Vierter Abschnitt - Die Sozialisierung der Gesellschaft

 

Zwanzigstes Kapitel - Die soziale Revolution

 

1. Die Umgestaltung der Gesellschaft

 

Die Flut steigt und unterspült das Fundament, auf dem unser Staats- und Gesellschaftsbau ruht. Alle Welt fühlt, daß die Fundamente wanken und nur noch kräftige Stützen retten können. Aber das erfordert große Opfer, welche die herrschenden Klassen bringen müßten. Da liegt aber das Hindernis. Jeder Vorschlag, dessen Verwirklichung ernsthaft die materiellen Interessen der herrschenden Klassen schädigt und ihre bevorrechtete Stellung in Frage zu stellen droht, wird von ihnen grimmig bekämpft und als eine auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebung gebrandmarkt. Die kranke Welt ist aber nicht zu kurieren, ohne daß die Privilegien und Vorrechte der herrschenden Klassen in Frage gestellt und schließlich beseitigt werden.

 

"Der Kampf um die Befreiung der arbeitenden Klassen ist kein Kampf um Vorrechte, sondern ein Kampf um gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Beseitigung aller Vorrechte", heißt es im sozialdemokratischen Programm. Daraus ergibt sich, daß mit halben Maßregeln und kleinen Konzessionen nichts getan ist.

 

Die herrschenden Klassen betrachten aber ihre bevorrechtete Stellung als eine durchaus naturgemäße und selbstverständliche, an deren Berechtigung und Fortbestand man nicht zweifeln dürfe, und so ist es wieder selbstverständlich, daß sie jeden Versuch, ihre Vorrechtsstellung zu erschüttern, zurückweisen und bekämpfen. Selbst Vorschläge und Gesetze, die weder an den Grundlagen der bestehenden Gesellschaftsordnung noch an ihrer Vorrechtstellung etwas ändern, bringen sie in die größte Aufregung, sobald nur ihr Geldbeutel in Anspruch genommen wird oder in Anspruch genommen werden könnte. In den Parlamenten werden ganze Berge Papier mit Reden bedruckt, bis endlich der kreißende Berg ein Mäuslein gebiert. Den selbstverständlichsten Forderungen des Arbeiterschutzes begegnet man mit einem Widerstand, als hinge davon die Existenz der Gesellschaft ab. Und werden nach unendlichen Kämpfen ihnen einige Konzessionen abgerungen, dann gebärden sie sich, als hätten sie einen großen Teil ihres Vermögens geopfert. Denselben hartnäckigen Widerstand zeigen sie, handelt es sich darum, die unterdrückten Klassen als formell gleichberechtigt anzuerkennen und, zum Beispiel in Fragen des Arbeitsvertrags, als Gleichberechtigte mit ihnen zu verhandeln.

 

Dieser Widerstand bei den einfachsten Dingen und den selbstverständlichsten Forderungen bestätigt den alten Erfahrungssatz, daß keine herrschende Klasse durch Gründe zu überzeugen ist, wenn sie nicht die Gewalt der Umstände zur Einsicht und zur Nachgiebigkeit zwingt. Die Gewalt der Umstände liegt aber in dem steigenden Maße von Einsicht, das bei den Unterdrückten durch die Entwicklung unserer Verhältnisse erzeugt wird. Die Klassengegensätze werden immer schärfer, sichtbarer und fühlbarer. Es kommt den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen die Erkenntnis von der Unhaltbarkeit des Bestehenden; ihre Empörung wächst und mit ihr das gebieterische Verlangen nach Umgestaltung und Vermenschlichung der Zustände. Indem diese Erkenntnis immer weitere Kreise ergreift, erobert sie schließlich die ungeheure Mehrheit der Gesellschaft, die bei dieser Umgestaltung auf das direkteste interessiert ist. In demselben Maße aber, wie bei der Masse die Einsicht von der Unhaltbarkeit des Bestehenden und die Erkenntnis von der Notwendigkeit seiner Umgestaltung von Grund aus steigt, sinkt die Widerstandsfähigkeit der herrschenden Klasse, deren Macht auf der Unwissenheit und Einsichtslosigkeit der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen beruht. Diese Wechselwirkung ist evident und daher muß alles, was sie fördert, willkommen sein. Den großkapitalistischen Fortschritten auf der einen Seite hält die zunehmende Erkenntnis von dem Widerspruch, in dem sich die bestehende Gesellschaftsordnung mit dem Wohle der ungeheuren Volksmehrheit befindet, die Waage. Kostet auch die Lösung und Aufhebung der gesellschaftlichen Gegensätze große Opfer und viele Anstrengungen, die Lösung wird gefunden, sobald die Gegensätze den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht haben, dem sie rapid zueilen.

 

Die Maßregeln, die in den einzelnen Entwicklungsphasen zu ergreifen sind, hängen von den jeweiligen Umständen ab. Es ist unmöglich, vorauszusagen, welche Maßregeln die Umstände im Einzelfall notwendig machen werden. Keine Regierung, kein Minister, und sei es der mächtigste, weiß im voraus, was im nächsten Jahr die Umstände ihn nötigen, zu tun. Das kann erst recht nicht gesagt werden von Maßregeln, die von Umständen beeinflußt werden, deren Eintritt sich der sicheren Berechnung und Voraussage entzieht. Die Frage nach den Mitteln ist die Frage nach der Taktik in einem Kampfe. Die Taktik richtet sich aber nach dem Gegner und weiter nach den Hilfsmitteln, die beiden Teilen zu Gebote stehen. Ein Mittel, das heute vorzüglich ist, kann morgen verderblich sein, weil die Umstände, die gestern seine Anwendung rechtfertigen, sich änderten. Mit dem Ziele im Auge hängen die Mittel zur Erreichung desselben von Zeit und Umständen ab; nötig ist nur, daß man die wirksamsten und einschneidendsten ergreift, die Zeit und Umstände ermöglichen zu ergreifen. Man kann also, läßt man sich auf die Ausmalung von Zukunftsgestaltungen ein, nur hypothetisch verfahren; man muß Voraussetzungen unterstellen, die man als eingetroffen annimmt.

 

Von diesem Gesichtspunkt ausgehend unterstellen wir, daß in einem gegebenen Zeitpunkt alle geschilderten Übel so auf die Spitze getrieben sind, daß sie der großen Mehrheit der Bevölkerung so sichtbar und fühlbar werden, daß sie ihr unerträglich erscheinen, und daß ein allgemeines, unwiderstehliches Verlangen nach gründlicher Umgestaltung sie ergreift, wobei sie die rascheste Hilfe als die zweckmäßigste ansieht.

 

Alle gesellschaftlichen Übel haben ohne Ausnahme ihre Quelle in der sozialen Ordnung der Dinge, die gegenwärtig, wie gezeigt, auf dem Kapitalismus, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruht, kraft deren die Kapitalistenklasse die Eigentümerin aller Arbeitsmittel – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – ist und dadurch die Ausbeutung und Unterdrückung der großen Volksmehrheit betreibt, was wachsende Unsicherheit der Existenz, des Druckes und der Erniedrigung der ausgebeuteten Klassen im Gefolge hat. Demgemäß wäre also der kürzeste und rascheste Schritt, durch eine allgemeine Expropriation dieses kapitalistische Eigentum in gesellschaftliches Eigentum (Gemeineigentum) zu verwandeln. Die Warenproduktion wird in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion verwandelt. Der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit, bisher eine Quelle des Elends und der Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen, werden jetzt zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und der harmonischen Ausbildung aller.

 

2. Die Expropriation der Expropriateure

 

Die Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum schafft der Gesellschaft die neue Grundlage. Jetzt werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen für beide Geschlechter in Industrie, Ackerbau, Verkehr, Erziehung, Ehe, im wissenschaftlichen, künstlerischen und geselligen Leben von Grund aus andere. Die menschliche Existenz erhält einen neuen Inhalt. Allmählich verliert auch die staatliche Organisation ihren Boden, und es verschwindet der Staat; er hebt sich gewissermaßen selbst auf.

 

Im ersten Abschnitt dieser Schrift wurde gezeigt, warum der Staat entstehen mußte. Er ist das Produkt einer gesellschaftlichen Entwicklung aus der primitiven, auf Kommunismus beruhenden Gesellschaft, die in dem Maße aufgelöst wird, wie sich das Privateigentum entwickelt. Mit dem Aufkommen des Privateigentums entstehen innerhalb der Gesellschaft die antagonistischen Interessen. Es entstehen Standes- und Klassengegensätze, die notwendig zu Klassenkämpfen zwischen den verschiedenen Interessengruppen führen und die neue Ordnung in ihrem Bestand bedrohen. Um aber die Gegner der neuen Ordnung niederhalten zu können und die bedrohten Eigentümer zu schützen, bedarf es einer Organisation, die diesen Angriffen wehrt und den Besitz für "rechtmäßig" erklärt und "heilig" spricht. Diese das Eigentum schützende und es aufrecht haltende Organisation und Gewalt wird der Staat. Durch Gesetze sichert er dem Eigentümer seinen Besitz und tritt dem Angreifer auf die gesetzlich festgelegte Ordnung als Richter und Rächer gegenüber. Ihrem innersten Wesen nach ist also das Interesse einer herrschenden Eigentümerklasse und das der Staatsgewalt stets konservativ. Die Staatsorganisation ändert sich erst, wenn es das Interesse des Eigentums erfordert. Ist so der Staat die notwendige Organisation einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaftsordnung, so verliert er, sobald die Klassengegensätze durch Aufhebung des Privateigentums gefallen sind, seine Existenznotwendigkeit und Existenzmöglichkeit. Der Staat hört mit der Beseitigung des Herrschaftsverhältnisses allmählich ebenso auf, wie die Religion aufhört, wenn der Glaube an übernatürliche Wesen oder an vernunftbegabte, übersinnliche Kräfte nicht mehr vorhanden ist. Worte müssen einen Inhalt besitzen; verlieren sie diesen, dann hören sie auf, Begriffe zu bilden.

 

Hier wirft vielleicht ein kapitalistisch gesinnter Leser ein, alles gut und schön, aber mit welchem "Rechtsgrund" will die Gesellschaft diese grundstürzenden Umwandlungen rechtfertigen? Der Rechtsgrund ist derselbe, der immer vorhanden war, wenn es sich um ähnliche Veränderungen und Umgestaltungen handelte, das Gemeinwohl. Die Quelle des Rechts ist nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, die Staatsgewalt ist nur der Kommis der Gesellschaft, der das Recht zu verwalten und auszumessen hat. Die herrschende Gesellschaft war bisher immer nur eine kleine Minderheit, diese aber handelte im Namen der ganzen Gesellschaft (des Volkes), indem sie sich als "die Gesellschaft" ausgab, wie Ludwig XIV. sich für den Staat. L'état c'est moi (Der Staat bin ich). Wenn unsere Zeitungen schreiben: Die Saison beginnt, die Gesellschaft eilt in die Stadt; oder: Die Saison ist zu Ende, die Gesellschaft eilt aufs Land, meinen sie damit nicht das Volk, sondern die obersten Zehntausend, welche "die Gesellschaft" bilden, wie sie den "Staat" bilden. Die Menge ist Plebs, vile multitude, Canaille, Volk. Dieser Sachlage entsprechend ist alles, was der Staat im Namen der Gesellschaft für das "Gemeinwohl" tut, in erster Linie den herrschenden Klassen nützlich und vorteilhaft gewesen. In ihrem Interesse werden die Gesetze gemacht. "Salus reipublica suprema lex esto" (Das Wohl des Gemeinwesens sei das höchste Gesetz) ist bekanntlich ein altrömischer Rechtsgrundsatz. Wer bildete aber das römische Gemeinwesen? Die unterjochten Völker, die Millionen Sklaven? Nein! die verhältnismäßig geringe Zahl römischer Bürger, in erster Linie der römische Adel, die sich von den Unterjochten ernähren ließen.

 

Als im Mittelalter Adel und Fürsten das Gemeingut raubten, taten sie es von "Rechts wegen" im "Interesse des Gemeinwohls", und wie gründlich dabei mit dem Gemeineigentum und dem Eigentum der hilflosen Bauern verfahren wurde, das zeigt die Geschichte des Mittelalters bis in die Neuzeit auf jedem ihrer Blätter. Die Agrargeschichte der letzten tausend Jahre ist eine Geschichte ununterbrochenen Raubes am Gemein- und am Bauerneigentum, der seitens des Adels und der Kirche in allen Kulturstaaten Europas praktiziert wurde. Als dann die große Französische Revolution das Adels- und Kirchengut expropriierte, tat sie dies "im Namen des Gemeinwohls", und der größte Teil der acht Millionen Grundeigentümer, welche die Stütze des bürgerlichen Frankreich bilden, verdankt dieser Expropriation seine Existenz. Im Namen des "Gemeinwohls" nahm Spanien mehrfach Kircheneigentum in Beschlag und Italien konfiszierte es gänzlich, beklatscht von den eifrigsten Verfechtern des "heiligen Eigentums". Der englische Adel hat während Jahrhunderten das irische und englische Volk an seinem Eigentum bestohlen und beschenkte sich selbst "gesetzlich" von 1804 bis 1832 "im Interesse des Gemeinwohls" mit nicht weniger als 3.511.710 Acres Gemeindeland. Und als im großen nordamerikanischen Sklavenbefreiungskrieg Millionen Sklaven für frei erklärt wurden, die wohlerworbenes Eigentum ihrer Herren waren, ohne daß man diese entschädigte, geschah es "im Namen des Gemeinwohls". Unsere ganze bürgerliche Entwicklung ist ein ununterbrochener Expropriations- und Konfiskationsprozeß, bei dem der Fabrikant den Handwerker, der Großgrundbesitzer den Bauern, der Großkaufmann den Händler und schließlich ein Kapitalist den anderen, das heißt der Größere den Kleineren expropriiert und aufsaugt. Hören wir unsere Bourgeoisie, so geschieht das alles zum Besten des "Gemeinwohls", zum "Nutzen der Gesellschaft".

 

Die Napoleoniden "retteten" am 18. Brumaire und 2. Dezember die "Gesellschaft" und die "Gesellschaft" beglückwünschte sie; wenn die Gesellschaft sich künftig selbst rettet, indem sie das Eigentum, das sie geschaffen, wieder in ihre Hände nimmt, begeht sie die geschichtlich denkwürdigste Tat, denn sie handelt nicht, um die einen zugunsten der anderen zu unterdrücken, sondern um allen die Gleichheit der Existenzbedingungen zu gewähren und jedem ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Es ist die sittlich großartigste Maßregel, welche die Gesellschaft jemals ausgeführt hat.

 

In welchen Formen sich dieser große gesellschaftliche Expropriationsprozeß vollziehen wird, und unter welchen Modalitäten, entzieht sich jeder Voraussage. Wer kann wissen, wie dann die Verhältnisse beschaffen sind.

 

In seinem vierten sozialen Brief an v. Kirchmann, betitelt "Das Kapital" , sagt Rodbertus S. 117: "Eine Ablösung alles Grundkapitaleigentums ist keine Schimäre, sondern nationalökonomisch sehr wohl denkbar. Auch wäre sie sicherlich die radikalste Hilfe für die Gesellschaft, die, wie man kurz sagen darf, an dem Wachsen der Rente – Grund- und Kapitalrente – leidet. Sie wäre daher die einzige Form der Aufhebung des Grund- und Kapitaleigentums, die auch nicht auf Augenblicke den Verkehr und den Fortschritt des nationalen Reichtums unterbräche." Was sagen unsere Agrarier zu dieser Ansicht eines ihrer ehemaligen Parteigenossen?

 

Wie nach einer solchen Maßregel die Dinge sich wahrscheinlich gestalten werden, kann nicht in bindender Weise dargelegt werden. Kein Mensch vermag zu wissen, wie künftige Generationen ihre sozialen Organisationen im einzelnen gestalten und ihre Bedürfnisse am vollkommensten befriedigen können. In der Gesellschaft befindet sich, wie in der Natur, alles in beständigem Fluß, das eine kommt, das andere vergeht, Altes, Abgestorbenes wird durch Neues, Lebensfähigeres ersetzt. Erfindungen, Entdeckungen und Verbesserungen der zahlreichsten und verschiedensten Art, deren Tragweite und Bedeutung oft niemand voraussehen kann, werden gemacht, sie treten in Wirksamkeit und revolutionieren und umgestalten je nach ihrer Bedeutung die menschliche Lebensweise, die ganze Gesellschaft.

 

Es kann sich also bei den folgenden Erörterungen nur um Entwicklung allgemeiner Prinzipien handeln, deren Aufstellung sich nach den gemachten Auseinandersetzungen von selbst ergibt, und deren Durchführung sich bis zu einem gewissen Grade übersehen läßt. Die Gesellschaft war schon bisher kein Wesen, das sich von einzelnen leiten und lenken ließ, wenn es auch oft so den Anschein hatte – "man glaubt zu schieben und wird geschoben" –, sondern ein Organismus, der nach bestimmten immanenten Gesetzen sich entwickelt; künftig ist jede Lenkung und Leitung nach dem Willen einzelner erst recht ausgeschlossen. Die Gesellschaft ist alsdann eine Demokratie, die hinter das Geheimnis ihres Wesens gekommen ist, sie hat die Gesetze ihrer eigenen Entwicklung entdeckt und wendet diese jetzt zweckbewußt für ihre Weiterentwicklung an.

 

Einundzwanzigstes Kapitel - Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft

 

1. Heranziehung aller Arbeitsfähigen zur Arbeit

 

Sobald die Gesellschaft im Besitz aller Arbeitsmittel sich befindet, wird die Arbeitspflicht aller Arbeitsfähigen, ohne Unterschied des Geschlechts, Grundgesetz der sozialisierten Gesellschaft. Die Gesellschaft kann ohne Arbeit nicht existieren. Sie hat also das Recht, zu fordern, daß jeder, der seine Bedürfnisse befriedigen will, auch nach Maßgabe seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten an der Herstellung der Gegenstände zur Befriedigung der Bedürfnisse aller tätig ist. Die alberne Behauptung, die Sozialisten wollten die Arbeit abschaffen, ist ein Widersinn sondergleichen. Nichtarbeiter, Faulenzer gibt's nur in der bürgerlichen Welt. Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Aber die Arbeit soll auch nützliche, produktive Tätigkeit sein. Die neue Gesellschaft wird also verlangen, daß jeder eine bestimmte industrielle, gewerbliche, ackerbauliche oder sonstige nützliche Tätigkeit ergreift, durch die er eine bestimmte Arbeitsleistung für die Befriedigung vorhandener Bedürfnisse vollzieht. Ohne Arbeit kein Genuß, keine Arbeit ohne Genuß.

 

Indem alle verpflichtet sind zu arbeiten, haben alle das gleiche Interesse, drei Bedingungen bei der Arbeit erfüllt zu sehen. Erstens, daß die Arbeit im Zeitmaß mäßig sei und keinen überanstrengt; zweitens, daß sie möglichst angenehm ist und Abwechslung bietet; drittens, daß sie möglichst ergiebig ist, weil davon das Maß der Arbeitszeit und das Maß der Genüsse abhängt. Diese drei Bedingungen hängen aber wieder von der Art und Menge der zur Verfügung stehenden Arbeitsmittel und Arbeitskräfte ab, und von den Ansprüchen, welche die Gesellschaft an ihre Lebenshaltung stellt. Die sozialistische Gesellschaft bildet sich nicht, um proletarisch zu leben, sondern um die proletarische Lebensweise der großen Mehrzahl der Menschen abzuschaffen. Sie sucht jedem ein möglichst hohes Maß von Lebensannehmlichkeiten zu gewähren und so entsteht die Frage: wie hoch wird die Gesellschaft ihre Ansprüche stellen?

 

Um dieses feststellen zu können, ist eine Verwaltung erforderlich, die alle Tätigkeitsgebiete der Gesellschaft umfaßt. Hierfür bilden unsere Gemeinden eine zweckmäßige Grundlage; sind dieselben zu groß, um leicht eine Übersicht zu erlangen, so teilt man sie in Bezirke. Wie einst in der Urgesellschaft, so nehmen jetzt sämtliche mündige Gemeindeangehörige, ohne Unterschied des Geschlechts, an den vorkommenden Wahlen teil und bestimmen die Vertrauenspersonen, welche die Verwaltung zu leiten haben. An der Spitze sämtlicher Lokalverwaltungen steht die Zentralverwaltung – wohlgemerkt keine Regierung mit herrschender Gewalt, sondern ein ausführendes Verwaltungskollegium. – Ob die Zentralverwaltung direkt durch die Gesamtheit oder durch die Gemeindeverwaltungen ernannt wird, ist gleichgültig. Diese Fragen haben künftig nicht mehr die Bedeutung, die sie heute haben, denn es handelt sich nicht um die Besetzung von Posten, die größere Gewalt und Einfluß und höheres Einkommen gewähren, sondern um Vertrauensposten, zu welchen die Brauchbarsten, ob Mann, ob Frau, genommen werden, und die von ihren Posten abberufen oder wiedergewählt werden, wie es das Bedürfnis erfordert und es den Wählenden wünschbar scheint. Alle Posten werden nur auf Zeit eingenommen. Eine besondere "Beamtenqualität" haben also die Inhaber dieser Stellen nicht, es fehlt die Eigenschaft einer dauernden Funktion und eine hierarchische Ordnung für Avancements. Aus den erörterten Gesichtspunkten ist auch die Frage gleichgültig, ob zwischen der Zentralverwaltung und den Lokalverwaltungen Zwischenstufen, etwa Provinzialverwaltungen usw. stehen. Hält man sie für nötig, richtet man sie ein, sind sie nicht nötig, läßt man sie sein. Über alles das entscheidet das Bedürfnis, wie es sich aus der Praxis ergibt. Haben Fortschritte in der Entwicklung der Gesellschaft alte Organisationen überflüssig gemacht, so schafft man sie ohne Sang und Klang und ohne Streit ab, denn es hat niemand ein persönliches Interesse an ihrem Bestand, und richtet neue ein. Diese auf breitester demokratischer Grundlage beruhende Verwaltung ist also von der heutigen von Grund aus verschieden. Welcher Kampf in den Zeitungen, welches Zungengefecht in unseren Parlamenten, welche Aktenstöße in unseren Kanzleien um eine geringfügige Änderung in der Verwaltung oder Regierung!

 

Hauptaufgabe ist zunächst, die Zahl und Art der verfügbaren Kräfte festzustellen, die Zahl und Art der Arbeitsmittel, der Fabriken, Werkstätten, Verkehrsmittel, des Grund und Bodens usw. und die bisherige Leistungsfähigkeit. Weiter ist festzustellen, was für Vorräte vorhanden sind und welche Menge von Artikeln und Gegenständen gebraucht werden, um das Bedürfnis in einem bestimmten Zeitraum zu decken. Wie gegenwärtig der Staat und die verschiedenen Gemeinwesen jährlich ihre Budgets feststellen, so wird dies künftig für den ganzen gesellschaftlichen Bedarf geschehen, wobei Veränderungen, die erweiterte oder neue Bedürfnisse erfordern, volle Berücksichtigung finden können. Die Statistik spielt hier die Hauptrolle; sie ist die wichtigste Hilfswissenschaft in der neuen Gesellschaft, sie liefert das Maß für alle gesellschaftliche Tätigkeit.

 

Die Statistik wird bereits heute für ähnliche Zwecke umfassend angewandt. Die Reichs-, Staats-, Kommunalbudgets basieren auf einer großen Zahl statistischer Erhebungen, die in den einzelnen Verwaltungszweigen alljährlich aufgenommen werden. Längere Erfahrungen und eine gewisse Stabilität in den laufenden Bedürfnissen erleichtern sie. Auch jeder Unternehmer einer größeren Fabrik, jeder Kaufmann ist, unter normalen Verhältnissen, imstande, genau bestimmen zu können, was er für das kommende Vierteljahr für Bedürfnisse hat und in welcher Art er seine Produktion und seine Einkäufe einrichten muß. Treten nicht Änderungen exzessiver Art ein, so kann er denselben leicht und ohne Mühe gerecht werden.

 

Die Erfahrung, daß die Krisen hervorgerufen werden durch die blinde anarchische Produktion, das heißt, weil produziert wird ohne Kenntnis der Vorräte, des Absatzes und Bedarfes in den verschiedenen Artikeln auf dem Weltmarkt, hat, wie schon hervorgehoben wurde, seit Jahren die Großindustriellen der verschiedensten Industriezweige veranlaßt, sich in Kartellen und Trusts zu vereinigen, einesteils um die Preise festzustellen, anderenteils um auf Grund der gemachten Erfahrungen und eingegangenen Bestellungen die Produktion zu regeln. Nach Maßgabe der Produktionsfähigkeit jedes einzelnen Betriebs und des wahrscheinlichen Absatzes wird festgesetzt, wie viel jede einzelne Unternehmung für die nächsten Monate erzeugen lassen darf. Übertretungen werden mit hoher Konventionalstrafe und mit Ächtung belegt. Die Unternehmer schließen diese Verträge nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden des Publikums und zu ihrem eigenen Vorteil. Ihr Zweck ist, die Macht der Koalition zu benutzen, um sich die größten Vorteile zu beschaffen. Man will durch die Regulierung der Produktion vom Publikum Preise fordern, die man niemals im Konkurrenzkampf der einzelnen Unternehmer erzielen würde. Man bereichert sich also auf Kosten der Konsumenten, die den geforderten Preis für ein Produkt zahlen müssen, das sie nötig haben. Und wie der Konsument durch die Kartelle, Trusts usw. geschädigt wird, so der Arbeiter. Die Regulierung der Produktion durch die Unternehmer setzt einen Teil der Beamten und Arbeiter frei, der, um leben zu können, die arbeitenden Genossen im Lohne unterbietet. Außerdem ist die soziale Macht des Kartells so groß, daß auch die Arbeiterorganisationen selten dagegen aufkommen können. Die Unternehmer haben also einen doppelten Vorteil, sie empfangen höhere Preise und zahlen geringere Löhne. Diese Regulierung der Produktion durch die Unternehmerverbände ist das Gegenteil von jener, die in der sozialistischen Gesellschaft Platz greifen soll. Heute ist das Interesse der Unternehmer maßgebend, künftig soll es das Interesse der Allgemeinheit sein. In der bürgerlichen Gesellschaft kann aber auch das bestorganisierteste Kartell nicht alle Faktoren übersehen und berechnen; die Konkurrenz und Spekulation auf dem Weltmarkt wüten weiter trotz dem Kartell, und so stellt sich plötzlich heraus, daß die Berechnung ein Loch hat, und der künstliche Bau stürzt zusammen.

 

Wie die große Industrie; so besitzt der Handel umfassende Statistiken. Allwöchentlich liefern die größeren Handels- und Hafenplätze Übersichten über die Vorräte an Petroleum, Kaffee, Baumwolle, Zucker, Getreide usw., Statistiken, die häufig allerdings ungenau sind, weil die Warenbesitzer nicht selten ein persönliches Interesse haben, die Wahrheit nicht bekannt werden zu lassen. Aber im ganzen sind diese Statistiken ziemlich sicher und geben dem Interessenten einen Überblick, wie sich der Markt in der nächsten Zeit gestalten wird. Aber auch hier kommt die Spekulation in Betracht, die alle Berechnungen täuscht und über den Haufen wirft und oft jedes reelle Geschäft unmöglich macht. Wie aber die allgemeine Regulierung der Produktion in der bürgerlichen Gesellschaft, gegenüber den vielen Tausenden von Privatproduzenten mit ihren widerstreitenden Interessen, unmöglich ist, ebenso unmöglich ist die Regulierung der Distribution (Verteilung der Produkte) bei der spekulativen Natur des Handels, der großen Zahl der Handeltreibenden und dem Widerstreit ihrer Interessen. Was bisher schon geleistet wird, zeigt nur, was erst geleistet werden kann, sobald das Privatinteresse verschwindet und das Allgemeininteresse alles beherrscht. Ein Beweis hierfür sind zum Beispiel die von Staats wegen veranstalteten Erntestatistiken, die alljährlich in den verschiedenen Kulturstaaten aufgenommen werden und Schlüsse auf die Höhe der Ernteerträgnisse, die Deckungshöhe des eigenen Bedarfes und die Wahrscheinlichkeit der Preise zulassen.

 

In einer sozialisierten Gesellschaft sind aber die Verhältnisse vollkommen geordnete, die ganze Gesellschaft ist solidarisch verbunden. Alles vollzieht sich nach Plan und Ordnung, und so ist die Feststellung des Maßes für die verschiedenen Bedürfnisse leicht. Liegt erst einige Erfahrung vor, so vollzieht sich das Ganze spielend. Ist zum Beispiel statistisch festgestellt, was sich durchschnittlich für ein Bedarf an Bäckerei-, Fleischerei-, Schuhmachereiprodukten, Wäscheartikeln usw. ergibt, und kennt man andererseits genau die Leistungsfähigkeit der in Betracht kommenden Produktionsanstalten, so ergibt sich daraus das Durschnittsmaß für die täglichen gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Es ergibt sich daraus ferner die Kenntnis, ob weiter Produktionsanstalten für bestimmte Artikel notwendig sind, oder ob solche als überflüssig eingezogen, oder für andere Zwecke eingerichtet werden können.

 

Jeder einzelne entscheidet über den Arbeitszweig, in dem er beschäftigt sein möchte. Die große Zahl der verschiedensten Arbeitsgebiete ermöglicht den verschiedensten Wünschen Rechnung zu tragen. Stellt sich auf dem einen Gebiet ein Überschuß, auf dem anderen ein Mangel an Kräften heraus, so hat die Verwaltung die Arrangements zu treffen und einen Ausgleich herbeizuführen. Die Produktion zu organisieren und den verschiedenen Kräften die Möglichkeit zu bieten, an dem richtigen Platze verwendet zu werden, wird die Hauptaufgabe der gewählten Funktionäre sein. In dem Maße, wie gegenseitig sich alle Kräfte einarbeiteten, geht das Räderwerk glatter. Die einzelnen Arbeitszweige und Abteilungen wählen ihre Ordner, welche die Leitung zu übernehmen haben. Das sind keine Zuchtmeister, wie die heutigen Arbeitsinspektoren und Werkführer, sondern Genossen, welche die ihnen übertragene verwaltende Funktion an Stelle einer produzierenden ausüben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei vorgeschrittener Organisation und bei höherer Durchbildung aller Glieder diese Funktionen alternierende werden, die nach einem bestimmten Turnus alle Beteiligten ohne Unterschied des Geschlechts übernehmen.

 

2. Harmonie der Interessen

 

Die auf voller Freiheit und demokratischer Gleichheit organisierte Arbeit, bei der einer für alle und alle für einen stehen, also die volle Solidarität herrscht, wird eine Schaffenslust und einen Wetteifer erzeugen, wie sie in dem heutigen Wirtschaftssystem nirgends zu finden sind. Dieser schaffensfreudige Geist wirkt aber auch auf die Produktivität der Arbeit ein.

 

Ferner haben alle das Interesse, da sie gegenseitig für einander arbeiten, daß alle Gegenstände möglichst gut und vollkommen und mit möglichst geringem Aufwand an Kraft und Arbeitszeit hergestellt werden, sei es um Arbeitszeit zu sparen, oder um Zeit für Erzeugung neuer Produkte zur Befriedigung höherer Ansprüche zu gewinnen. Dieses gemeinsame Interesse veranlaßt alle, auf Verbesserung, Vereinfachung und Beschleunigung des Arbeitsprozesses zu sinnen. Der Ehrgeiz, zu erfinden und zu entdecken, wird im höchsten Grade angeregt, einer wird an Vorschlägen und Ideen den anderen zu überbieten suchen . Es wird also genau das Gegenteil von dem eintreten, was die Gegner des Sozialismus behaupten. Wie viele Erfinder und Entdecker gehen in der bürgerlichen Welt zugrunde! Wie viele werden ausgenutzt und beiseite geschoben! Sollten Geist und Talent statt des Besitzes an der Spitze der bürgerlichen Gesellschaft stehen, der größte Teil der Unternehmer müßte seinen Arbeitern, Werkmeistern, Technikern, Ingenieuren, Chemikern usw. Platz machen. Diese sind die Männer, die in neunundneunzig Fällen von hundert die Erfindungen, Entdeckungen und Verbesserungen machten, die dann der Mann mit dem großen Geldbeutel ausnutzt. Wie viel Tausende von Entdeckern und Erfindern zugrunde gegangen sind, weil sie den Mann nicht fanden, der die Mittel zur Ausführung ihrer Entdeckungen und Erfindungen hergab, wie viele verdiente Entdecker und Erfinder unter der sozialen Misere des Alltagslebens unterdrückt werden, entzieht sich jeder Berechnung. Nicht die Leute mit hellem Kopf und scharfem Verstand, sondern die mit den großen Mitteln sind die Herren der Welt, womit nicht gesagt sein soll, daß nicht auch ein heller Kopf und der Besitz eines gefüllten Beutels in einer Person vereinigt sind.

 

Jeder, der im praktischen Leben steht, weiß, wie mißtrauisch heute der Arbeiter jede Verbesserung, jede neue Erfindung, die eingeführt wird, aufnimmt. Mit Recht. In der Regel hat nicht er den Vorteil davon, sondern sein Anwender; er muß fürchten, daß die neue Maschine, die Verbesserung, die eingeführt wird, ihn als überzählig aufs Pflaster wirft. Statt freudiger Zustimmung zu einer Erfindung, die der Menschheit Ehre macht und Vorteil schaffen soll, hat er eine Verwünschung und einen Fluch auf den Lippen. Und wie manche Verbesserung für den Produktionsprozeß, die ein Arbeiter entdeckte, wird nicht eingeführt. Der Arbeiter verschweigt sie, weil er fürchtet, nicht Vorteil, sondern Schaden davon zu haben. Das sind die natürlichen Folgen des Gegensatzes der Interessen .

 

In der sozialistischen Gesellschaft ist der Gegensatz der Interessen beseitigt. Jeder entwickelt seine Fähigkeiten, um sich zu nützen, und damit nützt er zugleich dem Gemeinwesen. Heute sind Befriedigung des persönlichen Egoismus und Gemeinwohl meist Gegensätze, die sich ausschließen; in der neuen Gesellschaft sind diese Gegensätze aufgehoben, Befriedigung des persönlichen Egoismus und Förderung des Gemeinwohls stehen miteinander in Harmonie, sie decken sich .

 

Die großartige Wirkung eines solchen Moralzustandes liegt nahe. Die Produktivität der Arbeit wird mächtig wachsen. Insbesondere wird die Produktivität der Arbeit auch dadurch gewaltig wachsen, daß die enorme Zersplitterung der Arbeitskräfte in Hunderttausende und Millionen von Zwergbetrieben, die mit den unvollkommensten Werkzeugen und Arbeitsmitteln produzieren, aufhört. In welche Unzahl von Zwerg-, Mittel- und Großbetrieben das deutsche Gewerbeleben zersplittert ist, wurde oben nachgewiesen. Durch die Zusammenziehung der kleinen und mittleren Betriebe in Großbetriebe, die mit allen Vorteilen modernster Technik ausgestattet sind, wird eine enorme Verschwendung von Kraft, Zeit, Material aller Art (Licht, Heizung usw.) und Raum, die jetzt stattfindet, beseitigt und wird die Produktivität der Arbeit ums Mehrfache gesteigert. Welcher Unterschied in der Produktivität zwischen kleinen, mittleren und großen Betrieben vorhanden ist, mag ein Beispiel aus dem Industriezensus des Staates Massachusetts aus dem Jahre 1890 zeigen. Man teilte dort die Betriebe von zehn Hauptindustriebranchen in drei Kategorien ein. Diejenigen, die weniger als 40.000 Dollar Produktenwert erzeugten, zählten zur niederen Klasse, die zwischen 40.000 und 150.000 Dollar Warenwert erzeugten, zur mittleren Klasse, und die mit über 150.000 Dollar Warenwert zur oberen Klasse.

 

Das Ergebnis war folgendes:

 

 

 

Die mehr als doppelt so große Zahl der kleinen Betriebe im Vergleich zu den mittleren und großen Betrieben erzeugte also nur 9,4 Prozent des Gesamtproduktes, und die nur 23 Prozent befragende Anzahl der Großbetriebe produzierte fast das zweiundeinhalbfache Quantum des Produktes aller übrigen Betriebe. Aber auch die Großbetriebe könnten noch weit rationeller eingerichtet werden, so daß bei einer Gesamtproduktion, auf der höchsten technischen Produktionsform, ein noch weit größeres Arbeitsquantum hergestellt werden würde.

 

Was bei einer Produktion, die auf rationellste Basis gestellt ist, an Zeit gewonnen werden kann, darüber hat 1886 Th. Hertzka in seinem Buche "Die Gesetze der sozialen Entwicklung" eine interessante Berechnung angestellt. Er untersuchte, was für ein Aufwand an Arbeitskräften und Zeit notwendig sei, um die Bedürfnisse der damals 22 Millionen Köpfe zählenden Bevölkerung Österreichs auf dem Wege der Großproduktion herzustellen. Zu diesem Zwecke zog Hertzka Erkundigungen ein über die Leistungsfähigkeit der Großbetriebe auf den verschiedenen Gebieten und stellte danach seine Berechnungen auf. Hierbei ist einbegriffen die Bewirtschaftung von 10½ Millionen Hektar Ackerboden und von 3 Millionen Hektar Wiesen, die für die erwähnte Bevölkerungszahl genügen sollen, um ihren Bedarf an Ackerbauprodukten und Fleisch zu decken. Weiter schloß Hertzka in seine Berechnung die Herstellung von Wohnungen ein, dergestalt, daß jede Familie ein eigenes Häuschen von 150 Quadratmetern mit fünf Wohnräumen erhält, das auf eine Dauer von 50 Jahren berechnet ist. Es ergab sich, daß für die Landwirtschaft, die Bautätigkeit, die Mehl- und Zuckerproduktion, die Kohlen-, Eisen- und Maschinenindustrie, die Bekleidungsindustrie und die chemischen Industrien 615.000 Arbeitskräfte notwendig seien, die in dem jetzt gewohnten täglichen Durchschnittszeitenmaß das Jahr über tätig sein müßten. Diese 615.000 Köpfe bildeten aber nur 12,3 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung Österreichs, wenn alle Frauen sowie die männliche Bevölkerung unter 16 und über 50 Jahren der Produktion fernblieben. Würden die zur Zeit der Berechnung vorhandenen 5 Millionen Männer, gleich den 615.000, beschäftigt, so braucht jeder derselben nur 36,9 Tage, rund 6 Wochen zu arbeiten, womit die notwendigsten Lebensbedürfnisse für 22 Millionen Menschen hergestellt würden. Nehmen wir aber 300 Arbeitstage im Jahre anstatt 37, so würden, den Arbeitstag mit 11 Stunden in Ansatz gebracht, bei er neuen Organisation der Arbeit täglich nur 1 3/8 Stunden nötig sein, um die notwendigsten Bedürfnisse zu decken.

 

Hertzka bringt auch die Luxusbedürfnisse der Bessersituierten in Rechnung und findet, daß die Herstellung derselben, für einen Bedarf von 22 Millionen Menschen, weitere 315.000 Arbeiter erfordere. Im ganzen wären alsdann, nach Hertzka, unter Berücksichtigung einiger in Österreich ungenügend vertretener Industrien, rund eine Million, gleich 20 Prozent der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung, mit Ausschluß derjenigen unter 16 und über 50 Jahren, nötig, um die gesamten Bedürfnisse der Bevölkerung in 60 Tagen zu decken. Bringen wir wieder die gesamte arbeitsfähige männliche Bevölkerung in Rechnung, so hätte diese täglich nur zweieinhalb Stunden durchschnittliche Arbeitszeit zu leisten .

 

Diese Rechnung wird niemand überraschen, der die Verhältnisse übersieht. Nehmen wir nun an, daß bei einem solchen mäßigen Zeitmaß, mit Ausnahme von Kranken und Invaliden, auch die über 50 Jahre alten Männer noch zu arbeiten vermögen, daß ferner die Jugend unter 16 Jahren tätig sein könnte, ebenso ein großer Teil der Frauen, soweit diese nicht für Kindererziehung, Nahrungszubereitungen usw. in Anspruch genommen sind, so könnte die Arbeitszeit noch weiter ermäßigt oder es könnten die Bedürfnisse erheblich gesteigert werden. Auch wird niemand bestreiten wollen, daß nicht noch sehr bedeutende, gar nicht abzusehende Fortschritte in der Vervollkommnung des Arbeitsprozesses gemacht werden, die weitere Vorteile schaffen. Andererseits handelte es sich darum, für alle eine Menge Bedürfnisse zu befriedigen, die heute nur eine Minorität befriedigen kann, und bei höherer Kulturentwicklung entstehen immer neue Bedürfnisse, die ebenfalls befriedigt werden sollen. Es muß immer wiederholt werden, die neue Gesellschaft will nicht proletarisch leben, sie verlangt als ein hochentwickeltes Kulturvolk zu leben, und zwar in allen ihren Gliedern, vom ersten bis zum letzten. Sie soll aber nicht bloß allen ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen, sie soll auch allen ausreichende Zeit für die Ausbildung in Künsten und Wissenschaften aller Art und zur Erholung ermöglichen.

 

3. Organisation der Arbeit

 

Noch in anderen, sehr wesentlichen Punkten wird sich die sozialistische Gemeinwirtschaft von der bürgerlichen Individualwirtschaft unterscheiden. Der Grundsatz des "billig und schlecht", der für einen großen Teil der bürgerlichen Produktion maßgebend ist und maßgebend sein muß, weil der größte Teil der Kundschaft nur billige Waren kaufen kann, die raschem Verschleiß unterworfen sind, fällt fort. Man wird nur das Beste erzeugen, das um so länger hält und seltener ersetzt zu werden braucht. Die Modetorheiten und Modetollheiten, durch die nur Verschwendung und oft auch Geschmacklosigkeit begünstigt werden, hören auf. Man wird sich zweifellos zweckmäßiger und gefälliger kleiden als heute – beiläufig bemerkt zeichnen sich die Moden der letzten hundert Jahre, namentlich die der Männerwelt, durch möglichste Geschmacklosigkeit aus –, aber man wird nicht mehr alle Vierteljahre eine neue Mode einführen, eine Narrheit, die einerseits mit dem Konkurrenzkampf der Frauen unter sich, andererseits mit der Prahlsucht und Eitelkeit und dem Bedürfnis, seinen Reichtum zur Schau zu tragen, aufs engste zusammenhängt. Auch lebt gegenwärtig eine Menge Existenzen von diesen Modetorheiten, und sie ist im eigenen Interesse gezwungen, sie zu stimulieren und zu forcieren. Mit den Modetorheiten in der Kleidung fällt die Modenarrheit im Stile der Wohnungen. Hier treibt die Exzentrizität ihre schlimmsten Blüten. Stile, die zu ihrer Entwicklung Jahrhunderte erforderten und bei den verschiedensten Völkern entstanden sind – man begnügt sich nicht mehr mit den Stilen der Europäer, man geht über zu den Stilen der Japaner, Inder, Chinesen usw. –, werden in wenig Jahren verbraucht und beiseite gesetzt. Unsere Kunstgewerbetreibenden wissen kaum noch, woher und wohin sie mit all den Mustern und Modellen sollen. Kaum haben sie sich in einem "Stil" assortiert und glauben die aufgewendeten Kosten herausschlagen zu können, so ist schon ein neuer "Stil" da, der von neuem große Opfer an Zeit und Geld, an geistigen und physischen Kräften beansprucht. In diesem Hetzen und Jagen von einer Mode zur anderen und von einem Stil zum anderen spiegelt sich die Nervosität des Zeitalters am prägnantesten wider. Niemand wird behaupten wollen, daß in diesem Hasten und Stürmen Sinn und Verstand liegt und es als ein Zeichen der Gesundheit der Gesellschaft anzusehen sei.

 

Der Sozialismus wird erst wieder eine größere Stabilität in die Lebensgewohnheiten der Gesellschaft bringen; er wird Ruhe und Genuß ermöglichen und ein Befreier von der gegenwärtig herrschenden Hast und Aufregung sein. Alsdann wird die Nervosität, diese Geißel unseres Zeitalters, verschwinden.

 

Die Arbeit soll aber auch möglichst angenehm werden. Dazu gehören geschmackvoll und praktisch eingerichtete Produktionsstätten, möglichste Verhütung jeder Gefahr, Beseitigung unangenehmer Gerüche, Dünste, Rauch usw., kurz aller gesundheitsschädlichen und lästigen Einflüsse. Anfangs produziert die neue Gesellschaft mit den von der alten übernommenen Hilfs- und Arbeitsmitteln. Diese sind aber unzureichend. Zahlreiche zersplitterte, nach jeder Richtung höchst unzulängliche Arbeitsräume, mangelhafte Werkzeuge und Maschinen, die alle Stufen der Brauchbarkeit durchlaufen, genügen weder der Zahl der Beschäftigten, noch ihren Ansprüchen auf Bequemlichkeit und Annehmlichkeit. Die Beschaffung einer Menge großer, heller, luftiger, auf das vollkommenste ausgestatteter und ausgeschmückter Arbeitsräume ist also das dringendste Bedürfnis. Kunst und Technik, Kopf- und Handgeschicklichkeit finden sofort ein umfassendes Feld der Tätigkeit. Alle Gebiete des Maschinenbaus, der Werkzeugfabrikation, des Bauwesens und der mit der inneren Einrichtung der Räume beschäftigten Arbeitszweige haben die reichlichste Gelegenheit zur Betätigung. Was menschlicher Erfindungsgeist an bequemen und angenehmen Baulichkeiten, an zweckentsprechender Ventilation, Beleuchtung und Heizung, an maschinellen und technischen Einrichtungen und Reinlichkeitsanlagen zu schaffen vermag, wird in Anwendung gebracht. Die Ersparnis an motorischen Kräften, an Heizung, Beleuchtung, Zeit sowie die Arbeits- und Lebensannehmlichkeiten aller gebieten die zweckmäßigste Konzentration der Arbeitsstätten auf bestimmte Punkte. Die Wohnungen werden von den Arbeitsräumen getrennt und von den Unannehmlichkeiten industrieller und gewerblicher Tätigkeit befreit. Und diese Unannehmlichkeiten werden wieder, durch zweckmäßige Einrichtungen und Vorkehrungen aller Art, auf das geringste Maß beschränkt und schließlich beseitigt. Der gegenwärtige Stand der Technik hat bereits Mittel genug, um die gefährlichsten Berufsarten, wie den Bergbau, die chemischen Betriebe usw. von ihren Gefahren gänzlich zu befreien. Sie kommen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zur Anwendung, weil sie große Kosten verursachen und keine Verpflichtung besteht, für den Schutz der Arbeiter mehr als das Notwendigste zu tun. Die Unannehmlichkeiten, die zum Beispiel der Arbeit im Bergbau ankleben, können durch eine andere Art des Abbaus, durch umfassende Ventilation, durch Einführung elektrischer Beleuchtung, erhebliche Verkürzung der Arbeitszeit und häufigen Wechsel der Arbeitskräfte beseitigt werden. Auch bedarf es keines besonderen Scharfsinns, um Schutzmittel zu finden, die zum Beispiel bei Bauten Unfälle fast unmöglich machen und die Arbeit an denselben zu einer der angenehmsten gestalten. So lassen sich ausreichende Schutzvorrichtungen gegen Sonnenhitze und Regen bei den größten Bauten und bei allen Arbeiten im Freien im ausreichenden Maße herstellen.

 

Auch wird sich in einer Gesellschaft wie die sozialistische, die über ausreichende Arbeitskräfte verfügt, mit Leichtigkeit öfterer Wechsel der Arbeitskräfte und die Konzentration gewisser Arbeiten auf bestimmte Jahres- und Tageszeiten durchführen lassen.

 

Die Frage nach der Beseitigung von Staub, Rauch, Ruß, schlechten Gerüchen kann auch heute schon vollständig durch Chemie und Technik gelöst werden, es geschieht nicht oder nur teilweise, weil dazu die Privatunternehmer die nötigen Mittel nicht opfern wollen. Die Produktionsstätten der Zukunft werden also, wo immer sie sich befinden, ob unter oder über der Erde, von den gegenwärtigen sich in der vorteilhaftesten Weise unterscheiden. Verbesserte Einrichtungen sind für die Privatwirtschaft in erster Linie eine Geldfrage, es heißt: kann das Geschäft sie tragen, rentieren sie sich? Rentieren sie sich nicht, dann mag der Arbeiter zugrunde gehen. Das Kapital tut nicht mit, wo kein Profit herausspringt. Die Menschlichkeit hat keinen Kurs an der Börse .

 

In der sozialistischen Gesellschaft hat die Frage nach Profit ihre Rolle ausgespielt, für sie gibt es keine andere Rücksicht als das Wohl ihrer Glieder. Was diesen nützt und sie schützt, muß eingeführt werden, was sie schädigt, unterbleibt. Niemand wird gezwungen, bei einem gefährlichen Spiele mitzutun. Werden Unternehmungen ins Werk gesetzt, bei denen Gefahren in Aussicht stehen, so darf man sicher sein, daß es Freiwillige in Menge gibt, und zwar um so mehr, da es sich nie um Kultur zerstörende, sondern stets nur um Kultur fördernde Unternehmungen handeln kann.

 

4. Das Wachstum der Produktivität der Arbeit

 

Umfassende Anwendung der motorischen Kräfte und der vollkommensten Maschinen und Werkzeuge, weitgehende Arbeitsteilung und geschickte Kombination der Arbeitskräfte werden also die Produktion auf eine Höhe bringen, daß zur Erzeugung des nötigen Quantums von Lebensbedürfnissen die Arbeitszeit sehr erheblich reduziert werden kann. Erhöhte Produktion gereicht allen zum Vorteil; der Anteil des einzelnen am Produkt steigt mit der Produktivität der Arbeit, und die steigende Produktivität ermöglicht wieder die als gesellschaftlich notwendig bestimmte Arbeitszeit herabzusetzen.

 

Unter den in Anwendung kommenden motorischen Kräften dürfte die Elektrizität die entscheidende Stelle einnehmen. Schon ist die bürgerliche Gesellschaft bemüht, sie sich überall dienstbar zu machen. In je umfangreicherem und vollkommenerem Maße dies geschieht, um so besser für den allgemeinen Fortschritt. Die revolutionierende Wirkung dieser gewaltigsten aller Naturkräfte wird die Bande der bürgerlichen Welt nur um so rascher sprengen und dem Sozialismus die Türe öffnen. Die vollste Ausnutzung und umfassendste Anwendung aber wird diese Kraft erst in der sozialisierten Gesellschaft erlangen. Sie wird sowohl als motorische Kraft wie als Licht- und Heizquelle in ungemeinem Maße zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Gesellschaft beitragen. Die Elektrizität zeichnet sich vor jeder anderen Kraft dadurch aus, daß sie in der Natur im Überfluß vorhanden ist. Unsere Wasserläufe, Ebbe und Flut des Meeres, der Wind, das Sonnenlicht liefern ungezählte Pferdekräfte, sobald wir erst ihre volle und zweckmäßige Ausnützung verstehen.

 

"Einen Reichtum an Energie, der allen Bedarf weit übersteigt, bieten die Teile der Erdoberfläche dar, denen die Sonnenwärme, und zwar gerade dort größtenteils ungenutzt oder sogar lästig, so regelmäßig zufließt, daß mit ihr auch ein regelmäßiger technischer Betrieb durchgeführt werden. kann. Vielleicht würde es keine übertriebene Vorsicht sein, wenn eine Nation sich schon jetzt einen Anteil an solchen Gegenden sicherte. Sehr große Flächen sind nicht einmal nötig; einige Quadratmeilen in Nordafrika würden für den Bedarf eines Landes wie das Deutsche Reich genügen. Durch Konzentration der Sonnenwärme läßt sich eine hohe Temperatur erzeugen, und hiermit dann alles übrige, transportable mechanische Arbeit, Akkumulatorenladung, Licht und Wärme, oder durch Elektrolyse auch direkt Brennmaterial" . Der Mann, der diese Perspektive eröffnet, ist kein Schwärmer, sondern wohlbestallter Professor der Berliner Universität und Präsident a. D. der physikalisch-technischen Reichsanstalt, ein Mann, der in der Wissenschaft einen ersten Rang einnimmt. Und auf dem 79. Kongreß der British Association in Winnipeg (Kanada) sagte in seiner Eröffnungsrede (August 1909) der berühmte englische Physiker Sir S. Thomson: "Nicht allzufern ist der Tag, da die Ausnutzung der Sonnenstrahlen unser Leben revolutionieren wird, von der Abhängigkeit von Kohle und Wasserkraft befreit sich der Mensch, und alle großen Städte werden umringt sein von gewaltigen Apparaten, regelrechten Sonnenstrahlenfallen, in, denen die Sonnenwärme aufgefangen und die gewonnene Energie in mächtigen Reservoirs aufgestaut wird.... Es ist die Kraft der Sonne, die, in der Kohle, in den Wasserfällen, in der Nahrung aufgestapelt, alle Arbeit in der Welt verrichtet. Wie gewaltig diese Kraftabgabe ist, die die Sonne über uns ausschüttet, wird klar, wenn wir erwägen, daß die Wärme, die die Erde bei hoher Sonne und klarem Himmel empfängt, nach den Forschungen von Langley einer Energie von 7.000 Pferdekräften für den Acre gleichkommt. Wenngleich unsere Ingenieure einstweilen noch nicht den Weg gefunden haben, diese riesenhafte Kraftquelle auszunutzen, so zweifle ich doch nicht, daß ihnen dies schließlich gelingen wird. Wenn einst die Kohlenvorräte der Erde erschöpft sind, wenn die Wasserkräfte unserem Bedürfnis nicht mehr genügen, dann werden wir aus jener Quelle alle Energie schöpfen, die notwendig ist, um die Arbeit der Welt zu vollenden. Dann werden die Zentren der Industrie in die glühenden Wüsten der Sahara verlegt werden, und der Wert des Landes wird danach gemessen werden, inwieweit es geeignet ist für die Aufstellung der großen ›Sonnenstrahlenfallen‹ . Hiernach wäre die Sorge, daß es uns jemals an Heizstoffen fehlen könnte, beseitigt. Und da durch die Erfindung des Akkumulatoren es möglich ist, große Kraftmengen zu binden und sie für einen beliebigen Ort und eine beliebige Zeit aufzusparen, so daß neben der Kraft, die Sonne, Ebbe und Flut uns liefert, die Kraft des Windes und der Bergbäche, die nur periodisch zu gewinnen sind, erhalten und ausgenutzt werden können, so gibt es schließlich keine menschliche Tätigkeit, für die, wenn notwendig, motorische Kraft nicht vorhanden ist.

 

Erst mit Hilfe von Elektrizität ist der Ausbau von Wasserkräften im großen Stil möglich geworden. Nach T. Koehn gibt es in acht europäischen Staaten verfügbare Wasserkräfte:

 

                               Pferdestärke  Pro 1.000 Einwohner

 

Großbritannien       963.000         23,1

 

Deutschland           1.425.900      24,5

 

Schweiz                  1.500.000      138

 

Italien                     5.500.000      150

 

Frankreich              5.857.000      169

 

Österreich-Ungarn  6.460.000      454,5

 

Schweden               6.750.000      1,290

 

Norwegen               7.500.000      3,409

 

Von den deutschen Bundesstaaten verfügen Baden und Bayern über die größten Wasserkräfte. Baden kann allein am Oberrhein rund 200.000 Pferdestärken gewinnen, Bayern verfügt über 300.000 ungenützte (neben 100.000 genützter) Pferdestärken. Professor Rehbock in Karlsruhe schätzt die theoretische Rohenergie des auf der ganzen Erdoberfläche abfließenden Wassers auf 8 Milliarden Pferdestärken. Wenn hiervon auch nur der sechzehnte Teil lohnend ausgenutzt werden könnte, so würden noch immer 500 Millionen dauernd wirkender Pferdestärken gewonnen werden, ein Energiebetrag, welcher den aus der Kohlenförderung des Jahres 1907 (1.000 Millionen Tonnen) annäherungsweise berechneten um weit mehr als das Zehnfache übertreffen wurde. Sind solche Berechnungen zunächst auch Theorie, so zeigen sie doch, welcher Leistungen wir uns bei der "weißen Kohle" für die weitere Zukunft noch vorsehen dürfen. Allein an den Fällen des Niagaraflusses, welcher aus einem Seengebiet mit einer Oberfläche von 231.880 Quadratkilometer – das sind ungefähr 43 Prozent der Oberfläche ganz Deutschlands mit 540.000 Quadratkilometer – kommt, lassen sich mehr Wasserkräfte gewinnen, als in England, Deutschland und der Schweiz zusammengenommen vorhanden sind . Nach einer anderen Berechnung, die in einem offiziellen Bericht zitiert wird, gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika verfügbare Wasserkräfte von nicht weniger als 20 Millionen Pferdestärken, die ein Äquivalent von 300 Millionen Tonnen Kohle jährlich bilden . Die Fabriken, die mit dieser "weißen" oder "grünen" Kohle mit der Gewalt der rauschenden Gießbäche und Wasser getrieben werden, werden auch keine Schornsteine, keine Feuer haben.

 

Die Elektrizität wird es auch ermöglichen, die Geschwindigkeit unserer Bahnen mehr als zu verdoppeln. Wenn anfangs der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Herr Meems in Baltimore es für möglich hielt, einen elektrischen Wagen zu bauen, der 300 Kilometer in der Stunde zurücklegt, und Prof. Elihu Thomson in Lynn (Massachusetts) an die Herstellung von Elektromotoren glaubte, die bei geeigneter Verstärkung des Oberbaues der Bahnen und entsprechender Verbesserung des Signalwesens bis 260 Kilometer in der Stunde zurücklegten, so haben sich diese Erwartungen nahezu erfüllt. Die Probefahrten, die 1901 und 1902 auf der Militärbahn Berlin-Zossen vorgenommen wurden, ergaben schon die Möglichkeit einer Fahrgeschwindigkeit bis 150 Kilometer in der Stunde. Und bei den im Jahre 1903 aufgenommenen Versuchen hat der Siemenswagen eine Geschwindigkeit von 201, der der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft von 208 Kilometer erreicht. In den folgenden Jahren sind auch bei Schnellbahnversuchen mit Dampflokomotiven Geschwindigkeiten von 150 Kilometer in der Stunde und mehr erzielt worden.

 

Jetzt heißt die Losung 200 Kilometer in der Stunde. Und auf der Arena erscheint schon August Scherl mit seinem neuen Schnellbahnprojekt, das die vorhandenen Bahnlinien dem Güterverkehr zuweist und die größeren Städte durch eingleisig verkehrende Züge mit 200 Kilometer Geschwindigkeit verbindet .

 

Die Frage der Elektrisierung des Eisenbahnwesens steht auf der Tagesordnung in England, Österreich, Italien und Amerika. Zwischen Philadelphia und New York ist eine elektrische Schnellbahn mit einer Geschwindigkeit von 200 Kilometer in der Stunde projektiert.

 

Ebenso wird die Geschwindigkeit der Seedampfer wachsen. Die ausschlaggebende Rolle spielt dabei die Dampfturbine . "Sie steht heute im Vordergrund des technischen Interesses. Sie scheint berufen, auf ausgedehnten Anwendungsgebieten die Kolbendampfmaschine zu verdrängen. Während die meisten Ingenieure die Dampfturbine noch als eine Aufgabe der Zukunft ansahen, war sie zu einer Frage der Gegenwart geworden, die die Aufmerksamkeit der ganzen technischen Welt durch ihre Erfolge auf sich zog.... Erst die Elektrotechnik mit ihren rasch laufenden Maschinen hat ein riesig ausgedehntes Anwendungsgebiet für die neue Kraftmaschine geschaffen. Die bei weitem größte Zahl aller heute laufenden Dampfturbinen dient zum Antrieb von Dynamomaschinen" . Insbesondere hat die Dampfturbine ihre Überlegenheit über die ältere Kolbendampfmaschine bei den Ozeanfahrten gezeigt. So hat der englische Ozeandampfer "Lusitania", der mit Dampfturbinen ausgerüstet ist, im August 1909 die Reise von Irland bis New York in 4 Tagen 11 Stunden und 42 Minuten mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 25,85 Knoten (zirka 48 Kilometer) in der Stunde zurückgelegt. Die 1863 erbaute "Amerika", damals das schnellste Schiff, fuhr 12,5 Knoten (23,16 Kilometer) . Und der Tag ist nicht weit, wenn der elektrische Propellerantrieb für große Schiffe eine befriedigende Lösung finden wird. Für kleine Schiffe kommt er schon zur Anwendung. Einfache Wartung und hohe Betriebssicherheit, gute Selbstregulierung und erschütterungsfreier Lauf machen die Dampfturbine zur idealen Antriebskraft für die Erzeugung elektrischer Energie an Bord. Und Hand in Hand mit der Elektrisierung des ganzen Eisenbahnwesens wird auch die Elektrisierung des gesamten Schiffbaues gehen.

 

Durch die Elektrizität wird auch die Technik der Lastenförderung revolutioniert. "Hatte die Dampfkraft überhaupt die Möglichkeit eröffnet, Hebemaschinen mit Naturkraft zu bauen, so führte die elektrische Kraftübertragung einen vollständigen Umschwung im Hebemaschinenbau herbei, insofern, als sie erst diesen Maschinen freie Beweglichkeit und stete Betriebsbereitschaft gewährte." Der elektrische Betrieb hat unter anderem den weitestgehenden Wandel in dem Aufbau der Krane herbeigeführt. "Mit seinem massigen, gebogenen Schnabel aus Walzeisen, auf einem schweren Quaderfundament lastend, mit langsamen Bewegungen und mit fauchendem Geräusch des auspuffenden Dampfes erweckt der Dampfkran den Eindruck eines Untiers aus der Urzeit. Wenn er erst zugefaßt hat, entwickelt er eine gewaltige Hebkraft, aber er braucht Menschen als Handlanger, die mit Schlingketten die Last an seinem Haken befestigen. Wegen seiner Unbehilflichkeit im Zufassen, wegen seiner Langsamkeit und Schwerfälligkeit ist er nur für Schwerlasten geeignet, nicht aber für schnelle Massenbewegung verwendbar." ... Ein ganz anderes Bild gewährt schon rein äußerlich der moderne elektrisch betriebene Stahlwerkskran: wir erblicken einen zierlichen, frei über die Halle gespannten stählernen Gitterträger und von ihm hervorragend einen schlanken, nach allen Richtungen beweglichen Zangenarm, das Ganze wird von einem einzigen Mann beherrscht, der mit sanftem Druck auf den Steuerhebel die elektrischen Ströme steuert und mit ihrer Hilfe die schlanken Stahlglieder des Krans zu raschen Bewegungen zwingt, so daß sie ohne Zutun eines Handlangers den glühenden Stahlblock greifen und durch die Luft schwingen; dabei ist kein anderes Geräusch zu hören als das leise Surren der Elektromotoren . Ohne die Hilfe dieser Maschinen wäre der stetig anwachsende Massentransport nicht zu bewältigen. Die von Mitte bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts vollzogene Entwicklung hinsichtlich der Vergrößerung der Tragkraft ergibt ein Vergleich dieser Größen zwischen dem Werftkran zu Pola und dem zu Kiel. Die Tragkraft des ersteren betrug 60 Tonnen, des zweiten 200 Tonnen. Der Betrieb eines Bessemerstahlwerks ist überhaupt nur möglich, wenn rasch arbeitende Hebemaschinen zur Verfügung stehen, weil andernfalls die gewaltigen Mengen flüssigen Stahls, die in kurzer Zeit erzeugt werden, nicht in den Gießformen transportiert werden könnten. Im Kruppwerk zu Essen arbeiten allein 608 Kräne mit einer Gesamttragkraft von 6.513 Tonnen, gleich einem Güterzug von 650 Wagen. Die geringen Kosten der Seefracht, die die Lebensbedingungen für den heutigen Weltverkehr bilden, würden nicht möglich sein, wenn nicht durch rasche Entladung das in den Schiffen angelegte Kapital so intensiv ausgenutzt werden könnte. Die Ausrüstung eines Schiffes mit elektrischen Schiffsdeckkranen führte zu einer Verminderung der jährlichen Gesamtbetriebskosten von 23.000 auf 13.000 Mark, also auf nahezu die Hälfte. Dabei umfaßt dieser Vergleich den Fortschritt von nur etwa einem Jahrzehnt.

 

Auf allen Gebieten der Verkehrstechnik bringt auch jeder Tag bahnbrechende Erfolge. Das Flugproblem, das noch vor zwei Jahrzehnten unlösbar schien, ist schon jetzt gelöst. Und wenn die lenkbaren Luftschiffe und verschiedenen Flugapparate nicht dem leichteren und billigeren Transport von Massen dienen, sondern dem Sport und Militarismus, so werden sie später auch die Produktivkräfte der Gesellschaft vermehren. Große Fortschritte macht auch das drahtlose System der Telegraphie und Telephonie; seine industrielle Verwertung wächst mit jedem Tage. In wenigen Jahren wird somit der ganze Verkehr auf neue Grundlagen gestellt.

 

Der gesamte Bergbaubetrieb mit Ausnahme des Abbaus befindet sich heute in einer Umwälzung, die vor zehn Jahren noch außerhalb der Vorstellungsmöglichkeit lag. Diese Umwälzung besteht in der Einführung des elektrischen Betriebs zur Wassererhaltung, Wetterführung, Streckenförderung und Schachtförderung. Der elektromotorische Betrieb revolutionierte die Arbeitsmaschinen, die Pumpen, Haspel, Fördermaschinen.

 

Märchenhafte Aussichten sind es auch, die der frühere französische Kultusminister Professor Berthelot (gestorben 18. März 1907) im Frühjahr 1894 auf einem Bankett des Syndikats der Chemikalienfabrikanten in einer Rede über die Bedeutung der Chemie in der Zukunft eröffnete. Herr Berthelot schilderte in seiner Rede, wie es etwa ums Jahr 2000 mit der Chemie stehen möchte, und wenn seine Schilderung auch manche humoristische Übertreibung enthält, so doch auch so viel Richtiges, daß wir sie auszugsweise folgen lassen. Herr Berthelot legte dar, was die Chemie in wenigen Jahrzehnten geleistet habe und bezeichnete als ihre Leistungen unter anderem: "Die Fabrikation der Schwefelsäure, der Soda, das Bleichen und Färben, den Rübenzucker, die therapeutischen Alkaloide, das Gas, die Vergoldung und Versilberung usw.; dann kam die Elektrochemie, welche die Metallurgie von Grund aus umgestaltete, die Thermochemie und die Chemie der Explosivstoffe, welche die Minenindustrie wie die Kriegführung mit neuen Energien versieht, die Wunder der organischen Chemie in der Erzeugung von Farben, Wohlgerüchen, therapeutischen und antiseptischen Mitteln usw." Das sei aber nur ein Anfang, bald würden viel bedeutendere Probleme gelöst werden. Ums Jahr 2000 werde es keine Landwirtschaft und keine Bauern mehr geben, denn die Chemie werde die bisherige Bodenkulturexistenz aufgehoben haben. Es werde keine Kohlenschachte und also auch keine Bergarbeiterstreiks mehr geben. Die Brennstoffe seien ersetzt durch chemische und physikalische Prozesse. Zölle und Kriege seien abgeschafft; die Luftschiffahrt, die sich der chemischen Stoffe als Bewegungsmittel bediene, habe diesen veralteten Einrichtungen das Todesurteil gesprochen. Das Problem der Industrie bestehe darin, Kraftquellen zu finden, die unerschöpflich sind und mit möglichst wenig Arbeit sich erneuern. Bisher haben wir Dampf erzeugt durch die chemische Energie verbrannter Steinkohlen; aber die Steinkohle sei beschwerlich zu gewinnen und ihr Vorrat nehme von Tag zu Tag ab. Man müsse daran denken, die Sonnenwärme und die Hitze des Erdinnern zu benützen. Es sei begründete Hoffnung vorhanden, beide Quellen in unbegrenzte Verwendung zu nehmen. Einen Schacht von 3.000 bis 4.000 Meter zu bohren, übersteige nicht das Können der heutigen, noch weniger der künftigen Ingenieure. Damit wäre die Quelle aller Wärme und aller Industrie erschlossen; nehme man noch das Wasser dazu, so könne man auf der Erde alle erdenklichen Maschinen laufen lassen, diese Kraftquelle würde in Hunderten von Jahren kaum eine merkliche Abnahme erfahren.

 

Mit der Erdwärme würden sich zahlreiche chemische Probleme lösen lassen, darunter das höchste Problem der Chemie, die Herstellung der Nahrungsmittel auf chemischem Wege. Im Prinzip sei es bereits gelöst; die Synthese der Fette und Öle sei längst bekannt, Zucker und Kohlenhydrate kenne man auch schon und bald werde man die Zusammensetzung der Stickstoffelemente kennen. Das Lebensmittelproblem sei ein rein chemisches; an dem Tage, wo man die entsprechende billige Kraft bekomme, werde man, mit Kohlenstoff aus der Kohlensäure, mit Wasserstoff und Sauerstoff aus dem Wasser und mit Stickstoff aus der Atmosphäre Lebensmittel aller Art erzeugen. Was die Pflanzen bisher taten, werde die Industrie tun, und vollkommener als die Natur. Es werde die Zeit kommen, wo jedermann eine Dose mit Chemikalien in der Tasche trage, aus der er sein Nahrungsbedürfnis an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten befriedige, unbekümmert um Tages- und Jahreszeit, um Regen und Trockenheit, um Fröste, Hagel und verheerende Insekten. Dann werde eine Umwälzung eintreten, von der man sich jetzt noch keinen Begriff machen könne. Fruchtfelder, Weinberge und Viehweiden würden verschwinden; der Mensch würde an Milde und Moral gewinnen, weil er nicht mehr vom Mord und von der Zerstörung lebender Wesen lebe. Dann werde auch der Unterschied zwischen, fruchtbaren und unfruchtbaren Gegenden fallen, und vielleicht würden die Wüsten der Lieblingsaufenthalt der Menschen, weil es dort gesünder sei als auf dem durchseuchten Schwemmboden und den sumpfigen angefaulten Ebenen, wo jetzt der Ackerbau betrieben werde. Dann werde auch die Kunst samt allen Schönheiten des menschlichen Lebens zu voller Entfaltung gelangen. Die Erde werde nicht mehr, sozusagen, entstellt durch die geometrischen Figuren, die jetzt der Ackerbau ziehe, sondern sie werde ein Garten, in dem man nach Belieben Gras und Blumen, Busch und Wald wachsen lassen könne, und in dem das Menschengeschlecht im Überfluß, im goldenen Zeitalter leben werde. Der Mensch werde darum nicht der Trägheit und der Korruption verfallen. Zum Glück gehöre die Arbeit, und der Mensch werde arbeiten, so viel wie jemals, weil er nur für sich arbeite, um seine geistige, moralische und ästhetische Entwicklung auf die höchste Stufe zu bringen.

 

Der Leser mag aus dem Vortrag Berthelots für richtig halten, was ihm beliebt, gewiß ist, daß in Zukunft durch die verschiedensten Fortschritte Güte, Massenhaftigkeit und Vielseitigkeit der Produkte in gewaltigem Maßstab wachsen und die Lebensannehmlichkeiten künftiger Generationen sich in kaum geahnter Weise verbessern werden.

 

Professor Elihu Thomson stimmt mit Werner Siemens überein, der bereits im Jahre 1887 auf der Berliner Naturforscherversammlung die Ansicht aussprach: es werde auf elektrischem Wege möglich sein, die Grundstoffe direkt in Nahrungsmittel zu verwandeln. Während Werner Siemens meinte, es könne einmal, wenn auch erst in ferner Zeit, ein Kohlenhydrat, wie etwa der Traubenzucker und später die ihm so nahe verwandte Stärke, künstlich zusammengesetzt werden, womit die Möglichkeit gegeben wäre, "Brot aus Steinen zu machen", behauptet der Chemiker Dr. V. Meyer, es werde möglich sein, die Holzfaser zu einer Quelle menschlicher Nahrung zu machen. Inzwischen (1890) hat Emil Fischer den Traubenzucker und den Fruchtzucker tatsächlich künstlich hergestellt und damit eine Entdeckung gemacht, die Werner Siemens erst als "in ferner Zeit" wahrscheinlich erachtete. Seitdem hat die Chemie noch weitere Fortschritte gemacht. Indigo, Vanillin, Kampfer sind jetzt künstlich hergestellt. Im Jahre 1906 ist es W. Löb gelungen, die Assimilation der Kohlensäure außerhalb der Pflanze bis zum Zucker durch Einwirkung hoher elektrischer Spannungen durchzuführen. 1907 gewann Emil Fischer einen der kompliziertesten synthetischen Körper, der dem natürlichen Protein (ein Eiweißstoff) sehr nahe ist. Und im Jahre 1908 stellten R. Willstätter und Benz Chlorophyll (Pflanzengrün) in reinem Zustande her und wiesen nach, daß es eine Magnesiumverbindung darstellt. Außerdem ist eine Reihe der wichtigsten Körper, die bei der Fortpflanzung und Vererbung eine Rolle spielen, künstlich hergestellt. Somit ist die Lösung des Hauptproblems der organischen Chemie – Gewinnung des Eiweißes – in den Bereich der nicht allzufernen Zukunft gerückt.