem Manne Unterhalt schuldig. Es bleiben aber noch viele Reste des alten mittelalterlichen Rechtes geltend, die noch sehr stark die Lage der verheirateten Frau beeinträchtigen. Wie wir sahen, ist noch bis jetzt das Ehescheidungsrecht für die Frau sehr ungünstig. Ein Ehebruch des Mannes ist noch kein Scheidungsgrund für die Frau, sondern nur in Verbindung mit Grausamkeit, Bigamie, Notzucht usw.

 

Besonders rückständig bleibt noch im allgemeinen für die Frau das bürgerliche Recht in Frankreich und in allen Länder – meistens romanischen Ländern –, die vom französischen Code civil stark beeinflußt sind oder wo er mit einigen Änderungen noch bisher gilt. So in Belgien, Spanien, Portugal, Italien, Russisch-Polen, in den Niederlanden und den meisten Kantonen der Schweiz. Über die Auffassung Napoleons I. bezüglich der Stellung der Frau existiert ein bezeichnendes Wort, das noch heute gilt: "Eins ist nicht französisch, eine Frau, die tun kann, was ihr gefällt" . Sobald sie heiratet, kommt die Frau unter die Vormundschaft des Mannes. Nach § 215 des Code civil darf sie ohne Zustimmung des Gatten nicht vor Gericht auftreten, auch wenn sie einen öffentlichen Handel hat. Nach § 213 soll der Mann die Frau schützen und sie hat ihm Gehorsam zu leisten. Er verwaltet das in die Ehe gebrachte Vermögen seiner Frau, er kann die Güter derselben verkaufen, veräußern und mit Hypotheken belasten, ohne daß er ihrer Mitwirkung oder Zustimmung bedarf. Die Folge ist, daß die Frau sich häufig in einem Zustand reiner Sklaverei befindet. Der Mann verschlemmt mit liederlichen Dirnen oder im Wirtshaus, was die Frau erwirbt, oder er macht Schulden oder verspielt den Erwerb der Frau und läßt sie und die Kinder darben, ja er hat sogar das Recht, vom Arbeitgeber die Auszahlung des Verdienstes seiner Frau zu beanspruchen. Wer könnte ihr verdenken, wenn sie bei solcher Sachlage auf die frivole Eheschließung verzichtete, wie das zum Beispiel in Frankreich so häufig der Fall war.

 

Sie kann weiter in den meisten romanischen Ländern – in Frankreich bis 1897 – auch nicht als Zeuge auftreten bei dem Abschluß von Verträgen, Testamenten und notariellen Akten. Dagegen läßt man sie – seltsamer Widerspruch – als Zeugin vor Gericht fungieren in allen Kriminalfällen, wo unter Umständen ihr Zeugnis die Hinrichtung eines Menschen herbeiführen kann. Kriminalrechtlich wird sie allerwärts für vollwertig angesehen und sie wird für jedes Verbrechen und Vergehen mit gleichem Maße gemessen wie der Mann. Dieser Widerspruch kommt unseren Herren Gesetzgebern nicht zum Bewußtsein. Als Witwe darf sie ein Testament über ihren Nachlaß verfassen, aber als Testamentszeugin wird sie in einer großen Anzahl Staaten nicht zugelassen, doch kann sie nach Artikel 1029 des Code civil als Testamentsvollstreckerin ernannt werden. In Italien ist sie seit dem Jahre 1877 auch zivilrechtlich als vollwertige Zeugin zugelassen.

 

Die Bevorzugung des Mannes tritt besonders grell in der Ehescheidungsgesetzgebung zutage. Nach dem Code civil war in Frankreich dem Ehemann der Antrag auf Ehescheidung gestattet, sobald die Ehefrau sich des Ehebruchs schuldig machte, dagegen konnte nach Artikel 230 die Frau einen solchen Antrag nur stellen, wenn der Ehemann seine Konkubine in den gemeinsamen Haushalt aufnahm. Dieser Artikel ist durch das Gesetz über die Ehescheidung vom 27. Juli 1884 gefallen, aber im französischen Strafrecht ist der Unterschied geblieben, was sehr bezeichnend für die französischen Gesetzgeber ist. Wird die Frau des Ehebruchs überführt, so wird sie mit Gefängnis von 3 Monaten bis zu 2 Jahren bestraft. Der Mann wird nur bestraft, wenn er, nach dem früheren Artikel 230 des Code civil, eine Konkubine im Hause des Ehepaares unterhält und daraufhin die Ehefrau klagt. Er erhält aber, wenn für schuldig erkannt, nur eine Geldbuße von 100 bis zu 2.000 Frank. (Artikel 337 und 339 des Code penal.) Eine solche Rechtsungleichheit wäre unmöglich, wenn auch Frauen im französischen Parlament säßen. Ähnliches Recht besteht in Belgien. Die Strafe für den Ehebruch der Frau ist dieselbe wie in Frankreich, der Ehemann kann nur bestraft werden, falls der Ehebruch in der Wohnung der Eheleute begangen wurde, alsdann tritt für den Ehemann Gefängnisstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr ein. Etwas gerechter ist man in Belgien als in Frankreich, aber zweierlei Recht besteht hier wie dort für Mann und Frau. Ähnliche Bestimmungen gelten unter dem Einfluß des französischen Rechts in Spanien und Portugal. Das italienische gemeine Recht (Zivilrecht) vom Jahre 1865 ermöglicht der Frau nur die Scheidung, wenn der Ehemann seine Konkubine im Hause unterhält, oder an einem Orte, an dem der Aufenthalt der Konkubine als eine besonders schwere Beleidigung für die Ehefrau angesehen werden muß. Im Jahre 1907, zugleich mit dem Gesetz (vom 21. Juni), das eine Reihe Artikel des Code civil, betreffend Eheschließungen, geändert hat, wurde endlich von beiden Kammern das Gesetz vom 13. Juli angenommen, das die Frau zur alleinigen Besitzerin alles dessen macht, was sie selbständig erwirbt oder durch Erbschaft und Schenkung erhält. Der Mann hat sein Verfügungsrecht über das Sondergut der Frau verloren. Das ist die erste Bresche in der französischen Gesetzgebung, und die französische Frau steht jetzt auf derselben Stufe, auf die die englische Frau durch das Gesetz von 1870 gestellt wurde.

 

Viel weiter nicht nur im Vergleich mit dem Code civil, sondern auch mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch geht das neue schweizerische Zivilgesetzbuch, das am 10. Dezember 1907 angenommen ist und am 1. Januar 1912 in Kraft tritt. An Stelle der verschiedenen Gesetze der einzelnen Kantone, die teils im Anschluß an das Code civil, wie in Genf, Waadt und in der italienischen Schweiz, oder an das österreichische Recht, wie in Bern und Luzern, oder an das alte Gewohnheitsrecht in Schwyz, Uri, Unterwalden usw. galten, bekommt jetzt die Schweiz ein einheitliches Gesetz. Die Freiheit der Frau und der Kinder ist gesichert. Das neue Gesetz zuerkennt auch dann der Frau einen Anteil am Gewinn der Ehe (ein Drittel davon), wenn sie nur als Gehilfin oder Hausfrau mittätig gewesen ist. Auch im Erbrecht ist sie besser gestellt als nach dem deutschen Recht. So erhält sie neben den Eltern des Mannes außer der Hälfte des Nachlasses noch lebenslänglichen Nießbrauch an der anderen Hälfte. Schuldner solcher Ehemänner, welche die Sorge für Weib und Kind vernachlässigen, können vom Richter angewiesen werden, ihr Zahlungen an die Ehefrau zu leisten. Das Verbot der Eheschließung des geschiedenen Ehegatten mit demjenigen, mit welchem er den Ehebruch begangen hat, ist unter die Ehehindernisse nicht aufgenommen. (Der betreffende § 298 des Code civil ist auch in Frankreich im Jahre 1904 weggefallen.) Das eheliche Güterrecht ist im wesentlichen ebenso wie im Bürgerlichen Gesetzbuch geordnet. In erster Reihe entscheidet der Ehevertrag, der sowohl vor als während der Ehe geschlossen werden kann. Uneheliche Kinder haben, wenn die Ehe der Mutter versprochen war, Anspruch nicht nur auf Alimente wie im deutschen Recht, sondern auch auf Zusprechung der Standesfolge gegen den Vater, und erlangen damit die Rechte der ehelichen Kinder.

 

Schweden sicherte durch Gesetz vom 11. Dezember 1874 der Ehefrau das Recht der freien Verfügung über das, was sie durch persönliche Arbeit erwirbt. Dänemark hat 1880 den gleichen Grundsatz zum geltenden Recht erhoben. Auch kann nach dänischem Recht das Besitztum der Frau nicht durch Schulden des Mannes in Ansprach genommen werden. Ganz ähnlich lautet das norwegische Gesetz vom Jahre 1888 und das finnländische vom Jahre 1889: die verheiratete Frau hat dieselbe Fähigkeit, der Verfügung über ihre Güter wie die nichtverheiratete, nur sind einige Ausnahmen vorgesehen, die im Gesetz erwähnt werden. Im norwegischen Gesetz wird dieses ausgesprochen, daß die Frau durch die Ehe unfrei wird.

 

"In den skandinavischen wie in fast allen anderen Ländern geriet diese universelle Bewegung zur Erweiterung des ›Sondergutes‹ der Frau an ganz demselben Punkte in Fluß, an dem sie auch in England einsetze: dem Arbeitserwerb der Ehefrau. Die herrschenden Klassen gaben eben weit bereitwilliger die patriarchale Position des kleinen Mannes über die arbeitende, als diejenige des Mannes ihrer eigenen Schichten über die besitzende Frau preis" .

 

In dem Gesetz vom 27. Mai 1908 macht die dänische Gesetzgebung einen weiteren Schritt. Entzieht sich der Ehemann beziehungsweise Vater seiner Unterhaltspflicht, so können die Frau beziehungsweise die Kinder verlangen, daß, nachdem die Höhe des zu gewährenden Unterhalts von der Verwaltungsbehörde festgesetzt ist, der Unterhalt ihnen aus öffentlichen Mitteln vorgeschossen wird.

 

Das Recht der Erziehung der Kinder und das Recht, über die Erziehung derselben Bestimmungen zu treffen, steht nach der in den meisten Ländern bestehenden Gesetzgebung dem Vater zu; hier und dort wird der Mutter eine untergeordnete Mitwirkung eingeräumt. Der alte römische Grundsatz, der im strikten Gegensatz zur mutterrechtlichen Zeit stand, daß der Vater alle Rechte und Gewalt über die Kinder habe, bildet allerwärts den Grundton der Gesetzgebung.

 

In Rußland hat die verheiratete Frau das Recht der Verfügung nur über ihr Vermögen. Was ihre Erwerbstätigkeit betrifft, so bleibt sie in vollständiger Abhängigkeit von ihrem Manne. Ohne dessen Erlaubnis wird ihr nie ein Paß ausgestellt, der unentbehrlich ist bei jedem Wechsel des Wohnortes. Um eine Stelle zu übernehmen oder irgendeine Erwerbstätigkeit auszuüben, muß sie ebenfalls die Genehmigung des Mannes haben. Die Ehescheidung ist durch das geltende Gesetz so erschwert, daß sie nur in sehr seltenen Fällen durchgeführt werden kann. Viel unabhängiger war früher die Stellung der Frau in den alten Bauerngemeinden, was den noch vorhandenen kommunistischen Einrichtungen oder der Erinnerung an dieselben geschuldet ist. Sie war die Verwalterin ihres Besitztums. Der Kommunismus ist überhaupt der den Frauen günstigste Sozialzustand, das zeigte uns schon die Darlegung aus dem Zeitalter des Mutterrechts . In den Vereinigten Staaten haben sich die Frauen die volle zivilrechtliche Gleichberechtigung erkämpft, auch haben sie verhindert, daß die englischen oder ähnliche Prostitutionsgesetze eingeführt wurden.

 

2. Der Kampf um die politische Gleichberechtigung

 

Die handgreifliche Rechtsungleichheit der Frauen gegenüber den Männern hat bei den vorgeschritteneren unter ihnen die Forderung nach politischen Rechten hervorgerufen, um durch die Gesetzgebung für ihre Gleichberechtigung zu wirken. Es ist derselbe Gedanke, der auch die Arbeiterklasse leitete, auf die Eroberung politischer Macht ihre Agitation zu richten. Was für die Arbeiterklasse recht ist, kann für die Frauen nicht unrecht sein. Unterdrückt, rechtlos, vielfach hintangesetzt, haben sie nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht, sich zu wehren und jedes ihnen gut scheinende Mittel zu ergreifen, um sich eine unabhängige Stellung zu erobern. Gegen diese Bestrebungen erheben sich natürlich wieder die reaktionären Unkenrufe. Sehen wir zu, mit welchem Recht.

 

Hervorragend geistig veranlagte Frauen haben in den verschiedenen Zeitaltern und unter den verschiedensten Völkern, auch dort, wo sie nicht als Fürstinnen die Macht in Händen hatten, eine einflußreiche politische Rolle zu spielen verstanden. Davon war sogar der päpstliche Hof nicht ausgeschlossen. Konnten sie einen Einfluß nicht direkt und auf dem Wege ihnen zustehender Rechte erlangen, so auf dem Wege geistigen Übergewichts, selbst der Kabale und Intrige. Groß war insbesondere ihr Einfluß während Jahrhunderten am französischen Hofe, aber nicht minder an den spanischen und italienischen Höfen. So war gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts am Hofe Philipps V. von Spanien die Großkämmerin Marie von Trémouille, Herzogin von Bracciano und Fürstin von Ursins, während dreizehn Jahren der erste Minister Spaniens, und sie leitete während dieser Zeit die spanische Politik in ausgezeichneter Weise. Auch als fürstliche Mätressen haben sie es vielfach meisterhaft verstanden, sich einen oft gewaltigen politischen Einfluß zu sichern; wir erinnere nur an die altbekannten Namen, die Maintenon, die Mätresse Ludwigs XIV., und die Pompadour, die Mätresse Ludwigs XV. Die große geistige Bewegung, die sich im achtzehnten Jahrhundert unter Männern wie Montesquieu, Voltaire, d'Alembert, Holbach, Helvetius, La Mettrie, Rousseau und vielen anderen vollzog, ließ die Frauen nicht unberührt. Mochten viele unter ihnen, um die Mode mitzumachen oder ihrem Hang zur Intrige Rechnung zu tragen, oder aus sonstigen nicht immer rühmlichen Motiven sich an dieser großen Bewegung beteiligen, welche die Berechtigung aller Grundlagen des Staates und der feudalen Gesellschaft in Zweifel zog und untergrub, eine ganze Anzahl derselben nahm aus lebhaftem Interesse und aus Begeisterung für die großen Ziele an ihr teil. Schon Jahrzehnte vor dem Ausbruch der großen Revolution, die wie ein reinigendes Gewitter Frankreich durchtobte, alles Alte aus den Fugen trieb und zu Boden warf und die vorgeschrittensten Geister in der ganzen Kulturwelt zu hellem Jubel begeisterte, strömten die Frauen in Menge in die wissenschaftlichen und politischen Klubs, in denen philosophische, naturwissenschaftliche, religiöse, soziale, politische Fragen mit bis dahin unerhörter Kühnheit erörtert wurden, und beteiligten sich an den Debatten. Und als endlich im Juli 1789 mit dem Bastillesturm die Ouverture zur großen Revolution begann, da waren es sowohl die Frauen aus den oberen Schichten wie aus dem Volke, die sehr aktiv in die Bewegung eingriffen und einen merkbaren Einfluß pro und kontra ausübten. Exzessiv im Guten wie im Schlimmen beteiligten sie sich, wo die Gelegenheit sich dazu fand. Die Mehrzahl der Geschichtschreiber hat mehr von den Ausschreitungen der Revolution, die unter den gegebenen Verhältnissen nur zu natürlich waren, denn sie waren die Folge all der ungeheuren Erbitterung über die unsägliche Korruption, die Ausbeutung, den Betrug, die Niedertracht, die Schmach und den Verrat der herrschenden Klassen am Volke, als von ihren Großtaten Akt genommen. Unter dem Einfluß dieser einseitigen Schilderungen dichtete Schiller sein: da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Spott. Und doch haben sie in jenen Jahren so viel Beispiele von Heroismus, Seelengröße und bewundernswerter Aufopferungsfähigkeit gegeben, daß ein unparteiisches Buch "Über die Frauen in der großen Revolution" schreiben hieße, ihnen eine weithin leuchtende Ehrensäule errichten . Waren doch selbst nach Michelet die Frauen die Avantgarde der Revolution. Die allgemeine Not, unter der das französische Volk unter dem Raub- und Schandregiment der Bourbonen litt, traf wie immer unter gleichen Verhältnissen namentlich die Frauen. Von fast jedem ehrlichen Erwerb durch die Gesetze ausgeschlossen, fielen sie zu Zehntausenden der Prostitution zum Opfer. Dazu kam die Hungersnot des Jahres 1789, die ihr und ihrer Angehörigen Elend auf die Spitze trieb. Diese zwang sie im Oktober zum Rathaussturm und zum Massenzug nach Versailles, dem Sitz des Hofes; sie veranlaßte aber auch eine Anzahl von ihnen, bei der Nationalversammlung zu petitionieren, "daß die Gleichheit zwischen Mann und Frau wieder hergestellt, ihnen Arbeit und Beschäftigung freigegeben werde und ihnen Stellen eingeräumt würden, für die ihre Fähigkeiten sie eigneten". Und da sie begriffen, daß, um zu ihrem Recht zu kommen, sie Macht haben müßten, Macht sich aber nur erobern ließ, wenn sie sich organisierten und in Masse zusammenständen, so riefen sie in ganz Frankreich Frauenvereine ins Leben, die zum Teil eine überraschend hohe Mitgliederzahl erlangten, und beteiligten sich auch an den Versammlungen der Männer. Wenn die geniale Madame Roland es vorzog, unter den "Staatsmännern" der Revolution, den Girondisten, eine leitende politische Rolle zu spielen, so nahm die feurige und beredte Olympe de Gouges die Führung der Frauen des Volkes in ihre Hand und trat mit der ganzen Begeisterung, zu der ihr Temperament sie befähigte, für diese ein.

 

Als 1793 der Konvent die Menschenrechte (les droits de l'homme) proklamierte, erkannte sie sofort, daß es nur Männerrechte seien. Diesen stellten Olympe de Gouges im Verein mit Rose Lacombe und anderen in 17 Artikeln die "Frauenrechte" gegenüber, die sie am 28. Brumaire (20. November 1793) vor der Pariser Kommune des längeren begründeten mit Ausführungen, die auch noch heute ihre volle Berechtigung haben und in denen der der Situation entsprechende Satz enthalten war: "Hat die Frau das Recht, das Schafott zu besteigen, so muß sie auch das Recht haben, die Tribüne zu besteigen." Ihre Forderungen blieben unerfüllt. Dagegen fand ihr Hinweis auf das Recht der Frau, gegebenenfalls das Schafott besteigen zu müssen, blutige Bestätigung. Ihr Eintreten für die Rechte der Frauen auf der einen und ihr Kampf gegen die Gewalttaten des Konvents auf der anderen Seite ließen sie dem Konvent für das Schafott reif erscheinen; ihr Kopf fiel noch am 3. November desselben Jahres. Fünf Tage später fiel auch der Kopf der Madame Roland. Beide starben wie Helden. Kurz vor ihrem Tode, 17. Oktober 1793, hatte der Konvent seine frauenfeindliche Gesinnung auch dadurch betätigt, daß er die Unterdrückung aller Frauenvereine beschloß, und später ging er sogar so weit, als die Frauen fortfuhren gegen das an ihnen verübte Unrecht zu protestieren, daß er ihnen den Besuch des Konvents und der öffentlichen Versammlungen verbot und sie als Aufrührer behandelte.

 

Als der Konvent gegen das heranmarschierende monarchische Europa "das Vaterland in Gefahr" erklärt hatte und das Massenaufgebot anordnete, erboten sich die Pariser Frauen zu tun, was zwanzig Jahre später begeisterte preußische Frauen ausführten, mit dem Gewehr in der Hand das Vaterland zu verteidigen, hoffend, damit ihr Recht auf Gleichheit zu beweisen. Aber da trat ihnen in der Kommune der radikale Chaumette entgegen, der ihnen zurief: "Seit wann ist es den Frauen gestattet, ihr Geschlecht abzuschwören und sich zu Männern zu machen? Seit wann ist es Gebrauch, sie die fromme Sorge ihres Haushaltes, die Wiege ihrer Kinder verlassen zu sehen, um auf die öffentlichen Plätze zu kommen, von der Tribüne herab Reden zu halten, in die Reihe der Truppen zu treten, mit einem Worte Pflichten zu erfüllen, welche die Natur dem Manne allein zugeteilt hat? – Die Natur hat zu dem Manne gesagt: Sei Mann! Die Wettrennen, die Jagd, der Ackerbau, die Politik und die Anstrengungen aller Art sind dein Vorrecht! Sie hat zu dem Weibe gesagt: Sei Weib! Die Sorge für deine Kinder, die Details des Haushaltes, die süße Unruhe der Mutterschaft, das sind deine Arbeiten! – Unkluge Frauen, warum wollt ihr Männer werden? Sind die Menschen nicht genug geteilt? Was bedürft ihr mehr? Im Namen der Natur, bleibt, was ihr seid; und weit entfernt, uns um die Gefahren eines so stürmischen Lebens zu beneiden, begnügt euch damit, sie uns im Schoße unserer Familien vergessen zu machen, indem ihr unsere Augen ruhen lasset auf dem entzückenden Schauspiel unserer durch eure zärtliche Sorge glücklichen Kinder."

 

Ohne Zweifel sprach der radikale Chaumette den meisten unserer Männer aus der Seele. Auch wir glauben, daß es eine zweckmäßige Arbeitsteilung ist, den Männern die Verteidigung des Landes zu überlassen, dagegen den Frauen die Sorge für Heimat und Herd. Im übrigen ist der rednerische Erguß Chaumettes nur Phrase. Was er von der Mühe des Mannes im Ackerbau sagt, trifft nicht zu, denn im Ackerbau hat von uralter Zeit bis zur Stunde die Frau nicht die leichteste Rolle gehabt. Die Anstrengungen der Jagd und des Wettrennens sind keine "Anstrengungen", sondern ein Vergnügen der Männer. Die Politik aber hat nur Gefahren für die, die gegen den Strom schwimmen, im übrigen bietet sie wenigstens ebenso viel Vergnügen als Anstrengung. Es ist der Egoismus des Mannes, der aus dieser Rede spricht.

 

Gleiche Bestrebungen, wie sie das Auftreten der Enzyklopädisten und die große Revolution in Frankreich hervorgerufen hatten, waren auch in den Vereinigten Staaten aufgetaucht, als diese in den siebenziger und achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit von England erkämpften und sich eine demokratische Verfassung gaben. Hier war es in erster Linie Mercy Ottis Warren und die Gattin des späteren zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten Mrs. Adams und ihnen gleichgesinnte Frauen, die für die politische Gleichberechtigung eintraten. Ihrem Einfluß war es zu danken, daß wenigstens der Staat New Jersey den Frauen das Stimmrecht gewährte, es aber bereits im Jahre 1807 wieder beseitigte. Noch vor dem Ausbruch der Revolution in Frankreich (1787) war es hier Condorcet, der spätere Girondist, der in einem glänzend geschriebenen Essay für das Frauenstimmrecht und die volle politische Gleichheit der Geschlechter eintrat.

 

Angeregt durch die gewaltigen Ereignisse im Nachbarland erhob jenseits des Kanals die 1759 geborene tapfere Marie Wollstonecraft ihre Stimme. 1790 schrieb sie gegen Burke, den heftigsten Gegner der Französischen Revolution, ein Buch, in dem sie die Forderung der Menschenrechte verteidigte. Sehr bald ging sie aber dazu über, auch für ihr eigenes Geschlecht die Menschenrechte zu verlangen. Das geschah in ihrem 1792 erschienenem Buche: "A Vindication of the Rights of women" (Eine Rechtfertigung der Rechte der Frauen), in dem sie, scharfe Kritik an dem eigenen Geschlechte übend, für die Frauen die volle Gleichberechtigung zum Besten des Ganzen in Anspruch nahm und kühn verteidigte. Aber sie fand, wie natürlich, den heftigsten Widerstand und die schwersten und ungerechtesten Angriffe. An schweren seelischen Kämpfen ging sie (1797), von ihren Zeitgenossen verkannt und verhöhnt, zugrunde.

 

Das merkwürdigste aber ist, daß um dieselbe Zeit, in der in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten die ersten ernsten Bestrebungen auftauchten, die politische Gleichheit der Frauen zu erkämpfen, auch in dem damals so rückständigen Deutschland ein deutscher Schriftsteller – Th. G. v. Hippel – sich fand, der ein Buch erschienen ließ, in dem er, zunächst anonym, unter dem Titel "Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber", Berlin 1792, für die Gleichberechtigung der Frauen eintrat. Das war zu einer Zeit, in der ein Buch "Über die bürgerliche Verbesserung der Männer" in Deutschland die gleiche Berechtigung gehabt hätte. Um so mehr ist der Mut des Mannes zu bewundern, der in diesem Buche alle Konsequenzen für die soziale und politische Gleichberechtigung der Geschlechter zog und sehr geschickt und geistvoll verteidigte.

 

Seitdem ruhte lange Zeit die Forderung der politischen Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern, aber die Forderung ist allmählich ein Postulat in der vorgeschritteneren Frauenbewegung aller Kulturländer geworden und ist zum Teil in einer Anzahl Staaten verwirklicht. In Frankreich traten die St. Simonisten und Fourieristen für die gesellschaftliche Gleichheit der Geschlechter ein und der Fourierist Considérant beantragte 1848 in der Verfassungskommission des französischen Parlaments die Gewährung der gleichen politischen Rechte an die Frauen. 1851 wiederholte Pierre Leroux den Antrag in der Kammer, aber ebenfalls ohne Erfolg.

 

Heute liegen die Dinge wesentlich anders. Die ganze Entwicklung, alle Verhältnisse haben sich seitdem mächtig umgestaltet und haben auch die Stellung der Frauen verändert. Sie sind mehr als je mit allen Fasern ihrer Existenz mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsgang verbunden und greifen mehr als je auch selbsttätig ein. Wir sehen, wie in allen Kulturstaaten Hunderttausende und Millionen Frauen gleich den Männern in den verschiedensten Berufen tätig sind und die Zahl derjenigen von Jahr zu Jahr wächst, die auf die eigene Kraft und die eigenen Fähigkeiten angewiesen, den Kampf um die Existenz zu führen haben. Es kann also den Frauen so wenig wie den Männern gleichgültig sein, wie unsere sozialen und politischen Verhältnisse beschaffen sind. Fragen zum Beispiel wie die: Welche innere und welche äußere Politik gehandhabt wird, ob eine solche Kriege begünstigt oder nicht; ob der Staat jährlich Hunderttausende von gesunden Männern in der Armee festhält und Zehntausende ins Ausland treibt; ob die notwendigsten Lebensbedürfnisse durch Steuern und Zölle verteuert werden und die Familie um so härter treffen, je zahlreicher diese ist, und das in einer Zeit, in der die Mittel zum Leben für die große Mehrzahl äußerst knapp bemessen sind, gehen die Frau ebenso nahe an wie den Mann. Auch bezahlt die Frau direkte und indirekte Steuern von ihrer Lebenshaltung und aus ihrem Einkommen. Das Erziehungssystem ist für sie vom höchsten Interesse, denn die Art der Erziehung entscheidet in hohem Grade über die Stellung ihres Geschlechts: als Mutter hat sie daran ein doppeltes Interesse.

 

Ferner sind die Hunderttausende und Millionen Frauen in Hunderten von Berufsarten persönlich sehr lebhaft beteiligt an dem Zustand unserer Sozialgesetzgebung. Fragen, betreffend die Länge der Arbeitszeit, die Nacht-, Sonntags- und Kinderarbeit, die Lohnzahlungs- und Kündigungsfristen, die Schutzmaßregeln in Fabriken und Werkstätten, mit einem Worte der Arbeiterschutz, weiter die ganze Versicherungsgesetzgebung, das Gewerbegerichtswesen usw. sind auch für sie vom höchsten Interesse. Die Arbeiter haben über den Zustand vieler Industriezweige, in welchen Arbeiterinnen ausschließlich oder überwiegend beschäftigt sind, nur eine unvollkommene oder keine Kenntnis. Die Unternehmer- haben alles Interesse, Mißstände, die sie verschulden, zu vertuschen, aber die Gewerbeinspektion erstreckt sich vielfach nicht auf Gewerbszweige, in welchen Frauen ausschließlich beschäftigt sind, auch ist sie noch äußerst unzureichend, und gerade hier sind Schutzmaßregeln am notwendigsten. Man braucht nur an die Arbeitslokale zu erinnern, in welchen in unseren großen Städten Näherinnen, Schneiderinnen, Putzmacherinnen usw. zusammengepfercht werden. Von dort kommt kaum eine Klage und dorthin dringt bis jetzt keine Untersuchung. Auch ist die Frau als Erwerbende an der Handels- und Zollgesetzgebung und dem gesamten bürgerlichen Rechte interessiert. Es kann also gar keinem Zweifel unterliegen, daß sie so gut wie der Mann das größte Interesse hat, Einfluß auf die Gestaltung unserer Zustände durch die Gesetzgebung zu erlangen. Ihre Beteiligung am öffentlichen Leben würde demselben einen bedeutenden Aufschwung geben und eine Menge neuer Gesichtspunkte eröffnen.

 

Auf solche Ansprüche folgt die kurz abweisende Antwort: Die Frauen verstehen nichts von Politik, sie wollen auch in der großen Mehrzahl nichts davon wissen, auch verstehen sie das Stimmrecht nicht zu benutzen. Das ist wahr und nicht wahr. Allerdings haben bis jetzt noch nicht große Frauenkreise, wenigstens in Deutschland, die politische Gleichberechtigung gefordert. Die erste Frau, die schon Ende der sechziger Jahre in Deutschland dafür eintrat, war Frau Hedwig Dohm. Neuerdings sind es hauptsächlich die sozialdemokratisch gesinnten Arbeiterinnen, die kräftig agitatorisch dafür eintreten.

 

Mit dem Einwand, daß bisher die Frauen der politischen Bewegung nur schwaches Interesse entgegenbrachten, ist nichts bewiesen. Bekümmerten sich bisher die Frauen nicht um Politik, so ist damit nicht bewiesen, daß sie es nicht müßten. Dieselben Gründe, die gegen das Stimmrecht der Frauen angeführt werden, wurden in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gegen das allgemeine Stimmrecht der Männer geltend gemacht. Der Verfasser dieser Schrift gehörte selbst noch 1863 zu denen, die sich gegen dasselbe erklärten, vier Jahre später verdankte er ihm seine Wahl in den Reichstag. Zehntausenden erging es ähnlich, sie wurden aus einem Saulus zu einem Paulus. Gleichwohl gibt es noch viele Männer, die ihr wichtigstes politisches Recht entweder nicht benutzen oder nicht zu benutzen verstehen, aber das ist kein Grund, ihnen dasselbe vorzuenthalten, und es kann keiner sein, es ihnen entziehen zu wollen. Bei den Reichstagswahlen stimmen in der Regel 25 bis 30 Prozent der Wähler nicht, und diese rekrutieren sich aus allen Klassen. Und unter den 70 bis 75 Prozent, die an der Wahl sich beteiligen, stimmt nach unserer Auffassung die Mehrzahl so, wie sie nicht stimmen dürfte, begriffe sie ihr wahres Interesse. Daß sie dieses noch nicht begriffen hat, liegt an dem Mangel politischer Bildung.

 

Politische Bildung wird dadurch aber nicht gewonnen, daß man die Massen von öffentlichen Angelegenheiten fern hält, sondern dadurch, daß man sie zur Ausübung politischer Rechte zuläßt. Ohne Übung keine Meister. Die herrschenden Klassen haben es bisher in ihrem Interesse verstanden, die große Mehrheit des Volkes in politischer Unmündigkeit zu erhalten. Bis zu dieser Stunde war es deshalb die Aufgabe einer klassen- und zielbewußten Minorität, mit Energie und Begeisterung für die Interessen der Allgemeinheit zu kämpfen und die große träge Masse aufzurütteln und zu sich emporzuziehen. So war es aber bisher in allen großen Bewegungen, und so kann es weder verwundern noch entmutigen, daß es auch in der Frauenbewegung nicht anders ist. Die bisherigen Erfolge zeigen, daß Mühe und Opfer belohnt werden, und die Zukunft bringt den Sieg.

 

In dem Augenblick, in dem die Frauen gleiche Rechte mit den Männern erlangen, wird auch das Bewußtsein der Pflichten in ihnen lebendig werden. Aufgefordert, ihre Stimmen abzugeben, werden sie sich fragen: wozu? für wen? Mit diesem Augenblick werden zwischen Mann und Frau eine Reihe von Anregungen gegeben, die, weit entfernt, ihr gegenseitiges Verhältnis zu verschlechtern, es im Gegenteil wesentlich verbessern werden. Die ununterrichtetere Frau wird sich naturgemäß an den unterrichteteren Mann wenden. Daraus folgt Ideenaustausch und gegenseitige Belehrung, ein Zustand, wie er bisher in den seltensten Fällen zwischen Mann und Frau bestand. Dies wird ihrem Leben einen neuen Reiz geben. Der unglückliche Bildungs- und Auffassungsunterschied unter den Geschlechtern, der so vielfach zu Meinungsdifferenzen und Streitigkeiten führt, den Mann mit seinen verschiedenseitigen Pflichten in Zwiespalt setzt und das Gemeinwohl schädigt, wird mehr und mehr ausgeglichen. Statt eines Hemmschuhs wird der Mann in der gleichgesinnten Frau eine Unterstützerin erhalten; sie wird, wenn sie selbst durch Pflichten abgehalten ist, sich zu beteiligen, den Mann anspornen, seine Schuldigkeit zu tun. Sie wird es auch in der Ordnung finden, daß ein Bruchteil des Einkommens für eine Zeitung und für Agitationszwecke ausgegeben wird, weil auch ihr die Zeitung zur Belehrung und Unterhaltung dient und weil sie die Notwendigkeit der Opfer für die Agitation begreift, damit erobert wird, was ihr, dem Manne und ihren Kindern fehlt – ein menschenwürdiges Dasein.

 

So wird das beiderseitige Eintreten für das Gemeinwohl, das mit dem eigenen aufs engste verknüpft ist, im höchsten Grade veredelnd wirken. Es wird das Gegenteil von dem geschehen, was Kurzsichtige oder die Feinde eines auf voller Gleichberechtigung aller beruhenden Gemeinwesen behaupten. Dieses Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern wird in demselben Maße sich verschönern, wie die gesellschaftlichen Einrichtungen Mann und Frau von materieller Sorge und übermäßiger Arbeitslast befreien. Übung und Erziehung werden hier wie in anderen Fällen weiter helfen. Gehe ich nicht ins Wasser, so lerne ich nie schwimmen; studiere ich keine fremde Sprache und übe ich sie nicht, so werde ich sie nie sprechen lernen. Das findet jeder natürlich, aber viele begreifen nicht, daß dasselbe auch für die Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft gilt. Sind unsere Frauen unfähiger als die weit tiefer stehenden Neger, denen man in Nordamerika die politische Gleichberechtigung zuerkannte? Oder soll eine geistig hochstehende Frau weniger Recht haben als der roheste, ungebildetste Mann; zum Beispiel als ein unwissender, hinterpommerscher Tagelöhner oder ein ultramontaner polnischer Kanalarbeiter, und nur deshalb, weil der Zufall diese als Männer zur Welt kommen ließ? Der Sohn hat mehr Recht als die Mutter, von der er vielleicht seine besten Eigenschaften erbte, die ihn zu dem erst machte, was er ist. In der Tat sonderbar!

 

Überdies riskieren wir nicht mehr, in das Dunkle, Unbekannte zu springen. Nordamerika, Neuseeland, Australien und Finnland haben bereits die Bahn gebrochen. Über die Wirkung desselben schrieb schon am 12. November 1872 Richter Kingmann aus Lasamie City an die Frauenzeitung (Women's Journal) in Chicago folgendes:

 

"Es sind heute drei Jahre, daß in unserem Territorium die Frauen das Stimmrecht erhielten, sowie das Recht, an den Ämtern teilzunehmen wie die anderen Wähler. In dieser Zeit haben sie gewählt und sind erwählt worden zu verschiedenen Ämtern; sie sind als Geschworene und Friedensrichter in Funktion gewesen. Sie haben sich allgemein beteiligt bei allen unseren Wahlen, und obschon ich glaube, daß einige unter uns im Prinzip das Eintreten der Frauen nicht gutheißen, so wird, glaube ich, niemand verweigern können anzuerkennen, daß dieses Eintreten auf unsere Wahlen einen erzieherischen Einfluß geübt hat. Es veranlaßte, daß sie ruhig und ordentlich verliefen, und daß zu gleicher Zeit unsere Gerichtshöfe in die Lage kamen, verschiedene Arten von Verbrechern zu erreichen und zu bestrafen, die bis dahin ungestraft blieben.

 

Als zum Beispiel das Territorium organisiert ward, gab es fast niemand, der nicht einen Revolver bei sich trug und bei dem geringsten Streit Gebrauch davon machte. Ich erinnere mich nicht eines einzigen Falles, daß eine aus Männern gebildete Jury einen derjenigen, die mit dem Revolver geschossen hatten, für überführt erachtete; aber mit zwei oder drei Frauen unter den Geschworenen haben dieselben stets den Belehrungen (instructions) des Gerichtshofes Folge geleistet...."

 

Und wie man nach fünfundzwanzigjähriger Einführung des Frauenstimmrechts in Wyoming über dasselbe dachte, spricht die Adresse aus, die am 12. November 1894 die Volksvertretung des Staates an alle Parlamente der Welt erließ. Darin hieß es:

 

"Der Besitz und die Ausübung des Stimmrechts durch Frauen in Wyoming hat keinerlei schlechte, sondern nach vielen Richtungen hin sehr gute Folgen gehabt; es hat in hervorragender Weise dazu beigetragen, Verbrechen und Armut aus diesem Staate zu verbannen, und zwar ohne alle Gewaltmaßregeln; es hat friedliche und ordentliche Wahlen, eine gute Regierung, einen bemerkenswerten Grad von Zivilisation und öffentlicher Ordnung herbeiführen helfen; und wir weisen mit Stolz auf die Tatsache hin, daß seit fünfundzwanzig Jahren, seit die Frauen das Stimmrecht besitzen, kein Distrikt von Wyoming ein Armenhaus besitzt, daß unsere Gefängnisse so gut wie leer und Verbrechen so gut wie unbekannt sind. Gestützt auf unsere Erfahrung dringen wir darauf, daß jeder zivilisierte Staat auf Erden den Frauen ohne Verzug das Stimmrecht gewährt."

 

Bei aller Anerkennung für die politische Tätigkeit der Frauen im Staate Wyoming gehen wir nicht so weit wie die begeisterten Verteidiger des Frauenstimmrechts in der dortigen Volksvertretung, ausschließlich dem Stimmrecht der Frauen die beneidenswerten Zustände zuzuschreiben, deren sich, nach der Schilderung der Adresse, der Staat erfreut – hierfür sind eine Reihe sozialer Momente verschiedener Art mit entscheidend –; aber fest steht, daß die Ausübung des Frauenstimmrechts von den wohltätigsten Folgen für Wyoming begleitet war und nicht ein Nachteil daraus entstand. Das ist die glänzendste Rechtfertigung für die Einführung desselben.

 

Das Beispiel von Wyoming fand Nachahmung. In den Vereinigten Staaten erhielten die Frauen im Jahre 1893 in Kolorado das politische Stimmrecht; im Jahre 1895 in Utah, um Jahre 1896 in Idaho, im Jahre 1908 in Süd-Dakota, im Jahre 1909 in Washington, und sie wählten auch sofort eine Anzahl Vertreterinnen. Im Jahre 1899, nachdem die Neuerung in Kolorado fünf Jahre bestanden hatte, beschloß das Parlament mit 45 gegen 3 Stimmen folgende Resolution:

 

"In Erwägung, daß gleiches Wahlrecht für beide Geschlechter seit fünf Jahren in Kolorado besteht, während welcher Zeit die Frauen es ebenso allgemein ausgeübt haben als die Männer, und zwar mit dem Erfolg, daß für öffentliche Ämter geeignetere Kandidaten gewählt wurden, die Wahlmetho de verbessert, die Gesetzgebung vervollkommnet, die allgemeine Bildung gehoben, das politische Verantwortlichkeitsgefühl infolge des weiblichen Einflusses stärker entwickelt worden ist, beschließt das Unterhaus, daß im Hinblick auf diese Resultate die politische Gleichstellung der Frauen jedem Staate und jedem Territorium der nordamerikanischen Union als eine gesetzgeberische Maßnahme empfohlen werde, die geeignet ist, eine höhere und bessere Ordnung herbeizuführen."

 

In einer Reihe Staaten haben die Parlamente die Einführung des Frauenwahlrechts beschlossen, die Volksabstimmung hat jedoch diese Beschlüsse annulliert. So in Kansas, Oregon, Nebraska, Indiana und Oklahoma; in Kansas und Oklahoma hat sich der Vorgang bereits zweimal, in Oregon gar dreimal wiederholt, und zwar sind die Majoritäten gegen die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts immer kleiner geworden.

 

"Äußerst buntscheckig ist, was die Frauen an Recht auf kommunalem Gebiet erreicht haben; alles in allem sind diese ihre Errungenschaften aber nicht sehr bedeutend. Selbstverständlich besitzen die Frauen volles kommunales Bürgerrecht in den vier Staaten, in denen ihnen das politische Wahlrecht eignet. Davon abgesehen, ist ihnen aber nur in einem einzigen Staate, in Kansas, das aktive und passive Gemeindewahlrecht zuerkannt worden, das auch das aktive und passive Wahlrecht zu den Schulverwaltungen und das Referendumrecht in Steuerbewilligungsfragen in sich begreift. Das aktive Gemeindewahlrecht besitzen die Frauen in Michigan seit 1893, doch ist es kein allgemeines, da es an einen Bildungnachweis geknüpft ist. Die Staaten Louisiana, Montana, Iowa und New York haben ihnen das Abstimmungsrecht in kommunalen Steuerbewilligungsfragen erteilt. Mehr Einfluß als auf die allgemeinen Gemeindeangelegenheiten haben die Frauen auf dem Gebiet der Schulverwaltung erlangt. Das aktive und passive Wahlrecht zu den Schulverwaltungen steht ihnen zu in Connecticut, Delaware, Illinois, Massachusetts, Minnesota, Montana, Nebraska, New Hampshire, New Jersey, New York, Nord- und Süd-Dakota, Ohio, Oregon, Vermont, Wisconsin, Washington und dem Territorium Arizona. Das aktive Schulwahlrecht allein besitzen sie in Kentucky und dem Territorium Oklahoma, in dem erstgenannten Staate ist es jedoch nur gewissen Klassen von Frauen und unter gewissen Bedingungen eingeräumt. In Kalifornien, Iowa, Louisiana, Maine, Pennsylvanien und Rhode-Island ist den Frauen das passive Schulwahlrecht gewährt worden, aber nur zu gewissen Ämtern in der Schulverwaltung" .

 

In Neuseeland besitzen die Frauen das politische Wahlrecht seit 1893. Sie haben sich sehr lebhaft an den Parlamentswahlen beteiligt, und zwar lebhafter als die Männer; doch besitzen sie nur das aktive Wahlrecht, gewählt können nur Männer werden. Von 139.915 volljährigen Frauen haben sich im Jahre 1893 nicht weniger als 109.461 in die Wählerlisten eintragen lassen, 785 auf je 1.000. An den Wahlen nahmen 90.290 teil, 645 auf je 1.000. Im Jahre 1896 war die Zahl der Abstimmenden 108.783 (68 Prozent), im Jahre 1902 138.565, im Jahre 1905 175.046.

 

In Tasmanien erhielten die Frauen das Gemeindewahlrecht im Jahre 1884 und das politische Wahlrecht im Jahre 1903. In Südaustralien besitzen die Frauen das politische Wahlrecht seit 1895, in Westaustralien seit 1900, in Neu-Südwales seit 1902, in Queensland seit 1905, in Victoria seit 1908. Der Bund dieser Kolonialstaaten hat noch im Jahre 1902 das Frauenstimmrecht zu dem Bundesparlament eingeführt. Mit der Zuerkennung des Wahlrechts ist auch das Recht der Wählbarkeit verbunden, aber bisher ist noch keine Frau ins Parlament gewählt.

 

Den großjährigen Frauen wurde das aktive und passive Parlamentswahlrecht unter den gleichen Bedingungen zuerkannt, wie sie für Männer gelten. Weniger demokratisch ist die Gemeindeverwaltung geregelt. Das Recht der Anteilnahme an der Gemeindeverwaltung ist an die Heerespflicht geknüpft. Seit 1889 können die steuerzahlenden Frauen in den Armenrat der städtischen und ländlichen Gemeinden gewählt werden. Auch als Armenhausvorsteherinnen können Frauen gewählt werden, sie sind ferner wählbar in die Schulräte und Schuldirektionen.

 

Infolge des grandiosen Generalstreiks im Oktober 1905 und des Sieges der russischen Revolution wurde in Finnland die Konstitution wieder hergestellt. Der Arbeiterklasse gelang, es durch äußeren Druck so weit zu bringen, daß der Ständelandtag das allgemeine Wahlrecht – auch für Frauen – als Gesetz annahm. Ausgeschlossen wurden solche, die Armenunterstützung genießen oder die Personalsteuer für den Staat, 2 Mark. für Männer, 1 Mark für Frauen, schulden. Im Jahre 1907 wurden in die Volksvertretung 19, im Jahre 1908 25 Frauen gewählt.

 

In Norwegen nehmen seit 1889 die Frauen an der Schulverwaltung teil. Sie können in Städten vom Gemeinderat in die Schulräte entsandt werden. Frauen, welche Kinder haben, dürfen bei der Wahl von Schulinspektoren mitstimmen. Auf dem Lande sind alle, die Schulsteuer zahlen, ohne Unterschied des Geschlechts zur Teilnahme an den Versammlungen der Schulgemeinden berechtigt. Frauen können das Amt eines Schulinspektors bekleiden. Auch auf andere kommunale Angelegenheiten wurde den Frauen nach und nach Einfluß gewährt. Im Jahre 1901 erhielten das aktive und passive Gemeindewahlrecht alle norwegischen Frauen, die das 25. Lebensjahr erreicht haben, die norwegische Staatsbürgerinnen und fünf Jahre im Lande ansässig sind und entweder selbst für das letzte Steuerjahr Staats- und Gemeindesteuer für ein jährliches Mindesteinkommen von 337,50 Mark (300 Kronen) in den Landbezirken, 450 Mark (400 Kronen) in der Stadt entrichtet haben oder aber in Gütergemeinschaft mit einem Manne leben, der die festgelegten Einkommensätze versteuert hat. 200.000 Frauen erhielten das Wahlrecht, davon allein 30.000 in Christiania. Bei der ersten Wahl, die unter Beteiligung der Frauen stattfand, wurden in die Land- und Stadtverordnetenversammlungen 90 Frauen gewählt (und 160 Stellvertreterinnen), davon in Christiania sechs Stadtverordnete und eine Stellvertreterin. Am 1. Juli 1907 erhielten die norwegischen Frauen auch das politische Wahlrecht. Doch nicht unter denselben Bedingungen wie für Männer. Für die politische Wahlberechtigung der Frauen gelten die gleichen Bedingungen, wie für das kommunale Wahlrecht. Gegen 250.000 großjährige Proletarierinnen bleiben politisch noch rechtlos.

 

In Schweden haben seit 1862 unverheiratete Frauen das aktive Wahlrecht für Provinzialrats- und Gemeindewahlen unter den gleichen Bedingungen wie die Männer, das heißt, wenn sie volljährig sind, ein Einkommen von mindestens 562,50 Mark versteuern und ihre Steuern bezahlt haben. Noch im Jahre 1887 haben von 62.000 Frauen nur 4.000 abgestimmt. Das Recht, zu kommunalen Ämtern gewählt zu werden, blieb den Frauen zunächst ganz versagt. 1889 gewährte jedoch ein Gesetz ihnen Wählbarkeit zu den Armen- und Schulräten. Und im Februar 1909 bekamen die schwedischen Frauen das passive Wahlrecht zu allen Gemeinde- und Stadtverordnetenversammlungen. Im Jahre 1902 wurde das politische Frauenwahlrecht in der Zweiten Kammer mit 114 gegen 64 Stimmen abgelehnt, im Jahre 1905 mit 109 gegen 88.

 

In Dänemark erhielten die Frauen nach einer langjährigen Agitation im April 1908 das aktive und passive Gemeindewahlrecht. Stimmrecht besitzen alle Frauen, die das 25. Lebensjahr erreicht haben und entweder selbst ein jährliches Einkommen von mindestens 900 Mark in der Stadt (in Landdistrikten weniger) oder in Gütergemeinschaft mit einem Manne leben, der die festgesetzten Einkommensätze versteuert hat. Außerdem haben noch das Wahlrecht die weiblichen Dienstboten, denen Kost und Logis als Lohn zugerechnet werden. Bei der ersten Wahl, die 1909 stattfand, wurden in Kopenhagen sieben Frauen in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. In Island haben die Frauen das aktive und. passive Gemeindewahlrecht seit 1907.

 

Eine förmliche Geschichte hat die Erkämpfung des Frauenstimmrechts in England hinter sich. Nach altem Recht besaßen im Mittelalter Frauen, die Grundherrinnen waren, Stimmrecht, als solche übten sie auch die richterliche Gewalt. Im Laufe der Zeit verloren sie diese Rechte. In der Wahlreformakte von 1832 war das Wort "person" gebraucht worden, was nach englischen Begriffen Angehörige beider Geschlechter, Mann und Frau, einschließt. Gleichwohl fand das Gesetz in bezug auf die Frauen eine einschränkende Auslegung, man wies sie zurück, wo sie den Versuch zu wählen machten. In der Wahlreformbill von 1867 hatte man dagegen statt des Wortes "person" das Wort "man" gesetzt. John Stuart Mill beantragte, an Stelle von "man" wieder "person" zu setzen, mit der ausdrücklichen Begründung, daß alsdann Frauen unter den gleichen Bedingungen wie Männer das Stimmrecht besitzen sollten. Der Antrag wurde mit 194 gegen 73 Stimmen abgelehnt. Sechzehn Jahre später (1883) wurde aufs neue im Unterhaus der Versuch gemacht, den Frauen das Stimmrecht einzuräumen. Der Antrag wurde mit einer Majorität von nur 16 Stimmen verworfen. Ein weiterer Versuch im Jahre 1884 wurde, bei ungleich stärkerer Besetzung des Hauses, mit einem Mehr von 136 Stimmen abgelehnt. Aber die Minorität ließ sich nicht werfen. Im Jahre 1886 gelang es ihr, in zwei Lesungen einen Antrag auf Erteilung des Parlamentstimmrechts an die Frauen zur Annahme zu bringen. Die Auflösung des Parlaments verhinderte die endgültige Entscheidung.

 

Am 29. November 1888 hielt Lord Salisbury eine Rede in Edinburg, in der er unter anderem ausführte: "Ich hoffe ernstlich, daß der Tag nicht mehr fern sein wird, an dem die Frauen das Stimmrecht für die Parlamentswahlen mit den Männern teilen und die politische Richtung des Landes mitbestimmen." Und Alfred Russell Wallace, bekannt als Naturforscher und Anhänger Darwins, äußerte sich über dieselbe Frage: "Wenn Männer und Frauen die Freiheit haben, ihren besten Impulsen zu folgen, wenn beide die bestmöglichste Erziehung erhalten, wenn keine falschen Beschränkungen einem menschlichen Wesen wegen des Zufalls des Geschlechts auferlegt werden, und wenn die öffentliche Meinung von den Weisesten und Besten reguliert und der Jugend systematisch eingeschärft werden wird, dann werden wir finden, daß ein System der menschlichen Auswahl sich geltend machen wird, welche eine reformierte Menschheit zur Folge haben muß. So lange Frauen gezwungen sind, die Heirat als ein Mittel anzusehen, vermöge dessen sie der Armut entgehen und der Verlassenheit sich entziehen können, sind und bleiben sie im Vergleich mit den Männern im Nachteil. Der erste Schritt daher in der Emanzipation der Frauen ist die Hinwegräumung aller Beschränkungen, welche sie verhindern, mit den Männern auf allen Gebieten der Industrie und Beschäftigungen zu konkurrieren. Aber wir müssen weitergehen und den Frauen die Ausübung ihrer politischen Rechte gestatten. Viele der Beschränkungen, unter denen die Frauen bisher gelitten, wären ihnen erspart worden, hätten sie eine direkte Vertretung im Parlament gehabt."

 

Am 27. April 1892 wurde wieder mit 175 gegen 152 Stimmen der Eintritt in die zweite Lesung eines Antrags von Sir A. Rollit verweigert. Dagegen nahm am 3. Februar 1897 das Unterhaus einen Antrag auf Stimmrechtserteilung an, aber infolge allerhand Manöver seiner Gegner gelangte der betreffende Entwurf nicht zur dritten Lesung. Im Jahre 1904 hat sich der gleiche Vorgang wiederholt. Von den 1906 gewählten Mitgliedern des Unterhauses hatte die große Majorität vor ihrer Wahl sich zugunsten des Frauenstimmrechts erklärt. Am 21. Juni 1908 fand im Hydepark eine grandiose Demonstration statt. Schon am 28. Februar wurde der Antrag Stangers, der das Frauenstimmrecht innerhalb der Grenzen fordert, die heute für das Männerwahlrecht gelten, mit 271 gegen 92 Stimmen angenommen.

 

Auf dem Gebiet der Lokalverwaltung breitet sich das Frauenstimmrecht immer mehr aus. In den Versammlungen der Kirchengemeinde haben die steuerzahlenden Frauen Zutritt und Stimme so gut wie die Männer. Seit 1899 haben die Frauen in England unter den gleichen Bedingungen wie die Männer das aktive und passive Wahlrecht für den Gemeinderat, den Bezirksrat und Grafschaftsrat. In den ländlichen Gemeinde- und den Bezirksräten sowie den Armenpflegschaften sind alle Besitzer und Mieter – die weiblichen inbegriffen – stimmberechtigt, welche in der Gemeinde oder im Bezirk wohnen. Das passive Wahlrecht zu den genannten Körperschaften besitzen alle volljährigen Einwohner ohne Unterschied des Geschlechts. In den Schulräten besitzen die Frauen das aktive, seit 1870 auch das passive Wahlrecht unter den gleichen Bedingungen wie die Männer. 1903 hat das reaktionäre englische Schulgesetz den Frauen jedoch das passive Wahlrecht zu den Schulverwaltungen der Grafschaft London entzogen. Seit 1869 besitzen die unabhängigen und unverheirateten Frauen das Stimmrecht zu den Staatsräten. Zwei Gesetze aus dem Jahre 1907 statuieren für England und Schottland die Wählbarkeit der unverheirateten Frauen in die Grafschafts- und Gemeinderäte. Jedoch soll einer Frau, die zur Vorsitzenden einer dieser Versammlungen gewählt wird, das damit verbundene Friedensrichteramt nicht zufallen. Außerdem sind sie jetzt auch in Distriktskirchenspiel- und Armenräte wählbar. Die erste Bürgermeisterin war am 9. November 1908 in Aldeburgh gewählt. 1908 saßen in den englischen Armenräten 1.162, in den Schulräten 615 Frauen. In Irland haben die Frauen, soweit sie selbständige Steuerzahler sind, das aktive Gemeindewahlrecht seit 1887, und seit 1896 auch aktives und passives Wahlrecht für die Armenpflege. In dem britischen Kolonialreich von Nordamerika haben die meisten einzelnen Provinzen das Frauenstimmrecht auf kommunalem Gebiet im allgemeinen unter den gleichen Bedingungen eingeführt wie es in England besteht. In den afrikanischen Kolonien Englands ist das Frauenstimmrecht auf kommunalem Gebiet ebenfalls eingeführt worden.

 

In Frankreich brachte den ersten kleinen Fortschritt das Gesetz vom 27. Februar 1880. Durch dasselbe wird ein Wahlkörper geschaffen, dem Schulvorsteherinnen, Oberinspektorinnen, Inspektorinnen der Asyle angehören. Dieser Wahlkörper hat sich mit dem Volksschulwesen zu befassen. Ein weiteres Gesetz vom 23. Januar 1898 gewährt den handeltreibenden Frauen das Recht, an den Wahlen der Handelsgerichte teilzunehmen. Das Gesetz vom 27. März 1907, welches die Gewerbegerichte reformiert, hat auch den Frauen das aktive Wahlrecht zu dieser Körperschaft verliehen, und seit 25. November 1908 besitzen die Frauen das passive Wahlrecht.

 

In Italien haben die Frauen seit 1893 im Gegensatz zu Deutschland das aktive und passive Wahlrecht zu den Gewerbegerichtswahlen eingeräumt erhalten. Sie sind auch wählbar zu Mitgliedern des Vorstandes und der Verwaltung von Krankenhäusern, Waisenhäusern, Fürsorge-Erziehungsanstalten und Schulkommissionen.

 

In Österreich können Frauen, die kraft ihres Besitzes zur Großgrundbesitzerkurie gehören, das aktive Wahlrecht für die Wahlen zum Reichsrat und zum Landtag persönlich oder durch einen männlichen Bevollmächtigten ausüben. In der Gemeinde steht den Frauen das Wahlrecht für die Gemeindevertretung insofern zu, als sie, wenn sie über 24 Jahre alt sind, als Gemeindemitglieder von ihrem Realbesitz, Gewerbe oder Einkommen eine direkte Steuer entrichten; Ehefrauen üben ihr Stimmrecht durch den Ehemann, andere durch einen Bevollmächtigten aus. Was das Wahlrecht zu Landtagen betrifft, so haben in der Klasse des Großgrundbesitzes die Frauen überall das Wahlrecht, das sie jedoch – von Niederösterreich abgesehen – nicht persönlich ausüben müssen. Nur in dem genannten Kronland bestimmt das Landesgesetz von 1896, daß die Großgrundbesitzer ohne Unterschied des Geschlechts persönlich abstimmen müssen. Zu den Gewerbegerichten besitzen die Frauen, wie in den Niederlanden, nur das aktive Wahlrecht.

 

In Deutschland sind die Frauen ausdrücklich vom aktiven und passiven Wahlrecht zu den eigentlichen parlamentarischen Körperschaften ausgeschlossen. Zu den Gemeinderatswahlen haben die Frauen in einzelnen Ländern beziehungsweise Landesteilen das Stimmrecht. Das passive Wahlrecht besitzen die Frauen in keiner einzigen Stadt- oder Landgemeinde. In den Städten sind sie auch vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Ausnahmen von dieser Regel bilden lediglich die Städte des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, der Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen, des rechtsrheinischen Bayern und das lübeckische Städtchen Travemünde.

 

In den bayerischen Städten steht allen Hausbesitzerinnen, in den sachsen-weimarischen und schwarzburgischen allen Bürgerinnen das Stimmrecht zu. Aber nur in Travemünde sind sie zu seiner persönlichen Ausübung berechtigt . Was die Landgemeinden betrifft, so besitzen die Frauen fast regelmäßig das aktive Wahlrecht in allen Gemeinden, in denen das Stimmrecht am Grundbesitz oder an bestimmten Steuerleistungen haftet. Jedoch müssen sie das Stimmrecht durch Vertreter ausüben lassen, auch sind sie nicht wählbar. So in Preußen, Braunschweig, Schleswig-Holstein, Sachsen-Weimar, Hamburg und Lübeck. Im Königreich Sachsen kann nach der Landgemeindeordnung die Frau das Stimmrecht ausüben, wenn sie Grundbesitzerin und unverheiratet ist. Ist sie verheiratet, so geht das Stimmrecht auf den Ehemann über. In den Staaten, in denen in Gemeinden das Stimmrecht am Gemeindebürgerrecht haftet, besitzen es die Frauen in den meisten Fällen nicht. So in Württemberg, in der bayerischen Pfalz, in Baden, Hessen, Oldenburg, Anhalt, Gotha und Reuß j. L. In Sachsen-Weimar-Eisenach, Koburg, Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen können Frauen aber nicht nur das Bürgerrecht unter denselben Bedingungen wie Männer erwerben, sondern sie besitzen auch das gleiche vom Besitz gänzlich losgelöste Stimmrecht. Allerdings ist ihnen auch hier eine persönliche Ausübung versagt.

 

In den preußischen Landesteilen, wo das beschränkte kommunale Frauenwahlrecht besteht, nehmen die wahlberechtigten Frauen auch direkt oder indirekt teil an den Wahlen zu den Vertretungen der Landkreise, den Kreistagen. Im Wahlverband der größeren Grundbesitzer, der Vertreter von Bergwerks- und Gewerbebetrieben wählen die Frauen die Kreistagsabgeordneten direkt, in den Landgemeinden aber indirekt, da dort die Gemeindeversammlungen oder Gemeinderäte nicht diese Vertreter selbst wählen, vielmehr nur Wahlmänner. Da die Kreistage Abgeordnete für die Provinziallandtage wählen, so kann die kleine Zahl wahlberechtigter Frauen indirekt einen äußerst bescheidenen Einfluß auf die Verwaltung der Provinz ausüben.

 

In den letzten Jahren werden die Frauen in immer größerer Zahl und mit bestem Erfolg zur Armen- und Waisenpflege herangezogen (eine Ausnahme bildet nur Bayern), in manchen Städten auch zu Schulkommissionen (Preußen, Baden, Württemberg, Bayern, Sachsen) und Wohnungsuntersuchungskommissionen (Mannheim). Das einzige öffentliche Gebiet, auf dem die Frauen das aktive und passive Wahlrecht besitzen, bleibt die Krankenversicherung; das Wahlrecht zu den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten ist ihnen verwehrt geblieben.

 

Das Wahlrecht ist also in den angeführten Fällen in Deutschland und Österreich fast ausnahmslos nicht an die Person, sondern an den Besitz gebunden. Das ist sehr lehrreich für die herrschende Staatsmoral und das geltende Recht. Der Mensch ist politisch eine Null, hat er kein Geld und Gut. Nicht Verstand und Intelligenz, der Besitz entscheidet.

 

Das Prinzip, der Frau als einer Unmündigen kein Stimmrecht einzuräumen, ist also tatsächlich durchbrochen. Dennoch wehrt man sich, ihr das volle Recht zuzuerkennen. Man sagt, der Frau das Stimmrecht einzuräumen sei gefährlich, weil sie leicht religiösen Vorurteilen zugänglich und konservativ sei. Aber sie ist beides nur, weil sie unwissend ist; man erziehe sie und lehre sie, wo ihr wahres Interesse liegt. Übrigens wird der religiöse Einfluß bei Wahlen übertrieben. Die ultramontane Agitation war in Deutschland nur so erfolgreich, weil sie das soziale Interesse mit dem religiösen zu verbinden wußte. Die ultramontanen Kapläne wetteiferten lange Zeit mit den Sozialdemokraten, die soziale Fäulnis aufzudecken. Daher ihr Einfluß bei den Massen. Mit dem Ende des Kulturkampfes schwindet derselbe allmählich. Die Geistlichkeit ist genötigt, ihre Opposition wider die staatliche Gewalt aufzugeben, gleichzeitig zwingt sie der wachsende Klassengegensatz, auf die katholische Bourgeoisie und den katholischen Adel mehr Rücksichten zu nehmen, und so muß sie auf sozialem Gebiet eine größere Zurückhaltung beobachten. Damit verliert sie an Einfluß bei dem Arbeiter, namentlich auch, wenn Rücksichtnahme auf die Staatsgewalt und die herrschenden Klassen sie zwingt, Handlungen und Gesetze gutzuheißen oder zu dulden, die gegen das Interesse der Arbeiterklasse gerichtet sind. Die gleichen Gründe bringen schließlich auch bei der Frau den Einfluß der Geistlichkeit zu Falle. Hört diese aus Versammlungen und Zeitungen und lernt sie aus eigener Erfahrung, wo ihr wahres Interesse liegt, so wird sie sich von der Geistlichkeit ebenso emanzipieren wie der Mann .

 

In Belgien, in dem der Ultramontanismus weite Volkskreise noch fast unbeschränkt beherrscht, sieht ein Teil der katholischen Geistlichkeit in der Gewährung des Stimmrechtes an die Frauen eine wirksame Waffe gegen die Sozialdemokratie, weshalb sie dasselbe fordert. Auch in Deutschland haben einzelne konservative Abgeordnete, so oft im Reichstag die Sozialdemokratie die Forderung der Gewährung des Frauenstimmrechtes stellte, sich mit der Motivierung dafür erklärt, daß sie in demselben eine Waffe gegen die Sozialdemokratie erblicken. Ohne Zweifel haben diese Ansichten bei der noch vorhandenen politischen Unwissenheit der Frauen und bei der Macht, die namentlich die Geistlichkeit auf sie ausübt, etwas für sich. Aber das ist kein Grund, ihnen das Stimmrecht zu verweigern. Es gibt gegenwärtig auch noch Millionen Arbeiter, die wider ihr Klasseninteresse Vertreter bürgerlicher und kirchlicher Parteien wählen und damit ihre politische Unmündigkeit beweisen, ohne daß man aus diesem Grunde ihnen das Stimmrecht nehmen will. Die Stimmrechtsvorenthaltung oder der Stimmrechtsraub wird nicht praktiziert, weil man die Unwissenheit der Massen – einschließlich der Frauen – fürchtet, denn was diese sind, das haben die herrschenden Klassen aus ihnen gemacht, sondern weil man fürchtet, sie möchten allmählich klug werden und gingen dann ihre eigenen Wege.

 

Einstweilen war man in einzelnen deutschen Staaten noch so rückständig, daß man den Frauen nicht einmal das politische Vereinsrecht gestattete. In Preußen, Bayern, Braunschweig und einer Reihe anderer deutscher Staaten durften sie keine politischen Vereine bilden, in Preußen durften sie nicht einmal an Festlichkeiten politischer Vereine teilnehmen, wie das Oberverwaltungsgericht noch 1901 ausdrücklich entschied. Der Rektor der Berliner Universität beging sogar im Herbst 1901 die für unmöglich gehaltene Gemackloskigkeit, zu verbieten, daß eine Frau im sozialwissenschaftlichen Studentenverein einen Vortrag hielt. Auch verbot in demselben Jahre die Braunschweiger Polizei Frauen die Teilnahme an den Verhandlungen des evangelisch-sozialen Kongresses. Daß der preußische Minister des Innern sich im Jahre 1902 gnädigst bereit erklärte, Frauen das Recht des Zuhörens in Versammlungen politischer Vereine zu gewähren, vorausgesetzt, daß sie, ähnlich wie die jüdischen Frauen in der Synagoge, in einem besonderen Abteil des Saales Platz nehmen, charakterisiert die Kleinlichkeit unserer öffentlichen Zustände. Noch im Februar 1904 konnte Posadowsky im Reichstag feierlich erklären: "Von der Politik sollen die Frauen die Hand weglassen." Der bisherige Zustand wurde selbst den bürgerlichen Parteien unbequem. Hat doch die proletarische Frauenbewegung die Hindernisse des Vereinsrechtes am besten überwunden. Und da brachte endlich das neue Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908 – es ist die einzige Verbesserung, die als wesentlich bezeichnet werden kann – die Herstellung der Gleichberechtigung der Frauen im Vereins- und Versammlungsleben.

 

Mit dem aktiven muß natürlich das passive Wahlrecht verbunden sein. "Eine Frau auf der Tribüne des Reichstags, das müßte sich schön machen", hören wir rufen. Tatsächlich stehen sie schon in anderen Staaten auf den Parlamentstribünen, auch haben wir uns längst gewöhnt, Frauen bei ihren Kongressen und in Versammlungen aller Art auf der Tribüne zu sehen. In Nordamerika erscheinen sie auch auf der Kanzel und auf der Geschworenenbank, warum also nicht auch auf der Tribüne des Reichstags? Die erste Frau, die in den Reichstag kommt, weiß zu imponieren. Als die ersten Arbeiter in denselben traten, glaubte man auch über sie witzeln zu können und behauptete, die Arbeiter würden bald einsehen, welche Torheit sie begingen, solche Leute zu wählen. Aber ihre Vertreter wußten sich schnell Respekt zu verschaffen, und jetzt fürchtet, man, daß es ihrer zu viele werden möchten. Frivole Witzlinge wenden ein: "Aber stellt euch eine schwangere Frau auf der Tribüne des Reichstags vor, wie unästhetisch!" Dieselben Herren finden es aber in der Ordnung, daß schwangere Frauen bei den unästhetischsten Beschäftigungen Verwendung finden, bei welchen Frauenwürde, Anstand und Gesundheit untergraben werden. Der Mann ist ein elender Wicht, der über eine schwangere Frau zu witzeln vermag. Der bloße Gedanke, daß einst seine eigene Mutter so ausgesehen, bevor sie in die Welt ihn setzte, müßte ihm die Schamröte auf die Wangen treiben, und der andere Gedanke, daß er, der rohe Spötter selbst, von einem ähnlichen Zustand seiner Frau die Gewährung seiner höchsten Wünsche erwartet, sollte ihn beschämt zum Verstummen bringen .

 

Eine Frau, die Kinder gebiert, leistet dem Gemeinwesen mindestens denselben Dienst wie ein Mann, der gegen einen eroberungssüchtigen Feind Land und Herd mit seinem Leben verteidigt; sie gebiert und erzieht auch den späteren Mann, dessen Leben leider nur zu oft auf dem sogenannten "Felde der Ehre" verblutet. Außerdem: Das Leben der Frau steht in jedem Mutterschaftsfalle auf dem Spiele; alle unsere Mütter haben bei unserer Geburt dem Tode ins Angesicht geblickt, und viele von ihnen sind dem Akt erlegen. "Übertrifft doch zum Beispiel in Preußen die Zahl der im Kindbett gestorbenen Frauen – darunter befinden sich die Opfer des Kindbettfiebers – die Verluste an Typhus ganz erheblich. Es starben an Typhus 1905 und 1906 je 0,73 und 0,62, im Kindbett aber 2,13 und 1,97 auf 10.000 lebende Frauen berechnet. Wie würden sich die Verhältnisse gestaltet haben – bemerkt mit Recht Professor Herff –, wenn Männer in gleicher Zahl diesen Leiden ausgesetzt wären? Würde nicht alles in Bewegung gesetzt werden?" Die Zahl der Frauen, die infolge von Geburten sterben oder siechen, ist weit größer als die Zahl der Männer, die auf dem Schlachtfeld fallen oder verwundet werden. Vom Jahre 1816 bis 1876 fielen in Preußen nicht weniger als 321.791 Frauen allein dem Kindbettfieber zum Opfer – durchschnittlich pro Jahr 5.363. In England betrug die Zahl der Frauen, die im Kindbett gestorben sind, vom Jahre 1847 bis 1901 213.533, und es sterben, trotz aller hygienischen Maßnahmen, nicht weniger als 4.000 jährlich .

 

Das ist eine weit größere Zahl, als innerhalb derselben Zeit in den verschiedenen Kriegen Männer getötet wurden oder an ihren Wunden starben. Und zu dieser enorm großen Zahl am Kindbettfieber gestorbener Frauen kommt die weit größere Zahl derjenigen, die infolge eines Wochenbetts dauernd siechen oder frühzeitig sterben . Auch aus diesem Grunde hat die Frau Anspruch auf volle Gleichberechtigung mit dem Manne. Dies muß namentlich denen gesagt werden, die die Vaterlandsverteidigungspflicht des Mannes als ein bevorzugtes Moment gegen die Frau geltend machen. Zudem leisten die meisten Männer, infolge unserer militärischen Einrichtungen, diese Pflicht nicht einmal, sie steht für die Mehrzahl nur auf dem Papier.

 

Alle diese oberflächlichen Einwendungen gegen eine öffentliche Tätigkeit der Frau wären undenkbar, wäre das Verhältnis der beiden Geschlechter ein natürliches und bestände nicht ein künstlich großgezogener Antagonismus zwischen den Geschlechtern. Trennt man doch beide schon von Jugend an im gesellschaftlichen Verkehr und in der Erziehung. Insbesondere ist es der dem Christentum geschuldete Antagonismus, der beständig die Geschlechter auseinander und eins über das andere in Unwissenheit erhält, was freieren geselligen Verkehr, gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ergänzung der Charaktereigenschaften verhindert .

 

Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben einer vernünftig organisierten Gesellschaft muß sein, diesen unheilvollen Zwiespalt aufzuheben und die Natur in ihre Rechte einzusetzen. Die Unnatur beginnt schon in der Schule. Einmal Trennung der Geschlechter, dann verkehrten oder keinen Unterricht in dem, was den Menschen als Geschlechtswesen betrifft. Zwar wird in jeder leidlich guten Schule heute Naturgeschichte gelehrt: das Kind erfährt, daß die Vögel Eier legen und sie ausbrüten; es erfährt auch, wann die Paarungszeit beginnt, daß Männchen und Weibchen dazu notwendig sind, daß beide den Nestbau, das Brütegeschäft und die Pflege der Jungen übernehmen. Es erfährt ferner, daß die Säugetiere lebendige Junge gebären; es hört von der Brunstzeit und dem Kampfe der Männchen um die Weibchen während derselben; es erfährt auch die gewöhnliche Zahl der Jungen, vielleicht auch die Trächtigkeitszeit der Weibchen. Aber über die Entstehung und Entwicklung seines eigenen Geschlechts bleibt es im dunkeln, das wird in geheimnisvollen Schleier gehüllt. Wenn alsdann das Kind seine natürliche Wißbegierde durch Fragen an die Eltern, namentlich an die Mutter – an den Lehrer wagt es sich nicht – zu befriedigen sucht, werden die albernsten Märchen ihm aufgebunden, die es nicht zufriedenstellen können und eine um so üblere Wirkung erzielen, wenn es eines Tages dennoch die Natur seines Ursprungs erfährt. Es wird wenig Kinder geben, die bis zum zwölften Jahre diese nicht erfahren haben. Dazu kommt, daß in jeder kleinen Stadt, und insbesondere auf dem Lande, die Kinder schon von frühester Jugend an die Paarung des Federviehs, die Begattung der Haustiere aus nächster, unmittelbarster Nähe auf dem Hofe, der Straße, beim Austreiben des Viehs usw. beobachten. Sie hören, daß die Befriedigung der Brunst, ebenso wie der Akt der Geburt, bei den verschiedenen Haustieren seitens der Eltern, des Gesindes und der älteren Geschwister mit der ungeniertesten Gründlichkeit zum Gegenstand wichtiger Diskussionen gemacht wird. Das alles erweckt Zweifel bei dem Kinde über die elterliche Darstellung seines eigenen Eintritts in das Leben. Schließlich kommt doch der Tag der Erkenntnis, aber in anderer Weise, als er bei natürlicher und vernünftiger Erziehung gekommen wäre. Das Geheimnis des Kindes trägt zur Entfremdung zwischen Kind und Eltern, namentlich zwischen Kind und Mutter bei. Man erreicht das Gegenteil von dem, was man in Unvernunft und Kurzsichtigkeit erreichen wollte. Wer an seine eigene Kindheit denkt und an die seiner Jugendgenossen, weiß, was häufig die Folgen sind.

 

Eine amerikanische Frau teilt in einer Schrift unter anderem mit, daß sie, um die fortgesetzten Fragen ihres achtjährigen Sohnes nach seiner Herkunft zu befriedigen, und weil sie Märchen ihm nicht habe aufbinden wollen, ihm seinen wahren Ursprung entdeckte. Das Kind habe ihr mit größter Aufmerksamkeit zugehört und habe von jenem Tage, an dem es erfahren, welche Sorgen und Schmerzen es seiner Mutter bereitete, mit einer bis dahin ungekannten Zärtlichkeit und Hochachtung an ihr gehangen, und habe diese auch auf andere Frauen übertragen. Die Verfasserin geht von der richtigen Anschauung aus, daß nur durch natürliche Erziehung eine wesentliche Besserung, namentlich eine größere Achtung und Selbstbeherrschung des männlichen Geschlechts gegen das weibliche zu erwarten sei. Wer vorurteilsfrei denkt, wird zu keinem anderen Schlusse kommen. –

 

Von welchem Punkte man immer bei der Kritik unserer Zustände ausgeht, man kommt schließlich stets wieder darauf zurück: eine gründliche Umgestaltung unserer sozialen Zustände und durch sie eine gründliche Umgestaltung in der Stellung der Geschlechter ist notwendig. Die Frau muß, um rascher zum Ziele zu kommen, sich nach Bundesgenossen umsehen, die ihr naturgemäß in der Proletarierbewegung begegnen. Das klassenbewußte Proletariat hat schon seit geraumer Zeit den Sturm auf die Festung, den Klassenstaat, der auch die Herrschaft des einen über das andere Geschlecht aufrechterhält, begonnen. Die Festung muß mit Laufgräben von allen Seiten umgeben und durch Geschütze jeden Kalibers zur Übergabe gezwungen werden. Die belagernde Armee findet ihre Offiziere und die geeigneten Waffen auf allen Seiten. Die Sozialwissenschaft und die Naturwissenschaften, die Geschichtsforschung, die Pädagogik, die Hygiene und Statistik liefern der Bewegung Munition und Waffen. Die Philosophie bleibt nicht zurück und kündigt, in Mainländers "Philosophie der Erlösung", die baldige Verwirklichung des "Idealstaats" an.

 

Die Eroberung des Klassenstaats und seine Umgestaltung wird erleichtert durch die Spaltung in den Reihen seiner Verteidiger, die, bei aller Interessengemeinschaft gegen den gemeinsamen Feind, im Kampfe um die Beute sich gegenseitig bekämpfen. Das Interesse der einen Schicht steht dem Interesse der anderen gegenüber. Was ferner uns nützt, ist die täglich wachsende Meuterei in den Reihen der Feinde, deren Kämpfer zu einem großen Teil Bein von unserem Bein, Fleisch von unserem Fleisch sind, die aber aus Mißverstand und irregeleitet bisher gegen uns und sich selbst kämpften, aber immer mehr zur Einsicht gelangen und sich uns anschließen. Ferner hilft uns die Desertion der ehrlichen, zur Einsicht gekommenen Männer aus den Reihen der bisher feindlichen Denker, die ihr höheres Wissen, ihre bessere Einsicht anspornt, sich über ihr niederes Klasseninteresse zu erheben und, indem sie ihrem idealen Drange nach Gerechtigkeit folgen, sich den nach Befreiung lechzenden Massen anschließen. Vielen ist das Stadium der Zersetzung, in dem Staat und Gesellschaft sich bereits befinden, noch nicht zum Bewußtsein gekommen, und so ist auch diese Darlegung notwendig.