3. Der Mädchenhandel

 

In dem Maße, wie die Männerwelt, freiwillig oder gezwungen, auf die Ehe verzichtet und die Befriedigung des Geschlechtstriebs in der Wildnis sucht, in dem Maße steigen auch die verführerischen Gelegenheiten dazu. Der große Gewinn, den alle auf die Unsittlichkeit berechneten Unternehmungen abwerfen, lockt zahlreiche, nicht skrupulöse Geschäftsleute an, mit Aufbietung allen Raffinements die Kunden anzulocken. Da wird jedem Bedürfnis der Kundschaft nach Rang und Stellung, jeder materiellen Leistungs- und Opferfähigkeit Rechnung getragen. Könnten die "öffentlichen Häuser" ihre Geheimnisse ausplaudern, es zeigte sich, daß ihre Bewohnerinnen, die oft ohne Herkunft und ohne höhere Bildung und Erziehung sind, aber um so größere körperliche Reize besitzen, in den intimsten Beziehungen mit Spitzen der Gesellschaft, mit Männern von hoher Intelligenz und Bildung stehen. Da gehen Minister, hohe Militärs, Geheimräte, Volksvertreter, Richter usw. neben den Repräsentanten der Geburts-, Finanz-, Handels- und Industriearistokratie aus und ein, Männer, die am Tage und in der Gesellschaft als "Vertreter und Wächter von Moral, Ordnung, Ehe und Familie" gar würdevoll und ernst einherschreiten und an der Spitze christlicher Wohltätigkeitsanstalten und Vereinen zur "Unterdrückung der Prostitution" stehen. Der Inhaber eines dieser der Gelegenheitsmacherei dienenden Lokale in der ...straße in Berlin gibt sogar ein eigens illustriertes Blatt heraus, in dem das Treiben der dort verkehrenden Gesellschaft geschildert wird. Das Lokal verfügt über 400 Sitzplätze, in dem allabendlich ein elegantes Publikum, das als Stammpublikum – wie es in dem Blatte heißt – der höchsten Geburts- und Finanzaristokratie angehört, verkehrt. Der Trubel und Jubel nehme geradezu beängstigende Dimensionen an, wenn, wie fast täglich, zahlreiche Damen der Theaterwelt und bekannte Beautés der Lebewelt anwesend sind und wenn die findige Direktion, um der Heiterkeit die Krone aufzusetzen, in vorgerückter Morgenstunde ein Aalgreifen veranstaltet.... Rings um das Bassin herum kauern mit hochgeschürzten Kleidern die schönen Besucherinnen der Bar und haschen nach dem Aal. Und so weiter. Die Polizei kennt dieses Treiben genau, aber sie hütet sich, die vornehme Gesellschaft in ihren Vergnügungen zu stören. Nichts als Kuppelei gemeinster Art ist es auch, wenn ein Berliner Balletablissement folgende Einladung an die vornehme Männerwelt versendet: "Die unterzeichnete Jagdsaalverwaltung, deren Direktion Sie, hochgeehrter Herr, als passionierter Jäger empfohlen worden, gibt sich die hohe Ehre, Ew. Hochwohlgeboren auf ein neuerschlossenes, herrliches Jagdterrain mit reichem, vorzüglichem Wildstand aufmerksam zu machen und zur ersten Edelwildjagd am 26. August a. c. in den Jagdsälen höflichst einzuladen. Ein besonderer Umstand läßt unser neues Forstrevier in hervorragender Weise angenehm und bequem erscheinen: die Jagdgründe befinden sich im Mittelpunkt der Residenz, das Wild ist keinerlei Schonung unterworfen." Unsere bürgerliche Gesellschaft gleicht einer großen Karnevalsgesellschaft, in der einer den anderen zu täuschen und zum Narren zu halten sucht. Jeder trägt seine offizielle Verkleidung mit Würde, um nachher inoffiziell um so ungezügelter seinen Neigungen und Leidenschaften zu frönen. Und äußerlich trieft alles von Moral, Religion und Sittlichkeit. In keinem Zeitalter war die Heuchelei größer als in dem unseren. Die Zahl der Auguren wächst täglich.

 

Das Angebot von Frauen zu Lustzwecken steigt rascher als die Nachfrage. Die immer mißlicher werdenden sozialen Verhältnisse, Not, Verführung, Gefallen an einem äußerlich glänzenden, scheinbar freien Leben liefern aus allen Gesellschaftsschichten die Kandidatinnen. Charakteristisch schildert die Zustände in der deutschen Reichshauptstadt ein Roman von Hans Wachenhusen . Der Verfasser läßt sich über den Zweck seines Romans also aus: "Mein Buch spricht namentlich von den Opfern des weiblichen Geschlechtes und der zunehmenden Entwertung desselben durch die Unnatur unserer gesellschaftlichen und bürgerlichen Verhältnisse, durch eigene Schuld, durch Vernachlässigung der Erziehung, durch das Bedürfnis nach Luxus und das steigende, leichtfertige Angebot auf dem Markte des Lebens. Es spricht von der wachsenden Überzähligkeit dieses Geschlechtes, die täglich hoffnungsloser macht, was geboren wird, aussichtsloser, was heranwächst.... Ich schrieb, wie etwa der Staatsanwalt den Lebenslauf eines Verbrechers zusammenstellt, um daraus die Schuld desselben zu resumieren. Versteht man also unter dem Roman etwas Erfundenes, das straffreie Gegenteil der Wahrheit, so ist in diesem Sinne das Nachfolgende kein Roman, sondern ein wahres Lebensbild ohne Retusche." In Berlin sind die Verhältnisse nicht besser und nicht schlechter als in anderen Großstädten. Ob mehr das griechisch-orthodoxe Petersburg oder das katholische Rom, das christlich-germanische Berlin oder das heidnische Paris, das puritanische London oder das lebenslustige Wien dem alten Babylon gleicht, ist schwer zu entscheiden. Die gleichen sozialen Zustände erzeugen die gleichen Erscheinungen. "Die Prostitution besitzt ihre geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, ihre Hilfsquellen, ihre Rekrutierungsorte (various resorts) von der ärmsten Hütte bis zum glänzendsten Palast; ihre zahllosen Grade, und zwar vom niedrigsten bis zum verfeinertsten und kultiviertesten; sie hat ihre speziellen Vergnügungen und öffentlichen Zusammenkunftsorte; ihre Polizei, ihre Hospitäler, ihre Gefängnisse und ihre Literatur" . "Wir feiern nicht mehr die Feste des Osiris, die Bacchanalien und die indischen Orgien im Frühlingsmonat, aber in Paris und anderen großen Städten überläßt man sich im Dunkel der Nacht, hinter den Mauern der öffentlichen und der Privathäuser Orgien und Bacchanalien, welche die kühnste Feder nicht zu beschreiben wagt" .

 

Unter solchen Verhältnissen hat der Handel mit Frauenfleisch großartige Dimensionen angenommen. Er wird in der bestorganisiertesten Weise auf größter Stufenleiter, und selten von den Augen der Polizei bemerkt, mitten in den Stätten der Zivilisation und Kultur betrieben. Ein Heer von Maklern, Agenten und Transporteuren männlichen und weiblichen Geschlechts betreibt das Geschäft mit derselben Kaltblütigkeit, als handle es sich um den Vertrieb irgendeiner Ware. Legitimationen werden gefälscht und Zertifikate ausgestellt, die eine genaue Beschreibung der Qualifikation der einzelnen "Stücke" enthalten, und werden an die Transporteure behändigt zur Anweisung für die Käufer. Der Preis richtet sich, wie bei jeder Ware, nach der Qualität, und die Ware wird nach dem Geschmack und den Anforderungen der Kundschaft in den verschiedenen Orten und Ländern assortiert und expediert. Durch die raffiniertesten Manipulationen sucht man der Aufmerksamkeit und den Nachstellungen der Polizei zu entgehen, nicht selten werden aber auch große Summen angewandt, um das Auge der Wächter des Gesetzes zu schließen. Eine Anzahl solcher Fälle sind namentlich in Paris konstatiert worden .

 

Deutschland genießt mit den traurigen Ruhm, Frauenmarkt für die halbe Welt zu sein. Der dem Deutschen innewohnende Drang zum Wandern scheint auch einen Teil der deutschen Frauen zu beseelen, so daß sie mehr als die Frauen anderer Völker, das österreich-ungarische ausgenommen, für die Versorgung der internationalen Prostitution ihr Kontingent stellen. Deutsche Frauen bevölkern die Harems der Türken wie die öffentlichen Häuser im Innern Sibiriens bis nach Bombay, Singapore, San Franzisko und Chicago. In seinem Reisewerk "Aus Japan nach Deutschland durch Sibirien" spricht sich der Verfasser W. Joest über den deutschen Mädchenhandel also aus: "Man ereifert sich in unserem moralischen Deutschland oft über den Sklavenhandel, den irgendein westafrikanischer Negerfürst treibt, oder über die Zustände in Kuba und Brasilien, und sollte sich lieber doch des Balkens im eigenen Auge erinnern, denn in keinem Lande wird mit weißen Sklavinnen in solcher Weise gehandelt, aus keinem Lande wird so viel dieser lebenden Ware expediert, wie gerade aus Deutschland und Österreich. Der Weg, den diese Mädchen nehmen, läßt sich ganz genau verfolgen. Von Hamburg werden dieselben nach Südamerika verschafft, Bahia, Rio de Janeiro erhält seine Quote, der größte Teil aber ist für Montevideo und Buenos Aires bestimmt, während ein kleiner Rest durch die Magelhaensstraße bis Valparaiso geht. Ein anderer Strom wird über England oder direkt nach Nordamerika dirigiert, kann aber hier nur schwer mit dem einheimischen Produkt konkurrieren, er verteilt sich daher den Mississippi hinab bis nach New Orleans und Texas oder gen Westen nach Kalifornien. Von dort aus wird die Küste bis Panama hinunter versorgt, während Kuba, Westindien und Mexiko ihren Bedarf von New Orleans beziehen. Unter dem Titel "Böhminnen" werden weitere Scharen deutscher Mädchen über die Alpen nach Italien exportiert und dann weiter südlich nach Alexandrien, Suez, Bombay, Kalkutta bis Singapore, ja, nach Hongkong bis Schanghai hin. Holländisch-Indien und Ostasien, zumal Japan, sind schlechte Märkte, da Holland in seinen Kolonien keine weißen Mädchen dieser Sorte duldet und in Japan die Töchter des Landes selbst zu hübsch und billig sind; auch verdirbt die amerikanische Konkurrenz von San Franzisko aus die günstige Konjunktur. Rußland wird von Ostpreußen, Pommern und Polen aus versorgt. Die erste Station ist meistens Riga. Hier assortieren sich die Petersburger und Moskauer Händler und schicken ihre Ware in großen Quantitäten nach Nishnij Nowgorod bis über den Ural nach Irbit und Krestowsky, ja bis in das innerste Sibirien hinein; so traf ich zum Beispiel ein deutsches, auf diese Weise verhandeltes Mädchen in Tschita. Dieser großartige Handel ist vollkommen organisiert, er wird durch Agenten und Handlungsreisende vermittelt, und wenn das Auswärtige Amt des Deutschen Reiches einmal hierüber Berichte seiner Konsuln verlangen würde, so ließen sich recht interessante statistische Tabellen feststellen."

 

Dieser Handel blüht in vollem Maße, wie wiederholt durch sozialdemokratische Abgeordnete im deutschen Reichstage konstatiert wurde.

 

Besonders stark wird der Frauenfleischhandel von Galizien und Ungarn aus nach Konstantinopel und den übrigen Städten der Türkei betrieben. Namentlich sind es viele Jüdinnen, die man sonst selten in öffentlichen Häusern trifft, die dorthin verschachert werden. Das Geld für die Reise und die Auslagen wird dem Agenten meistens schon im voraus eingesandt. Um die Behörden zu täuschen und irrezuleiten, werden unauffällige Telegramme an den Besteller aufgegeben.

 

Einige solcher Depeschen lauten: "5 Faß Ungarwein langen dann und dann in Varna an", womit fünf sehr schöne Mädchen gemeint sind; oder "3 Sack Kartoffeln abgeschickt per Dampfer Lloyd Minerva". Hier handelt es sich um drei minder schöne Mädchen oder um "gewöhnliche Ware". Eine andere Depesche lautet: "Treffe am Freitag mit der Kobra ein. Habe zwei Ballen feine Seide an Bord."

 

4. Das Wachstum der Prostitution. Uneheliche Mütter

 

Die Zahl der Prostituierten läßt sich schwer schätzen, genau gar nicht angeben. Die Polizei kann annähernd die Zahl derjenigen feststellen, deren hauptsächlichster Erwerb die Prostitution ist, sie vermag dies aber nicht von der viel größeren Zahl jener, die sie als teilweisen Erwerb benutzen. Immerhin sind die annähernd bekannten Zahlen erschreckend hoch. Nach von Öttingen wurde schon Ende der sechziger Jahre die Zahl der Prostituierten in London auf 80.000 geschätzt. In Paris belief sich die Zahl der eingeschriebenen Prostituierten am 1. Januar 1906 auf 6.196, aber von diesen entzieht sich mehr als ein Drittel der polizeiärztlichen Kontrolle.

 

In ganz Paris gab es 1892 zirka 60 Bordelle mit 600 bis 700 Prostituierten, im Jahre 1900 42. Diese Zahl ist beständig in der Abnahme begriffen (im Jahre 1852 gab es 217 Bordelle). Dagegen ist die Zahl der heimlichen Prostituierten viel größer geworden. Auf Grund einer Untersuchung, die im Jahre 1889 der Munizipalrat von Paris veranstaltete, ist die Zahl der Frauen, die sich prostituieren, auf die enorme Ziffer von 120.000 angegeben. Der Polizeipräfekt von Paris, Léfrine, schätzt die Zahl der eingeschriebenen auf 6.000 durchschnittlich und bis 70.000 heimliche Prostituierte. Im Laufe der Jahre 1871 bis 1903 hat die Polizei 725.000 Dirnen sistiert und 150.000 wurden ins Gefängnis gesteckt. Im Jahre 1906 betrug die Zahl der Sistierten nicht weniger als 56.196 .

 

In Berlin betrug die Zahl der bei der Polizei eingeschriebenen Prostituierten: 1886 3.006, 1890 4.039, 1893 4.663, 1897 5.098, 1899 4.544, 1905 3.287.

 

Im Jahre 1890 waren sechs Ärzte angestellt, die täglich jeder zwei Stunden Untersuchungen vorzunehmen hatten. Seitdem wurde die Zahl der Ärzte auf zwölf vermehrt, auch ist seit einigen Jahren gegen den Widerspruch vieler männlicher Ärzte für diese Untersuchungen ein weiblicher Arzt angestellt worden. Die polizeilich eingeschriebenen Prostituierten bilden auch in Berlin nur einen sehr kleinen Bruchteil der Prostituierten, die von sachkundiger Seite auf mindestens 50.000 geschätzt werden. (Andere, wie Lesser, rechnen 24.000 bis 25.000 und Raumer 30.000.) Es gab im Jahre 1890 allein in Berliner Schanklokalen 2.022 Kellnerinnen, die fast sämtlich sich der Prostitution ergaben. Auch zeigt die von Jahr zu Jahr gestiegene Zahl der wegen Übertretung der sittenpolizeilichen Vorschriften sistierten Dirnen, daß die Prostitution in Berlin stetig im Wachsen ist. Die Zahl dieser Sistierten betrug im Jahre 1881 10.878, 1890 16.605, 1896 26.703, 1897 22.915. Von den im Jahre 1897 sistierten Dirnen wurden 17.018 dem Amtsrichter zur Aburteilung vorgeführt – es kamen demnach auf jeden Gerichtstag zirka 57.

 

Wie groß ist die Zahl der Prostituierten in ganz Deutschland? Manche behaupten, daß diese Zahl auf ungefähr 200.000 sich belaufen dürfte. Ströhmberg schätzt die Zahl der öffentlichen und geheimen Prostituierten Deutschlands auf 92.200 oder zwischen 75.000 und 100.000. Kamillo K. Schneider machte im Jahre 1908 den Versuch, die Zahl der eingeschriebenen Prostituierten genau zu ermitteln. Seine Tabelle umfaßt für das Jahr 1905 79 Städte. "Da große Orte, in denen eine bedeutendere Zahl Mädchen noch zu erwarten wäre, nicht fehlen, so glaube er, würde mit 15.000 die Gesamtzahl ziemlich genau angegeben sein. Das ergibt im Durchschnitt bei einer Einwohnerzahl von rund 60.600.000 eine Eingeschriebene auf 4.040 Einwohner." In Berlin kommt eine Prostituierte auf 608, in Breslau 514, Hannover 529, Kiel 527, Danzig 487, Köln 369, Braunschweig 363 Einwohner. Die Zahl der kontrollierten Prostituierten geht konstant zurück . Nach verschiedenen Rechnungen verhält sich die Zahl der offiziellen Prostituierten zur Zahl der heimlichen wie 1 zu 5 bis 10. Man hat es also mit einer großen Armee zu tun, welche die Prostitution als Lebensunterhalt betrachtet, und dementsprechend ist die Zahl der Opfer, die Krankheit und Tod erfordert .

 

Daß die Überzahl der Prostituierten ihre Lebensweise herzlich satt hat, ja dieselbe sie anekelt, ist eine Erfahrung, die alle Sachverständigen zugeben. Doch einmal der Prostitution verfallen, bietet sich für die wenigsten Gelegenheit, sich aus derselben zu retten. Der Hamburger Zweigverein der britischen, kontinentalen und allgemeinen Förderation veranstaltete 1899 eine Enquete unter den Prostituierten. Obgleich nur wenige die gestellten Fragen beantworteten, sind diese doch sehr charakteristisch. Auf die Frage: Würden Sie dieses Gewerbe beibehalten, wenn Sie sich anders ernähren könnten? antwortete eine: Was soll man anfangen, wenn einen die Menschen alle verachten? Eine andere antwortete: Ich habe vom Krankenhaus aus um Hilfe gebeten. Eine dritte: Mein Freund hat mich dadurch ausgelöst, daß er meine Schulden bezahlte. Unter der Schuldsklaverei der Bordellwirte leiden alle. Eine teilt mit, daß sie ihrer Wirtin 700 Mark schulde. Kleider, Wäsche, Putzgegenstände, alles liefere der Wirt zu horrenden Preisen, ebenso wird ihnen Essen und Trinken zu den höchsten Preisen angerechnet. Außerdem haben sie noch einen bestimmten Satz pro Tag für Wohnung an den Wirt abzugeben. Diese Miete beläuft sich auf 6, 8, 10 Mark und mehr für den Tag; eine schreibt, sie haben ihrem Louis täglich 20 bis 25 Mark zu bezahlen. Ohne daß die Schulden bezahlt werden, entläßt sie kein Wirt; auch werden in den Aussagen allerlei Streiflichter auf das Verhalten der Polizei geworfen, die mehr auf Seite der Wirte als der hilflosen Mädchen steht. Kurz, wir haben hier mitten in der christlichen Zivilisation eine Sklaverei schlimmster Art. Und um ihre Standesinteressen besser wahren zu können, gründeten sogar die Bordellwirte ein Fachorgan, das einen internationalen Charakter trägt.

 

Die Zahl der Prostituierten wächst in dem Maße, wie die Zahl der Frauen wächst, die in den verschiedensten Industrie- und Gewerbezweigen als Arbeiterinnen beschäftigt und oft mit Löhnen abgefunden werden, die zum Sterben zu hoch, zum Leben zu niedrig sind. Die Prostitution wird gefördert durch die in der bürgerlichen Welt zur Notwendigkeit gewordenen industriellen Krisen, die Not und Elend in Hunderttausende von Familien tragen. Nach einem Briefe des Oberkonstablers Bolton an einen Fabrikinspektor vom 31. Oktober 1865 hatte sich während der englischen Baumwollkrise, hervorgerufen durch den nordamerikanischen Sklavenbefreiungskrieg, die Zahl der jungen Prostituierten mehr als in den letzten 25 Jahren vermehrt . Aber nicht nur fallen die Arbeiterinnen der Prostitution zum Opfer, diese findet auch in den "höheren Berufen" ihr Rekrutierungsgebiet. Lombroso und Ferrero zitieren Macé , der von Paris sagt, "daß das Gouvernantenzeugnis höheren oder niederen Grades weniger eine Anweisung auf Brot, als auf Selbstmord, Diebstahl und Prostitution ist".

 

Parent-Duchatelet hat seinerzeit eine Statistik aufgestellt, nach der unter 5.183 Prostituierten sich 1.441 befanden, die aus Mangel und Elend sich prostituierten, 1.255 waren eltern- und mittellos, 86 prostituierten sich, um arme Eltern, Geschwister oder Kinder zu ernähren, 1.425 waren von ihren Liebhabern verlassene Konkubinen, 404 waren von Offizieren und Soldaten verführte und nach Paris verschleppte Mädchen, 289 waren durch den Hausherrn verführte und entlassene Dienstmädchen, 280 übersiedelten nach Paris, um dort einen Broterwerb zu finden.

 

Mrs. Butler, die so eifrige Vorkämpferin für die Ärmsten und Elendesten ihres Geschlechts, sagt: "Zufällige Umstände, der Tod eines Vaters, einer Mutter, Arbeitslosigkeit, unzulänglicher Lohn, Elend, trügerische Versprechungen, Verführung, gestellte Netze haben sie ins Verderben geführt." Sehr lehrreich sind die Mitteilungen, die Karl Schneidt in einer Broschüre "Das Kellnerinnenelend in Berlin" über die Ursachen macht, die jene der Prostitution so häufig in die Arme führen. Auffallend sei die große Zahl der Dienstmädchen, die Kellnerinnen und das heiße fast immer Prostituierte würden. In den Antworten, die Schneidt auf seine Fragebogen an die Kellnerinnen empfing, heißt es zum Beispiel: "Weil ich von meinem Herrn ein Kind bekam und verdienen mußte." Andere geben an: "Weil mir mein Buch verdorben wurde", wieder andere: "Weil mit Hemdennähen und dergleichen zu wenig verdient wird", oder: "Weil ich als Arbeiterin, aus der Fabrik entlassen, keine Arbeit mehr bekam", oder: "Weil der Vater gestorben und noch vier kleine Geschwister da waren." Daß besonders Dienstmädchen, nachdem sie der Verführung ihrer Dienstherren zum Opfer fielen, ein großes Kontingent zu den Prostituierten stellen, ist bekannt. Über die auffällig große Zahl der Verführungen von Dienstmädchen durch ihre Dienstherren oder deren Söhne äußert sich sehr anklagend Dr. Max Taube in einer Schrift . Aber auch die höheren Klassen liefern ihr Kontingent zur Prostitution, nur ist es nicht die Not, sondern Verführung und Neigung zu einem leichtfertigen Leben, zu Putz und Vergnügungen. Darüber heißt es in einer Schrift "Die gefallenen Mädchen und die Sittenpolizei" :

 

Starr vor Schreck, vor Entsetzen, hört so mancher brave Bürger, so mancher Pastor, Lehrer, hochgestellte Beamte und hochgestellte Militär unter anderem, daß seine Tochter heimlich sich der Prostitution ergeben hat, und wäre es statthaft, alle diese Töchter namhaft zu machen, es müßte dann entweder eine soziale Revolution vor sich gehen, oder die Begriffe von Ehre und Tugend im Volke würden schweren Schaden leiden."

 

Es sind namentlich die feineren Prostituierten, die Hautevolee unter ihnen, die sich aus diesen Kreisen rekrutieren. Auch ein großer Teil der Schauspielerinnen, deren Garderobekosten zu ihrem Gehalt im krassesten Mißverhältnis stehen , ist auf eine solche schmutzige Erwerbsquelle angewiesen. Das gleiche gilt von zahlreichen Mädchen, die sich als Verkäuferinnen und dergleichen vermieten. Es gibt auch Unternehmer in Menge, die ehrlos genug sind, mit dem Hinweis auf die Unterstützung durch "Freunde" die Niedrigkeit des Lohnes zu rechtfertigen.

 

Näherinnen, Schneiderinnen, Modistinnen, Fabrikarbeiterinnen, in der Kopfzahl von Hunderttausenden, befinden sich in ähnlicher Lage. Arbeitgeber und ihre Beamte, Kaufleute, Gutsbesitzer usw. betrachten es häufig als eine Art Privilegium, weibliche Arbeiter und Bedienstete ihren Lüsten dienstbar zu sehen. Unsere frommen Konservativen lieben es, die Verhältnisse auf dem Lande in sittlicher Beziehung als eine Art Idylle gegenüber den Großstädten und Industriebezirken auszuspielen. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, daß sie das nicht sind. Das bestätigt auch ein Vortrag, den ein Rittergutsbesitzer im Herbst 1889 hielt, über den sächsische Blätter also berichteten:

 

"Grimma. Der Rittergutsbesitzer Dr. v. Wächter auf Röcknitz hat kürzlich in einer Diözesanversammlung, welche hierselbst stattfand, einen Vortrag gehalten über die geschlechtliche Unsittlichkeit in unseren Landgemeinden und dabei die hiesigen Verhältnisse nicht gerade rosig geschildert. Mit großer Offenheit erkannte der Vortragende bei dieser Gelegenheit an, daß vielfach auch die Arbeitgeber, selbst die verheirateten, mit ihrem weiblichen Gesinde in sehr intimen Beziehungen stehen, deren Folgen dann entweder durch Zahlung an Geld beglichen oder durch ein Verbrechen dem Auge der Welt entzogen würden. Leider dürfe man es sich nicht verhehlen, daß die Unsittlichkeit in den Landgemeinden nicht allein durch Mädchen, die als Ammen in der Stadt das Gift in sich aufgenommen haben, und durch Burschen, die es beim Militärdienst kennengelernt, großgezogen wurde, sondern daß leider auch durch die gebildeten Kreise, durch Verwalter auf den Rittergütern und durch Offiziere bei Gelegenheit der Truppenübungen die Sittenlosigkeit auch auf das Land hinausgetragen werde. Wie Herr Dr. v. Wächter mitteilte, soll es tatsächlich hier auf dem Lande nur wenig Mädchen geben, die 17 Jahre alt werden, ohne gefallen zu sein." Der offenherzige Vortragende hat seine Wahrheitsliebe mit einem gesellschaftlichen Boykott beantwortet bekommen, den die sich beleidigt fühlende Offizierswelt über ihn verhängte. Ähnlich erging es dem Pastor Wagner in Pritzerbe in der Mark, der in seiner Schrift "Die Sittlichkeit auf dem Lande" den Herren Großgrundbesitzern unangenehme Wahrheiten sagte .

 

Die Mehrzahl der Prostituierten wird diesem Gewerbe in einem Alter in die Arme getrieben, in dem sie kaum als urteilsfähig angesehen werden kann. "Von den in den Jahren 1878 bis 1887 in Paris arretierten heimlichen Prostituierten waren 12.615 = 46,7 Prozent minorenn, in den Jahren 1888 bis 1898 waren minorenn 14.072 = 48,8 Prozent. Eine ebenso lakonische wie traurige Zusammenfassung Le Pilleurs stellt für die Mehrzahl der Pariser Dirnen das Schema auf: defloriert mit 16 Jahren, prostituiert mit 17 Jahren, syphilitisch mit 18 Jahren . In Berlin fanden sich 1898 unter den 846 neu eingeschriebenen Prostituierten 229 Minderjährige, und zwar:

 

7 im Alter von 15 Jahren
21 im Alter von 16 Jahren
33 im Alter von 17 Jahren
59 im Alter von 18 Jahren
49 im Alter von 19 Jahren
66 im Alter von 20 Jahren

 

Im September 1894 spielte sich in Budapest eine Skandalaffäre ersten Ranges ab, bei der sich herausstellte, daß an 400 zwölf bis fünfzehn Jahre alte Mädchen einer Schar reicher Wüstlinge zum Opfer fielen. Auch die Söhne unserer "besitzenden und gebildeten Klassen" sehen es vielfach als ein ihnen zustehendes Recht an, die Töchter des Volkes zu verführen, und lassen sie dann im Stiche. Nur zu leicht fallen die leicht vertrauenden, lebens- und erfahrungsunkundigen, meist freud- und freundlosen Töchter des Volkes der Verführung zum Opfer, die sich ihnen in glänzender, einschmeichelnder Gestalt naht. Enttäuschungen und Jammer und schließlich Verbrechen sind die Folge. Unter 2.060.973 im Jahre 1907 in Deutschland geborenen Kindern waren 179.178 unehelich geboren. Man stelle sich das Maß von Sorge und Herzeleid vor, das einem großen Teil dieser Mütter die Geburt ihres unehelichen Kindes bereitet, auch wenn man annimmt, daß später ein Teil dieser Kinder durch ihre Väter legitimiert wird. Die Frauenselbstmorde und Kindermorde sind vielfach in der Not und dem Elend verlassener Frauen zu suchen. Die Gerichtsverhandlungen wegen Kindsmorden geben darüber ein düsteres, lehrreiches Bild. So wurde im Herbst 1894 vom Schwurgericht in Krems (Niederösterreich) ein junges Mädchen, das acht Tage nach seiner Entbindung aus der Entbindungsanstalt in Wien mit seinem Kinde mittellos auf die Straße gestellt worden war und dieses in seiner Verzweiflung tötete, zum Tode mit dem Strange verurteilt. Von dem Schuft von Vater vernahm man nichts. Und im Frühjahr 1899 wurde aus Posen gemeldet: "Unter der Anklage des Mordes stand am Montag die 22jährige Arbeiterin Katharina Gorbacki aus Alexanderruh bei Neustadt a. W. vor dem Schwurgericht zu Posen. Die Angeklagte war in den Jahren 1897 und 1898 bei dem Probst Merkel in Neustadt bedienstet. Aus dem intimen Umgang mit jenem genas sie im Juni vorigen Jahres eines Mädchens, das bei Verwandten in Pflege gegeben wurde. Der Probst zahlte die beiden ersten Monate je 7½ Mark Kostgeld für das Kind, wollte aber anscheinend weitere Aufwendungen nicht machen, wenigstens stellte es die Gorbacki so dar. Da diese für das Kind die Wäsche waschen mußte, auch Ausgaben hatte, beschloß sie, das Kind zu beseitigen. Eines Sonntags im September vorigen Jahres erstickte sie das Kind in einem Kissen. Die Geschworenen erklärten sie der vorsätzlichen Tötung ohne Überlegung für schuldig und billigten mildernde Umstände zu. Der Staatsanwalt beantragte die höchste Strafe von fünf Jahren Gefängnis. Der Gerichtshof erkannte wegen Totschlags auf drei Jahre Gefängnis." So greift das verführte, schmählich verlassene, in Verzweiflung und Schande hilflos gestoßene Weib zum Äußersten, es tötet seine Leibesfrucht, wird prozessiert und erhält Zuchthaus oder wird mit dem Tode bestraft. Der gewissenlose eigentliche Mörder – geht straflos aus, er heiratet vielleicht kurz darauf die Tochter einer "honetten, rechtschaffenen" Familie und wird ein sehr geehrter und frommer Mann. Es läuft mancher in Ehren und Würden umher, der in solcher Weise seine Ehre und sein Gewissen besudelte. Hätten die Frauen ein Wort in der Gesetzgebung mitzusprechen, in dieser Richtung würde manches anders. Offenbar werden viele Kindesmorde gar nicht entdeckt. Ende Juli 1899 wurde in Frankenthal a. Rh. ein Dienstmädchen unter Anklage gestellt, ihr neugeborenes uneheliches Kind im Rhein ertränkt zu haben. Die Staatsanwaltschaft forderte sämtliche Polizeibehörden von Ludwigshafen rheinabwärts bis an die holländische Grenze auf, zu berichten, ob innerhalb einer bestimmten Zeit eine Kindesleiche gelandet sei. Das überraschende Resultat dieser Aufforderung war, daß die Behörden in der betreffenden Zeit nicht weniger als 38 Kindesleichen, die aus dem Rhein gezogen worden waren, meldeten, deren Mütter aber bis dahin nicht ermittelt werden konnten.

 

Am grausamsten verfährt, wie schon erwähnt, die französische Gesetzgebung, welche die Frage nach der Vaterschaft verbietet, dafür aber die Findelhäuser gründete. Der bezügliche Beschluß des Konventes vom 28. Juni 1793 lautet: "La nation se charge de l'éducation physique et morale des enfants abandonnés. Désormais, ils seronts designés sous le seul nom d'orphelins. Aucune autre qualification ne sera permis." (Die physische und moralische Erziehung der verlassenen Kinder ist Sache der Nation. Sie werden von Stund an unter dem einzigen Namen Waisen bezeichnet werden. Keine andere Bezeichnung ist erlaubt.) Das war für die Männerwelt sehr bequem, die damit die Verpflichtung des einzelnen auf die Gesamtheit abwälzte, um ihn öffentlich und vor seiner Frau nicht bloßzustellen. Man errichtete Landeswaisen- und Findelhäuser. Die Zahl der Waisen und Findlinge belief sich im Jahre 1833 auf 130.945; jedes zehnte Kind wurde als ein eheliches geschätzt, das die Eltern los sein wollten. Aber diese Kinder empfingen keine besondere Pflege, und so war ihre Sterblichkeit sehr groß. Es starben zu jener Zeit im ersten Lebensjahr volle 59 Prozent, also über die Hälfte; bis zum zwölften Lebensjahr starben 78 Prozent, so daß von je 100 nur 22 ein Alter von zwölf Jahren erreichten. Anfangs der sechziger Jahre existierten noch 175 Findelhäuser, 1861 wurden daselbst 42.194 enfants trouvés (Findlinge) eingeliefert, dazu kam 26.156 enfants abandonnés (verlassene Kinder) und 9.716 Waisen, zusammen 78.066 Kinder, die auf öffentliche Kosten verpflegt wurden. Im Jahre 1905 waren 3.348 Findlinge verzeichnet. Die Zahl der verlassenen Kinder betrug 84.271. Im ganzen ist die Zahl der verlassenen Kinder in den letzten Dezennien kaum vermindert.

 

In Österreich und Italien wurden ebenfalls Findelhäuser gegründet, deren Unterhalt der Staat übernimmt. "Ici on fait mourir les enfants" (hier tötet man die Kinder) soll ein Monarch als passende Inschrift für die Findelhäuser empfohlen haben. Aber in Österreich verschwinden diese allmählich; es gibt gegenwärtig deren nur noch 8, in welchen selbst anfangs der neunziger Jahre über 9.000 Kinder verpflegt wurden, während über 30.000 außerhalb der Anstalt untergebracht waren. Der Aufwand für dieselben belief sich auf gegen zwei Millionen Gulden. In den letzten Jahren hat die Zahl der Findelkinder eine bedeutende Abnahme erfahren, denn noch im Jahre 1888 wurden in Österreich einschließlich Galiziens 40.865 Kinder verpflegt, von denen 10.466 in Anstalten, 30.399 in Privatpflege untergebracht waren und einen Aufwand von 1.817.372 Gulden erforderten. Die Sterblichkeit war in den Anstalten geringer als bei den in Privatpflege untergebrachten Kindern, namentlich in Galizien. Hier starben im Jahre 1888 in den Anstalten 31,25 Prozent der Kinder, mithin mehr als in den Anstalten der anderen Länder; aber in der Privatpflege starben 84,21 Prozent, ein wahrhafter Massenmord. Es scheint, als sehe es die polnische Schlachzizenwirtschaft darauf ab, diese armen Würmer möglichst rasch ums Leben zu bringen.

 

In ganz Italien wurden während der Jahre 1894 bis 1896 aufgenommen 118.531 Kinder. Jährlicher Durchschnitt 29.633: Knaben 58.901, Mädchen 59.630; unehelich 113.141, ehelich 5.390 (nur 5 Prozent). Wie groß die Sterblichkeit war, ist aus der folgenden Zusammenstellung ersichtlich :

 

                                                                         1890 – 1892  1893 – 1896  1897

 

Zahl der Kinder, welche aufgenommen werden                    91.549           109.899 26.661

 

Davon starben im ersten Lebensjahr                34.186           41.386           9.711

 

Dies gibt pro Hundert                                       37,3               37,6               36,4

 

Sterblichkeit der unehelichen Kinder in Italien 25,0               27,2               23,4

 

Sterblichkeit der ehelichen Kinder                   18,0               17,5               15,9

 

Den Rekord schoß das Findelhaus Santa Cosa dell'Annunziata in Neapel, in dem im Jahre 1896 von 853 Säuglingen 850 starben. Noch im Jahre 1907 nahmen die Findelhäuser 18.896 Kinder auf. Für die Jahre 1902 bis 1906 betrug die Sterblichkeit dieser unglücklichen Würmer 37,5 Prozent, das heißt mehr als ein Drittel der unterstützten Kinder stirbt innerhalb des ersten Lebensjahres .

 

Es ist überhaupt eine allgemein anerkannte Tatsache, daß die unehelich geborenen Kinder in weit höherem Prozentsatz sterben als die ehelich geborenen. Nach der preußischen Statistik starben von je 10.000 Lebendgeborenen:

 

                               1881 – 1885  1886 – 1890  1891 – 1895  1896 – 1900  1904

 

Eheliche       Stadt   211                210                203                195                179

 

                    Land   186                187                187                185                172

 

Uneheliche  Stadt   398                395                385                374                333

 

                    Land   319                332                336                336                306

 

"Es ist charakteristisch und für den engen Zusammenhang zwischen Prostitution und der traurigen Lage der Dienstboten und des ländlichen Gesindes ein entscheidender Beweis, daß von 94.779 unehelich Geborenen im Jahre 1906 nach dem Erwerbszweig ihrer Mütter beruflich zugehörig waren: zu den häuslichen Dienstboten 21.164, zu dem ländlichen Gesinde 18.869, also zusammen 40.033 oder 42 Prozent. Faßt man ländliches Gesinde und ländliche Taglöhnerinnen und Arbeiterinnen zusammen, so stellt sich deren Beteiligung auf 30 Prozent, während die Abhängigen in Industrie und Handwerk mit 14 Prozent (13.460) beteiligt sind" .

 

Die Differenz in den Todesfällen zwischen ehelichen und unehelichen Kindern macht sich namentlich im ersten Lebensmonat bemerkbar; in diesem ist durchschnittlich die Sterblichkeit der unehelich Geborenen dreimal so groß als die der ehelich Geborenen. Mangelnde Pflege während der Schwangerschaft, schwächliche Geburt und schlechte Pflege nach derselben sind die einfachen Ursachen. Die berüchtigte "Engelmacherei" und die Mißhandlungen helfen die Opfer vermehren. Auch die Zahl der totgeborenen Kinder ist bei den unehelich geborenen größer als bei den ehelichen, hauptsächlich wohl durch die Versuche eines Teiles der Mütter, schon während der Schwangerschaft den Tod des Kindes herbeizuführen. Dazu kommen noch die Kindesmorde, die sich der Kenntnis entziehen, weil das getötete Kind unter den Totgeborenen verborgen wird. "Den 205 Kindesmorden, welche die gerichtlichen Dokumente in Frankreich aufführen, sind sonach – meint Bertillon – noch wenigstens 1.500 angebliche Totgeburten hinzuzuzählen und 1.400 Fälle absichtlicher Tötung durch Aushungerung" .

 

Es kamen auf 100 Geborene Totgeborene:

 

                       In den Jahren  Ehelich   Unehelich

 

Deutschland    1891 – 1900   3,15        4,25

 

Preußen          1900 – 1902   3,02        4,41

 

Sachsen          1891 – 1900   3,31        4,24

 

Bayern            1891 – 1900   2,98        3,61

 

Württemberg   1891 – 1900   3,30        3,48

 

Baden             1891 – 1900   2,62        3,35

 

Österreich       1895 – 1900   2,64        3,86

 

Schweiz          1897 – 1903   3,40        6,14

 

Frankreich      1891 – 1895   4,40        7,54

 

Niederlande    1891 – 1900   4,38        8,13

 

Dänemark       1893 – 1894   2,40        3,20

 

Schweden       1891 – 1895   2,46        3,30

 

Norwegen       1891 – 1900   2,47        4,06

 

Finnland         1891 – 1900   2,54        4,43

 

Italien             1891 – 1896   3,89        5,16

 

Die Überlebenden rächen sich an der Gesellschaft für die ihnen widerfahrene Mißhandlung, indem sie einen ungewöhnlich großen Prozentsatz zu den Verbrechern aller Grade stellen.

 

5. Verbrechen gegen die Sittlichkeit und Geschlechtskrankheiten

 

Ein anderes Übel, das sich häufig zeigt, muß ebenfalls noch kurz berührt werden. Ein Übermaß geschlechtlicher Genüsse ist weit schädlicher als ein Zuwenig. Auch ein durch Übermaß mißhandelter Organismus geht zugrunde. Impotenz, Unfruchtbarkeit, Rückenmarksleiden, Blödsinn, geistige Schwäche und andere Krankheiten sind die Folge. Maßhalten im Geschlechtsverkehr ist ebenso nötig wie im Essen und Trinken und anderen menschlichen Bedürfnissen. Aber Maßhalten erscheint namentlich der im Überfluß lebenden Jugend schwer. Daher die große Zahl "jugendlicher Greise" in den höheren Gesellschaftschichten. Die Zahl junger und alter Roués ist groß, und sie haben, weil durch Übermaß abgestumpft und übersättigt, ein Bedürfnis nach besonderen Reizungen. Auch abgesehen von jenen, welchen die Liebe zum eigenen Geschlecht (die Homosexualität) angeboren ist, verfallen viele in die Widernatürlichkeiten des griechischen Zeitalters. Die Männerliebe ist viel weiter verbreitet, als sich die meisten von uns träumen lassen; darüber könnten die geheimen Akten mancher Polizeibureaus erschreckende Tatsachen veröffentlichen . Aber auch unter den Frauen leben die Widernatürlichkeiten des alten Griechenland in stärkerem Maße wieder auf. Die lesbische Liebe, der Sapphismus, soll unter den verheirateten Frauen in Paris ziemlich verbreitet sein und, nach Taxel, unter den vornehmen Pariser Damen sogar in enormem Maße. In Berlin soll ein Viertel der Prostituierten Tribadie treiben, aber auch in den Kreisen unserer vornehmen Frauenwelt fehlt es nicht an Jüngerinnen der Sappho.

 

Eine andere unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebs ist das Notzuchtsverbrechen an Kindern, die sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht haben. So wurden in Deutschland wegen Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit verurteilt im Jahre 1895 10.239, 1905 13.432, 1906 13.557 Personen. Darunter auf Grund des § 174 (unzüchtige Handlungen mit Kindern) im Jahre 1902 58, 1907 72 Personen, und auf Grund des § 176" Absatz 3 (unzüchtige Handlungen mit Personen unter 14 Jahren) im Jahre 1902 4.090, 1906 4.548, 1907 4.397. In Italien belief sich die Zahl der Verbrechen wider der Sittlichkeit 1887 bis 1889 auf 4.590, 1903 auf 8.461 oder 19,44 und 25,67 auf 100.000 Einwohner. Die gleiche Tatsache ist in Österreich konstatiert worden. "Das starke Emporschnellen der Sittlichkeitsdelikte im Zeitraum 1880 bis 1890 – sagt mit vollem Recht H. Herz – zeigt, daß die wirtschaftliche Struktur der Gegenwart mit der Erhöhung der Ledigkeitsziffer und ihrer Bedingtheit durch die Wanderungen im Lande nicht zum geringsten Teile die Ursache der schlechten moralischen Verhältnisse geworden ist" .

 

Die "liberalen Berufe", zu denen wesentlich Angehörige der höheren Klassen gehören, stellen in Deutschland zirka 5,6 Prozent zu den kriminellen Verbrechen, aber zu den Notzuchtsverbrechen an Kindern zirka 13 Prozent. Dieser Prozentsatz würde noch höher sein, hätte man in jenen Kreisen nicht reichliche Mittel, das Verbrechen zu verheimlichen. Die schreckenerregenden Enthüllungen, die in den Achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die "Pall Mall Gazette" über den Mißbrauch von Kindern in England brachte, zeigten, was für Zustände auf diesem Gebiet vorhanden sind.

 

Über die venerischen Krankheiten und ihre Zunahme geben die folgenden Zahlen Aufschluß über die in den Krankenhäusern des Deutschen Reiches zugegangenen Fälle venerischer Krankheiten:

 

                      Tripper   Syphilis

 

1877 – 1879  23.344   67.750

 

1880 – 1882  28.700   79.220

 

1883 – 1885  30.038   65.980

 

1886 – 1888  32.275   53.664

 

1889 – 1891  41.381   60.793

 

1892 – 1894  50.541   78.093

 

1895 – 1897  53.587   74.092

 

1898 – 1901  83.374   101.225

 

1902 – 1904  68.350   76.678

 

Wenn wir den durchschnittlichen Jahresbetrag nehmen so ist er im Zeitraum von 25 Jahren von 7.781 (Tripper) und 22.583 (Syphilis) auf 22.750 und 25.559 gestiegen. Die Bevölkerungszahl hat nur um 25 Prozent zugenommen, die Zahl der Tripperkranken aber um 182 und die Zahl der Syphilitiker um 19 Prozent!

 

Wir haben noch eine Statistik, die sich zwar nicht über viele Jahre erstreckt, sondern nur einen einzigen Tag herausgreift und angibt, wie viele Patienten am 30. April 1900 wegen Tripper, Schanker und Syphilis in ärztlicher Behandlung standen. Diese Statistik ist vom preußischen Kultusministerium veranlaßt. Ein Fragebogen war an sämtliche Ärzte Preußens gerichtet. Obwohl von diesen nur 63,5 Prozent geantwortet haben, ergab diese Anfrage, daß am 30. April 1900 in Preußen nahezu 41.000 Geschlechtskranke in ärztlicher Behandlung standen. 11.000 von diesen waren mit frischer Syphilis behaftet. In Berlin allein fanden sich an diesem Tage 11.600 Geschlechtskranke, darunter 3.000 frische Syphilitiker. Auf je 100.000 erwachsene Einwohner standen in ärztlicher Behandlung:

 

                                                                    Männer   Frauen

 

In Berlin                                                      1.419      457

 

In 17 Städten mit über 100.000 Einwohnern              999      279

 

In 42 Städten mit 30.000 bis 100.000 Einw.              584      176

 

In 47 Städten mit unter 30.000 Einwohnern               450      169

 

In den übrigen Städten und Landgemeinden              80        27

 

In ganz Deutschland                                    282         92

 

Im einzelnen sind von den Städten besonders stark belastet die Hafenstädte, die Städte mit Hochschulen, Garnison und Industrie, sowie Städte mit Handel und Industrie und Garnison. (Königsberg auf 100.000 2.152 Männer und 619 Frauen, Köln 1.309 und 402, Frankfurt a. M. 1.505 und 399.)

 

Was Berlin betrifft, so findet Blaschko, "daß in einer Großstadt wie Berlin alljährlich von 1.000 jungen Männern zwischen 20 und 30 Jahren fast 200, also beinahe der fünfte Teil an Tripper erkrankt und etwa 24 an frischer Syphilis. Nun beträgt aber die Zeit, während welcher die männliche Jugend der Gefahr einer geschlechtlichen Infektion ausgesetzt ist, länger als ein Jahr; sie beträgt für manche Bevölkerungsschichten fünf, für manche zehn Jahre und darüber. Ein junger Mann also wird nach fünfjährigem Zölibat einmal einen Tripper erwerben, in zehn Jahren zweimal. Nach vier bis fünf Jahren wurde jeder zehnte, nach acht bis zehn jeder fünfte junge Mann Syphilis akquirieren. Oder mit anderen Worten: von den Männern, die über dreißig Jahre alt in die Ehe treten, würde jeder zweimal Tripper gehabt haben und jeder vierte und fünfte syphilitisch sein. Das sind Zahlen; die unter der denkbar vorsichtigsten Berechnung gewonnen sind und die uns Ärzten, denen so manches vor der Welt verschwiegen gehaltene Unglück gebeichtet wird, nicht übertrieben vorkommen."

 

Die Resultate der Enquete vom 30. April 1900 finden ihre Bestätigung in einer ausführlichen Arbeit über diesen Gegenstand für die preußische Armee, die aus dem Jahre 1907 stammt und von dem Stabsarzt Dr. Schwiening verfaßt worden ist .

 

Es ergibt sich, daß die einzelnen Armeekorpsbezirke, die sich im großen ganzen – doch nicht immer vollständig – mit den Bezirken der Provinzen decken, alljährlich ungefähr immer dieselbe Quote an venerisch kranken Rekruten liefern. Einige Armeekorps aber zeichnen sich durch besonders hohe Ziffern aus. So zunächst das dritte, aus Brandenburg sich rekrutierende Korps. Es ist Berlin, dem im wesentlichen die Schuld an den 2 Prozent geschlechtskranken Rekruten beizumessen ist. Im neunten Korps wird Berlin durch Altona (Hamburg), im zwölften durch Dresden und im neunzehnten durch Leipzig ersetzt. Noch genauer geht die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in der Zivilbevölkerung hervor aus Schwienings Berechnung des auf die einzelnen Regierungsbezirke entfallenden Prozentsatzes venerischer Rekruten. Von 1.000 Eingestellten waren venerisch krank:

 

                                                                                                 1903   1904   1905

 

Berlin                                                                                       40,9    37,2    45,2

 

27 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern                            14,9    16,7    15,8

 

26 Städte mit 50.000 bis 100.000 Einwohnern                         11,6    9,6      9,5

 

33 Städte mit 25.000 bis 50.000 Einwohnern                           8,2      6,8      9,1

 

Städte mit weniger als 25.000 Einwohnern und Landgemeinden        4,3      5,0       4,0

 

Staat                                                                                         7,6      8,1      7,8

 

Den ersten Platz nimmt Schöneberg ein mit 58,4 venerisch kranken Rekruten von 1.000 Eingestellten. Für außerpreußische Großstädte stellte Hamburg von 1.000 Rekruten 29.8, Leipzig 29,4, Dresden 19, Chemnitz 17,8, München 16,4 geschlechtskrank ein.

 

Nach G. v. Mayr betrug der Jahreszugang an venerischen Krankheiten pro Tausend der durchschnittlichen Kopfstärke für 1903/04 in Preußen 19,6, in Österreich-Ungarn 60,3, in Frankreich 27,1, in Italien 85,2, in England 125, in Belgien 28,3, in den Niederlanden 31,4, in Rußland 40,5, in Dänemark 45. Besonders hoch ist der Krankenzugang an venerischen Krankheiten in der Marine: in der deutschen betrug er für 1905/06 an Bord im Ausland 113,6 pro Tausend, in den heimischen Gewässern 58,8, am Lande 57,8 und in der englischen im Jahre 1905 121,55, 1906 121,94.

 

Wir sehen also, wie infolge unserer sozialen Zustände Laster, Ausschweifungen, Vergehen und Verbrechen aller Art erzeugt werden und zunehmen. Die ganze Gesellschaft kommt in einen Zustand der Unruhe, unter dem die Frauen am meisten leiden.

 

Die Frauen fehlen dieses immer mehr und suchen Abhilfe. Sie verlangen in erster Linie ökonomische Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die Frau soll wie der Mann zu allen Tätigkeiten zugelassen werden, zu denen sich ihre Kräfte und Fähigkeiten eignen; sie verlangen insbesondere auch die Zulassung zu den mit dem Namen der "liberalen Berufe" bezeichneten Gewerben. Sind diese Bestrebungen berechtigt? Sind sie ausführbar? Helfen sie? Das sind die Fragen, deren Beantwortung sich aufdrängt.

 

Dreizehntes Kapitel - Die Erwerbsstellung der Frau

 

1. Entwicklung und Verbreitung der Frauenarbeit

 

Das Streben der Frau nach selbständigem Erwerb und persönlicher Unabhängigkeit wird bis zu einem gewissen Grade von der bürgerlichen Gesellschaft als berechtigt anerkannt, ähnlich wie das Bestreben der Arbeiter nach freier Bewegung. Der Hauptgrund für dieses Entgegenkommen liegt in dem Klasseninteresse der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie braucht die volle Freigabe der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte, um die Produktion aufs höchste entwickeln zu können. In dem Maße, wie Maschinerie und Technik sich vervollkommnen, der Arbeitsprozeß in immer mehr Einzelverrichtungen sich teilt und geringere technische Ausbildung und Kraft erfordert, andererseits die Konkurrenz der Industriellen untereinander und der Konkurrenzkampf ganzer Produktionsgebiete – Land gegen Land, Erdteil gegen Erdteil – sich steigert, wird die Arbeitskraft der Frau immer mehr gesucht.

 

Die speziellen Ursachen, die zu dieser stets steigenden Anwendung der Frau in einer stets steigenden Anzahl von Erwerbszweigen führen, sind schon oben ausführlicher dargelegt worden. Die Frau findet neben dem Manne oder an seiner Stelle auch immer häufiger Beschäftigung, weil ihre materiellen Forderungen geringer sind als jene des Mannes. Ein aus ihrer Natur als Geschlechtswesen hervorgehender Umstand zwingt sie, sich billiger anzubieten; sie ist durchschnittlich öfter als der Mann körperlichen Störungen unterworfen, die eine Unterbrechung der Arbeit herbeiführen und bei der Kombination und Organisation der Arbeitskräfte, die in der Großindustrie besteht, leicht Arbeitsunterbrechungen erzeugen. Schwangerschaft und Wochenbett verlängern solche Pausen . Der Unternehmer nutzt diesen Umstand aus und findet für die Unannehmlichkeiten, die er aus solchen Störungen hat, einen doppelten Ersatz in der Zahlung erheblich geringerer Löhne. Auch ist die Frau an den Ort ihres Aufenthaltes oder dessen nächste Umgebung gebunden; sie kann nicht, wie in den meisten Fällen der Männer, ihren Aufenthaltsort wechseln.

 

Weiter hat die Arbeit, namentlich der verheirateten Frauen – wie aus dem Zitat auf  aus Marx' "Kapital" zu ersehen ist –, noch ihren besonderen Anreiz für den Unternehmer. Als Arbeiterin ist die verheiratete Frau "viel aufmerksamer und gelehriger" als die unverheiratete; die Rücksicht auf ihre Kinder nötigt sie zur äußersten Anstrengung ihrer Kräfte, um den notwendigsten Lebensunterhalt zu erwerben, und so läßt sie sich manches bieten, was sich die unverheiratete Frau nicht bieten läßt und erst recht nicht der Arbeiter. Im allgemeinen wagt die Arbeiterin noch selten, sich mit ihren Arbeitsgenossen zur Erlangung besserer Arbeitsbedingungen zu verbinden. Auch das erhöht in den Augen des Unternehmers ihren Wert; oft bildet sie sogar in seinen Händen einen guten Trumpf gegen widerspenstige männliche Arbeiter; sie besitzt ferner größere Geduld, gewandtere Fingerfertigkeit, einen entwickelteren Geschmackssinn, Eigenschaften, die sie für eine Menge Arbeiten geschickter machen als den Mann.

 

Diese weiblichen Tugenden weiß der tugendhafte Kapitalist voll zu würdigen, und so findet die Frau mit der Entwicklung unserer Industrie von Jahr zu Jahr ein immer größeres Anwendungsgebiet, aber – und das ist das Entscheidende – ohne ihre soziale Lage merkbar zu verbessern. Wird weibliche Arbeitskraft angewandt, so setzt sie häufig männliche Arbeitskraft frei. Aber die verdrängte männliche Arbeitskraft will leben, sie bietet sich zu einem geringeren Lohn an, und dieses Angebot drückt wieder auf die Löhne der Arbeiterin. Das Herabdrücken des Lohnes wird zu einer Schraube, die durch die stets in der Umwälzung begriffene Technik des Arbeitsprozesses in Bewegung gesetzt wird, namentlich da dieser Umwälzungsprozeß auch weibliche Arbeiter, durch Ersparnis von Arbeitskräften, freisetzt, was abermals das Angebot von "Händen" vermehrt. Neu auftauchende Industriezweige wirken dieser beständigen Erzeugung von relativ überschüssiger Arbeitskraft einigermaßen entgegen, aber nicht stark genug, um dauernd bessere Arbeitsbedingungen zu erzielen. Wird doch in diesen Industrien, wie zum Beispiel in der elektrotechnischen, die männliche Arbeitskraft von der weiblichen verdrängt. So werden in der gesamten Kleinmotorenfabrik der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft die meisten Arbeitsmaschinen von Mädchen bedient. Jedes Steigen des Lohnes über ein gewisses Maß veranlaßt den Unternehmer, auf weitere Verbesserung seiner Maschinen zu sehen, die willenlose, automatische Maschine an Stelle von menschlichen Händen und menschlichem Hirn zu setzen. Im Beginn der kapitalistischen Produktion steht auf dem Arbeitsmarkt der männliche Arbeiter fast nur dem männlichen Arbeiter gegenüber, jetzt wird Geschlecht gegen Geschlecht und in der Reihe weiter Alter gegen Alter ausgespielt. Die Frau verdrängt den Mann, und die Frau wird wieder durch die Arbeit der jungen Leute und der Kinder verdrängt. Das ist die "sittliche Ordnung" in der modernen Industrie.

 

Dieser Zustand würde schließlich unerträglich, wirkte nicht die Macht der Organisation der Arbeiter in ihren Gewerkschaften demselben mit aller Macht entgegen. Diesen Organisationen sich anzuschließen, ist auch speziell für die Arbeiterin ein Gebot der Notwendigkeit, weil sie als einzelne noch weit weniger widerstandsfähig gegenüber dem Unternehmer ist als der Arbeiter. Allmählich begreifen das auch die Arbeiterinnen. So waren den freien Gewerkschaften angeschlossen in Deutschland 1892 4.355, 1899 19.280, 1900 22.884, 1905 74.411, 1907 136.929, 1908 138.443 . Im Jahre 1892 waren es nur 1,8 Prozent aller Mitglieder der Gewerkschaften, im Jahre 1908 7,6 Prozent. Nach dem fünften internationalen Bericht über die Gewerkschaftsbewegung betrug die Zahl der weiblichen Mitglieder in Großbritannien 201.709, Frankreich 88.906, Österreich 46.401.

 

Das Bestreben der Unternehmer, den Arbeitstag zu verlängern, um größeren Mehrwert aus ihren Arbeitern zu pumpen, wird durch die geringere Widerstandskraft der Arbeiterinnen erleichtert. Daher die Erscheinung, daß zum Beispiel in der Textilindustrie, in der die Frauen weit über die Hälfte der Gesamtzahl der Arbeitskräfte stellen, überall die Arbeitszeit am längsten ist, weshalb auch gerade hier der staatliche Schutz durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit einsetzen mußte. Durch die häusliche Tätigkeit daran gewöhnt, daß es für sie kein Zeitmaß für die Arbeit gibt, läßt sie die gesteigerten Anforderungen über sich ergehen, ohne Widerstand zu leisten.

 

In anderen Erwerbszweigen, wie der Putzmacherei, der Blumenfabrikation usw , verderben sie sich Löhne und Arbeitszeit dadurch, daß sie Extraarbeiten mit nach Hause nehmen und nicht beachten, daß sie dadurch nur sich selbst Konkurrenz machen und bei sechzehnstündiger Arbeitszeit nicht mehr verdienen, als sie bei geregelter zehnstündiger Arbeitszeit verdienen würden.

 

Welche Bedeutung die gewerbliche Beschäftigung des weiblichen Geschlechts in den verschiedenen Kulturstaaten erlangt hat, darüber gibt die folgende Tabelle Aufschluß. Sowohl in bezug auf die Erwerbstätigen nach dem Geschlecht als auch im Verhältnis zur Bevölkerung .

 

Die Erwerbstätigen unter der Bevölkerung

 

 

Dieselbe Tabelle zeigt ferner, daß die Zahl der erwerbstätigen Frauen in allen Kulturstaaten einen sehr erheblichen Prozentsatz von der Gesamtbevölkerung in Anspruch nimmt. In Österreich, Frankreich und Italien am meisten – vermutlich liegt dieses, insbesondere für Österreich und Italien, an der Art der Zählung, insofern nicht nur die in einem Hauptberuf beschäftigten, sondern auch die im Nebenberuf beschäftigten weiblichen Personen gezählt wurden –, in den Vereinigten Staaten am geringsten. Wichtig ist aber auch ein Vergleich über das Wachstum der erwerbstätigen Bevölkerung zu früheren Perioden. Nehmen wir zuerst Deutschland.

 

 

Die Tabelle ergibt, daß der Kreis der Erwerbstätigen weit über die Bevölkerungszunahme hinausgeht, daß das Zuströmen weiblicher Arbeitskräfte zur Erwerbsarbeit diesen Steigerungsgrad noch mehr überflügelt, daß die Zahl der männlichen erwerbstätigen Bevölkerung relativ stationär bleibt, indem die weibliche erwerbstätige Bevölkerung relativ und absolut wächst, daß die Frauenarbeit je weiter, desto mehr die männliche Arbeit verdrängt.

 

Die Zahl der Erwerbstätigen ist von 1882 bis 1895 um 16,6 Prozent und von 1895 bis 1907 um 19,34 Prozent gestiegen, und zwar die der erwerbstätigen Männer um 15,8 resp. 19,35 Prozent, die der erwerbstätigen Frauen aber um 18,7 Prozent von 1882 bis 1895 und um 44,44 Prozent von 1895 bis 1907! Da die Steigerung der Bevölkerung von 1882 bis 1895 nur 19.8 und von 1895 bis 1907 nur 19,34 Prozent betrug, so ist die Zahl der erwerbstätigen Personen überhaupt gewachsen, aber indem das Wachstum der Zahl der erwerbstätigen Männer relativ Schritt hielt mit dem Wachstum der Gesamtbevölkerung, ist die Zahl der weiblichen am stärksten gewachsen, was dafür spricht, daß der Kampf ums Dasein größere Anstrengungen als früher erfordert.

 

Seit 1882 bis 1895 und seit 1895 bis 1907 nahmen in Deutschland in der Gesamtbevölkerung zu (+) beziehungsweise ab (–):

 

Seit 1882 bis 1895                              Seit 1895 bis 1907

 

Die weiblichen Erwerbstätigen

 

+ 1.005.290 = 23,60 Prozent               + 2.979.105 = 56,59 Prozent

 

Die männlichen Erwerbstätigen

 

+ 2.133.577 = 15,95 Prozent               + 3.077.382 = 19,85 Prozent

 

Die weiblichen Dienenden

 

+ 31.543 = 2,46 Prozent             – 64.574 = 4,91 Prozent

 

Die männlichen Dienenden

 

17.151 = 40,35 Prozent              – 9.987 = 39,38 Prozent

 

Es kamen erwerbstätige Personen auf:

 

 

Es vermehrten beziehungsweise verminderten sich die erwerbstätigen Personen in der

 

 

 

Unter den erwerbstätigen Personen waren

 

 

Von den selbständigen Frauen kamen 1908 gegen 1895 auf

 

                                        1907       1895        

 

Industrie (Hausindustrie) 477.290  519.492  – 42.202 = 8,10 Prozent

 

Handel und Verkehr        246.641  202.616  + 44.025 = 21,77 Prozent

 

Landwirtschaft                 328.237  346.896  – 18.659 = 9,04 Prozent

 

 

Am stärksten waren die weiblichen Personen vertreten in der

 

                                                          1907          1895

 

Landwirtschaft                                   4.585.749  2.745.840

 

Bekleidung und Reinigung                 883.184     713.021

 

Handelsgewerbe                                545.177     299.829

 

Textilindustrie                                    528.235     427.961

 

Gast- und Schankwirtschaft               339.555     261.450

 

Nahrungs- und Genußmittelgewerbe  248.962     140.333

 

Metallverarbeitung                             73.039       36.210

 

Industrie der Steine und Erden           72.270       39.555

 

Papierindustrie                                   67.322       39.222

 

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe                  48.028       30.346

 

Erwerbszweige, in welchen die weiblichen Arbeiter in Deutschland an Zahl die männlichen erheblich übertreffen, sind hauptsächlich folgende:

 

                                                               Weiblich    Männlich

 

Landwirtschaft                                       4.217.132  2.737.768

 

Textilindustrie                                        466.210     390.312

 

Bekleidungsgewerbe                              403.879     303.264

 

Reinigungsgewerbe                                85.684       58.035

 

Gast- und Schankwirtschaft                   266.930     139.002

 

Häusliche Dienste                                  279.208     36.791

 

Gesundheitspflege und Krankenwartung                  129.197 78.520

 

Diese Zahlen geben ein klares Bild von dem Stande der Dinge in Deutschland. Obwohl der Kreis der Erwerbstätigen weit über die Bevölkerungszunahme hinausgeht, hat das Zuströmen weiblicher Arbeitskräfte zur Erwerbsarbeit diesen Steigerungsgrad noch mehr überflügelt. Die Beschäftigung der Frauen ist auf allen Gebieten im raschen Vordringen begriffen. Während die Zahl der männlichen erwerbstätigen Bevölkerung relativ stationär bleibt, wächst die weibliche erwerbstätige Bevölkerung relativ und absolut. Noch mehr. Die Zunahme des weiblichen Geschlechts bei den Erwerbstätigen trägt den Hauptanteil an der Steigerung des Anteils der Erwerbenden an der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der weiblichen Angehörigen an der weiblichen Volkszahl sank von 70,81 Prozent in 1895 auf 63,90 Prozent in 1907 herab. Die Frauenarbeit hat somit einen solchen Umfang, eine solche Bedeutung gewonnen, die die ganze lächerliche Hohlheit des Philistersprüchleins erweisen: die Frau gehört ins Haus.

 

In England wurden industriell beschäftigt:

 

           Insgesamt    Männliche   Weibliche   Von 100 Erwerbstätigen

 

                                                                    männliche    weibliche

 

1871   11.593.466  8.270.186    3.323.280  –                  –

 

1881   11.187.564  7.783.646    3.403.918  69,59           30,41

 

1891   12.751.995  8.883.254    4.016.230  68,09           31,91

 

1901   14.328.727  10.156.976  4.171.751  70,09           29,91

 

Innerhalb 30 Jahren stieg also die Zahl der beschäftigten männlichen Personen um 1.886.790 Köpfe = 22,8 Prozent, die Zahl der weiblichen um 848.471 = 25,5 Prozent. Besonders bemerkenswert ist die Tabelle, daß, obgleich im Jahre 1881, das ein Krisenjahr war, die Zahl der beschäftigten männlichen Personen im Vergleich zu 1871 um 486.540 Köpfe abnahm, die Zahl der weiblichen um 80.638 zunahm. Die relative Abnahme der weiblichen Arbeitskräfte im Jahre 1901 ist nur scheinbar, weil die Zahl für die Landwirtschaft nicht vergleichbar ist mit der entsprechenden Zahl in 1891, da die Mehrzahl der Frauen und Töchter der Pächter jetzt in der Gruppe der Berufslosen figurieren. Außerdem haben in den letzten zwanzig Jahren diejenigen Industrien besonders stark zugenommen, in welchen die männliche Arbeitskraft vorherrschend ist, dagegen ist die Textilindustrie relativ und von 1891 an auch absolut zurückgegangen:

 

                                                                    1881          1901          Zunahme
Prozent                                                        Darunter
weibliche

 

Industrie der Steine und Erden                    528.474     805.185     53             5.006

 

Metallverarbeitung und Maschinenindustrie                  812.915     1.228.504 52     61.233

 

Baugewerbe                                                 764.911     1.128.680  47             2.485

 

Textilindustrie                                             1.094.636  1.155.397  5               663.222

 

Trotzdem hat die Frauenarbeit wieder auf Kosten der männlichen Arbeitskraft zugenommen. Nur die Vermehrungsquote der Frauenarbeit, die von 1851 bis 1861 noch 12,6 Prozent und von 1871 bis 1881 7,6 Prozent betrug, hat sich von 1891 bis 1901 auf 1,8 Prozent vermindert. Im Jahre 1907 wurden in der Textilindustrie gezählt: 407.360 Arbeiter = 36,6 Prozent und 679.863 Arbeiterinnen = 63,4 Prozent.

 

Dagegen hat die Frauenarbeit in der Konfektionsindustrie und in dem Handelsgewerbe viel stärker zugenommen. Im weiteren zeigte sich aber auch, daß die jüngeren weiblichen Arbeitskräfte die älteren verdrängen. Und da die Frauen unter 25 Jahren meist unverheiratet, die älteren aber meist verheiratet beziehungsweise verwitwet sind, treten an Stelle von verheirateten oder verwitweten Frauen Mädchen.

 

Erwerbszweige, in welchen die weiblichen Arbeiter Englands an Zahl die männlichen erheblich übertrafen, waren hauptsächlich folgende:

 

                                                      Weiblich    Männlich

 

Häusliche Dienste                          1.690.686  124.263

 

Konfektionsindustrie                     711.786     414.637

 

Textilindustrie                                663.222     492.175

 

  darunter Baumwollindustrie         328.793     193.830

 

  darunter Woll- und Garnindustrie                  153.311         106.598

 

  darunter Hanf, Jute                      104.587     45.732

 

  darunter Seidenindustrie              22.589       8.966

 

  darunter Stickerei                         28.962       9.587

 

Die Bezahlung der Frauen ist in fast allen Branchen erheblich niedriger als jene der Männer bei gleicher Arbeitszeit. In der Textilindustrie betrug nach der neuesten Enquete der Durchschnittswochenverdienst in 1906 für Männer 28 Schilling 1 Penny (28,55 Mark) und für die Frauen nur 15 Schilling 5 Pence (15,66 Mark) . In der Fahrradindustrie, wo in der letzten Zeit, infolge Einführung des maschinellen Betriebs, die Frauenarbeit sich rasch entwickelt, bekommen die Frauen pro Woche nur 12 bis 18 Schilling, wo die Männer 30 bis 40 Schilling verdienten . Dieselbe Erscheinung begegnet uns in der Papierindustrie, in der Buchbinderei und in der Schuhwarenindustrie. Besonders schlecht wird bezahlt die Frauenarbeit in der Wäschekonfektion: 10 Schilling pro Woche ist schon ein guter Verdienst. "Im allgemeinen verdient eine Frau ein Drittel oder die Hälfte des Wochenlohnes eines Mannes" .

 

Ähnliche Unterschiede in der Bezahlung bestehen zwischen Männern und Frauen im Postdienst, im Lehrfach. Nur in der Baumwollindustrie in Lancashire verdienten beide Geschlechter bei gleicher Arbeitszeit fast die gleichen Löhne.

 

In den Vereinigten Staaten entwickelte sich die Frauenarbeit folgendermaßen:

 

 

Wir sehen hier, daß die Zahl der erwerbstätigen Frauen von 3.914.571 im Jahre 1890 auf 5.319.397 im Jahre 1900 gestiegen ist, also bedeutend schneller als die Gesamtbevölkerung, die sich von 1890 mit 62.622.250 bis 1900 mit 76.303.387 Köpfen nur um 21 Prozent vermehrt hat. Ebenso unaufhaltsam fällt relativ die Zahl der beschäftigten Männer, die von Frauen verdrängt werden. So kommen jetzt von 100 Erwerbstätigen auf Frauen 18,8, dagegen im Jahre 1880 nicht mehr als 14,7 Prozent.

 

Es gibt fast keinen Beruf, außer 9 (aus 312), in dem die Frauen nicht beschäftigt wären. Nach dem Zensus von 1900 gibt es unter ihnen sogar 5 Lotsen, 45 Lokomotivführer und Heizer, 185 Schmiede, 508 Maschinisten, 11 Bohrer, 8 Kesselschmiede. "Diese Zahlen haben selbstverständlich keine große soziologische Bedeutung. Sie beweisen nur, daß es sehr wenig Berufe gibt, von denen die Frauen absolut ausgeschlossen sind, sei es infolge ihrer Naturbeschaffenheit oder aus Rücksichten auf das Gesetz" .

 

Besonders stark sind die Frauen vertreten in folgenden Berufen: Dienstmädchen und Kellnerinnen 1.213.828, Frauenkleiderfabrikation 338.144, Landarbeiterinnen 497.886, Wäscherinnen 332.665, Lehrerinnen 327.905, Farmbesitzerinnen 307.788, Textilarbeiterinnen 231.458, Haushälterinnen 147.103, Verkäuferinnen 146.265, Näherinnen 138.724, Krankenwärterinnen und Hebammen 108.691, Unqualifizierte 106.916. In diesen zwölf Berufen sind gezählt 3.583.333 = 74,1 Prozent aller erwerbstätigen Frauen. Außerdem gibt es noch 85.086 Stenographinnen, 82.936 Hutarbeiterinnen, 81.000 Handlungsgehilfinnen, 72.896 Buchhalterinnen usw., zusammen in 19 Berufen mit mehr als 50.000 Frauen 4.293.894 = 88,8 Prozent aller erwerbstätigen Frauen.

 

Eine vorherrschende Stellung nehmen die Frauen in folgenden Berufen ein. Von 100 Erwerbstätigen kommen auf

 

                                                       Frauen   Männer

 

Wäschekonfektion                         99,4      0,6

 

Putzmacherei                                  98,0      2,0

 

Näher und Näherinnen                   96,8      3,2

 

Kragenfabrikation                          77,6      22,4

 

Wirkerei                                         72,8      27,2

 

Handschuhmacher                          62,6      37,4

 

Buchbinderei                                  50,5      49,5

 

Textilfabrikarbeiter                         50,0      50,0

 

Haushalter                                      94,7      5,3

 

Krankendienst                                89,9      10,1

 

Waschanstalten                               86,8      13,2

 

Dienstpersonal                                81,9      18,1

 

Zimmervermieter                            83,4      16,6

 

Stenographen                                  76,7      23,3

 

Lehrer und Lehrerinnen                  73,4      26,6

 

Musiklehrer und Musiklehrerinnen 56,9      43,1

 

Von 4.833.630 erwerbstätigen Frauen, die im Alter von 16 und mehr Jahren standen, waren 3.143.712 ledig, 769.477 verheiratet, 857.005 verwitwet, 63.436 geschieden.

 

"Die Zunahme im Prozentverhältnis der Erwerbstätigen", sagt der amerikanische Bericht, "war am stärksten für die verheirateten Frauen, da dieses Prozentverhältnis 1900 um ein Viertel größer war als 1890. 1890 war nur eine Frau auf 22 erwerbstätig, 1900 eine auf 18."

 

Sehr groß ist, relativ und absolut, die Zahl der verwitweten und geschiedenen Frauen. Von 2.721.438 verwitweten Frauen waren 1900 erwerbstätig 857.005 = 31,5 Prozent, und noch größer war das Verhältnis in der Gruppe der geschiedenen Frauen. Von 114.935 waren erwerbstätig im Jahre 1900 55,3 Prozent, 1890 49 Prozent. So werden mit jedem Jahr mehr und mehr Frauen auf sich gestellt.

 

Von 303 Berufen, in denen die Frauen beschäftigt sind, gibt es

 

79   mit weniger als                 100 Frauen

 

59   mit weniger als            100 bis      500 Frauen

 

31   mit weniger als            500 bis      1.000 Frauen

 

125 mit mehr als                1.000 Frauen

 

63   mit mehr als                5.000 Frauen

 

Von 100 beschäftigten Personen im Alter von 16 Jahren und mehr bekommen:

 

Männer                                               Frauen

 

Weniger als         7 Doll.        18,0     Weniger als    7 Doll.  66,3

 

7 bis                    9 Doll.        15,4     7 bis               9 Doll.  19,6

 

9 bis                    20 Doll.      60,6     9 bis               15 Doll.            13,2

 

20 bis                  25 Doll.      4,8       15 bis             20 Doll.            0,8

 

Mehr als              25 Doll.      2,0       20 bis             25 Doll.            0,1

 

Durchschnittswochenlohn 11,16 Dollar                                 6,17 Doll.       

 

Wir sehen, daß 60,6 Prozent aller Männer mehr als 9 Dollar bekommen, dagegen nur 14,1 Prozent der Arbeiterinnen mehr als 9 und mehr als zwei Drittel (66,3 Prozent) weniger als 7 Dollar . Der Durchschnittswochenlohn beträgt für Männer 11,16 Dollar, für Frauen 6,17, also beinahe zweimal weniger.

 

Der Unterschied ist ebenso groß in der Beamtenwelt. Von 185.874 Zivilbeamten wurden gezählt 172.053 männliche = 92,6 Prozent und 13.821 weibliche = 7,4 Prozent. In Kolumbia, wo der Sitz der Zentralverwaltung sich befindet, steigt das Prozentverhältnis der Frauenarbeit bis 29 Prozent. Und doch bekommen weniger als 720 Dollar 47,2 Prozent aller Frauen, dagegen nur 16,7 Prozent der Männer .

 

In Frankreich betrug nach dem Zensus von 1901 die erwerbstätige Bevölkerung 19.715.075, darunter 12.910.565 Männer und 6.804.510 Frauen. Auf einzelne Berufe verteilen sie sich wie folgt:

 

                              Männliche  Proz.   Weibliche   Proz.

 

Landwirtschaft       5.517.617   72       2.658.952  28

 

Handel                   1.132.621   65       689.999     35

 

Häusliche Dienste  223.861      23       791.176     77

 

Freie Berufe           226.561      67       173.278     33

 

Industrie                 3.695.213   63,5    2.124.642  36,5

 

"Die weibliche Arbeiterbevölkerung beträgt also die Hälfte der männlichen Arbeiterbevölkerung" .

 

So wie in allen anderen Ländern ist das Prozentverhältnis am kleinsten in allen Berufen, die eine große physische Kraft fordern. (Im Bergbau 2,03 Frauen auf 100 Männer, in Steinbrüchen 1,65, in der Metallurgie 1,06.) Dahingegen ist der Anteil der Frauen am stärksten in der Textilindustrie – 116 Frauen auf 100 Männer, in der Konfektionsindustrie, in den Wäscheanstalten 1.247, in der Wäschekonfektion 3.286 .

 

Im allgemeinen, wie es Frau C. Milhaud konstatiert, ist der Zustrom der Frauen am stärksten in jenen Industrien, wo die Arbeitszeit extra lang ist und der Lohn am niedrigsten. "Eine traurige Tatsache: währenddem die Industrien mit kurzer Arbeitszeit nur einige tausend Frauen beschäftigen, sind in den Gewerben mit langer Arbeitszeit Hunderttausende beschäftigt" .

 

Was den Arbeitslohn betrifft, so sagt der bürgerliche E. Levasseur, daß fast in allen Fällen der Arbeitslohn der Frauen nur sehr selten bis zu zwei Dritteln des Lohnes der männlichen Arbeiter steigt und viel öfter die Hälfte beträgt .

 

2. Die Fabrikarbeit der verheirateten Frauen. Hausindustrie und gesundheitsgefährliche Industrien

 

Es ist ein sehr hoher Prozentsatz, den die verheirateten Arbeiterinnen unter den Arbeiterinnen überhaupt bilden, ein für das Familienleben der Arbeiter sehr bedenklicher Zustand, und die Zahl der beschäftigten verheirateten Frauen wird stetig größer. Die deutschen Gewerbeinspektoren hatten für das Jahr 1899 den Auftrag, über die Dauer der Arbeit und die Gründe, die verheiratete Frauen zur gewerblichen Arbeit veranlassen, Erhebungen zu veranstalten .

 

Hiernach sind insgesamt 229.334 Frauen als in Fabriken tätig ermittelt worden. Außerdem wurden im Betrieb von Bergwerken nach den Berichten der preußischen Bergbehörden 1.063 Frauen über Tage beschäftigt. In Baden stieg in den der Gewerbeinspektion unterstellten Betrieben die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen im Zeitraum von 1894 bis 1899 von 10.878 = 27,05 Prozent auf 15.046 = 31,27 Prozent sämtlicher erwachsener Arbeiterinnen.

 

In welchem Umfang die Hauptindustriezweige an der ermittelten Summe von 229.334 beteiligt sind, geht aus der folgenden Zusammenstellung hervor:

 

Textilindustrie                                          111.194

 

Industrie der Nahrungs- und Genußmittel      39.080

 

Industrie der Steine und Erden                 19.475

 

Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe     13.156

 

Papierindustrie                                         11.049

 

Metallverarbeitung                                   10.739

 

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe      5.635

 

Polygraphische Gewerbe                         4.770

 

Maschinenindustrie                                  4.493

 

Chemische Industrie                                4.380

 

Andere                                                     5.363

 

Zusammen                                               229.334

 

Nächst der Textilindustrie wird die starke Beteiligung der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel hervorgehoben, in welcher vor allem die Zigarren- und Tabakfabrikation zahlreichen Frauen Beschäftigung gibt. Dann folgen die Papierindustrie, insbesondere die Lumpensortieranstalten, und Ziegeleien. "Die Frauen werden vorwiegend in anstrengenden Berufen (Steinbrüchen, Ziegeleien, Färbereien, chemischen Fabriken, Zuckerfabriken usw.) mit schwerer, oft unsauberer Arbeit beschäftigt, während sich die jüngeren Arbeiterinnen unter 21 Jahren in Porzellanfabriken, Spinnereien, Webereien, Papierfabriken, Zigarrenfabriken und Bekleidungsgewerbe finden. Für die schlechteste, von anderen gemiedene Arbeit sind nur die älteren Arbeiterinnen, und besonders verheiratete, zu haben" .

 

Unter den vielen Äußerungen über die Gründe und Ursachen der Verbreitung der Arbeit der verheirateten beziehungsweise geschiedenen und verwitweten Frauen seien einige wenige erwähnt. Im Bezirk Potsdam wurde als Grund für die Fabrikbeschäftigung von den Frauen sehr häufig die Unzulänglichkeit des Verdienstes des Mannes angegeben. In Berlin behaupteten nach den Bericht zweier Inspektoren 53,62 Prozent der mitverdienenden Frauen, daß der Verdienst der Ernährer unzulänglich sei. Ganz ähnlich äußern sich die Aufsichtsbeamten der Bezirke Westpreußen, Frankfurt a. O., Mittelfranken, Württemberg II, Unterelsaß usw. Der Magdeburger Beamte gibt denselben Grund für die Mehrzahl der beschäftigten Frauen an; andere müßten aber auch arbeiten, weil der Mann für sich zu viel verbrauche oder liederlich sei. Andere Frauen arbeiteten wieder aus Gewohnheit und weil sie für den Beruf der Frau nicht erzogen seien. Zugegeben, daß für einen kleinen Teil der Fälle solche Gründe gelten, die große Mehrzahl arbeitet, weil sie muß. Das hat auch die Gewerkschaft der Holzarbeiter in Stuttgart konstatiert anläßlich einer Enquete im Jahre 1900. Der Beamte für Unterelsaß konstatiert, daß der Hauptgrund für die Ehefrauenarbeit in der modernen Kultur, den Verkehrsmitteln und dem durch den unbeschränkten Wettbetrieb geschaffenen Verlangen der Industrie nach billigen Arbeitskräften zu suchen sei. Auch werde die verheiratete Frau gern beschäftigt, weil bei ihr eine größere Zuverlässigkeit und Stetigkeit im Arbeitsverhältnis vorhanden sei. Der badische Fabrikinspektor (Dr. Wörishoffer) sagt:

 

"Vor allem aber sind es die niedrigen Löhne der Arbeiterinnen, die ihre Verwendung den Arbeitgebern überall erwünscht scheinen lassen, wo sie stattfinden kann. Genügender Beweis hierfür ist, daß die Löhne in den Industriezweigen am niedrigsten sind, in denen Arbeiterinnen in größerer Zahl verwendet werden.... In diesen Industriezweigen bewirkt daher die Möglichkeit, weibliche Arbeiter in großem Umfang zu beschäftigen, in den Arbeiterfamilien die Notwendigkeit, sie auch tatsächlich eintreten zu lassen."

 

Der Koblenzer Beamte äußert: "Die Frauen sind allgemein zuverlässiger und arbeiten fleißiger als junge Mädchen. Jüngere Arbeiterinnen haben durchgängig eine Abneigung gegen unsaubere und unangenehme Arbeiten, welche infolgedessen mit Vorliebe den anspruchsloseren Frauen überlassen bleiben. So müssen zum Beispiel die Lumpensortierereien vielfach Frauen beschäftigen" .

 

Was die Arbeitslöhne betrifft, so ist es eine bekannte Tatsache, daß allgemein Frauenarbeit schlechter bezahlt wird als Männerarbeit, auch dort, wo sie das gleiche leistet. Darin unterscheidet sich der Privatunternehmer weder vom Staat noch von der Gemeinde. Frauen im Eisenbahn- und Postdienst erhalten weniger als Männer für die gleiche Arbeit; Lehrerinnen bezahlt jede Gemeinde schlechter als Lehrer. Gründe dafür sind: die Frau ist bedürfnisloser und vor allen Dingen hilfloser; ihr Erwerb ist in sehr vielen Fällen nur eine Ergänzung zu dem Einkommen des Gatten oder des Vaters als des eigentlichen Ernährers; der dilettantische, provisorische und zufällige Charakter der Frauenarbeit; die große industrielle Reservearmee der Arbeiterinnen und daher ihre geringere Widerstandsfähigkeit; der "unlautere Wettbewerb" des sogenannten "Mittelstandes" in der Schneiderei, Putzmacherei, Blumen- und Papierindustrie; die Frau ist auch in der Regel an ihren Wohnort gebunden. Daher währt die Arbeitszeit der Frauen am längsten, wenn nicht die Gesetzgebung schützend eingreift.

 

In einer Untersuchung über die Löhne der Fabrikarbeiter in Mannheim im Jahre 1893 teilte der verstorbene Dr. Wörishoffer den wöchentlichen Arbeitsverdienst in drei Klassen ein : Die unterste Klasse umfaßte den Wochenlohn bis zu 15 Mark, die mittlere von 15 bis 24 Mark und die hohe über 24 Mark.

 

Hiernach ergaben die Löhne folgendes Bild. Es erhielten Löhne:

 

 

Die Arbeiterinnen verdienten zum größten Teil wahre Hungerlöhne, denn es erhielten:

 

                                                             %

 

Einen Wochenlohn unter                       5 Mark          4,62

 

Einen Wochenlohn von 5 bis  6 Mark  5,47

 

Einen Wochenlohn von 6 bis  8 Mark  43,96

 

Einen Wochenlohn von 8 bis  10 Mark          27,45

 

Einen Wochenlohn von 10 bis              12 Mark        12,38

 

Einen Wochenlohn von 12 bis              15 Mark        5,38

 

Der Rest über                           15 Mark          0,74

 

Nach den Ergebnissen einer Umfrage, die von der Berliner Gewerbeinspektion veranstaltet war, betrug der durchschnittliche Wochenlohn der Arbeiterinnen 11,36 Mark. Unter 6 Mark erhielten 4,3 Prozent, 6 bis 8 Mark 7,8 Prozent, über 12 bis 15 Mark 27,6 Prozent, über 15 bis 20 Mark 11,1 Prozent, über 20 bis 30 Mark 1,1 Prozent. Die meisten Löhne liegen zwischen 8 und 15 Mark (75,7 Prozent). In Karlsruhe beläuft sich der durchschnittliche Wochenverdienst sämtlicher Arbeiterinnen auf 10,02 Mark .

 

Am elendesten ist die Bezahlung der Arbeiter in der Hausindustrie, und zwar sowohl die der Männer wie der Frauen, aber für die Frauen ist sie noch erbärmlicher. Dabei ist die Arbeitszeit ohne Grenze und maßlos in der Saison. Auch ist vielfach in der Hausindustrie das Schwitzsystem in Übung, das heißt die Arbeit wird durch Mittelspersonen an die Arbeiter vergeben, wofür die Mittelsperson – Faktor, Meister usw. – einen erheblichen Teil des vom Unternehmer gezahlten Lohnes als Entschädigung für Mühewaltung beansprucht.

 

Wie erbärmlich weibliche Arbeit in der Hausindustrie bezahlt wird, zeigen folgende Angaben über Berliner Verhältnisse. Bunte Männerhemden (Barchenthemden), die 1889 pro Dutzend noch mit 2 bis 2,50 Mark bezahlt wurden, bekam der Unternehmer 1893 für 1,20 Mark geliefert. Eine Näherin mittlerer Qualität muß von früh bis spät arbeiten, will sie pro Tag 6 bis 8 Stück Hemden fertigstellen; der Verdienst pro Woche beträgt 4 bis 5 Mark. Eine Schürzenarbeiterin verdient 2,50 bis 5 Mark pro Woche, eine Krawattennäherin 5 bis 6 Mark, eine geschickte Blusennäherin 6 Mark, eine sehr tüchtige Arbeiterin auf Knabenanzüge 8 bis 9 Mark, eine geübte Jackettarbeiterin 5 bis 6 Mark. Eine sehr geübte Näherin auf feine Oberhemden kann bei flotter Saison und wenn sie von früh 5 Uhr bis abends 10 Uhr arbeitet, 12 Mark verdienen. Putzarbeiterinnen, die selbständig Modelle kopieren können, verdienen pro Monat 30 Mark, flotte Garniererinnen, die schon jahrelang tätig sind, verdienen während der Saison pro Monat 50 bis 60 Mark. Die Saison nimmt im ganzen fünf Monate in Anspruch. Eine Schirmmacherin verdient bei zwölfstündiger Arbeit wöchentlich 6 bis 7 Mark. Solche Hungerlöhne zwingen die Arbeiterinnen zur Prostitution, denn unter den bescheidensten Ansprüchen kann in Berlin keine Arbeiterin die Woche unter 9 bis 10 Mark existieren.

 

Die angeführten Tatsachen zeigen, daß die Frau durch die moderne Entwicklung mehr und mehr dem Familienleben und der Häuslichkeit entrissen wird. Ehe und Familie werden untergraben und aufgelöst, und so ist es auch vom Standpunkt dieser Tatsachen aus absurd, die Frau auf die Häuslichkeit und die Familie zu verweisen. Das kann nur der tun, der gedankenlos in den Tag lebt, die Dinge, die sich um ihn herum entwickeln, nicht sieht oder nicht sehen will.

 

In einer großen Anzahl von Industriezweigen sind weibliche Arbeiter ausschließlich beschäftigt, in einer größeren Anzahl bilden sie die Mehrheit, und in den meisten der übrigen Arbeitszweige sind Arbeiterinnen mehr oder weniger zahlreich beschäftigt, ihre Zahl wird immer größer, und sie dringen in immer neue Berufszweige ein.

 

Durch die deutsche Gewerbeordnungsnovelle vom Jahre 1891 war für die Beschäftigung von erwachsenen Arbeiterinnen in Fabriken eine Normalarbeitszeit von elf Stunden täglich festgesetzt worden, die aber durch eine Menge Ausnahmen, welche die Behörden zulassen konnten, oft durchbrochen wurde. Die Nachtarbeit der Arbeiterinnen in Fabriken wurde auch verboten, doch konnte auch hier der Bundesrat Ausnahmen für Fabriken mit ununterbrochenem Betrieb oder für bestimmte Saisonbetriebe (zum Beispiel Zuckerfabriken) zulassen. Nur nachdem die internationale Berner Konvention vom 26. September 1906 die Einführung einer elfstündigen Nachtruhe (für Fabriken) vorschreibt, nachdem jahrelang die Sozialdemokratie energisch die Forderungen des Verbots der gewerblichen Nachtarbeit der Frauen und der Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit bis auf acht Stunden befürwortet hat, geben endlich nach langem Widerstand Regierung und bürgerliche Parteien nach. Dann wurde aus der in der Kommission steckengebliebenen umfassenden Novelle zur Gewerbeordnung das Stück herausgegriffen, das sich auf die Regelung der Frauenarbeit bezieht. Außer dieser Bestimmung war in dem Gesetz vom 28. Dezember 1908 eine zehnstündige Maximalarbeitszeit für Frauen vorgesehen in allen Betrieben, in de nen mindestens zehn Arbeiter beschäftigt sind. An Vorabenden der Sonn- und Feiertage darf die Dauer acht Stunden nicht überschreiten. Arbeiterinnen dürfen vor und nach ihrer Niederkunft im ganzen während acht Wochen nicht beschäftigt werden. Ihr Wiedereintritt ist an den Ausweis geknüpft, daß seit ihrer Niederkunft wenigstens sechs Wochen verflossen sind. Arbeiterinnen dürfen weiter nicht in Kokereien und nicht zum Transport von Materialien bei Bauten aller Art verwendet werden. Trotz des energischen Widerstandes der Sozialdemokratie wurde ein Antrag angenommen, daß die höheren Verwaltungsbehörden die Überarbeit für fünfzig Tage gestatten können.

 

Besondere Beachtung verdient § 137a, der den ersten Eingriff in die Ausbeutung durch Heimarbeit bildet. Diese Bestimmung lautet: "Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern darf für die Tage, an welchen sie in dem Betrieb die gesetzlich zulässige Arbeit hindurch beschäftigt waren, Arbeit zur Verrichtung außerhalb des Betriebs vom Arbeitgeber überhaupt nicht übertragen oder für Rechnung Dritter überwiesen werden." Ungeachtet seiner Mängel bedeutet das neue Gesetz immerhin einen Fortschritt gegenüber dem gegenwärtigen Zustand.

 

Die immer stärkere Heranziehung der Frau zu industrieller Beschäftigung trifft aber nicht nur jene Beschäftigungsarten, für die sie sich entsprechend ihrer schwächeren physischen Kraft eignet, sondern alle Tätigkeiten, in welchen das Ausbeutertum aus ihrer Anwendung höheren Profit schlagen kann. Dazu gehören sowohl die anstrengendsten wie die unangenehmsten und für die Gesundheit gefährlichsten Tätigkeiten, und so wird auch hierdurch jene phantastische Auffassung auf ihre wahre Bedeutung reduziert, die in der Frau nur das zarte, fein besaitete Wesen sieht, wie es vielfach Dichter und Romanschreiber für den Kitzel des Mannes schildern.

 

Tatsachen sind halsstarrige Dinger, und wir haben es nur mit Tatsachen zu tun, denn diese bewahren uns vor falschen Schlüssen und sentimentalen Faseleien. Die Tatsachen aber lehren uns, wie wir schon wissen, daß unter anderem die Frauen beschäftigt werden: in der Textilindustrie, in der chemischen Industrie, in der Metallverarbeitungsindustrie, in der Papierindustrie, in der Maschinenindustrie, in der Holzindustrie, in der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel, im Bergbau über Tage – in Belgien auch beim Bergbau unter Tage, sobald die Arbeiterin das 21. Lebensjahr überschritten hat. Ferner auf dem weiten Gebiet des Garten- und Feldbaus und der Viehzucht und den damit zusammenhängenden Industrien, endlich in den verschiedenen Erwerbszweigen, in denen sie schon seit langem, gewissermaßen als Privilegierte, ausschließlich zu tun hatten: bei dem Herstellen der Wäsche und der Frauenkleider, in den verschiedenen Zweigen des Modefachs, in der Stellung als Verkäuferinnen, Kontoristinnen, Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen aller Art usw. Zehntausende von Frauen des kleinen Mittelstandes sind als Ladensklavinnen in Verwendung und im Marktwesen tätig und sind damit fast jeder häuslichen Tätigkeit und namentlich der Kindererziehung entzogen. Endlich finden jüngere, und namentlich hübsche, Frauen immer mehr Verwendung, zum höchsten Nachteil ihrer ganzen Persönlichkeit, in öffentlichen Lokalen aller Art als Bedienungspersonal, Sängerinnen, Tänzerinnen usw., zur Anlockung der genußgierigen Männerwelt, ein Gebiet, auf dem die scheußlichsten Mißstände herrschen und das weiße Sklavenhaltertum die wüstesten Orgien feiert.

 

Unter den angeführten Beschäftigungen gibt es viele von der höchsten Gefährlichkeit. So ist die Gefahr der Einwirkung von schwefligsauren und alkalischen Gasen in hohem Grade vorhanden in der Strohhutfabrikation und den Strohhutwäschereien; die Gefahr der Einatmung von Chlordämpfen bei dem Bleichen pflanzlicher Stoffe; Vergiftungsgefahren gibt es in der Buntpapier- und bunten Oblaten- und Blumenfabrikation, bei der Herstellung der Metachromotypie, der Gifte und Chemikalien, dem Bemalen von Bleisoldaten und bleiernen Spielwaren. Das Belegen der Spiegel mit Quecksilber ist für die Leibesfrucht der Schwangeren geradezu tödlich.

 

Wenn von den lebendgeborenen Kindern im preußischen Staate durchschnittlich 22 Prozent während des ersten Lebensjahres gestorben sind, so, nach Dr. Hirt, von den lebendgeborenen Kindern der Spiegelbelegerinnen 65 Prozent, der Glasschleiferinnen 55 Prozent, der Bleiarbeiterinnen 40 Prozent. Im Jahre 1890 wurden von 78 Wöchnerinnen, die in den Schriftgießereien des Regierungsbezirks Wiesbaden tätig gewesen waren, nur 37 normal entbunden. Nach Dr. Hirt ist von der zweiten Hälfte der Schwangerschaft an besonders gefährlich die Tätigkeit bei der Fabrikation von buntem Papier und von künstlichen Blumen, das sogenannte Einstäuben der Brüsseler Spitzen mit Bleiweiß, die Herstellung von Abziehbildern, das Belegen von Spiegeln, die Kautschukindustrie und alle Fabrikbetriebe, in denen die Arbeiterinnen der Einatmung schädlicher Gase – Kohlenoxydgas, Kohlensäure und Schwefelwasserstoffgas – ausgesetzt sind. Höchst gefährlich ist auch die Phosphorzündholzfabrikation und die Beschäftigung am Shoddywolfe. Nach den Mitteilungen des badischen Gewerbeinspektors für das Jahr 1893 stieg die jährliche Durchschnittszahl der vorzeitigen Geburten bei erwerbstätigen Frauen von 1039 in den Jahren von 1882 bis 1886 auf 1.244 in den Jahren 1887 bis 1891. Die Zahl der Geburten, denen eine Operation vorhergehen mußte, betrug im Jahresdurchschnitt von 1882 bis 1886 1.118, von 1887 bis 1891 aber 1.385. Noch viel bedenklichere Tatsachen würden zutage treten, fänden ähnliche Untersuchungen überall in Deutschland statt. In der Regel begnügen sich aber die Gewerbeinspektoren in ihren Berichten mit der Bemerkung: "Besondere Nachteile bei der Beschäftigung von Frauen in Fabriken wurden nicht beobachtet." Wie sollten sie dieselben auch bei ihren kurzen Besuchen und ohne ärztliche Gutachten zu Rate zu ziehen, beobachten? Daß ferner große Gefahren für das Leben und die Gliedmaßnahmen vorhanden sind, besonders in der Textilindustrie, in der Zündwarenfabrikation und der Beschäftigung bei landwirtschaftlichen Maschinen, ist festgestellt. Außerdem gehört eine Menge der angeführten Arbeiten zu den schwersten und anstrengendsten, selbst für Männer, das sagt uns ein Blick auf die sehr unvollständige Liste. Man sage nur immer, diese und jene Beschäftigung ist der Frau unwürdig, was hilft's, wenn man ihr nicht eine andere, entsprechendere Tätigkeit zuweisen kann.

 

Als Industriezweige oder als Manipulationen in Industriezweigen, in denen junge Mädchen gar nicht beschäftigt werden sollten, wegen Gefahr für ihre Gesundheit, speziell wegen der Schädlichkeit für ihre sexuellen Funktionen, bezeichnet Dr. Hirt : Herstellung von Bronzefarben, Samtpapier und Schmirgelpapier, Fachen (Hutmacherei), Schleifen (von Glassachen), Abfegen der Bronze von den Steinen (Lithographie), Flachshecheln, Roßhaarzupfen, Barchentraufen, Verzinnen von Eisenblech, Arbeiten an der Flachsmühle und am Shoddywolfe.

 

In folgenden Beschäftigungen sollten junge Mädchen nur Anwendung finden dürfen, wenn die nötigen Schutzmaßregeln (Ventilationsanlagen usw.) vorhanden und geprüft sind: Bei der Herstellung von Papiertapeten, Porzellan, Bleistiften, Bleischrot, ätherischen Ölen, Alaun, Blutlaugensalz, Brom, Chinin, Soda, Paraffin und Ultramarin, (giftigen) bunten Papieren, (gifthaltigen) Oblaten, Metachromotypien, Phosphorzündhölzern , Schweinfurter Grün und künstliche Blumen. Ferner mit dem Schneiden und Sortieren von Lumpen, mit dem Sortieren und Mahlen von Tabakblättern, dem Baumwolleschlagen, Wolle- und Seidenhaspeln, Bettfedernreinigen, Sortieren von Pinselhaaren, mit Waschen (Schwefeln) der Strohhüte, mit Vulkanisieren und Lösen von Kautschuk, mit Färben und Bedrucken von Zeugstoffen, Bemalen von Bleisoldaten, Einpacken von Schnupftabak; mit dem Anstreichen von Drahtgeweben, dem Belegen von Spiegeln, dem Schleifen von Nähnadeln und Stahlfedern.

 

Es ist wahrlich kein schöner Anblick, Frauen, sogar im schwangeren Zustand, mit den Männern um die Wette beim Eisenbahnbau schwer beladene Karren fahren zu sehen oder sie als Handlanger Kalk und Zement anmachend oder schwere Lasten Steine tragend beim Hausbau zu beobachten oder beim Kohlen- und Eisensteinwaschen. Dabei wird der Frau alles Weibliche abgestreift und ihre Weiblichkeit mit Füßen getreten, wie umgekehrt unseren Männern in vielen verschiedenen Beschäftigungsarten jedes Männliche genommen wird. Das sind die Folgen der sozialen Ausbeutung und des sozialen Krieges. Unsere korrupten sozialen Zustände stellen die Dinge auf den Kopf.

 

Es ist begreiflich, daß bei dem Umfang, den die weibliche Arbeit auf allen Gebieten gewerblicher Tätigkeit einnimmt und weiter einzunehmen droht, die interessierte Männerwelt wenig freundlich dazu steht. Unzweifelhaft geht bei dieser Ausdehnung der Frauenarbeit das Familienleben des Arbeiters immer mehr zugrunde, ist Auflösung von Ehe und Familie die natürliche Folge und nehmen Sittenlosigkeit, Demoralisation, Degeneration, Krankheiten aller Art und Kindersterblichkeit in erschreckendem Maße zu. Nach der Bevölkerungsstatistik des Deutschen Reiches hat sich in den Städten, die in den letzten Jahrzehnten echte und rechte Fabrikstädte wurden, die Kindersterblichkeit bedeutend gesteigert. Außerdem steigt sie in den Landgemeinden, wo durch die Milchverteuerung und Milchentziehung die Güte der Kost sinkt. Am höchsten ist die Säuglingssterblichkeit in der Oberpfalz, in Oberbayern und Niederbayern, in einigen Kreisen der Regierungsbezirke Liegnitz und Breslau und der Kreishauptmannschaft Chemnitz. So starben im Jahre 1907 von 100 Lebendgeborenen im ersten Lebensjahre in Stadtamhof (Oberpfalz) 40,14, in Parsberg (Oberpfalz) 40,06, in Friedberg (Oberbayern) 39,28, in Kelheim (Niederbayern) 37,71, in München 37,63, in Glauchau (Sachsen) 33,48, in Waldenburg (Schlesien) 32,49, in Chemnitz 32,49, in Reichenbach (Schlesien) 32,18, in Annaberg 31,41 usw. Noch schlimmer lagen die Verhältnisse in der Mehrzahl der großen Fabrikdörfer, von welchen manche eine Sterblichkeitsziffer von 40 bis 50 Prozent aufzuweisen hatten. Trotz alledem ist diese soziale Entwicklung, die so traurige Resultate erzeugt, ein Fortschritt, genau so ein Fortschritt, wie es die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfreiheit usw. ist, welche die großkapitalistische Entwicklung begünstigen, wodurch aber unserem Mittelstand der Todesstoß versetzt wird.

 

Die Arbeiter sind nicht geneigt, dem Kleinhandwerk zu helfen, wenn dieses eine Einschränkung der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit und die Wiederaufrichtung der Innungs- und Zunftschranken versucht, um künstlich das Zwerggewerbe am Leben zu erhalten, denn um nichts anderes kann es sich handeln. Ebensowenig läßt sich aber auch in bezug auf die Frauenarbeit der alte Zustand zurückführen, was nicht ausschließt, daß strenge Schutzgesetze das Übermaß von Ausbeutung der Frauenarbeit verhindern und die gewerbliche Arbeit für schulpflichtige Kinder verboten wird. Hierin treffen die Interessen des Arbeiters mit den staatlichen und den allgemeinen menschlichen Kulturinteressen zusammen. Ist zum Beispiel der Staat genötigt, wie das in den letzten Jahrzehnten mehrfach der Fall war, zuletzt 1893, als es sich um eine abermalige große Verstärkung der Armee handelte, das Minimalmaß für das Militär herabzusetzen, weil infolge der degenerierenden Wirkungen unseres Wirtschaftssystems die Zahl der militäruntauglichen jungen Männer immer größer wird, so sind alle an schützenden Gegenmaßregeln interessiert . Das Endziel muß sein, die Nachteile, die das Maschinenwesen, verbesserte Arbeitswerkzeuge und die moderne Arbeitsweise hervorrufen, zu beseitigen, dagegen die enormen Vorteile, die sie der Menschheit geschaffen haben und in noch höherem Maße schaffen können, durch eine entsprechende Organisation der menschlichen Arbeit allen Gesellschaftsgliedern zustatten kommen zu lassen.

 

Es ist ein Widersinn und ein schreiender Mißstand, daß Kulturfortschritte und Errungenschaften, die das Produkt der Gesamtheit sind, nur denen zugute kommen, die kraft ihrer materiellen Gewalt sie sich aneignen können, daß dagegen Tausende fleißiger Arbeiter und Arbeiterinnen, Handwerker usw. von Schrecken und Sorge befallen werden, vernehmen sie, daß der menschliche Geist wieder eine Erfindung machte, die das Vielfache der Handarbeit leistet, wodurch sie Aussicht haben, als unnütz und überzählig aufs Pflaster geworfen zu werden . Dadurch wird, was von allen mit Freuden begrüßt werden sollte, ein Gegenstand der feindseligsten Gesinnung, die in früheren Jahrzehnten mehr als einmal zu Fabriksturm und Maschinendemolierung die Ursache wurde. Eine ähnliche feindselige Gesinnung besteht heute vielfach zwischen Mann und Frau als Arbeiter. Diese ist ebenfalls unnatürlich. Es muß also ein Gesellschaftszustand zu begründen versucht werden, in dem die volle Gleichberechtigung aller ohne Unterschied des Geschlechts zur Geltung kommt.

 

Das ist durchführbar, sobald die gesamten Arbeitsmittel Eigentum der Gesellschaft werden, die gesamte Arbeit durch Anwendung aller technischen und wissenschaftlichen Vorteile und Hilfsmittel im Arbeitsprozeß den höchsten Grad der Fruchtbarkeit erlangt und für alle Arbeitsfähigen die Pflicht besteht, ein bestimmtes Maß von Arbeit zu leisten, das zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse notwendig ist, wofür die Gesellschaft wieder jedem einzelnen die Mittel zur Entwicklung seiner Fähigkeiten und zum Lebensgenuß gewährt.

 

Die Frau soll wie der Mann nützliches und gleichberechtigtes Glied der Gesellschaft werden, sie soll, wie der Mann, alle ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten voll entwickeln können und, indem sie ihre Pflichten erfüllt, auch ihre Rechte beanspruchen können. Dem Manne als Freie und Gleiche gegenüberstehend, ist sie vor unwürdigen Zumutungen gesichert.

 

Die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft drängt immer mehr auf einen solchen Zustand hin, und es sind gerade die großen und schweren Übel in unserer Entwicklung, die einen neuen Zustand herbeizuführen nötigen.

 

Vierzehntes Kapitel - Der Kampf der Frau um die Bildung

 

1. Die Revolution im häuslichen Leben