Sechzehntes Kapitel - Der Klassenstaat und das moderne Proletariat

 

1. Unser öffentliches Leben

 

Die Entwicklung der Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten in allen Kulturstaaten der Welt ein ungemein rasches Tempo genommen, das jeder Fortschritt auf irgendeinem Gebiet menschlicher Tätigkeit weiter beschleunigt. Unsere sozialen Verhältnisse sind dadurch in einen früher nie gekannten Zustand der Unruhe, der Gärung und Auflösung versetzt worden. Die herrschenden Klassen fühlen keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen, und die Institutionen verlieren immer mehr die Festigkeit, um dem von allen Seiten heranziehenden Ansturm zu trotzen. Ein Gefühl der Unbehaglichkeit, der Unsicherheit und der Unzufriedenheit hat sich aller Kreise bemächtigt, der höchsten wie der niedersten. Die krampfhaften Anstrengungen, welche die herrschenden Klassen machen, um durch Flickwerk und Stückwerk am sozialen Körper diesem ihnen unerträglichen Zustand ein Ende zu machen, erweisen sich als eitel, weil als unzureichend. Die daraus erwachsende steigende Unsicherheit vermehrt ihre Unruhe und ihr Unbehagen. Kaum haben sie in das baufällige Haus in Gestalt irgendeines Gesetzes einen Balken eingezogen, so entdecken sie, daß an zehn anderen Punkten ein solcher noch nötiger wäre. Dabei befinden sie sich selbst untereinander beständig im Streit und in schweren Meinungsdifferenzen. Was der einen Partei notwendig dünkt, um die immer unzufriedener werdenden Massen einigermaßen zu beruhigen und zu versöhnen, geht der anderen zu weit, das betrachtet sie als unverantwortliche Schwäche und Nachgiebigkeit, die nur das Gelüste nach größeren Konzessionen erwecken. Dafür sprechen in schlagender Weise die endlosen Verhandlungen in allen Parlamenten, durch die immer neue Gesetze und Einrichtungen geschaffen werden, ohne daß man zur Ruhe und Befriedigung kommt. Innerhalb der herrschenden Klassen selbst sind Gegensätze vorhanden, die zum Teil unüberbrückbar sind, und diese verschärfen noch die sozialen Kämpfe.

 

Die Regierungen – und zwar nicht nur in Deutschland – schwanken wie ein Rohr im Winde; stützen müssen sie sich, denn ohne Stütze können sie nicht existieren, und so lehnen sie sich bald auf diese, bald auf jene Seite. Fast in keinem vorgeschrittenen Staate Europas besitzt eine Regierung eine dauernde parlamentarische Mehrheit, auf die sie mit Sicherheit rechnen kann. Die sozialen Gegensätze bringen die Majoritäten in Zerfall und Auflösung; und der ewig wechselnde Kurs, insbesondere in Deutschland, untergräbt den letzten Rest von Vertrauen, der den herrschenden Klassen zu sich selbst noch geblieben ist. Heute ist die eine Partei Amboß, die andere Hammer, morgen umgekehrt. Die eine reißt ein, was die andere erst mühselig aufgebaut hat. Die Verwirrung wird immer größer, die Unzufriedenheit immer nachhaltiger, die Friktionen häufen und mehren sich und ruinieren in Monaten mehr Kräfte als früher in ebensoviel Jahren. Daneben steigen die materiellen Anforderungen in Form der verschiedenen Abgaben und Steuern und wachsen die öffentlichen Schulden ins Maßlose.

 

Nach seiner Natur und seinem Wesen ist der Staat ein Klassenstaat. Wir sahen, wie derselbe notwendig wurde, um das entstandene Privateigentum zu schützen und die Beziehungen der Eigentümer unter sich und zu den Nichteigentümern durch staatliche Einrichtungen und Gesetze zu ordnen. Welche Formen immer im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die Eigentumsaneignung annimmt, es liegt in der Natur des Eigentums, daß die größten Eigentümer die mächtigsten Personen im Staate sind und denselben nach ihren Interessen gestalten. Es liegt aber auch im Wesen des Privateigentums, daß der einzelne nie genug von demselben erhalten kann und mit allen Mitteln auf seine Vermehrung bedacht ist. Er ist also bemüht, den Staat so zu gestalten, daß er mit Hilfe desselben seine Absicht in möglichst vollkommenem Maße erreichen kann. So werden Gesetze und Einrichtungen des Staates sozusagen von selbst Klassengesetze und Klasseneinrichtungen. Aber die Staatsgewalt und alle, die an der Aufrechterhaltung der bestehenden staatlichen Ordnung interessiert sind, wären nicht imstande, dieselbe auf die Dauer gegen die Masse derer, die kein Interesse an derselben haben, aufrechtzuerhalten, wenn diese Masse zur Erkenntnis der wahren Natur dieser bestehenden Ordnung gelangte. Das muß also um jeden Preis verhütet werden.

 

Zu diesem Zwecke muß die Masse in möglichstes Unwissenheit über die Natur der bestehenden Zustände erhalten werden. Nicht genug damit. Man muß sie lehren, daß die bestehende Ordnung ewig war und ewig bleiben werde, daß sie beseitigen wollen bedeute, gegen eine von Gott selbst eingesetzte Ordnung sich aufzulehnen, weshalb die Religion in den Dienst dieser Ordnung genommen wird. Je unwissender und abergläubischer die Massen sind, um so vorteilhafter; sie darin zu erhalten, liegt also im Staats-, im "öffentlichen Interesse", das heißt im Interesse der Klassen, die in dem bestehenden Staate die Schutzanstalt für ihre Klasseninteressen sehen. Das ist neben den Eigentümern die staatliche und kirchliche Hierarchie, die alle zusammen zu gemeinsamer Arbeit für den Schutz ihrer Interessen sich verbinden.

 

Aber mit dem Streben nach Erwerb von Eigentum und der Mehrung der Eigentümer hebt sich die Kultur. Es wird der Kreis der Strebenden größer, die an den gewonnenen Fortschritten teilnehmen wollen und denen dieses auch bis zu einem gewissen Grade gelingt. Es entsteht auf neuer Basis eine neue Klasse, die aber von der herrschenden Klasse nicht als gleichberechtigt und vollwertig anerkannt wird, aber alles daran setzt, es zu werden. Schließlich entstehen neue Klassenkämpfe und sogar gewaltsame Revolutionen, durch welche die neue Klasse ihre Anerkennung als mitherrschende Klasse erzwingt, insbesondere dadurch, daß sie sich als Anwalt der großen Masse der Unterdrückten und Ausgebeuteten aufspielt und mit deren Hilfe den Sieg erringt.

 

Sobald aber die neue Klasse zur Mitmacht und Mitherrschaft gelangte, verbündet sie sich mit ihren ehemaligen Feinden gegen ihre ehemaligen Verbündeten, und nach einiger Zeit beginnen abermals die Klassenkämpfe. Indem aber die neue herrschende Klasse, die mittlerweile den Charakter ihrer Existenzbedingungen der ganzen Gesellschaft aufdrückte, ihre Macht und ihren Besitz nur dadurch ausdehnen kann, daß sie einen Teil ihrer Kulturerrungenschaften auch der von ihr unterdrückten und ausgebeuteten Klasse zukommen läßt, erhöht sie deren Leistungsfähigkeit und Einsicht. Damit liefert sie dieser aber selbst die Waffen zu ihrer eigenen Vernichtung. Der Kampf der Massen richtet sich nunmehr gegen alle Klassenherrschaft, in welcher Gestalt immer diese vorhanden ist.

 

Da diese letzte Klasse das moderne Proletariat ist, so wird es die historische Mission desselben, nicht nur die eigene Befreiung, sondern auch die Befreiung aller anderen Unterdrückten, also auch der Frauen herbeizuführen.

 

Die Natur des Klassenstaats bedingt jedoch nicht nur, daß die ausgebeuteten Klassen in möglichstes Rechtlosigkeit erhalten werden, sie bedingt auch, daß die Kosten und Lasten zur Erhaltung des Staates in erster Linie auf deren Schultern gelegt werden. Das ist um so leichter, wenn die Art der Lasten- und Kostenaufbringung unter Formen stattfindet, die ihren eigentlichen Charakter verschleiern. Es liegt auf der Hand, daß hohe direkte Steuern zur Deckung der öffentlichen Ausgaben um so rebellischer wirken müssen, je niedriger das Einkommen ist, von dem sie erhoben werden. Es gebietet also die Klugheit den herrschenden Klassen, hier Maß zu halten und an Stelle der direkten die indirekten, das heißt Steuern und Abgaben auf die notwendigsten Verbrauchsartikel zu legen, weil hierdurch eine Verteilung der Lasten auf den täglichen Verbrauch stattfindet, die für die meisten unsichtbar im Preise der Waren zum Ausdruck kommen und sie über die Steuerquoten, die sie zahlen, täuschen. Wieviel Brot-, Salz-, Fleisch-, Zucker-, Kaffee-, Bier-, Petroleumsteuer oder Zoll usw. jemand zahlt, ist den meisten unbekannt und schwer zu berechnen; sie ahnen nicht, wie stark sie geschröpft werden. Und diese Abgaben wachsen im Verhältnis zur Kopfzahl ihrer Familienglieder, sie bilden also die ungerechteste Besteuerungsweise, die sich denken läßt. Umgekehrt prahlen die besitzenden Klassen mit den von ihnen gezahlten direkten Steuern und messen sich nach der Höhe derselben die politischen Rechte zu, die sie der nichtsbesitzenden Klasse verweigern. Dazu kommt die Staatshilfe und Staatsunterstützung, die sich die besitzenden Klassen durch Steuerprämien und Zölle auf alle möglichen Lebensmittel, sowie durch sonstige Beihilfen in Höhe von vielen Hunderten Millionen jährlich auf Kosten der Masse gewähren. Es kommen weiter hinzu die Riesenausbeutungen durch Preiserhöhungen auf die verschiedensten Bedarfsartikel, die die großkapitalistischen Unternehmerorganisationen durch Ringe, Trusts und Syndikate vornehmen und die der Staat durch seine Wirtschaftspolitik befördert oder widerspruchslos duldet, wenn nicht sogar durch eigene Anteilnahme unterstützt.

 

Solange die ausgebeuteten Klassen über die Natur aller dieser Maßregeln im Dunkeln gehalten werden können, bergen sie für Staat und herrschende Gesellschaft keine Gefahr. Sobald diese aber zur Kenntnis der geschädigten Klassen kommen – und die steigende politische Bildung der Massen befähigt sie immer mehr dazu –, erregen diese Maßregeln, deren schreiende Ungerechtigkeit auf der Hand liegt, die Erbitterung und Empörung der Massen. Der letzte Funke von Glauben an das Gerechtigkeitsgefühl der herrschenden Gewalten wird zerstört und die Natur des Staates, der solche Mittel anwendet, und das Wesen einer Gesellschaft, die sie fördert, wird erkannt. Der Kampf bis zu beider Vernichtung ist die Folge.

 

In dem Streben, den widerstreitendsten Interessen gerecht zu werden, häufen Staat und Gesellschaft Organisationen auf Organisationen, aber keine alte wird gründlich beseitigt und keine neue gründlich durchgeführt. Man bewegt sich in Halbheiten, die nach keiner Seite befriedigen. Die aus dem Volksleben emporwachsenden Kulturbedürfnisse erfordern, soll nicht alles aufs Spiel gesetzt werden, einige Berücksichtigung, sie erheischen auch in ihrer verstümmelten Ausführung bedeutende Opfer, um so bedeutendere, weil überall eine Menge Parasiten vorhanden sind. Daneben bleiben aber alle mit den Kulturzwecken in Widerspruch stehenden Institutionen nicht nur aufrechterhalten, sie werden vielmehr infolge der bestehenden Klassengegensätze erweitert und werden um so lästiger und drückender, wie die steigende Einsicht sie immer lauter für überflüssig erklärt. Polizeiwesen, Militärwesen, Gerichtsorganisation, Gefängnisse, der ganze Verwaltungsapparat werden immer ausgedehnter und kostspieliger, aber es wächst dadurch weder die äußere noch die innere Sicherheit, vielmehr tritt das Umgekehrte ein.

 

Ein ganz unnatürlicher Zustand hat sich allmählich in den internationalen Beziehungen zwischen den einzelnen Nationen herausgebildet. Diese Beziehungen mehren sich in dem Maße, wie die Warenproduktion zunimmt, der Austausch der Warenmassen mit Hilfe stetig sich vervollkommnender Verkehrsmittel ein immer leichterer wird und die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften Gemeingut aller Völker werden. Man schließt Handels- und Zollverträge, baut mit Hilfe internationaler Mittel kostspielige Verkehrswege (Suezkanal, St. Gotthardtunnel usw.). Die einzelnen Staaten unterstützen mit großen Summen Dampferlinien, die den Verkehr zwischen den verschiedensten Ländern der Erde steigern helfen. Man gründete den Weltpostverein – ein Kulturfortschritt ersten Ranges –, beruft internationale Kongresse für alle möglichen praktischen und wissenschaftlichen Zwecke, verbreitet die vornehmsten Geisteserzeugnisse der einzelnen Nationen durch Übersetzungen in die verschiedenen Sprachen der Hauptkulturvölker, und arbeitet durch das alles immer mehr auf die Internationalisierung und Verbrüderung der Völker hin. Aber der politische und militärische Zustand Europas und der Kulturwelt steht mit dieser Entwicklung in einem seltsamen Gegensatz. Nationalitätenhaß und Chauvinismus wird hüben und drüben künstlich genährt. Allerwärts suchen die herrschenden Klassen den Glauben zu erhalten, es seien die Völker, die, eins dem anderen todfeindlich gesinnt, nur auf den Augenblick warteten, daß eins über das andere herfallen könne, um es zu vernichten. Der Konkurrenzkampf der Kapitalistenklasse der einzelnen Länder unter sich nimmt auf internationalem Gebiet den Charakter eines Kampfes der Kapitalistenklasse eines Landes gegen die des anderen an und ruft, unterstützt von der politischen Blindheit der Massen, einen Wettkampf der militärischen Rüstungen hervor, wie die Welt nie Ähnliches gesehen hat. Dieser Wettkampf schuf Armeen von einer Größe, wie sie nie zuvor existierten, er schuf Mord- und Zerstörungswerkzeuge von einer Vollkommenheit für den Land- und Seekrieg, wie sie nur in einem Zeitalter vorgeschrittenster Technik wie dem unseren möglich sind. Dieser Wettkampf erzeugt eine Entwicklung der Zerstörungsmittel, die schließlich zur Selbstzerstörung führt. Die Unterhaltung der Armeen und Marinen erfordert Opfer, die mit jedem Jahre größer werden und zuletzt das reichste Volk zugrunde richten. Im Jahre 1908 zahlte Deutschland allein für sein Heer und seine Marine an regelmäßigen und einmaligen Ausgaben – einschließlich der Ausgaben für Pensionen und die Verzinsung der Reichsschuld, soweit diese für kriegerische Zwecke gemacht wurde – erheblich über 1.500 Millionen Mark und diese Summe wird jährlich größer. Es betrugen nach Neymarck die Ausgaben der europäischen Staaten für

 

                             1866     1870      1887       1906

 

                             Millionen Franken

 

Heer und Marine  3.000    3.500     4.500      6.725

 

Staatsschulden      66.000  75.000   117.000  148.000

 

Zinsen                  2.400    3.000     5.300      6.000

 

Somit zahlt Europa jährlich 6.725 Millionen Frank (5.448 Millionen Mark) für Heer und Marine und 6.000 Millionen Frank (4.860 Millionen Mark) für die Verzinsung der Schulden, die doch meistens für kriegerische Zwecke gemacht wurden! Ein herrlicher Zustand in der Tat!

 

Dem Beispiel Europas folgen Amerika und Asien. Die Vereinigten Staaten verausgabten im Jahre 1875 386,8 und im Jahre 1907/08 1.436,9 Millionen Mark. In Japan betrugen die ordentlichen Ausgaben für Heer und Marine, einschließlich Pensionen, im Jahre 1875 20,5 und im Jahre 1908/09 220,4 Millionen Mark!

 

Unter diesen Ausgaben leiden die Bildungs- und Kulturzwecke aufs höchste, es werden die dringendsten Kulturaufgaben vernachlässigt und es erlangen die Ausgaben für den äußeren Schutz ein Übergewicht, daß selbst der Staatszweck untergraben wird. Die immer größer werdenden Armeen umfassen den gesundesten und kräftigsten Teil der Nationen, für ihre Entwicklung und Ausbildung werden alle geistigen und physischen Kräfte in einer Weise in Anspruch genommen, als sei die Ausbildung für den Massenmord die höchste Aufgabe unserer Zeit. Dabei werden Kriegs- wie Mordwerkzeuge in einem fort verbessert, sie haben eine Vollkommenheit in bezug auf Schnelligkeit, Ferntragfähigkeit und Durchschlagskraft erlangt, die sie für Freund und Feind furchtbar macht. Wird eines Tages dieser ungeheure Apparat in Tätigkeit gesetzt – wobei die sich feindlich gegenüberstehenden Mächte Europas mit 16 bis 20 Millionen Männern ins Feld rücken – so wird sich zeigen, daß er unregierbar und unlenkbar geworden ist. Es gibt keinen General, der solche Massen kommandieren kann, kein Schlachtfeld, das groß genug ist, um sie aufzustellen, und keinen Verwaltungsapparat, der auf die Dauer sie zu ernähren vermag. Im Falle von Schlachten fehlen die Hospitäler, um die Zahl der Verwundeten unterzubringen, und die Beerdigung der zahlreichen Toten wird fast zur Unmöglichkeit.

 

Nimmt man hinzu die furchtbaren Störungen und Verwüstungen, die künftig ein europäischer Krieg auf wirtschaftlichem Gebiet anrichtet, so darf man ohne Übertreibung sagen: der nächste große Krieg ist der letzte Krieg. Die Zahl der Bankrotte wird eine nie dagewesene sein. Die Ausfuhr stockt, wodurch Tausende von Fabriken zum Stillstand kommen; die Lebensmittelzufuhr stockt, wodurch enorme Teuerung der Lebensmittel die Folge ist, und die Zahl der Familien, deren Ernährer im Felde steht und unterstützt werden müssen, beläuft sich auf Millionen. Woher aber die Mittel nehmen? So kostet zum Beispiel das Deutsche Reich die Haltung der Armee und der Flotte auf Kriegsfuß jeden Tag 45 bis 50 Millionen Mark.

 

Der politisch-militärische Zustand Europas hat eine Entwicklung genommen, die leicht mit einer großen Katastrophe endigen kann, welche die bürgerliche Gesellschaft in den Abgrund reißt. Auf der Höhe ihrer Entwicklung hat diese Gesellschaft Zustände geschaffen, die ihre Existenz unhaltbar machen, sie bereitet sich den Untergang mit Mitteln, die sie selbst erst als die revolutionärste aller bisher dagewesenen Gesellschaften schuf.

 

In eine verzweifelte Lage gelangt allmählich ein großer Teil unserer Kommunen, die kaum noch wissen, wie sie die jährlich sich steigernden Ansprüche befriedigen sollen. Namentlich sind es unsere rasch wachsenden Großstädte und die Industrieorte, an welche die beschleunigte Bevölkerungszunahme eine Menge Anforderungen stellt, denen die in der Mehrzahl vermögenslosen Gemeinden nicht anders gerecht werden können, als durch Auferlegung hoher Steuern und Aufnahme von Schulden. Schulen- und Straßenbauten, Beleuchtungs-, Beschleusungs- und Wasseranlagen, Ausgaben für Gesundheits-, Wohlfahrts- und Bildungszwecke, für Polizei und Verwaltung steigern sich von Jahr zu Jahr. Daneben macht die gutsituierte Minorität überall die kostspieligsten Ansprüche an das Gemeinwesen. Sie verlangt höhere Bildungsanstalten, den Bau von Theatern und Museen, die Anlegung feiner Stadtviertel und Parks mit der entsprechenden Beleuchtung, Pflasterung usw. Mag die Majorität der Bevölkerung über diese Bevorzugung klagen, sie liegt in der Natur der Verhältnisse. Die Minorität hat die Macht und sie gebraucht sie, um ihre Kulturbedürfnisse möglichst auf Kosten der Gesamtheit zu befriedigen. An sich läßt sich auch gegen diese gesteigerten Kulturbedürfnisse nichts einwenden, denn sie sind ein Fortschritt, der Fehler ist nur, daß sie in der Hauptsache den besitzenden Klassen zugute kommen, während alle daran teilnehmen sollten. Ein weiterer Übelstand ist, daß die Verwaltung öfters nicht die beste und kostspielig ist. Nicht selten sind auch die Beamten unzulänglich und haben für die vielseitigen, oft großes Sachverständnis voraussetzenden Erfordernisse keine genügenden Kenntnisse. Die Gemeindeberater haben aber meist für ihre private Existenz so viel zu tun und zu sorgen, daß sie die geforderten Opfer für gründliche Ausübung ihrer Pflichten nicht zu bringen vermögen. Öfter werden auch diese Stellungen zur Begünstigung von Privatinteressen und zu schwerer Schädigung des Gemeinwesens benutzt. Die Folgen fallen auf die Steuerzahler. An eine gründliche Änderung dieser Zustände, die einigermaßen befriedigte, kann die Gesellschaft nicht denken. In welcher Form immer Steuern erhoben werden, die Unzufriedenheit steigt. In wenigen Jahrzehnten sind die meisten dieser Kommunen außerstande, in der gegenwärtigen Form der Verwaltung und Beitragsaufbringung ihre Ansprüche noch zu befriedigen. Auf dem Gebiet der Kommune stellt sich wie im Staatsleben die Notwendigkeit zu Neugestaltungen von Grund aus heraus, denn an sie werden die größten Anforderungen für Kulturzwecke gestellt, sie bildet den Kern, von dem aus die gesellschaftliche Umgestaltung, sobald der Wille und die Macht dazu vorhanden sein wird, auszugehen hat.

 

Aber wie soll dem Genüge geschehen, wo gegenwärtig die Privatinteressen alles beherrschen und diesen die Gemeininteressen hintangesetzt werden?

 

Das ist, mit wenigen Worten, der Zustand in unserem öffentlichen Leben, und dieser ist nur das Spiegelbild des sozialen Zustandes der Gesellschaft.

 

2. Verschärfung der Klassengegensätze

 

In unserem sozialen Leben wird der Kampf um die Existenz immer schwieriger. Der Krieg aller gegen alle ist in heftigster Weise entbrannt und wird unbarmherzig, oft ohne Wahl der Mittel geführt. Der Satz: Ote-toi de là, que je m'y mette (Gehe weg von da, damit ich mich hinsetze) wird mit kräftigen Ellenbogenstößen, mit Püffen und Kniffen in der Praxis des Lebens verwirklicht. Der Schwächere muß dem Stärkeren weichen. Wo die materielle Kraft, die Macht des Geldes, des Besitzes nicht reicht, werden die raffiniertesten und nichtswürdigsten Mittel in Anwendung gebracht, um ans Ziel zu kommen. Lüge, Schwindel, Betrug, falsche Wechsel, falsche Eide, die schwersten Verbrechen werden begangen, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Wie in diesem Kampfe einer dem anderen gegenübertritt, so Klasse gegen Klasse, Geschlecht gegen Geschlecht, Alter gegen Alter. Der Nutzen ist der einzige Regulator für die menschlichen Beziehungen, jede andere Rücksicht muß weichen. Tausende und Abertausende von Arbeitern und Arbeiterinnen werden, sobald der Vorteil es gebietet, aufs Pflaster geworfen und sind, nachdem sie das Letzte, was sie besaßen, zusetzten, auf die öffentliche Wohltätigkeit und die Zwangswanderschaft angewiesen. Die Arbeiter reisen sozusagen in Herden von Ort zu Ort, die Kreuz und die Quere durch die Lande, und werden von der Gesellschaft mit um so größerer Furcht und mit um so tieferem Abscheu betrachtet, als mit der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit ihr Äußeres reduziert und in weiterer Folge auch ihr Inneres demoralisiert wird. Die honette Gesellschaft hat keine Ahnung, was es heißt, monatelang sich die einfachsten Bedürfnisse für Ordnung und Reinlichkeit versagen zu müssen, mit hungrigem Magen von Ort zu Ort zu wandern und meist nichts als schlecht verhehlten Abscheu und Verachtung gerade von denen zu ernten, welche die Stützen dieses Systems sind. Die Familien dieser Armen leiden die gräßlichste Not und fallen der öffentlichen Armenpflege anheim. Nicht selten treibt die Verzweiflung die Eltern zu den schrecklichsten Verbrechen an sich und an den Kindern, zu Mord und Selbstmord. Namentlich mehren sich in Zeiten der Krise diese Verzweiflungsakte in erschreckendem Maße. Aber die herrschenden Klassen stört dieses nicht. In derselben Zeitungsnummer, die solche Taten der Not und Verzweiflung meldet, stehen die Berichte über rauschende Festlichkeiten und glänzende offizielle Schaustellungen, als schwämme alles in Freude und Überfluß.

 

Die allgemeine Not und der immer schwerer werdende Kampf um die Existenz jagen Frauen und Mädchen immer zahlreicher der Prostitution und dem Verderben in die Arme. Demoralisation, Roheit und Verbrechen häufen sich, und was prosperiert, sind die Gefängnisse, die Zuchthäuser und sogenannten Besserungsanstalten, welche die Masse der Insassen kaum zu fassen vermögen.

 

Die Verbrechen stehen in engster Beziehung zu dem sozialen Zustand der Gesellschaft, was diese allerdings nicht Wort haben will. Sie steckt, wie der Vogel Strauß, den Kopf in den Sand, um die sie anklagenden Zustände nicht eingestehen zu müssen, und lügt sich zur Selbsttäuschung vor, daran sei nur die "Faulheit" und "Genußsucht" der Arbeiter und ihr Mangel an "Religion" schuld. Das ist Selbstbetrug der schlimmsten oder Heuchelei der widrigsten Art. Je ungünstiger der Zustand der Gesellschaft für die Mehrheit ist, um so zahlreicher und schwerer sind die Verbrechen. Der Kampf um das Dasein nimmt seine roheste und gewalttätigste Gestalt an, er erzeugt einen Zustand, in dem der eine in dem anderen seinen Todfeind erblickt. Die gesellschaftlichen Bande lockern sich und der Mensch steht als Feind dem Menschen gegenüber .

 

Die herrschenden Klassen, die den Dingen nicht auf den Grund sehen oder nicht sehen wollen, versuchen nach ihrer Art den Übeln zu begegnen. Nehmen Armut, Not und infolge davon Demoralisation und Verbrechen zu, so sucht man nicht nach der Quelle des Übels, um diese zu verstopfen, sondern man bestraft die Produkte dieser Zustände. Und je größer die Übel werden und die Zahl der Übeltäter sich vermehrt, um so härtere Verfolgungen und Strafen meint man anwenden zu müssen. Man glaubt den Teufel mit Beelzebub austreiben zu können. Auch Professor Häckel findet es in der Ordnung, daß man gegen Verbrechen mit möglichst schweren Strafen vorgeht und namentlich die Todesstrafe nachdrücklich anwendet . Er ist darin mit den Rückschrittlern aller Schattierungen in schönster Übereinstimmung, die ihm sonst todfeindlich gesinnt sind. Häckel meint, unverbesserliche Verbrecher und Taugenichtse müßten wie Unkraut ausgerottet werden, das den Pflanzen Licht, Luft und Bodenraum nimmt. Hätte Häckel sich auch mit dem Studium der Sozialwissenschaft befaßt, statt sich ausschließlich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen, er würde wissen, daß diese Verbrecher in nützliche, brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft umgewandelt werden könnten, falls ihnen die Gesellschaft entsprechende Existenzbedingungen bieten würde. Er würde finden, daß Vernichtung oder Unschädlichmachung des einzelnen Verbrechers so wenig das Entstehen neuer Verbrechen verhindert, wie wenn man auf einem Acker zwar das Unkraut beseitigt, aber übersieht, Wurzeln und Samen mit zu vernichten. Die Bildung schädlicher Organismen absolut in der Natur zu verhüten, wird dem Menschen nie möglich sein, aber seine eigene, durch ihn selbst geschaffene Gesellschaftsorganisation so zu verbessern, daß sie günstige Existenzbedingungen für alle schafft, gleiche Entwicklungsfreiheit jedem einzelnen gibt, damit er nicht mehr nötig hat, seinen Hunger, oder seinen Eigentumstrieb, oder seinen Ehrgeiz auf Kosten anderer zu befriedigen, das ist möglich. Man studiere die Ursachen der Verbrechen und beseitige sie, und man wird die Verbrechen beseitigen .

 

Diejenigen, welche die Verbrechen beseitigen wollen, indem sie die Ursachen dazu beseitigen, können sich selbstverständlich mit gewaltsamen Unterdrückungsmitteln nicht befreunden. Sie können die Gesellschaft nicht hindern, sich in ihrer Art gegen die Verbrecher zu schützen, die sie in ihrem Treiben unmöglich gewähren lassen kann, aber sie verlangen um so dringender die Umgestaltung der Gesellschaft von Grund aus, das heißt die Beseitigung der Ursachen der Verbrechen.

 

Der Zusammenhang zwischen dem Sozialzustand der Gesellschaft und den Vergehen und Verbrechen ist von Statistikern und Sozialpolitikern vielfach nachgewiesen worden . Eines der naheliegendsten Vergehen – das unsere Gesellschaft ungeachtet aller christlichen Lehren von der Wohltätigkeit als Vergehen ansieht – ist in Zeiten schlechten Geschäftsganges die Bettelei. Da belehrt uns die Statistik des Königreichs Sachsen, daß in dem Maße, wie die große Absatzkrise zunahm, die in Deutschland 1890 begann und 1892 bis 1893 ihren Höchstpunkt erreichte, auch die Zahl der wegen Bettelei gerichtlich bestraften Personen stieg. Im Jahre 1890 wurden wegen dieses Deliktes 8.815, 1891 10.075 und 1892 13.120 Personen bestraft. Ähnlich in Österreich, wo im Jahre 1891 wegen Vagabundage und Bettelei 90.926 Personen verurteilt wurden, im Jahre 1892 98.998 . Das ist eine starke Steigerung.

 

Massenproletarisierung auf der einen, mit steigendem Reichtum auf der anderen Seite ist überhaupt die Signatur unserer Periode. Die Tatsache, daß in den Vereinigten Staaten fünf Männer, J. D. Rockefeller, der unlängst gestorbene Harriman, D. Pierpont Morgan, W. N. Vanderbilt und G. D. Gould, im Jahre 1900 zusammen über 3.200 Millionen Mark besaßen, und ihr Einfluß ausreichte, um das ökonomische Leben der Vereinigten Staaten und auch teilweise Europas zu beherrschen, zeigt die Richtung der Entwicklung, in der wir uns befinden. In allen Kulturländern bilden die großen Kapitalistenvereinigungen die bemerkenswerteste Erscheinung der neueren Zeit, deren sozialer und politischer Einfluß immer maßgebender wird.

 

Siebzehntes Kapitel - Der Konzentrationsprozeß in der kapitalistischen Industrie

 

1. Die Verdrängung der Landwirtschaft durch Industrie

 

Das kapitalistische Wirtschaftssystem beherrscht nicht nur die soziale Organisation, sondern auch die politische; es beeinflußt und beherrscht das Fühlen und Denken der Gesellschaft. Der Kapitalismus ist die leitende Macht. Der Kapitalist ist der Herr und Gebieter der Proletarier, deren Arbeitskraft er als Ware zur Anwendung und Ausnutzung kauft, und zwar zu einem Preise, dessen Höhe sich wie bei jeder anderen Ware nach Angebot und Nachfrage richtet und um die Herstellungskosten, bald über, bald unter ihnen, oszilliert. Der Kapitalist kauft aber die Arbeitskraft nicht um "Gottes willen" und um dem Arbeiter einen Gefallen zu erweisen – obgleich er es so darstellt –, sondern um aus dessen Arbeit einen Mehrwert zu erhalten, den er in der Form von Unternehmergewinn, Zins, Pacht, Bodenrente einsteckt. Dieser aus dem Arbeiter gepreßte Mehrwert, der, soweit er ihn nicht verjubelt, bei dem Unternehmen sich wieder zu Kapital kristallisiert, setzt diesen in die Lage, stetig seinen Betrieb zu vergrößern, den Produktionsprozeß zu verbessern und immer neue Arbeitskräfte in Anwendung zu bringen. Das ermöglicht ihm wieder, seinen schwächeren Konkurrenten wie ein geharnischter Reiter einem unbewaffneten Fußgänger gegenüberzutreten und ihn zu vernichten.

 

Dieser ungleiche Kampf entwickelt sich mehr und mehr auf allen Gebieten, und in ihm spielt die Frau als die billigste Arbeitskraft, nach der Arbeitskraft der jungen Leute und der Kinder, eine immer wichtigere Rolle. Die Folge eines solchen Zustandes ist die immer schroffere Scheidung in eine verhältnismäßig kleine Zahl mächtiger Kapitalisten und in eine große Masse kapitalloser, auf den täglichen Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesener Habenichtse. Der Mittelstand gelangt bei dieser Entwicklung in eine immer bedenklichere Lage.

 

Ein Arbeitsgebiet nach dem anderen, auf dem bisher das Kleingewerbe immer noch herrschte, wird von der kapitalistischen Ausnutzung erfaßt. Die Konkurrenz der Kapitalisten unter sich nötigt sie, immer neue Gebiete für ihre Ausbeutung ausfindig zu machen. Das Kapital geht einher "wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen es verschlinge". Die kleinen und schwächeren Existenzen werden vernichtet, und gelingt es ihnen nicht, sich auf ein anderes Gebiet zu retten – was immer schwieriger und unmöglicher wird –, so sinken sie in die Klasse der Lohnarbeiter oder der katilinarischen Existenzen herab. Alle Versuche, den Niedergang des Handwerkes und des Mittelstandes zu verhindern durch Gesetze und Einrichtungen, die nur aus der Rumpelkammer der Vergangenheit genommen werden können, erweisen sich als wirkungslos; sie mögen diesen und jenen eine kurze Weile über seine Lage hinwegtäuschen, aber bald schwindet vor der Wucht der in die Erscheinung tretenden Tatsachen die Illusion. Der Aufsaugungsprozeß der Kleinen durch die Großen tritt mit der Macht und der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes jedem sichtbar und mit Händen greifbar vor die Augen.

 

In welcher Weise sich die soziale Struktur Deutschlands in dem kurzen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren – von 1882 bis 1895 und von 1895 bis 1907 – veränderte, darüber gestatten die Resultate der Gewerbezählungen in den genannten Jahren einen Vergleich.

 

Es waren vorhanden:

 

 

Diese Zahlen zeigen, daß innerhalb der erwähnten fünfundzwanzig Jahre eine außerordentlich starke Verschiebung der Bevölkerung und ihres Erwerbes stattgefunden hat. Die von Industrie (Bergbau und Baugewerbe), Handel und Verkehr lebende Bevölkerung hat sich auf Kosten der landwirtschaftlichen Bevölkerung vermehrt; fast die ganze Zunahme der Bevölkerung – 6.548.171 von 1882 bis 1895 und 9.950.245 von 1895 bis 1907 – haben die ersteren allein in Anspruch genommen. Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen im Hauptberuf in der Landwirtschaft um 1.646.761 Köpfe gestiegen, sie blieb aber weit hinter dem Wachstum der Gesamtbevölkerung zurück, und die Zahl der Angehörigen dieser Kategorie der Erwerbstätigen ist sogar um 1.544.279 = 8 Prozent gesunken.

 

Ganz anders in Industrie (einschließlich Baugewerbe und Bergbau), Handel und Verkehr. In beiden Kategorien stieg die Zahl der Erwerbstätigen wie ihrer Angehörigen sehr erheblich, und zwar mehr als die Bevölkerung wuchs. Die Zahl der Erwerbstätigen in der Industrie, die schon im Jahre 1895 die Zahl der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen erreichte, überstieg sie jetzt um 1.372.997 Köpfe oder um 15 Prozent. Die Zahl ihrer Angehörigen aber wuchs über die der Angehörigen der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen um 8.705.361 Köpfe oder um 49 Prozent hinaus (im Jahre 1895 um 1.75 1.934). Eine noch stärkere Steigerung weist die Zahl der Erwerbstätigen mit ihren Angehörigen in Handel und Verkehr auf.

 

Das Resultat ist, daß die landwirtschaftliche Bevölkerung, das heißt der eigentliche konservative Teil der Bevölkerung, der die Hauptstütze der alten Ordnung der Dinge bildet, immer mehr zurückgedrängt und in immer schnellerem Tempo von der Industrie, Handel und Verkehr treibenden Bevölkerung weit überflügelt wird. Die erhebliche Steigerung, welche die im öffentlichen Dienste und in freien Berufen Erwerbstätigen nebst ihren Angehörigen ebenfalls seit 1882 erfuhren, ändert nichts an dieser Tatsache. Außerdem muß noch bemerkt werden, daß diese Berufsabteilung bei der letzten Zählung eine geringe Einbuße der Erwerbstätigen erlitt – zwar nur relativ –, bei den Berufszugehörigen jedoch setzt sich die Steigerung 1895 gegenüber 1882 auch 1907 fort, obwohl die Steigerung viel geringer ist – von 1882 bis auf 1895 um 38,29 und von 1895 bis 1907 nur um 21,96 Prozent. Die starke Steigerung der Berufslosen und ihrer Angehörigen ist zurückzuführen auf die Vermehrung der Rentner einschließlich der Unfallversicherungs-, Invaliditäts- und Altersversicherungsrentner, die höhere Zahl der Almosenempfänger, der Studierenden aller Art, der Insassen der Armen-, Siechen- und Irrenhäuser, der Gefängnisse.

 

Charakteristisch ist auch die geringe Zunahme der Erwerbstätigen im häuslichen Dienste und die direkte Abnahme der Dienstboten, was dafür spricht, erstens, daß relativ die Zahl derjenigen abnimmt, deren Einkommensverhältnisse ihnen die Beschäftigung solcher Personen gestatten, und zweitens, daß dieser Beruf unter den Proletarierinnen, die größere persönliche Unabhängigkeit erstreben, je länger desto weniger beliebt wird.

 

Im Jahre 1882 bildeten die in der Landwirtschaft im Hauptberuf Erwerbstätigen 43,38 Prozent, 1895 36,19 und 1907 nur noch 32,69 Prozent der Erwerbstätigen; die gesamte landwirtschaftliche Bevölkerung umfaßte 1882 42,51 Prozent, 1895 35,74 und 1907 nicht mehr als 28,65 Prozent der Bevölkerung überhaupt. Dagegen bildeten die in Industrie (einschließlich Bergbau und Baugewerbe) im Hauptberuf Erwerbstätigen 1882 33,69 Prozent, 1895 36,14 und im Jahre 1907 37,23 Prozent. Mit ihren Angehörigen bildeten sie 1882 35,51, 1895 39,12, aber im Jahre 1907 schon 42,75 Prozent. Für die in Handel und Verkehr Erwerbstätigen und ihre Angehörigen waren die betreffenden Zahlen:

 

           Mit
Angehörigen             Ohne

 

1882   10,02             8,27

 

1895   11,52             10,21

 

1907   13,41             11,50

 

Wir sehen also, daß jetzt 56,16 Prozent (in Sachsen sogar 74,5) der Gesamtbevölkerung in Deutschland auf Industrie und Handel angewiesen sind, und daß die Landwirtschaft nicht mehr als 28,65 (in Sachsen nur 10,07) Prozent beschäftigt.

 

2. Fortschreitende Proletarisierung. Die Vorherrschaft des Großbetriebs

 

Wichtig ist aber auch zu konstatieren, wie sich die erwerbstätige Bevölkerung als Selbständige, Angestellte und Arbeiter, und in diesen drei nach dem Geschlecht verteilte. Die betreffenden Zahlen sind aus der folgenden Tabelle ersichtlich.

 

 

 

Dieselbe zeigt, daß in der Landwirtschaft die Zahl der Selbständigen von 1882 bis 1895 zwar um 280.692 Köpfe = 12,5 Prozent wuchs, aber von 1895 bis 1907 wieder um 67.751 Köpfe abnahm, so daß im Vergleich mit 1882 die Zahl der Selbständigen nur um 212.941 Köpfe = 9,2 Prozent zugenommen hat. Dahingegen ist die Zahl der Arbeiter, die von 1882 bis 1895 um 254.025 Köpfe = 4,3 Prozent abnahm, seit 1895 erheblich gestiegen – um 1.655.677 Köpfe = 29,4 Prozent. Betrachten wir diese Steigerung näher, so sehen wir, daß sie hauptsächlich der Vermehrung der Gruppe der mithelfenden Familienangehörigen weiblichen Geschlechts zuzuschreiben ist (um 170.532 bei den männlichen und um 1.820.398 bei den weiblichen, zusammen um 1.990.930). Ziehen wir in Betracht nur die ländliche Tagelöhner- und Gesindearbeit, so ergibt sich eine Verminderung der männlichen Arbeiter um 381.195 Köpfe und eine Zunahme der weiblichen um 45.942, insgesamt also eine erhebliche Verminderung der landwirtschaftlichen Arbeiter um 335.253 Personen. In der Landwirtschaft haben also nicht allein die Selbständigen, sondern auch Gesinde und Tagelöhnerschaft abgenommen; die Zunahme der landwirtschaftlichen Berufsabteilung gegenüber der vorhergehenden Zählung ist auf die starke Vermehrung der Familienhilfe, besonders der weiblichen, zurückzuführen.

 

Anders in der Industrie. Hier sank im Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren die Zahl der Selbständigen um 234.024 = 10,6 Prozent (von 1882 bis 1,895 um 139.382 = 5,2 Prozent), während die Bevölkerung um 36,48 Prozent wuchs (von 1882 bis 1895 um 14,48). Und zwar sind es die Alleinbetriebe und die Betriebe mit zwei Hilfspersonen, welche den Ausfall zu tragen hatten. Die Zahl der Arbeiter ist von 1882 bis 1895 um 1.859.468 und von 1895 bis 1907 um weitere 2.637.414 Köpfe gestiegen. Nehmen wir nur die eigentlichen Arbeiter, ausschließlich der mithelfenden Familienangehörigen, so ist ihre Zahl von 5.899.708 in 1895 auf 8.460.338 Personen in 1907 gestiegen. Drei Viertel aller in industriellen Berufen tätigen Personen sind Arbeiter (75,16 Prozent).

 

Das umgekehrte Verhältnis zeigt sich wieder in Handel und Verkehr, woselbst die Zahl der Selbständigen, aber auch, wie in der Industrie, die Zahl der Angestellten und der Arbeiter, bedeutend wuchs. Es sind insbesondere die Frauen, die im Handel als Selbständige zunehmen, und zwar sind es entweder Witwen, die sich mit einem Kleinhandel durchzuschlagen suchen, oder es versucht die Ehefrau, auf diesem Wege die Einnahme des Mannes zu verbessern. Die Zahl der Selbständigen ist von 1882 bis 1907 um 310.584 = 44,3 Prozent gestiegen, aber die Zahl der Angestellten und der Arbeiter hat sich noch stärker vermehrt (um 364.361 = 258,8 und um 1.232.263 = 169,4 Prozent). Ein schlagender Beweis, wie außerordentlich stark sich der Großhandel entwickelte, insbesondere von 1895 bis 1907. Die Zahl der Angestellten hat sich beinahe verdoppelt, darunter die Zahl der weiblichen versechsfacht!

 

Insgesamt stieg von 1882 bis 1907 die Zahl der Selbständigen in allen drei Kategorien um 5,7 Prozent, sie blieb also erheblich hinter der Steigerung der Bevölkerung zurück (36,48 Prozent). Dagegen stieg die Zahl der Angestellten um 325,4 Prozent, was dafür spricht, daß auf allen Gebieten sich mächtig entwickelte der Großbetrieb, der Angestellte benötigt, und die Zahl der Arbeiter wuchs um 39,1 Prozent. Hierbei ist festzuhalten, daß unter den 5.490.288 Selbständigen sich eine sehr große Zahl Existenzen befindet, die ein rein proletarisches Dasein führt. So gab es zum Beispiel unter den 2.086.368 Betrieben in der Industrie nicht weniger als 994.743 Alleinbetriebe und 875.518 Betriebe, die bis zu fünf Hilfspersonen beschäftigten. Im Warenhandel gab es 1907 unter 709.231 Hauptbetrieben nicht weniger als 232.780 Alleinbetriebe, ferner gab es unter den Selbständigen in Handel und Verkehr im Hausierhandel 35.306 Alleinbetriebe, dann 5.240 Dienstmänner, Lohndiener usw., Tausende von Versicherungsagenten, Kolporteuren usw.

 

Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß in allen drei Kategorien die Zahl der Selbständigen sich nicht mit der Zahl der Betriebe deckt. Besitzt zum Beispiel ein Firmeninhaber Dutzende von Filialen, wie das zum Beispiel im Tabak- und Zigarrenhandel vorkommt, oder besitzt eine Konsumgenossenschaft so und so viele Läden, so wird jede Filiale als besonderer Betrieb gezählt. Das gleiche gilt von den industriellen Unternehmungen, zum Beispiel wenn eine Maschinenfabrik auch eine Eisengießerei und eine Tischlerei usw. im Betrieb hat. Die angeführten Zahlen geben also für die Betriebskonzentration auf der einen Seite und die Qualität der Existenz auf der anderen Seite keine genügende Auskunft.

 

Und doch geben, trotz aller dieser Mängel, die Ergebnisse der neuesten gewerblichen Betriebszählung vom 12. Juni 1907 ein Bild der gewaltigsten Konzentration und Zentralisation des Kapitals in Industrie, Handel und Verkehr. Sie zeigen, daß Hand in Hand mit der gesteigerten Industrialisierung der gesamten Wirtschaftsordnung eine Konzentration der gesamten Produktionsmittel in wenigen Händen mit gigantischen Schritten fortgeht.

 

Die allein arbeitenden Selbständigen, die noch 1882 1.877.872 betrugen, haben seit 1895 noch weiter abgenommen, in 1895 wurden gezählt 1.714.351 und in 1907 nur noch 1.446.286, eine Abnahme um 431.586 = 22,9 Prozent. Der Anteil des Kleinbetriebs ist von Zählung zu Zählung stark gesunken. 1882 betrug er 59,1 Prozent, 1895 46,5 und im Jahre 1907 nur noch 37,3 Prozent aller gewerbetätigen Personen. Die entgegengesetzte Bewegung machte der Großbetrieb, welcher von 22,0 auf 29,6 und 1907 auf 37,3 Prozent stieg. Je größer die Betriebe werden, desto schneller ist das Wachstum. Von 1895 bis 1907 nahm das Personal der Kleinbetriebe um 12,2 Prozent, das der Mittelbetriebe um 48,5 Prozent und das Personal der Großbetriebe um 75,7 Prozent zu. Mit 5.350.025 gewerbetätigen Personen im Jahre 1907 ist der Großbetrieb die bei weitem größte Gruppe geworden, während er noch 1882 bedeutend weniger Personen beschäftigte als der Alleinbetrieb. In sieben Gewerbegruppen hat er die herrschende Stellung mit mehr als der Hälfte aller Personen. So wurden von je 100 Personen beschäftigt in Großbetrieben:

 

Bergbau                                         96,6 Prozent

 

Maschinenindustrie                        70,4 Prozent

 

Chemische Industrie                      69,8 Prozent

 

Textilindustrie                                67,5 Prozent

 

Papierindustrie                               58,4 Prozent

 

Industrie der Steine und Erden       52,5 Prozent

 

Industrie der Seifen, Fette und Öle     52,3 Prozent

 

In den übrigen Gruppen hatte der Großbetrieb schon 1895 die Mehrheit, aber seine Stelle ist überall noch erheblich verstärkt worden (Metallverarbeitung 47,0, polygraphische Gewerbe 43,8, Verkehrsgewerbe 41,6, Baugewerbe 40,5 Prozent aller gewerbetätigen Personen). Auf fast allen Gebieten ist somit die Entwicklung den größeren Betrieben zugute gekommen.

 

Die Betriebs-, und was gleichbedeutend ist, die Kapitalkonzentration vollzieht sich dort ganz besonders rasch, wo der kapitalistische Betrieb zur vollen Herrschaft gelangte. Nehmen wir zum Beispiel die Bierbrauerei. Im deutschen Brausteuergebiet, von dem Bayern, Württemberg, Baden und Elsaß-Lothringen ausgeschlossen sind, waren

 

 

Die Zahl der in Betrieb gewesenen Brauereien sank also von 1873 bis 1907 um 8.033 = 59,3 Prozent, die Zahl der gewerblichen Brauereien sank um 5.676 = 51,9 Prozent, dagegen stieg die Bierproduktion um 26.700.000 Hektoliter = 135,7 Prozent. Das bedeutet Zusammenbruch der kleinen und mittleren Betriebe und gewaltige Vergrößerung der Großbetriebe, deren Leistungsfähigkeit sich vervielfacht: im Jahre 1873 auf eine Brauerei 1.450, im Jahre 1907 8.385 Hektoliter. So ist es überall, wo der Kapitalismus zur Herrschaft kommt. In Österreich gab es im Jahre 1876 2.248 Brauereien, die 11.671.278 und im Jahre 1904/05 nur noch 1.285, die aber 19.098.540 Hektoliter Bierwürzen erzeugten.

 

Ähnliche Resultate zeigt die Entwicklung der deutschen Steinkohlenproduktion und der gesamten Montanindustrie des Deutschen Reiches. In der ersteren ging die Zahl der Hauptbetriebe, die 1871 bis 1875 durchschnittlich 623 betrug, auf 406 im Jahre 1889 zurück, gleichzeitig stieg aber die Produktion von 34.485.400 Tonnen auf 67.342.200 Tonnen, und die mittlere Belegschaft stieg von 172.074 auf 239.954 Köpfe. Die folgende Tabelle veranschaulicht diesen Konzentrationsprozeß in der Stein- und Braunkohlengewinnung bis 1907.

 

 

In der Steinkohlenproduktion hatte sich also seit den siebziger Jahren die Zahl der Betriebe um 49,8 Prozent vermindert, dagegen war die Zahl der beschäftigten Arbeiter um 216,9 Prozent und die Produktion sogar um 420,6 Prozent gewachsen.

 

In der gesamten Montanindustrie war in den Jahren

 

 

Hier hatte sich also die Zahl der Betriebe um 35,5 Prozent vermindert, dagegen war die Zahl der beschäftigten Arbeiter um 164,4 Prozent und die Produktion um 374,5 Prozent gewachsen.

 

Einer kleineren, aber viel reicher gewordenen Zahl von Unternehmern stand eine bedeutend gewachsene Zahl von Proletariern gegenüber. 1871 bis 1875 kamen auf jeden Betrieb durchschnittlich 92, 1887 160, und 1907 waren es 307, trotz der Vermehrung der Betriebe von 1.862 im Jahre 1906 auf 1.958 im Jahre 1907!

 

"Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet gab es 1907 zwar noch 156 Werke, aber davon verfügten 34 (21,8 Prozent) allein über mehr als 50 Prozent der Förderung. Obschon die Betriebsstatistik noch 156 Ruhrzechen aufführt, hatte das Kohlensyndikat, dem mit geringen Ausnahmen alle Werke angeschlossen sind, nur 76 Mitglieder; so weit ist die Werkskonzentration schon gediehen. Nach der Feststellung vom Februar 1908 betrug die Beteiligungsziffer im Kohlensyndikat 77,9 Millionen Tonnen Kohlen" .

 

Im Jahre 1871 waren im Betrieb 306 Hochöfen mit 23.191 Arbeitern, die 1.563.682 Tonnen Roheisen produzierten, und im Jahre 1907 erzeugten schon 303 Hochöfen mit 45.201 Arbeitern 12.875.200 Tonnen, auf jeden Hochofen im Jahre 1871 5.110 Tonnen, im Jahre 1907 42.491 Tonnen! "Nach einer in ›Stahl und Eisen‹, März 1896, veröffentlichten Liste konnte derzeitig nur ein deutsches Hüttenwerk, die Gutehoffnungshütte Oberhausen, eine Roheisenproduktion bis zu 820 Tonnen innerhalb 24 Stunden liefern. Aber schon 1907 gab es 12 Werke, die innerhalb 24 Stunden 1.000 und mehr Tonnen erzeugen konnten" .

 

Im Jahre 1871/72 verarbeiteten 311 Fabriken in der Rübenzuckerindustrie 2.250.918 Tonnen Rüben, im Jahre 1907/08 dagegen 365 Fabriken 13.482.750 Tonnen. Die durchschnittliche Rübenverarbeitung pro Fabrik betrug 1871/72 7.237 und 1907/08 36.939 Tonnen! Es wurden gewonnen 1871/72 186.441 Tonnen = 8,28 Prozent der verarbeiteten Rüben, und 1907/08 2.017.071 Tonnen = 14,96 Prozent.

 

Und diese technische Revolution vollzieht sich nicht nur in der Industrie, sondern auch in den bestehenden Verkehrsgewerben. Der deutsche Handel auf See zählte:

 

 

Die Segelschiffahrt geht also erheblich zurück, aber soweit sie noch besteht, nimmt die Ladefähigkeit der Schiffe und die Zahl der Besatzungsmannschaft ab. 1871 kamen auf ein Segelschiff 205,9 Registertonnen Ladefähigkeit und 7,9 Köpfe Besatzung, 1909 hatte das Segelschiff durchschnittlich 176,4 Registertonnen Ladefähigkeit und nur 5,4 Köpfe Besatzung. Ein anderes Bild zeigt die deutsche Dampfschiffahrt zur See. Deutschland besaß:

 

 

Die Zahl der Dampfer war also nicht nur erheblich gestiegen, ihre Ladefähigkeit stieg noch mehr, dagegen war im Verhältnis die Kopfzahl der Bemannung gesunken. 1871 hatte ein Dampfer durchschnittlich 558 Registertonnen Ladefähigkeit und 32,1 Köpfe Besatzung, 1909 aber hatte ein solcher 1.230 Registertonnen Ladefähigkeit und nur 29 Köpfe Besatzung.

 

Für die kapitalistische Entwicklung unserer Wirtschaftsordnung spricht auch die rasche Zunahme der motorischen Kräfte. Nach Viebahn waren 1861 in der Industrie des Zollvereinsgebiets verwendet 99.761 Pferdekräfte . 1875 waren in Deutschland in Betrieben, in denen mehr als 5 Personen beschäftigt wurden, 1.055.750 Pferdekräfte in Anwendung, und zwar in 25.152 Fällen, im Jahre 1895 waren es 2.938.526 Pferdekräfte, nahezu dreimal so viel, in 60.176 Fällen. Die Eisenbahn- (und Straßenbahn-)betriebe und die Dampfschiffahrt sind in dieser Aufstellung nicht enthalten.

 

In Preußen wurden gezählt Pferdekräfte:

 

 

 

Es hat sich also in Preußen im Zeitraum von 1879 bis 1907 die Zahl der verwendeten Pferdekräfte beinahe versechsfacht! Wie gewaltige Fortschritte die Entwicklung der Industrie nach der Zählung von 1895 gemacht hatte, ist daraus ersichtlich, daß in Preußen die Zahl der feststehenden Dampfmaschinen von 1896 bis 1907 um 35 Prozent gestiegen ist, die gesamte Leistungsfähigkeit der Maschinen hat in dieser Zeit sogar um 105 Prozent zugenommen. Während im Jahre 1898 im ganzen 3.305 Dampfmaschinen mit 258.726 Pferdekräften zum Antrieb von Dynamos dienten, sind es im Jahre 1907 6.191 mit 954.945 Pferdekräften, das ist eine Steigerung um 87 bzw. 269 Prozent .

 

Die folgenden Zahlen zeigen die Zunahme der Dampfkraft in den wichtigsten Industrien in Pferdekräften:

 

Industrie                  1879       1897          1907

 

Berg und Hütten      516.000  1.430.000  2.284.000

 

Steine und Ziegel     29.000    132.000     255.000

 

Metallverarbeitung  23.000    57.000       113.000

 

Maschinen               22.000    61.000       329.000

 

Textil                       88.000    243.000     323.000

 

Und angesichts dieser fabelhaften Entwicklung der Produktivkräfte und gewaltigen Kapitalskonzentration will man noch versuchen, diese Tatsache wegzuinterpretieren. Einen solchen Versuch machte auf der elften Tagung des Internationalen statistischen Instituts in Kopenhagen (August 1907) der französische Ökonomist Ives Guyot. Auf Grund einer leichtfertigen Statistik machte er den Vorschlag, das Wort "Konzentration" aus der Statistik wegzuschaffen. Ihm antwortete unter anderen Karl Bücher: "Eine absolute Vermehrung der Zahl der Betriebe könne sehr wohl mit starker Konzentration derselben zugleich vorkommen. Nun aber seien überall, wo die Erhebung nach Betrieben (établissements) vorgenommen werde, zahlreiche Doppelzählungen unvermeidlich; eine Bank mit 100 Depositenkassen werde gleich 101 gezählt, eine Bierbrauerei mit 50 von ihr mit Lokal und Inventar versehenen Bierwirten ergäbe 51 Betriebe. Die Ergebnisse einer solchen Statistik könnten für das gesuchte Phänomen gar nichts beweisen.

 

Nach den seitherigen Untersuchungen scheine nur die Landwirtschaft dem Prozeß der Konzentration nicht zu unterliegen; auf den Gebieten des Bergbaus, des Handels, des Transport-, Versicherungs- und Bauwesens sei sie evident; auf dem Gebiet der Industrie sei sie deshalb schwerer zu erkennen, weil jedes sich kräftig entwickelnde Kulturvolk eine Erweiterung der industriellen Produktion aufweisen müsse, und zwar aus vier Gründen: 1. Wegen der Übernahme früher hauswirtschaftlicher Funktionen durch die Industrie: 2. wegen der Ersetzung von Naturprodukten in der Konsumtion durch Industrieprodukte (Holz durch Eisen, Waid, Krapp und Indigo durch Teerfarben usw.); 3. wegen neuer Erfindungen (Automobil); 4. wegen der Möglichkeit des Exports. Es finde deshalb gerade hier eine Konzentration in größtem Umfang statt, ohne daß sich die Zahl der Unternehmungen vermindere, ja selbst bei Vermehrung derselben. Überall, wo die Industrie gebrauchsfertige Ware von typischem Charakter erzeuge, sei die Vernichtung der selbständigen Kleinbetriebe unvermeidlich. Die kapitalistischen Produktionsformen seien somit auf den wichtigsten Wirtschaftsgebieten in raschem Fortschritt begriffen. Es sei nicht weise, die Sozialisten in dem zu bekämpfen, worin sie recht haben, und in der Behauptung einer zunehmenden Konzentration seien sie zweifellos im Rechte" .

 

Dasselbe Bild, das die ökonomische Entwicklung Deutschlands bietet, zeigen alle Industriestaaten der Welt. Alle Kulturstaaten bemühen sich, mehr und mehr Industriestaaten zu werden; sie wollen nicht nur ihren eigenen Bedarf an Industrieartikeln erzeugen, sondern solche auch ausführen. Deshalb spricht man nicht bloß von einer Nationalwirtschaft, sondern auch von einer Weltwirtschaft. Der Weltmarkt reguliert die Preise einer Unzahl von Industrie- und Agrarprodukten und beherrscht die soziale Stellung der Völker. Dasjenige Produktionsgebiet, das für die Weltmarktbeziehungen von ausschlaggebender Bedeutung geworden ist, ist die nordamerikanische Union, von welcher von jetzt ab der Hauptanstoß zur Revolutionierung der Weltmarktverhältnisse und der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht. Der Zensus der letzten drei Jahrzehnte ergab folgendes Resultat.

 

Es betrug das in der Industrie angelegte Kapital

 

1880   2.790 Millionen Dollar

 

1890   6.525 Millionen Dollar

 

1900   9.813 Millionen Dollar

 

Der Wert der Industrie betrug:

 

1880   5.369 Millionen Dollar

 

1890   9.372 Millionen Dollar

 

1900   13.000 Millionen Dollar

 

Die Vereinigten Staaten stehen also heute als Industriestaat an der Spitze der Welt, ihr Export an Industrie- wie Agrarerzeugnissen steigt von Jahr zu Jahr und die riesigen Kapitalansammlungen, die diese Entwicklung zur Folge hat, suchen über die Grenzen des Landes hinaus Verwendung und beeinflussen in hohem Grade auch Industrie und Verkehr in Europa. Und es ist nicht mehr der einzelne Kapitalist, der als der Treibende hinter dieser Entwicklung steht, es sind die Kapitalisten- und Unternehmerkonsortien, die Kapitalistenkoalitionen, die, wo sie ihre Tätigkeit hinlenken, die stärksten Privatunternehmer erdrücken. Was will gegenüber einer solchen Entwicklung der mittlere und kleine Unternehmer beginnen, wenn selbst der große die Segel streichen muß?

 

3. Konzentration des Reichtums

 

Es ist ein ökonomisches Gesetz, daß mit der Konzentration der Betriebe und steigender Produktivität die Zahl der Arbeiter relativ abnimmt, dagegen konzentriert sich der Reichtum prozentual zur Gesamtbevölkerung in immer wenigeren Händen.

 

Das zeigt am besten die Verteilung des Einkommens in verschiedenen Kulturländern.

 

Von den größeren deutschen Staaten besitzt Sachsen die älteste und vergleichsweise beste Einkommensteuerstatistik. Das geltende Gesetz ist seit 1879 in Kraft. Es empfiehlt sich aber, ein späteres Jahr der Einschätzung zu nehmen, weil in den ersten Jahren die Einschätzungen durchschnittlich erheblich zu niedrig angenommen werden. Die Bevölkerung Sachsens stieg von 1880 bis 1905 um 51 Prozent, die Zahl der zur Steuer eingeschätzten Personen stieg von 1882 bis 1904 um 160 Prozent, das zur Steuer eingeschätzte Einkommen um 23 Prozent. Bis Anfang der neunziger Jahre blieb ein Einkommen bis 300 Mark pro Jahr steuerfrei, nachher bis 400 Mark. Im Jahre 1882 betrug die Zahl der steuerfreien Personen 75.697 = 6,61 Prozent der Eingeschätzten, 1904 dagegen 205.667 = 11,03 Prozent. Bemerkt sei, daß in Sachsen das Einkommen der Ehefrauen und das der unter 16 Jahre alten Familienangehörigen dem Ehemann beziehungsweise dem Familienvater zugerechnet wird.

 

Die Steuerzahler von 400 bis 800 Mark Einkommen betrugen 1882 48 Prozent der Eingeschätzten, 1904 nur 43,81  Prozent, ein Teil derselben war also in höhere Einkommenklassen gerückt. Das Durchschnittseinkommen des Steuerzahlers dieser Klasse war in dieser Periode von 421 auf 582 Mark = 37 Prozent gestiegen, blieb aber hinter dem Durchschnitt von 600 Mark noch zurück. Die Steuerpflichtigen mit einem Einkommen von 800 bis 1.250 Mark bildeten 1882 12 Prozent der Eingeschätzten, 1904 bildeten sie 24,38 Prozent der Eingeschätzten, die Zahl der Eingeschätzten von 1.250 bis 3.300 (von 1895 an mit 3.400) Mark dagegen bildete 1882 20 Prozent und 1904 nur 16,74 Prozent der Eingeschätzten. Im Jahre 1882 hatten unter 3.300 Mark Einkommen 97,60 Prozent der Eingeschätzten, 1904 unter 3.400 Mark 95,96 Prozent. Hält man fest, daß 1863 Lassalle die Einkommen in Preußen mit über 3.000 Mark auf 4 Prozent sämtlicher Einkommen berechnete, daß aber mittlerweile die Mieten, die Steuern und beinahe alle Lebensbedürfnisse im Preise stiegen, auch die Ansprüche an die Lebenshaltung wuchsen, so hat sich die Lage der großen Masse relativ kaum verbessert. Die mittleren Einkommen von 3.400 bis 10.000 Mark bildeten 1904 nur 3,24 Prozent der Eingeschätzten und die Einkommen über 10.000 Mark weniger als 1 Prozent (0,80), die Zahl der Zensiten mit 12.000 bis 20.000 Mark 0,80 Prozent. Die Zahl der Einkommen über 12.000 Mark ist von 4.124 in 1882 auf 11.771 in 1904 gestiegen, also um 188 Prozent. Das Höchsteinkommen betrug 1882 2.570.000 Mark, 1906 5.900.600 Mark. Das Resultat ist: Die unteren Einkommen haben zwar eine Hebung erfahren, die aber durch erhöhte Preise vielfach mehr als ausgeglichen wurde, die Mittelklassen erfuhren prozentual die geringste Verbesserung, dagegen stieg die Zahl und das Einkommen der reichsten Leute am stärksten. Die Klassengegensätze verschärften sich also.

 

In seinen Untersuchungen über die Verteilung des Volkseinkommens in Preußen von 1892 bis 1902 kommt Professor Adolf Wagner zu folgenden Ergebnissen. Er teilt die Bevölkerung Preußens in drei große Gruppen: in Unterstand (unterster bis 420 Mark, mittlerer 420 bis 900, oberster 900 bis 2.100 Mark), in Mittelstand (unterster von 2.100 bis 3.000, mittlerer von 3.000 bis 6.000 und oberster von 6.000 bis 9.500 Mark) und in Oberstand (unterster von 9.500 bis 30.500, mittlerer von 30.500 bis 100.000 und oberster mit Einkommen über 100.000 Mark). Das Gesamteinkommen verteilt sich zu beinahe gleichen Teilen unter diesen drei Gruppen. Die 3,51 Prozent des Oberstandes verfügen über 32,1 Prozent des Gesamteinkommens, der Unterstand, der die 70,66 Prozent Steuerfreien umfaßt, verfügt ebenfalls über ein Einkommen von 32,9 Prozent des Gesamteinkommens, und der Mittelstand mit 25,83 Prozent verfügt über ein Einkommen von 34,9 Prozent des Gesamteinkommens. Zieht man nur das steuerpflichtige Einkommen heran, so findet man, daß auf Zensiten mit 900 bis 3.000 Mark Einkommen, die im Jahre 1892 86,99 Prozent und im Jahre 1902 88,04 Prozent aller Zensiten bildeten, etwas mehr als die Hälfte des steuerpflichtigen Einkommens entfällt, nämlich 51,05 Prozent im Jahre 1892 und 52,1 Prozent im Jahre 1902. Auf Einkommen über 3.000 Mark, welche 13 respektive 12 Prozent aller Zensiten ausmachen, entfallen ungefähr 49 Prozent im Jahre 1892 und 48 Prozent des gesamten steuerpflichtigen Einkommens im Jahre 1902. Das Durchschnittseinkommen der kleinen Zensiten belief sich für ganz Preußen im Jahre 1892 auf 1.374, im Jahre 1902 auf 1.348 Mark, hatte sich also um 1,89 Prozent verringert. Dagegen hat das Durchschnittseinkommen der großen Zensiten von 8.811 Mark im Jahre 1892 auf 9.118 Mark im Jahre 1902 zugenommen, oder um 3,48 Prozent. Auf den Oberstand, der im Jahre 1892 nur 0,5 Prozent, im Jahre 1902 0,63 Prozent aller Zensiten ausmachte, entfielen 1892 15,95 Prozent und 1902 18,37 Prozent des Gesamteinkommens. Am schwächsten ist die Vermehrung beim unteren und mittleren Mittelstand, etwas stärker beim obersten Unterstand, am stärksten jedoch, und zwar zunehmend mit steigendem Einkommen von Gruppe zu Gruppe, beim obersten Mittel- und vollends beim ganzen Oberstand. Je größer das Einkommen der Zensiten einer Gruppe, je reicher sie sind, desto mehr vermehrt sich relativ ihre Zahl. Und es nimmt immer mehr zu die Zahl der Zensiten mit höheren und höchsten Einkommen, die aber durchschnittlich auch selbst immer wieder ein größeres Einkommen erreichen, mit anderen Worten, es findet statt eine immer stärkere Einkommenskonzentration nicht gerade nur bei einzelnen besonders reichen, sondern bei einer der Zahl nach stark zunehmenden, wenn auch stets nur eine absolut und relativ kleine Zahl umfassenden höheren und höchsten ökonomischen Volksschicht. "Daraus folgt der Schluß, daß die moderne wirtschaftliche Entwicklung allerdings dem gesamten Volke in Einkommenerhöhung und jeder ökonomisch-sozialen Klasse in Steigerung ihrer Mitgliederzahl zugute gekommen ist, aber doch in stark ungleichem Maße, am meisten den reicheren, dann der unteren Klasse, am wenigsten den mittleren; daß demnach auch die soziale Klassendifferenz, soweit sie auf Größe des Einkommens beruht, sich vergrößert hat" .

 

Nach der Einkommensteuerveranlagung von 1908 gab es in Preußen 104.994 Zensiten mit Einkommen über 9.500 Mark mit einem Gesamteinkommen von 3.123.273.000 Mark. Darunter 3.796 mit einem Einkommen über 100.000 Mark mit einem Gesamteinkommen von 934.000.000 Mark. Es wurden gezählt 77 Zensiten mit mehr als einer Million Einkommen. Die 104.904 Zensiten, oder 1,78 Prozent, mit mehr als 9.500 Mark Einkommen hatten ein ebensolches Einkommen als die 3.109.540 (52,9 Prozent) mit Einkommen von 900 bis 1.350 Mark!

 

In Österreich entfallen "auf durchschnittlich 12 bis 13 Prozent der Zensiten in den Einkommenstufen von 4.000 bis 12.000 Kronen rund 24 Prozent des veranlagten Nettoeinkommens. Faßt man die Einkommen bis 12.000 Kronen zusammen, so fallen in diese Gruppe über 97 Prozent der Zensiten und 74 Prozent des Einkommens. Für die übrigen 3 Prozent der Zensiten verbleiben dann 26 Prozent des veranlagten Einkommens" . Das steuerfreie Existenzminimum ist höher als in Preußen – 1.200 Kronen oder 1.014 Mark. Die kleinen Zensiten mit einem Einkommen von 1.200 bis 4.000 Kronen bildeten im Jahre 1904 84,3 Prozent aller Steuerpflichtigen. Die Zahl der reichsten Leute mit mehr als 200.000 Kronen Einkommen belief sich im Jahre 1898 auf 255, im Jahre 1904 auf 307 oder 0,032 Prozent aller Zensiten.

 

In Großbritannien und Irland gehört nach L. G. Chiozza Money die Hälfte des Volkseinkommens (mehr als 16.600 Millionen Mark) dem neunten Teil der Bevölkerung. Er teilt die Bevölkerung in drei Gruppen: Reiche mit mehr als 700 Pfund Sterling (14.000 Mark), Wohlhabende mit einem Einkommen von 160 (3.200 Mark) bis 700 Pfund Sterling und Arme mit weniger als 160 Pfund Sterling (3.200 Mark) Einkommen.

 

 

Somit gehört mehr als ein Drittel des Volkseinkommens weniger als einem dreißigsten Teil der Bevölkerung. Die Untersuchungen Booths für London und Rowntrees für York haben bewiesen, daß 30 Prozent der gesamten Bevölkerung das ganze Leben lang in den Klauen des permanenten Elends sich abrackern .

 

Für Frankreich gibt E. Levasseur auf Grund der Statistik der Erbschaften die folgende Zusammenstellung: "Zwei Fünftel des Nationalreichtums befinden sich im Besitz von 98 Prozent Eigentümern, die weniger als 100.000 Frank haben; etwa ein Drittel gehört einer kleinen Gruppe von 1,7 Prozent, und ein Viertel des gesamten Nationalreichtums bildet den Anteil einer winzigen Minorität – 0,12 Prozent!"

 

Man sieht, wie groß die Masse der Besitzlosen ist und wie dünn die Schicht der besitzenden Klassen.

 

"Die wachsende Ungleichheit – sagt G. Schmoller – ist unbestreitbar.... Es wird nicht zweifelhaft sein, daß die Vermögensverteilung Mitteleuropas von 1300 bis 1900 eine steigend ungleiche wurde, allerdings in den einzelnen Ländern in sehr verschiedenen Maße.... Die neuere Entwicklung hat mit den steigenden Klassengegensätzen die Vermögens- und Einkommensungleichheit stark vermehrt" .

 

Dieser kapitalistische Entwicklungs- und Konzentrationsprozeß, der sich in allen Kulturstaaten vollzieht, ruft aber bei der Anarchie in der Produktionsweise, die bisher noch keine Trust- und Ringbildung zu verhindern vermochte, mit Notwendigkeit die Überproduktion, die Absatzstockung hervor. Wir gelangen in die Krise.

 

Achtzehntes Kapitel - Krisen und Konkurrenz