Mit der zunehmenden Volkszahl entsteht eine Reihe von Schwestergentes, die wieder Tochtergentes das Leben geben. Diesen gegenüber erscheint die Muttergens als Phratrie. Eine Anzahl Phratrien bilden den Stamm. Diese soziale Organisation ist so fest, daß sie noch die Grundlage für die militärische Organisation in den alten Staaten bildete, als bereits die alte Gentilverfassung auseinandergefallen war. Der Stamm spaltet sich in mehrere Stämme, die alle die gleiche Verfassung haben und in deren jedem die alten Gentes wieder zu finden sind. Indem aber die Gentilverfassung die Verheiratung mit Geschwistern und Verwandten mütterlicherseits bis in das fernste Glied verbietet, untergräbt sie sich selbst. Bei den durch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung immer verwickelter werdenden Beziehungen der einzelnen Gentes zueinander wird das Eheverbot zwischen den verschiedenen Gentes auf die Dauer undurchführbar, sie bricht in sich selbst zusammen oder wird gesprengt. Solange die Produktion von Lebensmitteln noch auf den untersten Stufen stand und nur sehr einfache Ansprüche befriedigte, war die Tätigkeit von Mann und Frau wesentlich dieselbe. Mit der zunehmenden Arbeitsteilung tritt aber nicht bloß Trennung der Verrichtungen, sondern auch Trennung des Erwerbs ein. Fischfang, Jagd, Viehzucht, Ackerbau erfordern besondere Kenntnisse, und in noch höherem Maße die Herstellung von Werkzeugen und Gerätschaften, die vorzugsweise Eigentum der Männer wurden. Der Mann, der bei dieser Entwicklung im Vordergrund stand, wurde der eigentliche Herr und Eigentümer dieser Reichtumsquellen.

 

Mit der zunehmenden Volkszahl und mit dem Streben nach umfassenderem Besitz an Weideplätzen und Ackerbau entstanden aber nicht nur Reibereien und Kämpfe um den Besitz des besten Grund und Bodens, sondern es entstand auch das Bedürfnis nach Arbeitskräften. Je zahlreicher diese Kräfte waren, um so größer der Reichtum an Produktion und Herden. Das führte zunächst zum Frauenraub, weiter zur Versklavung der besiegten Männer, die man anfangs getötet hatte. Damit wurden zwei Elemente in die alte Gentilverfassung eingeführt, die sich auf die Dauer mit derselben nicht vertrugen.

 

Ein anderes kam hinzu. Bei größerer Differenzierung der Tätigkeiten entsteht aus dem wachsenden Bedarf an Werkzeugen, Geräten, Waffen usw. das Handwerk, das eine selbständige Entwicklung nimmt und sich allmählich vom Ackerbau loslöst. Es entsteht eine besondere das Handwerk betreibende Bevölkerung, mit ganz anderen Interessen, sowohl in bezug auf Besitz als Vererbung dieses Besitzes.

 

Solange die Abstammung in der weiblichen Linie maßgebend war, erbten die Gentilverwandten von ihren verstorbenen Gentilgenossen mütterlicherseits. Das Vermögen blieb in der Gens. In dem neuen Zustand, in dem der Vater Eigentümer, das heißt Besitzer von Herden und Sklaven, von Waffen und Vorräten, Handwerker oder Handeltreibender geworden war, fiel sein Besitz, solange er noch zur Gens der Mutter zählte, nach seinem Tode nicht an seine Kinder, sondern an seine Brüder und Schwestern und die Kinder seiner Schwestern oder an die Nachkommen seiner Schwestern. Die eigenen Kinder gingen leer aus. Der Drang, diesen Zustand zu ändern, war also ein sehr mächtiger, und er wurde geändert. Es entstand zunächst an Stelle der Vielehe die Paarungsfamilie. Ein bestimmter Mann lebte mit einer bestimmten Frau, und die aus diesem Verhältnis hervorgehenden Kinder waren ihre eigenen Kinder. Diese Paarungsfamilien vermehrten sich in dem Maße, wie die aus der Gentilverfassung hervorgehenden Eheverbote die Heirat erschwerten und die angeführten ökonomischen Gründe die neue Gestaltung des Familienlebens wünschenswert erscheinen ließen. Der alte Zustand der Dinge, der auf Gemeinwirtschaft beruhte, vertrug sich nicht mit persönlichem Eigentum. Stand und Beruf wurden entscheidend für die Notwendigkeit, den Wohnort zu wählen. Aus der jetzt entstehenden Warenproduktion ging der Handel mit benachbarten und fremden Völkern hervor, was Geldwirtschaft bedingte. Es war der Mann, der diese Entwicklung leitete und beherrschte. Seine Privatinteressen hatten also keine wesentlichen Berührungspunkte mehr mit der alten gentilen Organisation, deren Interessen sogar oft den seinen entgegenstanden. So sank die Bedeutung derselben immer mehr. Schließlich war von der Gens wenig mehr als die Handhabung der religiösen Funktionen für den Familienverband verblieben; ihre wirtschaftliche Bedeutung war dahin und die gänzliche Auflösung der Gentilverfassung nur eine Frage der Zeit.

 

Mit dieser Loslösung aus der alten Gentilordnung sank rasch der Einfluß und die Stellung der Frau. Das Mutterrecht verschwand, das Vaterrecht trat an seine Stelle. Der Mann als Privateigentümer hatte das Interesse nach Kindern, die er als legitime ansehen und zu Erben seines Eigentums machen konnte, er zwang daher der Frau das Verbot des Umganges mit anderen Männern auf.

 

Dagegen nahm er sich das Recht, neben der eigentlichen Frau oder mehreren derselben sich so viele Kebsweiber zuzulegen, als seine Verhältnisse ihm zu halten erlaubten. Und die Kinder dieser Kebsweiber wurden wie legitime Kinder behandelt. Zwei in dieser Beziehung wichtige Beweise finden wir in der Bibel. Dort heißt es im 1. Buch Mose, Kapitel 16, Vers 1 und 2: "Sarai, Abrahams Weib, gebar ihm nichts. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. Und sie sprach zu Abraham: Siehe, der Herr hat mich verschlossen, daß ich nicht gebären kann. Lieber lege dich zu meiner Magd, ob ich doch vielleicht aus ihr mich bauen möge. Abraham gehorchte der Stimme Sarais." Die zweite bemerkenswerte Ausführung findet sich 1. Buch Mose 30, 1 und folgende. Dort heißt es: "Da Rahel sah, daß sie dem Jakob nichts gebar, neidete sie ihre Schwester und sprach zu Jakob: Schaffe mir Kinder, wo nicht, sterbe ich. Jakob aber ward sehr zornig auf Rahel und sprach: Bin ich doch nicht Gott, der dir deines Leibes Frucht nicht geben will. Sie aber sprach: Siehe, da ist meine Magd Bilha, lege dich zu ihr, daß sie auf meinem Schoß gebäre und ich doch durch sie erbauet werde. Und sie gab ihm also Bilha, ihre Magd, zum Weibe, und Jakob legte sich zu ihr.

 

Jakob hatte also nicht nur die Töchter Labans, zwei Schwestern, gleichzeitig zur Frau, beide legten ihm auch noch ihre Mägde bei, was nach der Sitte der Zeit durchaus "sittlich" erschien. Die beiden Hauptfrauen hatte er bekanntlich gekauft, indem er für jede derselben ihrem Vater Laban sieben Jahre diente. Zu jener Zeit war der Kauf der Frau allgemeine Sitte bei den Juden, aber neben dem Kauf der Frauen betrieben sie einen umfänglichen Frauenraub bei den von ihnen besiegten Völkern; so raubten zum Beispiel die Benjaminiten die Töchter Silos . Die gefangene Frau wurde Sklavin, Kebsweib. Doch konnte sie zur legitimen Frau erhoben werden, sobald sie folgende Vorschriften erfüllte: Sie mußte sich Haare und Nägel schneiden lassen, das Kleid, in dem sie gefangen worden war, mußte sie ablegen und mit einem anderen, das ihr übergeben wurde, vertauschen; darauf hatte sie einen Monat lang Vater und Mutter zu beweinen, sie sollte dadurch ihrem Volke absterben, ihm fremd werden, dann konnte sie das Ehebett besteigen. Die größte Weiberzahl hatte bekanntlich König Salomo, dem nach Könige 1, 11 nicht weniger als 700 Frauen und 300 Kebsweiber zugeschrieben werden.

 

Sobald aber das Vaterrecht, das heißt die männliche Abstammung in der jüdischen Gentilorganisation zur Herrschaft kam, wurden die Töchter vom Erbe ausgeschlossen. Später wurde dies jedoch wenigstens in dem Falle geändert, daß ein Vater keine Söhne hinterließ. Das geht hervor aus 4. Mose 27, 2 bis 8, woselbst berichtet wird, daß, als Zelaphehad ohne Söhne starb und die Töchter sich bitter beschwerten, daß sie vom Erbe ihres Vaters ausgeschlossen seien, das an den Stamm Joseph zurückfallen sollte, Mose entscheidet, daß in diesem Falle die Töchter erben sollen. Als aber diese beabsichtigten, der alten Sitte gemäß in einen anderen Stamm zu heiraten, beschwerte sich der Stamm Joseph, weil dadurch ihm das Erbe verloren ging. Darauf entschied Mose (4, 36), daß die Erbinnen zwar nach freier Wahl wählen, aber im Stamme ihrer Väter zu heiraten verpflichtet seien. Also des Eigentums wegen wurde die alte Eheordnung umgestoßen. Im übrigen war bereits in der alttestamentarischen, also historischen Zeit das Vaterrecht bei den Juden vorherrschend und beruhte die Clan- und Stammesorganisation wie bei den Römern auf der Mannesfolge. Demgemäß waren die Töchter vom Erbe ausgeschlossen, wie das schon bei 1. Mose 31, 14 und 15 zu lesen ist, woselbst Lea und Rahel, die Töchter Labans, sich beklagen: "Wir haben doch kein Teil und Erbe mehr in unseres Vaters Hause. Hat er uns doch gehalten als die Fremden, denn er hat uns verkauft und unseren Lohn verzehrt."

 

Wie bei allen Völkern, bei denen die Vaterfolge an Stelle der Mutterfolge trat, befand sich auch bei den Juden die Frau in vollkommener Rechtlosigkeit. Die Ehe war Kaufehe. Der Frau war die strengste Keuschheit auferlegt, wohingegen der Mann an dieses Gebot nicht gebunden war, und überdies stand ihm das Recht zu, mehrere Frauen zu besitzen. Glaubte der Mann in der Brautnacht gefunden zu haben, daß die Frau bereits vor der Ehe die Jungfrauschaft verlor, so hatte er das Recht, sie nicht nur zu verstoßen, sie sollte auch gesteinigt werden. Dieselbe Strafe traf die Ehebrecherin, den Mann aber nur insofern, als er mit einer jüdischen Ehefrau Ehebruch beging. Nach 5. Mose 24, 1 bis 4 hatte auch der Mann das Recht, die eben erst geehelichte Frau, wenn sie vor seinen Augen nicht Gnade fand, zu verstoßen, sei es auch nur einer Unlust willen. Er sollte ihr alsdann den Scheidebrief schreiben, ihr die Hand geben und sie aus seinem Hause lassen. Ein Zeichen der tiefen Stellung, die später bei den Juden die Frau einnahm, ist weiter darin zu finden, daß noch heute die Frauen in der Synagoge in einem von den Männern getrennten Raume dem Gottesdienst beiwohnen, auch werden sie in das Gebet nicht eingeschlossen . Nach altjüdischer Auffassung gehört die Frau nicht zur Gemeinde, sie ist religiös und politisch eine Null. Sind zehn Männer beieinander, so dürfen diese Gottesdienst halten. Frauen, so viele es immer sind, sind unfähig dazu.

 

Ähnlich verordnete Solon in Athen, daß eine Gattin ihren nächsten männlichen Agnaten heiraten müsse, auch wenn beide der gleichen Gens angehörten und eine solche Heirat nach früherem Rechte verboten war. Solon verordnete auch, daß ein Eigentümer sein Eigentum nicht wie bis dahin seiner Gens hinterlassen müsse, falls er kinderlos sterbe, sondern daß er durch Testament einen beliebigen anderen als Erben einsetzen könne. Wir sehen: Der Mensch beherrscht nicht das Eigentum, sondern das Eigentum beherrscht ihn und macht sich zu seinem Herrn.

 

Mit der Herrschaft des Privateigentums war die Unterjochung der Frau unter den Mann besiegelt. Es folgte die Zeit der Geringschätzung und selbst der Verachtung der Frau.

 

Die Geltung des Mutterrechts bedeutete Kommunismus, Gleichheit aller; das Aufkommen des Vaterrechts bedeutete Herrschaft des Privateigentums und zugleich bedeutete es Unterdrückung und Knechtschaft der Frau. Das sah auch der konservative Aristophanes ein, der die Frauen, als sie in seinem Lustspiel "Die Frauenvolksversammlung" zur Herrschaft im Staate kommen, den Kommunismus einführen läßt, den er, um die Frauen zu diskreditieren, aufs ärgste karikiert.

 

In welcher Weise diese Umwandlung sich im einzelnen vollzog, läßt sich schwer nachweisen. Auch ist diese erste große Revolution, die im Schoße der Menschheit vor sich ging, nicht gleichzeitig bei den alten Kulturvölkern zur Geltung gekommen und hat sich wohl auch nicht überall in der gleichen Weise vollzogen. Unter den Völkerschaften Griechenlands war es Athen, in dem zuerst die neue Ordnung der Dinge Geltung erlangte.

 

Fr. Engels glaubt, daß sich diese große Umgestaltung durchaus friedlich vollzog und daß, nachdem alle Bedingungen für das neue Recht vorhanden waren, es nur einer einfachen Abstimmung in den Gentes bedurfte, um das Vaterrecht an Stelle des Mutterrechts zu setzen. Dagegen meint Bachofen auf Grund der alten Schriftsteller, daß die Frauen dieser sozialen Umwandlung heftigen Widerstand entgegensetzten. Er sieht namentlich in den Sagen von den Amazonenreichen, die sich in der Geschichte Asiens und des Orients finden und auch in Südamerika und China aufgetaucht sind, Beweise für den Kampf und den Widerstand, den die Frauen der neuen Ordnung entgegensetzten.

 

Mit der Männerherrschaft verloren die Frauen auch im Gemeinwesen ihre Stellung, sie wurden von der Ratsversammlung und von jedem leitenden Einfluß ausgeschlossen. Der Mann zwingt sie zur ehelichen Treue, die er aber für sich nicht anerkennt; bricht sie die Treue, so verübt sie den schwersten Betrug, der dem neuen Bürger passieren kann; sie bringt ihm fremde Kinder als Erben seines Eigentums ins Haus, weshalb bei allen alten Völkern auf dem Bruch der ehelichen Treue seitens der Frau der Tod oder die Sklaverei als Strafe stand.

 

2. Anklänge an das Mutterrecht in griechischen Mythen und Dramen

 

Waren somit die Frauen aus ihrer früher leitenden Stellung entfernt, so beherrschten doch noch Jahrhunderte die mit den alten Sitten verbundenen Kultgebräuche die Gemüter, obgleich allmählich ihr tieferer Sinn den Völkern abhanden kam. Erst die Jetztzeit bemüht sich, den Sinn dieser alten Gebräuche wieder zu erforschen. So blieb es in Griechenland religiöser Brauch, daß die Frauen nur Göttinnen um Rat und Hilfe anflehten. Auch die alljährlich wiederkehrende Feier der Thesmophorien verdankte mutterrechtlichen Zeiten ihr Entstehen. Noch in später Zeit feierten die Frauen Griechenlands während fünf Tagen dieses Fest zu Ehren der Demeter, dem kein Mann beiwohnen durfte. Ähnliches geschah im alten Rom zu Ehren der Ceres. Demeter und Ceres waren die Göttinnen der Fruchtbarkeit. Auch in Deutschland fanden bis spät ins christliche Mittelalter solche Feste statt, die der Frigga galten, die bei den alten Deutschen als die Göttin der Fruchtbarkeit galt, und auch hier waren die Männer von der Beteiligung an diesen Festen ausgeschlossen.

 

In Athen, in dem das Mutterrecht am frühesten, aber anscheinend unter schroffem Widerstand der Frauen, dem Vaterrecht Platz machte, kommt diese Umwandlung in ihrer Tragik in Äschylus' "Eumeniden" ergreifend zum Ausdruck. Der Vorgang ist folgender: Agamemnon, König in Mykenä, Gemahl der Klytämnestra, opfert auf das Geheiß des Orakels auf seinem Zuge nach Troja seine Tochter Iphigenia. Die Mutter ist empört über die Opferung ihres Kindes, das nach Mutterrecht nicht ihrem Manne gehört, und nimmt während der Abwesenheit des Agamemnon Ägisthus als Ehemann an, wodurch sie nach altem Rechte nichts Anstößiges beging. Als Agamemnon nach vieljähriger Abwesenheit nach Mykenä zurückkehrt, wird er auf Anstiften der Klytämnestra von Ägisthus erschlagen. Orest, der Sohn Agamemnons und der Klytämnestra, rächt nun auf Betreiben Apollos und Athenes den Mord des Vaters, indem er seine Mutter und Ägisthus erschlägt. Die Erinnyen verfolgen wegen des Mordes an der Mutter Orest, sie vertreten das alte Recht. Apoll und Athene, die nach dem Mythos mutterlos ist, denn sie springt geharnischt aus dem Haupte des Zeus, verteidigen Orest, denn sie vertreten das neue Vaterrecht. Die Entscheidung kommt vor den Areopag, vor dem sich folgendes Zwiegespräch entspannt, in dem die beiden sich feindlich gegenüberstehenden Anschauungen zum Ausdruck kommen:

 

Erinnys: Dich hat der Seher (Apoll) angeführt zum Muttermord?

 

Orestes: Und noch bis jetzt nicht schalt ich über mein Geschick.

 

Erinnys: Doch faßt der Spruch dich, anders reden wirst du bald.

 

Orestes: Ich glaub's; doch Beistand schickt mein Vater aus dem Grabe.

 

Erinnys: Hoff' auf die Toten, der du die Mutter tötest.

 

Orestes: Zwiefachen Frevel lud sie auf ihr schuldig Haupt.

 

Erinnys: Wie das? Belehre dessen doch die Richtenden.

 

Orestes: Den Mann erschlug sie, und erschlug den Vater mir.

 

Erinnys: Du aber lebst noch, während sie den Mord gebüßt.

 

Orestes: Warum denn hast im Leben du sie nicht verfolgt?

 

Erinnys: Sie war dem Manne nicht blutsverwandt, den sie erschlug.

 

Orestes: Ich aber, sagst du, bin von meiner Mutter Blut.

 

Erinnys: Trug denn, du Blutiger, unter ihrem Herzen sie dich nicht?
Verschwörst du deiner Mutter teures Blut?

 

Die Erinnyen erkennen also kein Recht des Vaters und des Ehemannes an, für sie besteht das Recht der Mutter. Daß Klytämnestra den Gatten erschlagen ließ, erscheint ihnen gleichgültig, denn er war ein Fremder; dagegen fordern sie des Muttermörders Bestrafung, denn Orest beging, indem er die Mutter tötete, das schwerste Verbrechen, das unter der alten Gentilordnung begangen werden konnte. Apollo hingegen steht auf dem entgegengesetzten Standpunkt, er hat im Auftrag des Zeus Orest zum Mord an der eigenen Mutter zur Rächung des Vatermordes veranlaßt, und er verteidigt vor den Richtern dessen Handlung, indem er sagt:

 

Darauf sag' ich also, mein gerechtes Wort vernimm:
Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin,
Sie hegt und trägt das auferweckte Leben nur;
Es zeugt der Vater, aber sie bewahrt das Pfand
Dem Freund die Freundin, wenn ein Gott es nicht verletzt.
Mit sicherem Zeugnis will ich das bestätigen.
Denn Vater kann man ohne Mutter sein; Beweis
Ist dort die eigne Tochter (Athene) des Olympiers Zeus,
Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg,
Und edlern Sproß gebar doch keine Göttin.

 

Nach Apoll gibt also die Zeugung dem Vater das erste Recht, wohingegen nach der bis dahin geltenden Anschauung die Mutter, die dem Kinde ihr Blut und das Leben gibt, die alleinige Besitzerin des Kindes ist und der Vater ihres Kindes für sie ein Fremder bleibt. Daher antworten die Erinnyen auf die Anschauung Apollos:

 

Danieder stürzest du die Mächte grauer Zeit...
Du, der junge Gott, willst uns, die Greisen, niederrennen.

 

Die Richter rüsten sich zum Spruche, halb stehen sie zum alten, halb zum neuen Rechte, so daß Stimmengleichheit droht. Da ergreift Athene den Stimmstein vom Altar, und indem sie denselben der Urne übergibt, spricht sie:

 

Mein ist es, abzugeben einen letzten Spruch,
Und für Orestes leg' ich diesen Stein hinein;
Denn keine Mutter wurde mir, die mich gebar,
Nein, vollen Herzens lob' ich alles Männliche,
Bis auf die Ehe, denn des Vaters bin ich ganz.
Drum acht' ich minder sträflich jetzt den Mord der Frau,
Die umgebracht hat ihren Mann, des Hauses Hort.
Es sieg' Orestes auch bei stimmengleichem Spruch.

 

Eine andere Sage stellt den Untergang des Mutterrechtes in Athen in folgender Weise dar. "Unter der Regierung des Kekrops ereignete sich ein doppeltes Wunder. Es brach zu gleicher Zeit aus der Erde der Ölbaum, an einer anderen Stelle Wasser hervor. Der erschreckte König sandte nach Delphi, um das Orakel über die Bedeutung dieser Vorgänge zu befragen. Die Antwort lautete: Der Ölbaum bedeute Minerva, das Wasser Neptun, und es stehe nun bei den Bürgern, nach welcher von den beiden Gottheiten sie ihre Stadt benennen wollten. Kekrops beruft die Volksversammlung, in welcher die Männer und die Frauen Stimmrecht hatten. Die Männer stimmten für Neptun, die Frauen für Minerva, und da die Frauen eine Stimme mehr hatten, siegte Minerva. Darüber ergrimmte Neptun und ließ das Meer die Ländereien der Athener überfluten. Um den Zorn des Gottes zu besänftigen, legten jetzt die Athener ihren Frauen dreierlei Strafe auf: sie sollten ihr Stimmrecht verlieren, ihre Kinder sollten nicht länger der Mutter Namen tragen, sie selber sollten nicht mehr Athenerinnen genannt werden" .

 

So siegte das neue Recht. Die Ehe, die den Vater zum Haupte der Familie macht, das Vaterrecht besiegte das Mutterrecht .

 

3. Legitime Frauen und Hetären in Athen

 

Wie in Athen vollzog sich der Übergang vom Mutter- zum Vaterrecht, sobald eine ähnliche Kulturentwicklung wie dort erreicht war, überall. Die Frau wird auf das Haus zurückgedrängt, sie wird isoliert und bekommt besondere Räume – die Gynäkonitis – angewiesen, in welchen sie lebt. Man schließt sie selbst vom Verkehr mit den das Haus besuchenden Männern aus. Das war der Hauptzweck der Isolierung.

 

Diese Umwandlung in den Sitten kommt bereits in der Odyssee zum Ausdruck. So verweist Telemachos seiner Mutter Penelopeia die Anwesenheit unter den Freiem, indem er ihr befiehlt:

 

Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte,
Spindel und Web[e]stuhl, und treib' an beschiedener Arbeit
Deine Mägde zum Fleiße; die Rede gebührt den Männern,
Und vor allem mir, denn mein ist die Herrschaft im Hause!

 

Diese Auffassung war bereits die allgemeine zu jener Zeit in Griechenland. Noch mehr. Die Frau, auch wenn sie Witwe ist, steht unter der Herrschaft des nächsten männlichen Angehörigen, sie hat nicht einmal mehr die Wahl des Gatten. Des langen Hinhaltens durch die schlaue Penelopeia müde, wenden sich die Freier durch den Mund des Antinoos an Telemachos und fordern.

 

Siehe, nun deuten die Freier dir an, damit du es selber
Wissest in deinem Herzen, und alle Achaier es wissen!
Sende die Mutter hinweg und gebeut ihr, daß sie zum Manne
Nehme, wer ihr gefällt und wen der Vater ihr wählt .

 

Mit der Freiheit der Frau ist's jetzt zu Ende. Verläßt sie das Haus, so muß sie sich verhüllen, um nicht das Gelüste eines anderen Mannes zu erwecken. Im Orient, in dem die geschlechtlichen Leidenschaften infolge des heißen Klimas am lebhaftesten sind, wird noch heute diese Absperrungsmethode ins Extrem getrieben. Athen wird unter den alten Völkern für die neue Ordnung mustergültig. Die Frau teilt wohl des Mannes Bett, aber nicht seinen Tisch; sie redet ihn nicht mit seinem Namen an, sondern als "Herr"; sie ist seine Magd. Öffentlich durfte sie nirgends erscheinen, auf der Straße ging sie stets verschleiert und höchst einfach gekleidet. Beging sie einen Ehebruch, so sollte sie, nach dem Solonschen Gesetz, für ihren Frevel mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit büßten. Der Mann konnte sie als Sklavin verkaufen.

 

Die Stellung der griechischen Frau in jener Zeit kommt plastisch zum Ausdruck in Euripides' "Medea" . Diese klagt:

 

Von allem, ach, was Seel' und Leben hat,
Sind doch wir Fraun die allerärmsten Wesen!
Durch unsre Mitgift müssen wir den Gatten
Erkaufen, – und was schlimmer ist als das:
Fortan gehört ihm unser Leib zu eigen.
Und furchtbar die Gefahr: wie wird er sein,
Gut oder schlecht? – Denn Scheidung wird der Frau
Ein Makel stets, und den ihr Anverlobten
Verschmähen darf sie nicht. Und kommt sie nun
Zu neuem Brauch und ungewohnter Sitte,
Muß sie erraten – niemand lehrt' es sie –
Wie ihres Gatten Art und Wesen ist.
Und wenn dies alles glücklich uns gelungen
Und gern und froh der Liebste mit uns lebt,
Ja, dann ist unser Leben neidenswert –
Sonst aber – besser tot! – der Mann, wenn ihm
Sein Haus verleidet ist, er findet draußen,
Was ihm den Kummer seiner Seele stillt,
Bei einem Freund, bei Männern seines Alters; –
Wir müssen nach des einen Auge sehn.
Sie sagen wohl, wir leben ungefährdet
Bequem zu Haus, indes sie Schlachten schlagen!
Törichter Irrtum: lieber dreimal wollt' ich
Im Kampfe stehn, als einmal nur gebären!

 

Ganz anders standen die Dinge für die Männer. Legte der Mann der Frau in Rücksicht auf die Zeugung legitimer Erben strenge Enthaltsamkeit gegen andere Männer auf, so war er nicht geneigt, sich gegenüber fremden Frauen die gleiche Enthaltsamkeit aufzuerlegen. Es entstand das Hetärentum. Frauen, die durch Schönheit und Geist sich auszeichneten, in der Regel Staatsfremde, zogen ein freies Leben im intimsten Umgang mit der Männerwelt der Sklaverei der Ehe vor. Darin wurde auch nichts Verabscheuungswürdiges gefunden. Der Name und der Ruhm dieser Hetären, die intime Beziehungen mit den ersten Männern Griechenlands pflogen und an ihren gelehrten Unterhaltungen wie an ihren Gelagen teilnahmen, ist bis auf unsere Tage gekommen, wohingegen die Namen der legitimen Frauen meist vergessen und verschollen sind. So war die schöne Aspasia die intime Freundin des berühmten Perikles, der sie später zur Gattin machte; der Name der Hetäre Phryne wurde in der Zukunft Gattungsname für jene Frauen, die sich für Geld preisgeben. Phryne stand zu Hyperides in intimen Beziehungen, und sie stand Praxiteles, einem der ersten Bildhauer Griechenlands, Modell zu seiner Aphrodite. Danae war die Geliebte des Epikur, Archäanassa jene des Plato. Andere berühmte Hetären waren Lais von Korinth, Gnathanea usw. Es gibt keinen berühmten Griechen, der nicht mit Hetären Umgang hatte. Das gehörte zu ihrer Lebensweise. Demosthenes, der große Redner, präzisierte in seiner Rede gegen Neära das geschlechtliche Leben der Männerwelt Athens also: "Wir heiraten das Weib, um eheliche Kinder zu erhalten und im Hause eine treue Wächterin zu besitzen; wir halten Beischläferinnen zu unserer Bedienung und täglichen Pflege, die Hetären zum Genuß der Liebe." Die Ehefrau war nur der Kindergebärapparat, ein treuer Hund, der das Haus bewacht. Dagegen lebte der Herr des Hauses nach seinem bon plaisir, seiner Willkür. Oft ist es auch heute noch so.

 

Um das Verlangen nach käuflichen Frauen, namentlich in der jüngeren Männerwelt, befriedigen zu können, entstand die unter der Herrschaft der Mutterfolge unbekannte Prostitution. Die Prostitution unterscheidet sich von dem freien Geschlechtsverkehr dadurch, daß das Weib seinen Körper gegen materielle Vorteile, sei es an einen Mann, sei es an eine Reihe von Männern, verkauft. Prostitution ist vorhanden, sobald das Weib aus dem Verkauf seiner Reize ein Gewerbe macht. Solon, der für Athen das neue Recht formulierte und als Begründer des neuen Rechtszustandes gefeiert wird, war es, der die öffentlichen Frauenhäuser, das Deikterion (Staatsbordell), begründete, und zwar war für alle Besucher der Preis gleich. Nach Philemon betrug derselbe einen Obolus, ungefähr fünfundzwanzig Pfennig unseres Geldes. Das Deikterion war, wie die Tempel bei Griechen und Römern und im Mittelalter die christlichen Kirchen, unverletzlich, es stand unter dem Schutze der öffentlichen Gewalt. Bis ungefähr hundertundfünfzig Jahre vor unserer Zeitrechnung war auch der Tempel zu Jerusalem der gewöhnliche Sammelplatz der Freudenmädchen.

 

Für die Wohltat, die Solon durch Gründung der Deikterien der athenischen Männerwelt erwiesen, wurde er von einem seiner Zeitgenossen mit den Worten besungen: "Solon, sei gepriesen! Denn du kauftest öffentliche Frauen für das Heil der Stadt, der Sitten einer Stadt, die erfüllt ist von kräftigen jungen Männern, die sich ohne deine weise Einrichtung den störenden Verfolgungen der besseren Frauenwelt überließen." Wir werden sehen, daß man in unserem Zeitalter genau mit denselben Gründen die Notwendigkeit der Prostitution und des Bordellwesens von Staats wegen rechtfertigt. So wurden durch die Staatsgesetze für die Männerwelt Handlungen als naturgemäßes Recht anerkannt, die, von seiten der Frauen begangen, als verachtungswürdig und schweres Verbrechen galten. Bekanntlich gibt es auch heute nicht wenig Männer, welche die Gesellschaft einer schönen Sünderin der Gesellschaft ihrer Ehefrau vorziehen und häufig zu den "Stützen des Staates", den "Säulen der Ordnung" gehören und "Wächter über die Heiligkeit der Ehe und Familie" sind.

 

Die griechischen Frauen scheinen allerdings öfter für die ihnen angetane Unterdrückung Rache an ihren Eheherren genommen zu haben. Ist die Prostitution die Ergänzung der monogamen Ehe auf der einen Seite, so der Ehebruch der Frauen und die Hahnreischaft der Männer die Ergänzung auf der anderen Seite. Unter den griechischen Dramendichtern gilt Euripides als Weiberfeind, weil er in seinen Dramen mit Vorliebe die Frauen zum Gegenstand seiner Angriffe macht. Was er ihnen alles vorhält, geht am besten hervor aus einer Angriffsrede, die eine Griechin in Aristophanes' "Die Thesmophorienfeier" gegen Euripides richtet . Dort sagt sie:

 

Mit welcher Lästrung Schmutz besudelt er (Euripides) uns nicht?
Wo schwieg denn des Verleumders Zunge? Kurz und gut:
Wo's Schauende, Tragödien und Chorreigen gibt,
Da heißen Winkelkunden wir, Mannsüchtige,
Dem Becher hold, verräterisch, erzplauderhaft,
Kein gutes Haar bleibt uns, wir sind der Männer Kreuz.
Drum, sowie von den Sitzreihn uns heimkehrt der Mann ,
Sieht er argwöhn'schen Blicks auf uns und spähet rings,
Ob ein Versteck nicht etwa einen Buhlen birgt.
Hinfort ist nichts von dem, was wir zuvor verübt,
Gestattet uns, so Arges setzet über uns
Den Männern in den Kopf er, so daß, wenn ein Weib
Ein Kränzchen flicht, sie für verliebt gilt, oder wann,
Indem im Haus sie schäfftert, sie was fallen läßt,
Der Mann sogleich: Wem gelten diese Scherben? fragt,
Dem Gastfreund aus Korinthos, das ist offenbar.

 

Es begreift sich, daß die beredte Griechin dem Ankläger ihres Geschlechts in solcher Weise dient, aber Euripides konnte schwerlich diese Anklagen erheben und hätte dafür bei den Männern keinen Glauben gefunden, wußten diese nicht zu gut, daß sie gerechtfertigt waren. Nach den Schlußsätzen der Anklagerede zu urteilen, bestand in Griechenland jene Sitte nicht, die früher in Deutschland und vielen anderen Ländern bestand, wonach der Hausherr dem Gastfreund für die Nacht die eigene Frau oder Tochter zur Verfügung stellte. So spricht Murner von dieser Sitte, die noch im fünfzehnten Jahrhundert in Holland Geltung hatte, mit den Worten: "Es ist in dem Niderlandt der Bruch, so der wyrt ein lieben gast hat, dez er yhm syn Frow zulegt uff guten glauben" .

 

Die zunehmenden Klassenkämpfe in den griechischen Staaten und der traurige Zustand in vielen dieser kleinen Gemeinwesen gab Plato zu Untersuchungen Veranlassung über die beste Verfassung und Einrichtung des Staates. In seinem "Staate", den er als Ideal aufstellt, verlangt er für die erste Klasse der Bürger, die Wächter, die volle Gleichstellung der Frauen. Sie sollen gleich den Männern an den Waffenübungen teilnehmen und alle Pflichten wie jene erfüllen, nur sollen sie das Leichtere verrichten "wegen des Geschlechtes Schwäche". Er behauptet, es seien bei beiden Geschlechtern die natürlichen Anlagen gleich verteilt, nur sei das Weib in allem schwächer als der Mann. Ferner sollten die Frauen den Männern gemein sein, desgleichen die Kinder, so daß weder ein Vater sein Kind, noch ein Kind seinen Vater kenne .

 

Aristoteles denkt bürgerlicher. Nach seiner "Politik" soll die Frau in der Wahl des Ehegatten freie Hand haben, aber sie soll ihm untergeordnet sein, doch das Recht besitzen, "einen guten Rat zu erteilen". Thukydides spricht eine Ansicht aus, die den Beifall aller Philister hat. Er sagt, diejenige Gattin verdiene das höchste Lob, von der man außerhalb des Hauses weder Gutes noch Böses höre.

 

Bei solchen Anschauungen mußte die Achtung vor der Frau immer mehr sinken. Die Furcht vor Übervölkerung führte sogar dazu, den intimen Umgang mit ihr zu meiden. Man gelangte zu unnatürlicher Befriedigung des Geschlechtstriebs. Die griechischen Staaten waren Städte mit geringem Landbesitz, der über eine gegebene Bevölkerungszahl hinaus die gewohnte Ernährung nicht mehr ermöglichte. Diese Furcht vor Übervölkerung veranlaßte Aristoteles, den Männern die Fernhaltung von ihren Frauen und dagegen die Knabenliebe anzuraten. Schon vor ihm hatte Sokrates die Knabenliebe als ein Zeichen höherer Bildung gepriesen. Schließlich huldigten dieser widernatürlichen Leidenschaft die bedeutendsten Männer Griechenlands. Die Achtung vor der Frau sank auf das tiefste. Es gab Häuser mit männlichen Prostituierten, wie es solche mit weiblichen gab. In einer solchen gesellschaftlichen Atmosphäre konnte Thukydides den Ausspruch tun, die Frau sei schlimmer als die sturmgepeitschte Meereswoge, als des Feuers Glut und der Sturz des wilden Bergwassers. "Wenn es ein Gott ist, der die Frau erfand, wo immer er sei, er wisse, daß er der unselige Urheber des höchsten Übels ist."'

 

Huldigte die Männerwelt Griechenlands der Knabenliebe, so verfiel die Frauenwelt in das andere Extrem, sie verfiel der Liebe zu Angehörigen des eigenen Geschlechts. Es war dieses besonders bei den Bewohnerinnen der Insel Lesbos der Fall, weshalb diese Verirrung die lesbische Liebe genannt wurde und noch genannt wird, denn sie ist nicht ausgestorben und besteht unter uns fort. Als Hauptrepräsentantin dieser Liebe galt die berühmte Dichterin Sappho, "die lesbische Nachtigall", die um 600 vor unserer Zeitrechnung lebte. Ihre Leidenschaft findet glühenden Ausdruck in ihrer Ode an Aphrodite, zu der sie fleht:

 

Allbeherrscherin, die du thronest auf Blumen,
O Schaumgeborene, Tochter Zeus', listsinnende,
Hör' mich rufen,
Nicht in Jammer und bittrer Qual, o Göttin,
Laß mich erliegen! –

 

Und von noch leidenschaftlicherer Sinnlichkeit legt Zeugnis ab ihre Ode an die schöne Atthis.

 

Während bereits in Athen und im übrigen Griechenland das Vaterrecht herrschte, befand sich das mit Athen um die Macht rivalisierende Sparta noch unter dem Mutterrecht, ein Zustand, der den meisten Griechen ein gänzlich fremder geworden war. Die Überlieferung berichtet: Eines Tages fragt ein Grieche einen Spartaner, was für eine Strafe in Sparta die Ehebrecher treffe. Darauf antwortete dieser: "Fremdling, bei uns gibt's keine Ehebrecher!" Der Fremde: "Wenn aber doch einer wäre?" "So muß er zur Strafe", spottete der Spartaner, "einen Ochsen geben, so groß, daß er mit seinem Kopf über den Taygetus reichen und aus dem Eurotas saufen kann." Auf die verwunderte Antwort des Fremden: "Wie ein Ochse so groß sein könne?" erwiderte der Spartaner lachend: "Wie ist's möglich, daß zu Sparta ein Ehebrecher sein kann!" Dagegen drückte sich das Selbstbewußtsein der spartanischen Frau in der stolzen Antwort aus, die das Weib des Leonidas einer Fremden gab, als diese zu ihr sagte: "Ihr Lakedämonierinnen seid die einzigen Frauen, die über ihre Männer herrschen!" worauf sie antwortete: "Wir sind auch die einzigen Frauen, die Männer zur Welt bringen."

 

Der freie Zustand der Frau unter dem Mutterrecht förderte ihre Schönheit und hob ihren Stolz, ihre Würde und Selbständigkeit. Das Urteil aller alten Schriftsteller geht dahin, daß diese Eigenschaften bei ihnen im Zeitalter der Mutterfolge in hohem Grade entwickelt waren. Der unfreie Zustand, der später eintrat, wirkte notwendig nachteilig ein; die Veränderung kommt sogar in der Verschiedenartigkeit der Kleidung in den beiden Perioden zum Ausdruck. Das Kleid der dorischen Frau haftete frei und leicht auf der Schulter, es ließ die Arme und die Unterschenkel bloß, es ist das Kleid, das Diana trägt, die in unseren Museen frei und kühn dargestellt ist. Hingegen verhüllte das ionische Kleid die Gestalt und hemmte die Bewegung. Die Art, wie die Frau sich kleidet, ist weit mehr, als man gewöhnlich annimmt, und zwar bis in unsere Tage, ein Zeichen ihrer Abhängigkeit und Ursache ihrer Hilflosigkeit. Die Art der Frauenkleidung macht bis heute die Frau unbehilflich und zwingt ihr das Gefühl der Schwäche auf, was schließlich in ihrer Haltung und in ihrem Charakter zum Ausdruck kommt. Die Gewohnheit der Spartaner, die Mädchen bis ins mannbare Alter nackt gehen zu lassen, ein Zustand, den das Klima des Landes erlaubte, trug nach der Meinung eines alten Schriftstellers wesentlich dazu bei, ihnen Geschmack für Einfachheit und Sorgfalt für äußerlichen Anstand beizubringen, und hatte, nach den Anschauungen jener Zeit, durchaus nichts die Schamhaftigkeit Verletzendes oder die Wollust Erregendes. Auch nahmen die Mädchen gleich den Knaben an allen körperlichen Übungen teil. So wurde ein kräftiges, selbstbewußtes Geschlecht erzogen, das sich seines Wertes bewußt war, wie die Antwort der Frau des Leonidas an die Fremde beweist.

 

4. Überreste des Mutterrechts in Sitten verschiedener Völker

 

Im engsten Zusammenhang mit dem geschwundenen Mutterrecht standen gewisse Gebräuche, die moderne Schriftsteller in vollständiger Verkennung ihrer Bedeutung als "Prostitution" bezeichnen. So war es in Babylon religiöse Pflicht der mannbar gewordenen Jungfrau, im Tempel der Mylitta einmal zu erscheinen, um ihre Jungfrauschaft zu opfern, indem sie sich einem Manne preisgab. Ähnliches trug sich zu im Serapeum zu Memphis, zu Ehren der Göttin Anaïtis in Armenien, auf Cypern, in Tyrus und Sydon zu Ehren der Astarte oder Aphrodite. Ähnlichen Sitten dienten die Isisfeste der Ägypter. Dieses Opfer der Jungfräulichkeit sollte der Göttin Sühne leisten für die Ausschließlichkeit der Hingabe an einen Mann in der Ehe. "Denn nicht um in den Armen eines einzelnen zu verwelken, wird das Weib von der Natur mit allen Reizen, über welche es gebietet, ausgestattet. Das Gesetz des Stoffes verwirft alle Beschränkung, haßt alle Fesseln und betrachtet jede Ausschließlichkeit als Versündigung an ihrer Göttlichkeit" . Das fernere Wohlwollen der Göttin mußte durch jenes Opfer der Jungfräulichkeit an einen Fremden erkauft werden. – Im Sinne der alten Auffassung war es auch, wenn die libyschen Mädchen durch ihre Preisgabe ihre Mitgift erwarben. Nach dem Mutterrecht waren sie während des unehelichen Standes geschlechtlich frei, und die Männer fanden in diesem Erwerb so wenig Anstößiges, daß von ihnen diejenige als Frau vorgezogen wurde, die am meisten begehrt worden war. Ähnlich war es zu Herodots Zeit bei den Thrakern: "Die Jungfrauen bewachen sie nicht, sondern lassen ihnen volle Freiheit, sich mit wem sie mögen zu vermischen. Die Frauen dagegen bewachen sie streng; sie kaufen sie von ihren Eltern um großes Gut." Berühmt waren die Hierodulen im Tempel der Aphrodite zu Korinth, in dem über tausend Mädchen vereinigt waren, die einen Hauptanziehungspunkt für die griechische Männerwelt bildeten. Und von der Tochter des Königs Cheops in Ägypten erzählt die Sage, daß sie aus den Erträgnissen der Preisgabe ihrer Reize eine Pyramide bauen ließ.

 

Ähnliche Zustände bestehen noch heute auf den Mariannen, den Philippinen und polynesischen Inseln, ferner nach Waitz bei verschiedenen afrikanischen Volksstämmen. Eine andere Sitte, die noch spät auf den Balearen bestand und das Recht aller Männer an die Frau zum Ausdruck brachte, war, daß in der Brautnacht die blutsverwandten Männer bei der Braut zugelassen wurden, der Altersreihe nach. Erst zuletzt kam der Bräutigam. Diese Sitte hat sich bei anderen Völkerschaften dahin umgewandelt, daß als die Vertreter der Männer des Stammes Priester oder Stammeshäuptlinge (Könige) dieses Vorrecht bei der Braut üben. So dingen auf Malabar die Caimars Patamaren (Priester), um ihren Frauen die Blüte zu nehmen.... Der oberste Priester (Namburi) ist verpflichtet, dem König (Zamorin) bei seiner Verehelichung diesen Dienst zu erweisen, und der König bezahlt denselben mit fünfzig Goldstücken . In Hinterindien und auf verschiedenen Inseln des Großen Ozeans sind es bald die Priester, bald die Stammeshäuptlinge (Könige), die sich diesem Amte unterziehen . Ähnlich ist es in Senegambien, wo das Stammesoberhaupt die Deflorierung der Jungfrau als Amtspflicht übt und dafür ein Geschenk erhält. Bei anderen Völkern wurde und wird die Deflorierung der Jungfrau, manchmal sogar des wenige Monate alten Kindes weiblichen Geschlechts, durch für diesen Zweck eingerichtete Götzenbilder vorgenommen. Auch darf angenommen werden, daß das jus primae noctis (das Recht der ersten Nacht), das bis ins späte Mittelalter bei uns in Deutschland und in Europa in Anwendung war, der gleichen Tradition seine Entstehung verdankt. Der Grundherr, der sich als Gebieter seiner Hörigen oder Leibeigenen ansah, übte das auf ihn überkommene Recht des Stammesoberhauptes aus. Später mehr hierüber.

 

Anklänge an das Mutterrecht zeigen sich ferner in der eigentümlichen Sitte bei südamerikanischen Stämmen – die auch bei den Basken, als ein Volk mit uralten Sitten und Gebräuchen, sich erhalten haben soll –, daß an Stelle der Wöchnerin sich der Mann ins Bett legt, sich wie eine Kreißende gebärdet und von der Wöchnerin pflegen läßt. Die Sitte bedeutet, der Vater anerkennt das Neugeborene als sein Kind. Diese Sitte soll auch noch bei verschiedenen Gebirgsstämmen Chinas bestehen, und sie bestand vor nicht langer Zeit noch auf Korsika.

 

In den Denkschriften, die die Reichsregierung dem Reichstag (Session 1894/95) über Deutschlands Kolonien vorlegte, befindet sich in der Denkschrift über das südwestafrikanische Gebiet S. 239 folgende Stelle: "Ohne seinen Rat, die Ältesten und Begütertsten, kann er (der Stammhäuptling in einem Hererodorf) auch nicht den kleinsten Beschluß fassen, und nicht allein die Männer, sondern häufig genug auch die Weiber, selbst die Diener geben ihren Rat ab." Und im Bericht über die Marschallinseln heißt es auf S. 254: "Die Herrschergewalt über sämtliche Inseln der Marschallgruppe hat niemals in den Händen eines einzelnen Häuptlings gelegen.... Da aber kein weibliches Mitglied dieser Klasse (der Irody) mehr am Leben ist und allein die Mutter dem Kinde Adel und Rang gibt, so sterben die Irodyn mit den Häuptlingen aus." Die Ausdrucks- und Schilderungsweise der Berichterstatter zeigt, wie wildfremd ihnen die von ihnen erwähnten Verhältnisse sind, sie können sich in diesen nicht zurechtfinden .

 

Dr. Heinrich v. Wlislocki, der jahrelang unter den Siebenbürger Zigeunern lebte und schließlich von einem ihrer Stämme adoptiert wurde, berichtet , daß unter den vier Zigeunerstämmen, die zur Zeit, als er noch unter ihnen lebte, ihre alte Verfassung erhalten hatten, zwei Stämme waren, die Aschani und Tschale, in denen Mutterfolge herrschte. Heiratet der wandernde Zigeuner, so tritt er in die Sippe seiner Frau ein, welche die ganze Einrichtung des zigeunerischen Hauswesens besitzt. Das vorhandene Vermögen ist Eigentum der Frau beziehungsweise der Sippe der Frau, der Mann ist Fremder. Und nach dem Recht der Mutterfolge verbleiben auch die Kinder in der Sippe der Mutter. Sogar im heutigen Deutschland besteht noch Mutterrecht. So berichtet das Zweite Blatt der "Westdeutschen Rundschau" unter dem 10. Juni 1902, daß in der Gemeinde Haltern (Westfalen) für die Erbfolge des Bürgervermögens noch das uralte Mutterrecht der Gentes geltend sei. Die Kinder erbten von der Mutter. Bis jetzt habe man sich vergeblich bemüht, diesen "alten Zopf" abzuschaffen.

 

Wie wenig die jetzt bestehende Familienform und Einehe als uralte und ewige Institutionen gelten können, beweist noch die Verbreitung der Kaufehe und Raubehe, der Polygamie und Polyandrie.

 

Auch in Griechenland wurde die Frau Kaufobjekt. Sobald sie das Haus ihres Eheherrn betrat, hörte sie auf, für ihre Familie zu existieren. Dieses wurde symbolisch dadurch ausgedrückt, daß der schön geschmückte Wagen, der sie in das Haus des Eheherrn gebracht hatte, vor der Tür desselben verbrannt wurde. Bei den Ostiaken in Sibirien verkauft noch heute der Vater die Tochter; er unterhandelt mit den Abgesandten des Bräutigams um die Höhe des zu zahlenden Preises. Ebenso besteht noch bei verschiedenen afrikanischen Stämmen, wie zu Jakobs Zeit, die Sitte, daß der Mann, der um ein Mädchen wirbt, bei der künftigen Schwiegermutter in Dienst tritt. Bekanntlich ist die Kaufehe auch bei uns nicht ausgestorben, sie herrscht sogar in der bürgerlichen Gesellschaft mehr als je. Die Geldehe, die unter unseren besitzenden Klassen fast allgemein üblich ist, ist nichts als Kaufehe. Als Symbol für die Erwerbung der Frau als Eigentum ist auch das Brautgeschenk anzusehen, das nach bestehendem Brauche der Bräutigam der Braut gewährt.

 

Neben der Kaufehe bestand die Raubehe. Der Frauenraub wurde nicht nur von den alten Juden, sondern im Altertum überall geübt, er findet sich bei fast allen Völkern. Das bekannteste geschichtliche Beispiel hierfür ist der Raub der Sabinerinnen durch die Römer. Raub der Frauen war eine naheliegende Erwerbung, wo Frauen fehlten oder wo Vielweiberei Sitte ist, wie allgemein im Orient. In diesem hatte sie namentlich während dem Bestand des Araberreichs, vom siebten bis zwölften Jahrhundert unserer Zeit, einen großen Umfang angenommen.

 

Symbolisch kommt der Frauenraub noch heute zum Beispiel bei den Araukanern im südlichen Chile vor. Während die Freunde des Bräutigams mit dem Vater der Braut unterhandeln, schleicht sich der Bräutigam in die Nähe des Hauses und sucht die Braut zu erhaschen. Sobald er sie erfaßt hat, wirft er sie auf das bereitstehende Pferd und flieht mit ihr nach dem nahen Walde. Darauf erheben Weiber, Männer und Kinder ein großes Geschrei und suchen die Flucht zu verhindern. Sobald aber der Bräutigam mit seiner Braut das Dickicht des Waldes erreicht hat; wird die Ehe als geschlossen angesehen. Dieses ist sie auch, wenn die Entführung wider den Willen der Eltern stattfand. Ähnliche Sitten bestehen bei australischen Völkerschaften.

 

Bei uns erinnert noch die Sitte der Hochzeitsreisen an den Frauenraub; die Braut wird dem häuslichen Herde entführt. Dagegen erinnert der Ringwechsel an die Unterwürfigkeit und die Kettung der Frau an den Mann. Diese Sitte tauchte ursprünglich in Rom auf. Die Braut bekam als Zeichen ihrer Fesselung an den Mann von diesem einen eisernen Ring. Später wurde dieser Ring aus Gold gefertigt, und erst viel später wurde der gegenseitige Ringtausch als Zeichen beiderseitiger Verbindung, eingeführt.

 

Der Vielweiberei (Polygamie), wie wir sie bei den orientalischen Völkern kennenlernten, und bei diesen noch heute besteht, aber in Rücksicht auf die zur Verfügung stehende Zahl der Frauen und die Kosten ihres Unterhalts nur von den Bevorrechteten und Besitzenden geübt werden kann, steht gegenüber die Vielmännerei (Polyandrie). Diese existiert hauptsächlich bei den Hochgebirgsvölkern in Tibet, bei den Garras an der indisch-chinesischen Grenze, den Baïgas in Godwana, den Naïrs im äußersten Süden Indiens, und sie soll auch bei den Eskimos und Aleuten vorhanden sein. Die Abstammung wird, wie nicht anders möglich, nach der Mutter bestimmt, die Kinder gehören ihr. Die Männer der Frau sind in der Regel Brüder. Heiratet der älteste Bruder, so werden die übrigen Brüder ebenfalls Gatten der Frau, doch hat die Frau das Recht, auch andere Männer zu nehmen. Dagegen haben auch die Männer das Recht, mehrere Frauen zu besitzen. Welchen Verhältnissen die Polyandrie ihre Entstehung verdankt, ist noch unaufgeklärt. Da die polyandrischen Völkerschaften ausnahmslos entweder auf hohen Gebirgsländern oder in der kalten Zone leben, so ist wahrscheinlich für die Polyandrie eine Erscheinung maßgebend, über die Tarnowsky berichtet . Tarnowsky vernahm von zuverlässigen Reisenden, daß längerer Aufenthalt auf bedeutenden Höhen den Geschlechtstrieb herabsetzt, der mit neuer Kraft beim Hinabsteigen wiederkehrt. Diese Herabsetzung der Geschlechtstätigkeit, so glaubt Tarnowsky, könne wohl als Erklärung für den verhältnismäßig geringen Anwuchs der Bevölkerung in hochgebirgigen Ländern dienen und, indem sie sich vererbe, eines der Degenerationsmomente werden, die auf die Perversität des Geschlechtssinnes einwirkten.

 

Die dauernde Wohn- und Lebensweise in sehr hohen oder kalten Länderstrichen wird aber auch alsdann verursachen, daß Vielmännerei keine übermäßigen Anforderungen an eine Frau stellt. Die Frauen selbst sind schon dementsprechend in ihrer Natur beeinflußt, wofür die Tatsache spricht, daß bei den Eskimomädchen die Menstruation in der Regel erst im neunzehnten Lebensjahr eintritt, während sie in der heißen Zone schon im neunten oder zehnten und in der gemäßigten zwischen dem vierzehnten und sechzehnten Lebensjahr sich einstellt. Üben heiße Länder, wie allgemein anerkannt ist, einen sehr stimulierenden Einfluß auf den Geschlechtstrieb aus, weshalb gerade in heißen Ländern die Vielweiberei ihre Hauptverbreitung hat, so dürften kalte Länderstriche, und dazu gehören hohe Gebirgsländer, sehr erheblich restringierend auf den Geschlechtstrieb einwirken. Auch tritt erfahrungsgemäß eine Konzeption seltener ein bei Frauen, die mit mehreren Männern kohabitieren. Die Bevölkerungszunahme ist daher bei der Polyandrie eine schwache und paßt sich der Schwierigkeit der Gewinnung des Lebensunterhaltes an, die in kalten Ländern und im Hochgebirge vorhanden ist. Damit wäre bewiesen, daß auch in diesem uns so fremdartig erscheinenden Zustand der Polyandrie die Art der Produktionsweise auf die Beziehungen der Geschlechter von maßgebendem Einfluß ist. Festzustellen wäre noch, ob bei diesen auf hohen Gebirgen oder in der kalten Zone lebenden Völkerschaften Tötung der Kinder weiblichen Geschlechts in Übung ist, wie dies von mongolischen Völkerstämmen in den Hochgebirgen Chinas berichtet wird.

 

5. Entstehung der Staatsordnung. Auflösung der Gens in Rom

 

Nach Aufhebung der mutterrechtlichen Gens trat die vaterrechtliche an ihre Stelle, mit wesentlich abgeschwächten Funktionen. Ihre Hauptaufgabe war Pflege der gemeinsamen religiösen Angelegenheiten und des Begräbniswesens, gegenseitige Verpflichtung zu Schutz und Hilfe; das Recht und in gewissen Fällen die Pflicht, in der Gens zu heiraten, namentlich wenn es sich um reiche Erbinnen oder Waisentöchter handelte. Auch verwaltete die Gens den noch vorhandenen gemeinsamen Besitz.

 

Mit dem Privateigentum und dem damit verbundenen Erbrecht entstanden weiter die Klassenunterschiede und Klassengegensätze. Es fand im Laufe der Zeit ein Zusammenschluß der Besitzenden gegen die nichts Besitzenden statt. Erstere suchten die Verwaltungsstellen in dem neuen Gemeinwesen in ihre Hände zu bekommen und sie erblich zu machen. Die notwendig gewordene Geldwirtschaft schuf früher ungekannte Verschuldungsverhältnisse. Die Kämpfe gegen Feinde nach außen und die gegensätzlichen Interessen im Innern, sowie die verschiedenartigen Interessen und Beziehungen, die Ackerbau, Handwerk und Handel untereinander hatten, machten komplizierte Rechtsregeln notwendig und erforderten Organe, die über den ordnungsmäßigen Gang der gesellschaftlichen Maschine wachten und Streitigkeiten entschieden. Dasselbe galt für die Beziehungen zwischen Herren und Sklaven, Schuldnern und Gläubigern. So war eine Macht nötig, die alle diese Verhältnisse übersah, leitete, ordnete, ausglich, schützend und strafend eingriff. Es entstand der Staat, der das notwendige Produkt der in der neuen Gesellschaftsordnung hervortretenden gegensätzlichen Interessen war. Dessen Leitung fiel naturgemäß in die Hände derer, die an seiner Begründung das lebhafteste Interesse hatten und kraft ihrer sozialen Macht den größten Einfluß besaßen, in die Hände der Besitzenden. Aristokratie des Besitzes und Demokratie standen sich also gegenüber, auch dort, wo völlige Gleichheit der politischen Rechte herrschte.

 

Unter den alten mutterrechtlichen Verhältnissen bestand kein geschriebenes Recht. Die Verhältnisse waren einfache und der Gebrauch war geheiligt. In der neuen, viel komplizierteren Ordnung war geschriebenes Recht eines der wichtigsten Erfordernisse, und waren besondere Organe nötig, die es handhabten. Als aber die Rechtsbeziehungen und Rechtsverhältnisse immer verwickeltere wurden, bildete sich eine besondere Klasse von Leuten, die sich das Studium der Rechtsregeln zur Aufgabe machte und schließlich auch ein spezielles Interesse gewann, sie immer mehr zu komplizieren. Es entstanden die Rechtsgelehrten, die Juristen, die durch die Bedeutung, die das geschaffene Recht für die ganze Gesellschaft hatte, zum einflußreichsten Stande wurden. Die neue bürgerliche Rechtsordnung fand im Laufe der Zeit im römischen Staat ihren klassischsten Ausdruck, daher der Einfluß, den das römische Recht bis auf die Gegenwart ausübt.

 

Die Staatsordnung ist also die notwendige Folge einer Gesellschaft, die auf höherer Stufe der Arbeitsteilung in eine große Zahl verschiedener Berufe gespalten ist, mit verschiedenen sich häufig entgegenstehenden und sich bekämpfenden Interessen. Daher notwendig die Unterdrückung des Schwächeren. Das erkannten auch die Nabatäer, ein Araberstamm, der nach Diodor das Gebot erließ: nicht zu säen, nicht zu pflanzen, keinen Wein zu trinken und keine Häuser zu bauen, sondern in Zelten zu wohnen, weil, wenn sie dergleichen täten, sie leicht von einer Obermacht (Staatsgewalt) gezwungen werden könnten, zu gehorchen. Auch bei den Rachebiten, den Nachkommen von Moses Schwiegervater, bestanden ähnliche Vorschriften . Überhaupt ist die mosaische Gesetzgebung darauf gerichtet, die Juden über eine ackerbautreibende Gesellschaft nicht hinauskommen zu lassen, weil sonst, so fürchteten ihre Gesetzgeber, ihr demokratisch-kommunistisches Gemeinwesen untergehen werde. Daher auch die Auswahl des "gelobten Landes" in einem Länderstrich, der auf der einen Seite von einem wenig zugänglichen Gebirge, dem Libanon, und auf der anderen, namentlich im Osten und Süden, von wenig fruchtbaren Gegenden und zum Teil von Wüsten begrenzt war, also die Isolierung ermöglichte. Daher auch die Fernhaltung der Juden vom Meere, das Handeln, Kolonisation und Reichtumsanhäufung begünstigt; daher ferner die strengen Gesetze über die Abschließung gegen andere Völkerschaften, die strengen Eheverbote nach außen, die Armengesetze, die Agrargesetze, das Jubeljahr, alles Einrichtungen, darauf berechnet, die Ansammlung großen Reichtums bei einzelnen zu verhindern. Die Juden sollten verhindert werden, ein staatenbildendes Volk zu werden. Deshalb blieb auch die auf der Gentilordnung beruhende Stammesorganisation bis zu ihrer gänzlichen Auflösung erhalten und wirkt zum Teil noch heute bei ihnen fort.

 

Bei der Gründung Roms beteiligten sich augenscheinlich lateinische Stämme, die über die mutterrechtliche Entwicklung hinaus waren. Die ihnen fehlenden Frauen raubten sie, wie schon bemerkt, aus dem Stamme der Sabiner und nannten sich nach diesen Quiriten. Noch in später Zeit wurden die römischen Bürger in der Volksversammlung mit Quiriten angeredet. Populus romanus bedeutete die freie Bevölkerung Roms überhaupt, aber populus Romanus quiritium drückte die Abstammung und die Eigenschaft als römischer Bürger aus. Die römische Gens war vaterrechtlich. Die Kinder erbten als Leibeserben; fehlten Kinder, so erbten die Verwandten in männlicher Linie, und waren diese nicht vorhanden, so fiel das Vermögen in die Gens. Durch die Heirat verlor die Frau das Erbrecht an das Vermögen ihres Vaters und an dasjenige von dessen Brüdern, sie trat aus ihrer Gens, und so konnten weder sie noch ihre Kinder von ihrem Vater oder dessen Brüdern erben. Das Erbteil ging sonst der väterlichen Gens verloren. Die Einteilung nach Gentes und Phratrien bildete in Rom noch jahrhundertelang die Grundlage der militärischen Organisation und für die Ausübung bürgerlicher Rechte. Aber mit dem Verfall der vaterrechtlichen Gentes und dem Sinken ihrer Bedeutung gestalteten sich die Verhältnisse günstiger für die römischen Frauen; später erbten sie nicht bloß, sondern es stand ihnen auch die Verwaltung ihres Vermögens zu, sie waren also weit günstiger gestellt als ihre griechischen Schwestern. Diese freiere Stellung, die sie allmählich erlangten, war für den älteren Cato, geboren 234 vor unserer Zeitrechnung, die Veranlassung, zu klagen: "Wenn jeder Hausvater nach dem Beispiel der Vorfahren sein Weib in der gehörigen Unterwürfigkeit zu erhalten strebte, so würde man öffentlich mit dem ganzen Geschlecht nicht so viel zu schaffen haben." Und als einige Volkstribunen im Jahre 195 vor Christo den Antrag stellten, ein früher erlassenes Gesetz gegen den weiblichen Luxus an Kleidern und Geschmeide aufzuheben, donnerte er: "Wenn jeder von uns bei seiner Frau Recht und Majorität des Mannes mit Bedacht aufrechterhalten hätte, so würden wir hier weniger Schwierigkeiten mit den sämtlichen Weibern haben: jetzt wird unsere in der Häuslichkeit überwundene Freiheit auch hier auf dem Forum schon von der weiblichen Unbändigkeit zerbrochen und mit Füßen getreten, und weil wir den einzelnen nicht standhalten können, fürchten wir sie auch insgesamt.... Unsere Vorfahren wollten, daß die Frauen keine, nicht einmal eine private Angelegenheit ohne Eintreten eines Vormundes betreiben könnten, daß sie in der Hand ihrer Väter, Brüder, Männer sein sollten: wir dulden sogar schon, daß sie von der Republik Besitz ergreifen und sich sogar in die Volksversammlungen einmischen.... Laßt die Zügel ihrer herrschsüchtigen Natur, dem unbändigen Geschöpf, und hofft dann noch, sie selbst würden ihrer Willkür eine Schranke setzen. Dies ist noch das Geringste von dem, was die Frauen unwilligen Geistes als durch Sitten oder Gesetze auferlegt leiden. Sie wünschen, um die Wahrheit zu sagen, Freiheit, nein Zügellosigkeit in allen Dingen.... Und wenn sie erst angefangen haben, uns gleich zu sein, werden sie alsbald überlegen werden."

 

Solange der Vater lebte, besaß in jener Zeit, die Cato in der vorstehenden Rede erwähnte, dieser über seine Tochter die Vormundschaft, auch wenn sie verheiratet war, es sei denn, er ernannte einen Vormund. Starb der Vater, so trat der nächste männliche Verwandte, auch wenn er als Agnat unfähig erklärt war, als Vormund ein. Der Vormund besaß das Recht, die Vormundschaft jeden Augenblick einem beliebigen Dritten zu übertragen. Die römische Frau besaß also anfangs vor dem Gesetz keinen eigenen Willen.

 

Die Eheschließungsformen waren verschieden und erhielten im Laufe der Jahrhunderte mannigfache Abänderungen. Die feierlichste Eheschließung wurde vor dem obersten Priester in Gegenwart von mindestens zehn Zeugen geschlossen, hierbei aß das Brautpaar zum Zeichen der Verbindung gemeinsam einen aus Mehl, Salz und Wasser gebackenen Kuchen. Man sieht, es handelt sich hier um eine Zeremonie, die große Ähnlichkeit mit dem Brechen der Hostie bei dem christlichen Abendmahl hat. Eine zweite Form der Eheschließung war die Besitzergreifung, die als vollzogen galt, sobald eine Frau, unter Zustimmung ihres Vaters oder Vormundes, ein Jahr mit ihrem Auserwählten unter einem Dache zusammen lebte. Eine dritte Form war eine Art gegenseitigen Kaufes, indem beide sich gegenseitig Geldmünzen und das Versprechen gaben, Eheleute sein zu wollen. Zu Ciceros Zeit war bereits für beide Teile allgemein die freie Scheidung eingeführt und wurde sogar bestritten, daß eine Ankündigung der Scheidung nötig sei. Die lex Julia de adulteriis schrieb aber dann vor, daß die Scheidung feierlich angekündigt werden müsse, was verordnet wurde, weil häufig Frauen, die Ehebruch begangen hatten und zur Verantwortung gezogen werden sollten, sich darauf beriefen, die Ehe geschieden zu haben. Justinian (der Christ) verbot die Scheidung, es sei denn, daß beide Teile ins Kloster gehen wollten. Sein Nachfolger Justinus II. sah sich aber genötigt, sie wieder zuzulassen.

 

Mit der wachsenden Macht und dem steigenden Reichtum Roms traten an Stelle der ehemaligen Sittenstrenge Laster und Ausschweifungen der schlimmsten Art. Rom wurde die Zentrale, von der aus sich Unzucht, Schwelgerei und sinnliches Raffinement über die ganze damalige Kulturwelt verbreiteten. Die Ausschweifungen nahmen namentlich in der Kaiserzeit, vielfach begünstigt durch die Kaiser, Formen an, die nur der Wahnsinn eingeben konnte. Männer und Weiber wetteiferten in der Lasterhaftigkeit. Die Zahl der öffentlichen Frauenhäuser wurde immer größer, und daneben fand die griechische Liebe (die Knabenliebe) in der Männerwelt immer mehr Eingang. Zeitweilig war in Rom die Zahl der jungen Männer, die sich prostituierten, größer als die Zahl der prostituierten Frauen .

 

Die Hetären erschienen, von ihren Verehrern umgeben, pomphaft auf den Straßen, der Promenade, im Zirkus und Theater, oft auf Ruhebetten von Negern getragen, wo sie, einen Spiegel in der Hand, von Schmuck und Edelsteinen funkelnd, stark entblößt lagen, fächerwedelnde Sklaven neben sich, umgeben von einem Schwarm von Knaben, Eunuchen, Flötenspielern; groteske Zwerge schlossen den Aufzug.

 

Diese Ausschweifungen nahmen im römischen Reich einen Umfang an, daß sie eine Gefahr für den Bestand des Reiches wurden. Dem Beispiel der Männer folgten die Frauen; es gab Frauen, so berichtet Seneca , welche die Jahre nicht, wie üblich, nach Konsuln, sondern nach der Zahl ihrer Gatten zählten. Ehebruch war allgemein, und damit die Frauen den schweren Strafen, die auf denselben gesetzt waren, entgingen, ließen sie sich, darunter die vornehmsten Damen Roms, als Prostituierte in die Register der Ädilen eintragen.

 

Neben diesen Ausschweifungen steigerten Bürgerkriege und Latifundiensystem die Ehe- und Kinderlosigkeit in solchem Grade, daß sich die Zahl der römischen Bürger und Patrizier bedeutend verminderte. Daher erließ im Jahre 16 vor Christo Augustus das sogenannte Julische Gesetz , das Belohnung für Kinderzeugung und Strafen auf Ehelosigkeit der römischen Bürger und Patrizier setzte. Wer Kinder besaß, sollte dem Kinder- oder Ehelosen im Range vorgehen. Ehelose durften keine Erbschaft, außer von ihren nächsten Anverwandten annehmen. Kinderlose konnten nur die Hälfte erben. Das übrige fiel dem Staate zu. Frauen, die eines Ehebruchs bezichtigt werden konnten, mußten einen Teil ihrer Mitgift dem geprellten Ehemann abtreten. Daraufhin gab es Männer, die heirateten, indem sie auf den Ehebruch ihrer Frauen spekulierten. Das veranlaßte Plutarch zu der Bemerkung: Die Römer heiraten nicht, um Erben zu bekommen, sondern um zu erben.

 

Später wurde das Julische Gesetz noch verschärft. Tiberius gebot, daß keine Frau für Geld sich preisgeben dürfe, deren Großvater, Vater oder Ehemann römischer Ritter gewesen war oder sei. Ehefrauen, die sich in die Register der Prostituierten eintragen ließen, sollten als Ehebrecherinnen außerhalb Italiens verbannt werden. Für die Männer gab's dergleichen Strafen natürlich nicht. Wie ferner Juvenal berichtet, war auch Gattenmord durch Gift in dem Rom seiner Zeit (in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung) eine häufige Erscheinung.

 

Drittes Kapitel - Das Christentum

 

Entgegengesetzt den Gewohnheiten der Römer zur Kaiserzeit, Ehe- und Kinderlosigkeit immer mehr überhandnehmen zu lassen, handelten die Juden. Zwar besaß die Jüdin kein Recht zur Wahl, der Vater bestimmte ihr den Gatten, aber die Ehe war eine Pflicht, die sie getreulich befolgte. Der Talmud rät: "Wenn deine Tochter mannbar ist, so schenke einem deiner Sklaven die Freiheit und verlobe sie mit ihm." Ebenso befolgten die Juden redlich das Gebot ihres Gottes: "Seid fruchtbar und mehret euch." Dementsprechend haben sie allen Verfolgungen und Unterdrückungen zum Trotz sich fleißig vermehrt; sie sind die geschworenen Gegner des Malthusianismus.

 

Schon Tacitus sagt von ihnen: "Unter ihnen herrscht hartnäckiges Zusammenhalten und bereitwillige Freigebigkeit, aber gegen alle anderen feindseliger Haß. Nie speisen, nie schlafen sie mit Feinden, und obwohl zur Sinnlichkeit äußerst geneigt, enthalten sie sich der Begattung mit Ausländerinnen.... Doch trachten sie auf Vermehrung des Volkes. Denn eines der Nachgeborenen töten, ist ihnen Sünde, und die Seelen der im Treffen oder durch Hinrichtung Umgekommenen halten sie für unsterblich. Daher die Liebe zur Fortpflanzung neben der Verachtung des Todes." Tacitus haßte und verabscheute die Juden, weil sie, ihre väterliche Religion verachtend, Gaben und Schätze zusammenhäuften. Er nennt sie die "schlechtesten Menschen", ein "häßliches Volk" .

 

Unter der Herrschaft der Römer schlossen sich die Juden immer enger untereinander an. Und unter der langen Leidenszeit, die sie von da ab fast das ganze christliche Mittelalter hindurch zu erdulden hatten, erwuchs jenes innige Familienleben, das der heutigen bürgerlichen Welt als eine Art Muster gilt. Dagegen vollzog sich in der römischen Gesellschaft der Zersetzungs- und Auflösungsprozeß, der das Reich seinem Ende entgegenführte. Der an Wahnsinn grenzenden Ausschweifung trat, als anderes Extrem, die strengste Enthaltsamkeit gegenüber. Wie früher die Ausschweifung, so nahm jetzt die Askese religiöse Formen an. Ein schwärmerischer Fanatismus machte für sie Propaganda. Die alle Schranken niederreißende Schwelgerei und Üppigkeit der herrschenden Klassen stand im grellsten Gegensatz zu der Not und dem Elend der Millionen und aber Millionen, die das erobernde Rom aus allen Ländern der damals bekannten Welt in die Sklaverei nach Italien schleppte. Unter diesen befanden sich auch zahllose Frauen, die vom häuslichen Herd, von den Eltern und vom Manne getrennt und von den Kindern gerissen, das Elend am tiefsten empfanden und sich nach Erlösung sehnten. Eine große Zahl römischer Frauen, angeekelt von dem, was um sie vorging, befand sich in ähnlicher Geistesverfassung. Jede Veränderung ihrer Lage schien ihnen willkommen. Ein tiefes Sehnen nach Veränderung, nach Erlösung ergriff weite Schichten, und der Erlöser schien zu nahen. Die Eroberung des jüdischen Reiches und Jerusalems durch die Römer hatte die Vernichtung der nationalen Selbständigkeit zur Folge und erzeugte unter den asketischen Sekten jenes Landes Schwärmer, welche die Entstehung eines neuen Reiches, das allen Freiheit und Glück bringen werde, verkündigten.

 

Christus kam und das Christentum entstand. Es verkörperte die Opposition gegen den bestialischen Materialismus, der unter den Großen und Reichen des römischen Reiches herrschte, es repräsentierte die Auflehnung gegen die Mißachtung und die Unterdrückung der Massen. Aber da es dem Judentum entstammte, das nur die Rechtlosigkeit der Frau kannte und, in der biblischen Vorstellung befangen, sie als die Urheberin alles Übels ansah, predigte es die Verachtung der Frau, die Enthaltsamkeit und die Vernichtung des Fleisches, das in jener Zeit so schwer sündigte, und verwies mit seinen doppelsinnigen Redewendungen auf ein künftiges Reich, das die einen als himmlisches, die anderen als irdisches deuteten, das Freiheit und Gerechtigkeit allen bringe. Mit diesen Lehren fand es in dem Sumpfboden des römischen Reiches einen fruchtbaren Untergrund. Die Frau, wie alle Elenden, auf Befreiung und Erlösung aus ihrer Lage hoffend, schloß sich eifrig und bereitwillig ihm an. Hat doch bis heute keine große bedeutungsvolle Bewegung in der Welt sich vollzogen, in der nicht auch Frauen als Kämpferinnen und Märtyrerinnen hervorragten. Diejenigen, die das Christentum als eine große Kulturerrungenschaft preisen, sollten nicht vergessen, daß es gerade die Frau war, der es einen großen Teil seiner Erfolge zu danken hat. Ihr Bekehrungseifer spielte sowohl im Römerreiche wie unter den barbarischen Völkern des Mittelalters eine gewichtige Rolle. Durch sie wurden oft die Mächtigsten zum Christentum bekehrt. So war es zum Beispiel Chlothilde, die Chlodwig, den Frankenkönig, zur Annahme des Christentums bewog. Es waren Berta, Königin von Kent, und Gisela, Königin von Ungarn, die in ihren Ländern das Christentum einführten. Dem Einfluß der Frauen ist die Bekehrung vieler Großen zu danken. Aber das Christentum lohnte schlecht der Frau. Es enthält in seinen Lehren dieselbe Verachtung der Frau, die alle Religionen des Orients enthalten. Es gebietet ihr, die gehorsame Dienerin des Mannes zu sein, und noch heute muß sie ihm das Gelöbnis des Gehorsams vor dem Altare ablegen.

 

Hören wir, wie die Bibel und das Christentum über die Frau und die Ehe sprechen.

 

Die zehn Gebote des Alten Testaments richten sich nur an den Mann. Im neunten Gebot wird die Frau zugleich mit dem Gesinde und den Haustieren genannt. Der Mann wird gewarnt, sich weder nach des Nächsten Weib, noch seines Knechts, noch seiner Magd, noch seines Ochsens, noch seines Esels, noch alles, was der Nächste habe, gelüsten zu lassen. Die Frau ist also Objekt, ein Stück Eigentum, nach dem der Mann, wenn es in fremdem Besitz ist, kein Verlangen haben soll. Jesus, der einer Sekte angehörte, die sich strenge Askese (Enthaltsamkeit) auferlegt hatte , von seinen Jüngern befragt, ob ehelichen gut sei, antwortet: Das Wort fasset nicht jedermann, sondern denen es gegeben ist. Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren, und sind etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen . Die Entmannung erscheint hiernach als ein gottgefälliges Werk und Entsagung der Liebe und Ehe eine gute Tat.

 

Paulus, der in höherem Grade als selbst Jesus der Gründer des Christentums genannt werden kann, Paulus, der dieser Lehre erst den internationalen Charakter aufdrückte und sie der beschränkten jüdischen Sektiererei entriß, schreibt den Korinthern: "Worüber ihr mir geschrieben habt, antworte ich: es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre. Aber um der Hurerei willen soll ein jeglicher sein eigenes Weib und eine jegliche ihren eigenen Mann haben."... "Die Ehe ist ein niedriger Stand; heiraten ist gut, nicht heiraten besser." "Wandelt im Geist und widersteht den Wünschen des Fleisches. Das Fleisch verschwört sich wider den Geist und der Geist wider das Fleisch." "Diejenigen, die Christus erworben hat, haben ihr Fleisch gekreuzigt, mitsamt seinen Leidenschaften und Begierden." Er selbst befolgte seine Lehren und heiratete nicht. Dieser Haß gegen das Fleisch, das ist der Haß gegen die Frau, aber auch die Furcht vor der Frau, die als die Verführerin des Mannes – siehe die Paradiesszene – dargestellt wird. In diesem Geiste predigten die Apostel und Kirchenväter, in diesem Geiste wirkte die Kirche das ganze Mittelalter hindurch, indem sie die Klöster schuf und das Zölibat der Priester einführte, und sie wirkt noch heute in diesem Geiste.

 

Die Frau ist nach dem Christentum die Unreine, die Verführerin, welche die Sünde in die Welt brachte und den Mann zugrunde richtete. Daher haben die Apostel und die Kirchenväter stets die Ehe nur als ein notwendiges Übel angesehen, wie man das heute von der Prostitution sagt. Tertullian ruft: "Weib, du solltest stets in Trauer und Lumpen gehen, dem Blick deine Augen voll Tränen der Reue darbietend, um vergessen zu machen, daß du das Menschengeschlecht zugrunde gerichtet hast. Weib! Du bist die Pforte zur Hölle!" Und: "Ehelosigkeit muß gewählt werden, wenn auch das Menschengeschlecht zugrunde geht." Hieronymus sagt: "Die Ehe ist immer ein Laster, alles, was man tun kann, ist, sie zu entschuldigen und zu heiligen", weshalb man sie zum kirchlichen Sakrament machte. Origenes erklärt: "Die Ehe ist etwas Unheiliges und Unreines, Mittel der Sinnenlust", und um der Versuchung zu widerstehen, entmannte er sich. Augustin lehrt: "Die Ehelosen werden glänzen am Himmel wie leuchtende Sterne, während ihre Eltern (die sie gezeugt) den dunklen Sternen gleichen." Eusebius und Hieronymus stimmen darin überein, daß der Ausspruch der Bibel: "Seid fruchtbar und mehret euch", nicht länger der Zeit mehr entspreche und die Christen nicht kümmere. Es ließen sich noch Hunderte von Zitaten der einflußreichsten Kirchenlehrer anführen, die alle in der gleichen Richtung lehrten. Und sie haben durch ihr fortgesetztes Lehren und Predigen jene unnatürlichen Anschauungen über geschlechtliche Dinge und den Verkehr der Geschlechter verbreitet, der doch ein Gebot der Natur, und dessen Erfüllung eine der wichtigsten Pflichten des Lebenszwecks ist. An diesen Lehren krankt die heutige Gesellschaft noch schwer, und sie erholt sich nur langsam davon.

 

Petrus ruft mit Nachdruck: "Frauen, seid gehorsam euren Männern." Paulus schreibt an die Epheser: "Der Mann ist das Oberhaupt des Weibes, wie Christus das Oberhaupt der Kirche", und an die Korinther: "Der Mann ist das Ebenbild und der Ruhm Gottes und die Frau der Ruhm des Mannes." Danach kann sich jeder Pinsel von Mann für besser halten als die ausgezeichnetste Frau, und in der Praxis ist es bis heute so. Auch gegen die höhere Bildung der Frau erhebt Paulus seine gewichtige Stimme, indem er, 1. Timotheum 2, 11 usw., sagt: "Ein Weib lerne in der Stille mit aller Untertänigkeit. Einem Weibe aber gestatte ich nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei." Und Korinther 14, 34 und 35: "Eure Weiber lasset schweigen unter der Gemeinde, denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so laßt sie daheim die Männer fragen. Es stehet den Weibern übel an, unter der Gemeinde zu reden." Der heilige Thomas von Aquino (1227 bis 1274) sagt: "Die Frau ist ein schnell wachsendes Unkraut, sie ist ein unvollkommener Mensch, dessen Körper nur deshalb schneller zur vollständigen Entwicklung gelangt, weil er von geringerem Wert ist und weil die Natur sich weniger mit ihr beschäftigt." "Die Frauen werden geboren, um ewig unter dem Joch ihres Herrn und Meisters gehalten zu werden, den die Natur durch die Überlegenheit, welche sie in jeder Hinsicht dem Manne übertragen, zur Herrschaft bestimmt hat."

 

Solche Lehren sind dem Christentum nicht allein eigentümlich. Wie das Christentum ein Gemisch von Judentum und griechischer Philosophie ist und beide wieder ihre Wurzeln in den älteren Kulturen der Indier, Babylonier und Ägypter finden, so war die untergeordnete Stellung, die das Christentum der Frau anwies, nach dem Aufhören des Mutterrechts eine der alten Kulturwelt gemeinsame. So heißt es im indischen Gesetzbuch des Manu: "Der Unehre Ursache ist das Weib, der Feindschaft Ursache ist das Weib, des weltlichen Daseins Ursache ist das Weib; darum soll man meiden das Weib." Neben der Herabsetzung der Frau kommt immer wieder die Furcht vor ihr in naiver Weise zum Ausdruck; so heißt es weiter im Manu: "Weiber sind von Natur immer zur Verführung der Männer geneigt: daher darf ein Mann selbst mit seiner nächsten Verwandten nicht an einem einsamen Orte sitzen." Das Weib ist also nach indischer, wie nach alttestamentarisch und christlicher Auffassung die Verführerin. Jedes Herrschaftsverhältnis enthält die Degradation des Beherrschten. Und die untergeordnete Stellung der Frau ist bis heute, bei der zurückgebliebenen Kulturentwicklung des Orients noch mehr als unter den Völkern mit christlicher Weltanschauung, aufrechterhalten worden. Was in der sogenannten christlichen Welt die Stellung der Frau allmählich verbesserte, war nicht das Christentum, sondern die im Kampfe wider die christliche Auffassung gewonnene Kultur des Abendlandes.

 

Das Christentum ist nicht Ursache, daß die Stellung der Frau eine höhere heute ist, als zur Zeit seiner Entstehung. Nur widerwillig und gezwungen hat es sein wahres Wesen in bezug auf die Frau verleugnet. Diejenigen, welche für die die "Menschheit befreiende Mission des Christentums" schwärmen, sind allerdings anderer Ansicht. Sie behaupten vielmehr, das Christentum habe die Frau aus der früheren niederen Stellung befreit, und sie stützen sich hierbei insbesondere auf den später im Christentum zur Geltung gelangten Marien-, beziehentlich Muttergottes-Kultus, der ein Zeichen der Achtung für das weibliche Geschlecht sei. Die katholische Kirche, die diesen Kultus pflegt, dürfte diese Auffassung kaum teilen. Die bereits zitierten Aussprüche der Heiligen und Kirchenväter, die leicht vermehrt werden könnten, sprechen sich samt und sonders frauen- und ehefeindlich aus.

 

Das Konzil zu Macon, das im sechsten Jahrhundert darüber stritt, ob die Frau eine Seele habe, und mit einer Stimme Mehrheit sich dafür entschied, spricht ebenfalls gegen jene frauenfreundliche Auffassung. Die Einführung des Zölibats der Geistlichen durch Gregor VII. , das veranlaßt war, um in den ehelosen Geistlichen eine Macht zu besitzen, die durch keine Familieninteressen dem Dienst der Kirche entfremdet würden, war nur möglich bei den der Kirche zugrunde liegenden Anschauungen über die Sündigkeit fleischlicher Begehren. Auch verschiedene Reformatoren, namentlich Kalvin und die schottischen Geistlichen, haben durch ihr Wüten gegen des "Fleisches Lüste" an der frauenfeindlichen Auffassung des Christentums keinen Zweifel gelassen .

 

Indem die katholische Kirche den Marienkultus einführte, setzte sie mit kluger Berechnung denselben an Stelle des Kultus der heidnischen Göttinnen, der bei allen Völkern, über die das Christentum sich damals ausbreitete, vorhanden war. Maria trat an die Stelle der Kybele, Mylitta, Aphrodite, Venus, Ceres usw. der südlichen Völker, an die Stelle der Freia, Frigga usw. der germanischen Völker, sie wurde nur christlich-spiritualistisch idealisiert.

 

Viertes Kapitel - Die Frau im Mittelalter

 

1. Die Lage der Frau bei den Germanen

 

Die urwüchsigen, physisch gesunden und rohen, aber unverdorbenen Völker, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung von Osten und Norden wie ungeheure Meereswogen heranfluteten und das erschlaffte römische Weltreich überschwemmten, in dem allmählich das Christentum zum Herrn sich aufgeworfen hatte, widerstanden mit aller Kraft den asketischen Lehren der christlichen Prediger, und diese mußten wohl oder übel diesen gesunden Naturen Rechnung tragen. Mit Verwunderung sahen die Römer, daß die Sitten jener Völker ganz andere als die ihrigen waren. Tacitus zollte dieser Tatsache in bezug auf die Deutschen seine Anerkennung, der er mit den Worten Ausdruck gibt: "Ihre Ehen sind sehr strenge, und keine ihrer Sitten ist mehr zu loben als diese, denn sie sind fast die einzigen Barbaren, die sich mit einem Weibe begnügen; sehr wenig hört man bei diesem zahlreichen Volke von Ehebruch, der aber auch auf der Stelle bestraft wird, welches den Männern selbst erlaubt ist. Mit abgeschnittenen Haaren jagt der Mann die ehebrecherische Frau nackt vor den Verwandten aus dem Dorfe, denn verletzte Sittsamkeit findet keine Nachsicht. Weder durch Schönheit noch durch Jugend oder Reichtum findet eine solche Frau einen Mann. Dort lacht niemand über das Laster; auch wird dort das Verführen oder Verführtwerden nicht als Lebensart bezeichnet. Spät verheiraten sich die Jünglinge, und daher behalten sie ihre Kraft; auch die Jungfrauen werden nicht eilfertig verheiratet, und bei ihnen findet sich dieselbe Jugendblüte, die gleiche körperliche Größe. Von gleichem Alter, gleich kräftig, vermählen sie sich, und die Stärke der Eltern geht auf die Kinder über."

 

Offenbar hat Tacitus, um den Römern ein Muster vorzuhalten, die ehelichen Zustände der alten Germanen etwas sehr rosig gemalt. Allerdings wurde bei ihnen die ehebrecherische Frau strenge bestraft, aber das galt nicht von dem ehebrecherischen Manne. Zur Zeit des Tacitus stand die Gens unter den Germanen noch in Blüte. Er, dem unter den vorgeschrittenen römischen Verhältnissen die alte Gentilverfassung und ihre Grundlagen fremd und unverständlich geworden waren, erzählt mit Verwunderung, daß bei den Germanen der Mutter Bruder seinen Neffen wie einen Sohn ansehe, ja einige hielten das Blutband zwischen dem Onkel von der Mutterseite und dem Neffen noch heiliger und enger als das zwischen Vater und Sohn, so daß, wenn Geiseln gefordert würden, der Schwestersohn für eine größere Garantie gelte als der eigene. Engels bemerkt dazu: Wurde von Genossen einer solchen Gens der eigene Sohn zum Pfand eines Gelöbnisses gegeben und fiel als Opfer bei Vertragsbruch des Vaters, so hatte dieser das mit sich selbst auszumachen. War es aber der Schwestersohn, der geopfert wurde, so war das heiligste Gentilrecht verletzt. Der nächste zum Schutz des Knaben oder Jünglings vor allen anderen verpflichtete Gentilverwandte hatte seinen Tod verschuldet; entweder durfte er ihn nicht verpfänden oder er mußte den Vertrag halten .

 

Im übrigen war, wie Engels nachweist, zu Tacitus' Zeit bei den Deutschen das Mutterrecht bereits dem Vaterrecht gewichen. Die Kinder erbten vom Vater, fehlten solche, so erbten die Brüder und der Onkel von Vaters- und Mutterseite. Die Zulassung des Mutterbruders als Erben, obgleich die Abstammung vom Vater für das Erbe maßgebend war, erklärt sich dadurch, daß das alte Recht eben erst geschwunden war. Die Erinnerungen an das alte Recht waren auch die Ursache der Achtung der Deutschen vor dem weiblichen Geschlecht, die Tacitus so überraschte. Er fand auch, daß von den Frauen ihr Mut aufs äußerste entfacht wurde. Der Gedanke, ihre Frauen in Gefangenschaft und Sklaverei fallen zu sehen, war der schrecklichste für den alten Deutschen und stachelte ihn zum äußersten Widerstand an. Aber auch die Frauen waren von einem Geiste beseelt, der den Römern imponierte. Als Marius den gefangenen Frauen der Teutonen verweigerte, sie der Vesta (der Göttin jungfräulicher Keuschheit) als Priesterinnen zu widmen, begingen sie Selbstmord.

 

Zu Tacitus' Zeit waren bereits die Deutschen ansässig geworden; die Austeilung des Landes fand alljährlich nach Losen statt, daneben bestand Gemeineigentum an Wald, Wasser und Weideland. Ihre Lebensweise war noch sehr einfach, ihr Reichtum war hauptsächlich Vieh; ihre Kleidung bestand aus grobem Wollmantel oder Tierfellen. Frauen und Vornehme trugen leinene Unterkleider. Metallbearbeitung war nur bei den Stämmen in Gebrauch, die zu entfernt wohnten für die Einfuhr römischer Industrieprodukte. Das Recht sprach in geringeren Sachen der Rat der Vorsteher, in wichtigeren entschied die Volksversammlung. Die Vorsteher wurden gewählt, und zwar meist aus derselben Familie, aber der Übergang zum Vaterrecht begünstigte die Erblichkeit der Stellung und führte schließlich zur Gründung eines Stammadels, dem später das Königtum entspringt. Wie in Griechenland und Rom, so ging die deutsche Gens an dem aufkommenden Privateigentum, der Entwicklung von Gewerbe und Handel und durch die Vermischung mit Angehörigen fremder Stämme und Völker zugrunde. An Stelle der Gens trat die Markgenossenschaft, die demokratische Organisation freier Bauern, die im Laufe vieler Jahrhunderte in den Kämpfen gegen den Adel, Kirche und Fürsten ein festes Bollwerk bildete und selbst dann nicht ganz verschwand, nachdem der Feudalstaat zur Herrschaft gelangt war und die ehemals freien Bauern in Scharen zu Leibeigenen und Hörigen herabgedrückt worden waren.

 

Die Markgenossenschaft ward repräsentiert durch die Familienhäupter. Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter waren vom Rate und von der Leitung ausgeschlossen. Die Zeiten, in denen Frauen die Leitung der Geschäfte eines Stammes besorgten – ein Vorgang, der Tacitus aufs höchste befremdete und über den er mit verächtlichen Bemerkungen berichtet –, waren vorüber. Im fünften Jahrhundert hob das Salische Gesetz die Erbnachfolge des weiblichen Geschlechts für Erbstammgüter auf.

 

Jeder männliche Markgenosse hatte, sobald er heiratete, ein Anrecht auf ein Los vom gemeinsamen Grund und Boden. In der Regel lebten Großeltern, Eltern und Kinder unter einem Dache in Hausgenossenschaften, und so kam es häufig vor, daß, um ein weiteres Los zugeteilt zu erhalten, der noch unmündige, geschlechtsunreife Sohn durch den Vater an eine mannbare Jungfrau verheiratet wurde und der Vater an Stelle des Sohnes die ehemännlichen Pflichten erfüllte . Junge Eheleute erhielten ein Fuder Buchenholz und das Holz zum Blockhaus. Wurde den Eheleuten eine Tochter geboren, so erhielten sie ein Fuder Holz; war das Neugeborene dagegen ein Sohn, zwei . Das weibliche Geschlecht wurde als halbwertig geschätzt .

 

Die Eheschließung war einfach. Eine religiöse Handlung war unbekannt, die beiderseitige Willenserklärung genügte, und sobald das Paar das Ehebett beschritten hatte, war die Ehe geschlossen. Die Sitte, daß die Ehe zu ihrer Gültigkeit eines kirchlichen Aktes bedurfte, kam erst im neunten Jahrhundert auf, und erst im sechzehnten wurde die Ehe auf Beschluß des Trientiner Konzils für ein Sakrament der katholischen Kirche erklärt.

 

2. Feudalismus und das Recht der ersten Nacht

 

Mit dem Entstehen des Feudalstaats verschlechterte sich der Zustand einer großen Zahl Gemeinfreier. Die siegreichen Heerführer benutzten ihre Gewalt, um sich großer Länderstrecken zu bemächtigen; sie betrachteten sich als Herren des Gemeinguts, das sie an die ihnen ergebene Gefolgschaft: Sklaven, Leibeigene, Freigelassene meist fremder Abstammung, auf Zeit oder mit dem Rechte der Vererbung vergaben. Sie schufen sich dadurch einen Hof- und Dienstadel, der ihnen in allem zu Willen war. Die Bildung eines großen Frankenreichs machte den letzten Resten der alten Gentilverfassung ein Ende. An die Stelle des Rates der Vorsteher traten die Unterführer des Heeres und der neu aufgekommene Adel.

 

Allmählich geriet die große Masse der Gemeinfreien durch die fortgesetzten Eroberungskriege und Zwistigkeiten der Großen, für die sie die Lasten zu tragen hatten, in einen Zustand der Erschöpfung und Verarmung. Der Verpflichtung, den Heerbann zu stellen, konnten sie nicht mehr nachkommen. An ihrer Stelle warben die Fürsten und der hohe Adel Dienstleute, dafür stellten die Bauern sich und ihr Besitztum in den Schutz eines weltlichen oder geistlichen Herrn – denn die Kirche hatte es verstanden, binnen wenigen Jahrhunderten eine große Macht zu werden –, wofür sie Zins und Abgaben leisteten. So wurde das bisher freie Bauerngut in ein Zinsgut umgewandelt, das mit der Zeit mit immer neuen Verpflichtungen beschwert wurde. Einmal in diese abhängige Lage gekommen, währte es nicht lange, und der Bauer verlor auch die persönliche Freiheit. Hörigkeit und Leibeigenschaft gewannen immer mehr an Ausdehnung.

 

Der Grundherr besaß die fast unumschränkte Verfügung über seine Leibeigenen und Hörigen. Ihm stand das Recht zu, jeden Mann, sobald er das 18. Lebensjahr erreicht hatte, und jedes Mädchen, sobald es 14 Jahre alt geworden war, zu einer Ehe zu nötigen. Er konnte dem Mann die Frau, der Frau den Mann vorschreiben. Dasselbe Recht hatte er gegen Witwer und Witwen. Als Herr seiner Untertanen betrachtete er sich als Verfüger über die geschlechtliche Benützung seiner weiblichen Leibeigenen und Hörigen, eine Gewalt, die in dem jus primae noctis (Recht der ersten Nacht) zum Ausdruck kam. Dieses Recht besaß auch sein Stellvertreter (Meyer), falls nicht auf die Ausübung desselben gegen Leistung einer Abgabe verzichtet wurde, die schon durch ihren Namen ihre Natur verrät: Bettmund, Jungfernzins, Hemdschilling, Schürzenzins, Bunzengroschen usw.

 

Es wird vielfach bestritten, daß dieses Recht der ersten Nacht bestand. Dasselbe ist manchen Leuten recht unbequem, weil es noch in einer Zeit geübt wurde, die man gern von gewisser Seite als mustergültig für Sitte und Frömmigkeit hinstellen möchte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie dieses Recht der ersten Nacht ursprünglich eine Sitte war, die mit der Zeit des Mutterrechts zusammenhing. Mit dem Verschwinden der alten Familienorganisation erhielt sich anfangs der Gebrauch in der Preisgabe der Braut in der Brautnacht an die Männer der Genossenschaft fort. Aber das Recht schränkt sich im Laufe der Zeit ein und geht schließlich auf das Stammesoberhaupt oder den Priester über. Der Feudalherr übernimmt es, als Ausfluß seiner Gewalt über die Person, die zu seinem Grund und Boden gehört, und er übt dieses Recht, falls er will, oder er verzichtet darauf gegen eine Leistung von Naturalien oder Geld. Wie real dieses Recht der ersten Nacht war, geht hervor aus Jakob Grimms "Weistümer", I, 43, woselbst es heißt: "Aber sprechend die Hoflüt, weller hie zu der helgen see kumbt, der sol einen meyer (Gutsverwalter) laden und ouch sin frowen, da sol der meyer lien dem brütgam ein haffen, da er wol mag ein schaff in geseyden, ouch sol der meyer bringen ein fuder holtz an das hochtzit, ouch sol der meyer und sin frow bringen ein viertenteyl eines schwynsbachen, und so die hochtzit vergat, so sol der brütgam den meyer by sim wib lassen ligen die ersten nacht, oder er sol sy lösen mit 5 schilling 4 pfenning."

 

Sugenheim meint, das jus primae noctis als ein Recht des Grundherrn stamme daher, daß er die Zustimmung zur Verheiratung zu geben hatte. Aus diesem Rechte entsprang in Béarn, daß alle erstgeborenen Kinder einer Ehe, in der das jus primae noctis geübt worden war, freien Standes waren. Später wurde dieses Recht allgemein durch eine Steuer ablösbar. Am hartnäckigsten hielten, nach Sugenheim, an dieser Steuer die Bischöfe von Amiens fest, und zwar bis zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts. In Schottland wurde das Recht der ersten Nacht von König Malcom III. zu Ende des elften Jahrhunderts durch eine Steuer für ablösbar erklärt. In Deutschland bestand es aber noch weit länger. Nach dem Lagerbuch des schwäbischen Klosters Adelberg vom Jahre 1496 mußten zu Börtlingen seßhafte Leibeigene das Recht damit ablösen, daß der Bräutigam eine Scheibe Salz, die Braut aber 1 Pfund 7 Schilling Heller oder eine Pfanne, "daß sie mit dem Hinteren darein sitzen kann oder mag", entrichtete. Anderwärts hatten die Bräute dem Grundherrn als Ablösungsgebühr so viel Käse oder Butter zu entrichten, "als dick und schwer ihr Hinterteil war". An noch anderen Orten mußten sie einen zierlichen Korduansessel, "den sie just damit ausfüllen konnten", geben . Nach den Schilderungen des bayerischen Oberappellationsgerichtsrats Welsch bestand die Verpflichtung zur Ablösung des jus primae noctis noch im achtzehnten Jahrhundert in Bayern . Ferner berichtet Engels , daß bei den Walisern und Skoten sich das Recht der ersten Nacht durch das ganze Mittelalter erhielt, nur daß hier, bei dem Fortbestand der Gentilorganisation, nicht der Grundherr oder sein Vertreter, sondern der Clanhäuptling, als Vertreter sämtlicher Ehemänner, dieses Recht ausübte, sofern es nicht abgekauft wurde.

 

Es besteht also kein Zweifel, daß das Recht der ersten Nacht nicht nur während des Mittelalters, sondern noch bis in die Neuzeit bestand und eine Rolle im Kodex des Feudalrechts spielte. In Polen maßten sich die Edelleute das Recht an, jede Jungfrau zu schänden, die ihnen gefiel, und sie ließen hundert Stockstreiche dem geben, der sich beklagte. Daß die Opferung jungfräulicher Ehre auch noch heute dem Grundherrn oder seinen Beamten als etwas Selbstverständliches erscheint, das kommt nicht nur, weit häufiger als man glaubt, in Deutschland vor, sondern auch sehr häufig, wie Kenner von Land und Leuten behaupten, im ganzen Osten und Südosten Europas.

 

In der Feudalzeit waren die Eheschließungen im Interesse des Grundherrn, denn die daraus erwachsenden Kinder traten zu ihm in dasselbe Untertänigkeitsverhältnis wie ihre Eltern; seine Arbeitskräfte wurden dadurch vermehrt und hoben sein Einkommen. Daher begünstigten geistliche und weltliche Grundherren die Eheschließungen ihrer Untertanen. Anders gestaltete sich das Verhältnis für die Kirche, wenn sie Aussicht hatte, infolge von Eheverhinderungen durch Vermächtnis Land in kirchlichen Besitz zu bringen. Das betraf aber in der Regel nur die niederen Freien, deren Lage durch Umstände, wie sie angedeutet wurden, immer unhaltbarer wurde, und die ihr Besitztum an die Kirche abtraten, um hinter den Klostermauern Schutz und Frieden zu suchen. Andere wieder begaben sich gegen Leistung von Abgaben und Diensten in den Schutz der Kirche. Häufig verfielen aber auf diesem Wege ihre Nachkommen dem Los, dem ihre Vorfahren entrinnen wollten, sie gelangten allmählich in die Hörigkeit der Kirche, oder man machte sie zu Novizen für die Klöster.

 

3. Das Aufblühen der Städte. Klosterwesen und Prostitution

 

Die seit dem elften Jahrhundert aufblühenden Städte hatten ein lebhaftes Interesse, den Bevölkerungszuwachs zu begünstigen, indem sie die Niederlassung und die Eheschließung möglichst erleichterten; sie wurden Asyle für die dem unerträglichen Drucke sich entziehenden Landbewohner, für flüchtige Leibeigene und Hörige. Aber später änderten sich wieder diese Verhältnisse. Sobald die Städte Macht erlangt hatten und ein sich behaglich fühlender Handwerkerstand vorhanden war, wuchs bei diesem die Feindseligkeit gegen Neuhinzuziehende, die sich als Handwerker niederlassen wollten, in denen man unbequeme Konkurrenten erblickte. Es wurden Schranken gezogen gegen die Neuanziehenden. Hohe Niederlassungsgebühren, kostspielige Meisterprüfungen, Beschränkung der Gewerbe auf eine gewisse Kopfzahl von Meistern und Gesellen zwangen Tausende zur Unselbständigkeit, zum außerehelichen Leben und zur Vagabondage. Als dann im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts, aus später anzuführenden Ursachen, die Blütezeit der Städte vorüber war und ihr Verfall begann, lag es in den beschränkten Anschauungen der Zeit, daß die Hindernisse zur Niederlassung und Selbständigmachung sich noch vermehrten. Andere Ursachen wirkten ebenfalls mit.

 

Die Tyrannei der Grundherren steigerte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt so, daß viele ihrer Untertanen vorzogen, ihr Jammerleben mit dem Geschäft des Bettlers, des Landstreichers oder Räubers, das durch die großen Wälder und den schlechten Zustand der Verkehrswege begünstigt wurde, zu vertauschen. Oder sie wurden, bei den vielen kriegerischen Streitigkeiten jener Zeit, Landsknechte (Söldner), die sich dorthin verkauften, wo der Sold am größten war und die reichste Beute lachte. Es entstand ein zahlreiches männliches und weibliches Lumpenproletariat, das zur Landplage wurde. Die Kirche trug zur allgemeinen Verderbnis redlich bei. Lag schon in der zölibatärischen Stellung der Geistlichkeit eine Hauptursache zur Förderung geschlechtlicher Ausschweifungen, so wurden diese durch den unausgesetzten Verkehr mit Italien und Rom noch begünstigt.

 

Rom war nicht bloß die Hauptstadt der Christenheit, weil Residenz des Papsttums, es war auch, getreu seiner Vergangenheit in der heidnischen Kaiserzeit, das neue Babel, die europäische Hochschule der Unsittlichkeit geworden und der päpstliche Hof ihr vornehmster Sitz. Das römische Reich hatte bei seinem Zerfall dem christlichen Europa alle seine Laster hinterlassen. Diese wurden in Italien gepflegt, und sie drangen von dort, begünstigt durch den Verkehr der Geistlichkeit mit Rom, nach Deutschland. Die ungemein zahlreiche Geistlichkeit, die zu einem großen Teil aus Männern bestand, deren geschlechtliche Bedürfnisse durch träges und üppiges Leben aufs äußerste gesteigert wurden und durch erzwungene Ehelosigkeit auf illegitim Befriedigung oder auf widernatürliche Wege gewiesen war, trug die Sittenlosigkeit in alle Kreise der Gesellschaft; sie wurde eine pestartige Gefahr für die Moral des weiblichen Geschlechtes in Städten und Dörfern. Mönchs- und Nonnenklöster, und ihre Zahl war Legion, unterschieden sich nicht selten von öffentlichen Häusern nur dadurch, daß darin das Leben noch zügelloser und ausschweifender war. Und zahlreiche Verbrechen, namentlich Kindesmorde, konnten dort um so leichter verborgen bleiben, weil in ihnen nur diejenigen die Gerichtsbarkeit ausüben durften, die oft mit an der Spitze dieser Verderbnis standen. Vielfach suchten Bauern ihre Frauen und Töchter vor geistlicher Verführung dadurch zu sichern, daß sie keinen als Seelenhirten annahmen, der sich nicht verpflichtete, eine Konkubine zu nehmen. Ein Umstand, der einen Bischof von Konstanz veranlaßte, den Pfarrern seiner Diözese eine Konkubinensteuer aufzuerlegen. Aus solchen Zuständen erklärt sich die historisch beglaubigte Tatsache, daß in dem von unseren Romantikern als so fromm und sittsam dargestellten Mittelalter zum Beispiel 1414 auf dem Konzil zu Konstanz nicht weniger als 1500 fahrende Frauen anwesend waren.

 

Diese Zustände traten aber keineswegs erst beim Verfall des Mittelalters auf, sie begannen schon frühzeitig und gaben unausgesetzt zu Klagen und Verordnungen Anlaß. So erließ im Jahre 802 Karl der Große eine Verordnung, in der es hieß: "Die Frauenklöster sollen streng bewacht werden, die Nonnen dürfen nicht umherschweifen, sondern sollen mit größtem Fleiß verwahrt werden, auch sollen sie nicht in Streit und Hader untereinander leben und in keinem Stück den Meisterinnen oder Äbtissinnen ungehorsam oder zuwider handeln. Wo sie aber unter eine Klosterregel gestellt sind, sollen sie dieselbe durchaus einhalten. Nicht der Hurerei, nicht dem Volltrinken, nicht der Habsucht sollen sie dienen, sondern auf jede Weise gerecht und nüchtern leben. Auch soll kein Mann in ihr Kloster eintreten, als bloß zur Messe, und dann soll er gleich wieder weggehen." Und eine Verordnung vom Jahre 869 bestimmte: "Wenn Priester mehrere Frauen halten, oder das Blut von Christen oder Heiden vergießen, oder die kanonische Regel brechen, so sollen sie des Priestertums beraubt werden, weil sie schlechter sind als Laien!" Die Tatsache, daß in jener Zeit der Besitz mehrerer Frauen den Priestern verboten wurde, spricht dafür, daß noch im neunten Jahrhundert Ehen mit mehreren Frauen keine Seltenheit waren. In der Tat bestanden keine Gesetze, die dieses verboten.

 

Ja, noch später, zur Zeit der Minnesänger, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert, fand man den Besitz mehrerer Frauen nicht anstößig. So heißt es zum Beispiel in einem Gedicht Albrechts von Johansdorf in der Sammlung "Minnesangs-Frühling" :

 

waere ez niht unstaete
der zwein wîben wolte sîn für eigen jehen,
bei diu tougenlîche? sprechet, herre, wurre ez iht?
(man sol ez den man erlouben und den vrouwen nicht.)

 

Besonders verhängnisvoll für den moralischen Zustand der Zeit wirkten auch die Kreuzzüge, die Zehntausende von Männern auf Jahre der Heimat fern hielten und die namentlich im oströmischen Reich Sitten kennenlernten, die bis dahin in Westeuropa so gut wie unbekannt waren.

 

Die Lage der Frauen wurde auch dadurch besonders ungünstig, daß neben den Hindernissen, die allmählich die Verehelichung und die Niederlassung erschwerten, ihre Zahl die der Männer bedeutend überschritt. Als besondere Ursachen sind in erster Linie anzusehen die zahlreichen Kriege, Kämpfe und Fehden und die gefahrvollen Handelsreisen jener Zeit. Ferner war infolge von Unmäßigkeit und Völlerei die Sterblichkeit der Männer größer, und die aus dieser Lebensweise hervorgehende erhöhte Dispostion zu Krankheiten und Tod machte sich besonders geltend während der Pest, die im Mittelalter so häufig wütete. So zählte man in dem Zeitraum von 1326 bis 1400 zweiunddreißig, von 1400 bis 1500 einundvierzig und von 1500 bis 1600 dreißig Pestjahre .

 

Scharen von Frauen trieben sich auf den Landstraßen als Gauklerinnen, Sängerinnen, Spielerinnen, in Gesellschaft von fahrenden Schülern und Klerikern, umher und überschwemmten die Messen und Märkte. In den Heeren der Landsknechte bildeten sie besondere Abteilungen mit ihrem eigenen Weibel und wurden, dem Zunftcharakter der Zeit entsprechend, zünftlerisch organisiert und nach Schönheit und Alter den verschiedenen Chargen zugewiesen. Bei schwerer Strafe durften sie sich außerhalb dieses Kreises keinem hingeben. In den Lagern mußten sie mit den Troßbuben Heu, Stroh und Holz herbeischleppen, Gräben, Teiche und Gruben ausfüllen, die Reinigung des Lagers besorgen. Bei Belagerungen hatten sie mit Reisig, Wellen und Büscheln die Gräben auszufüllen, um das Stürmen zu erleichtern; sie waren behilflich, die Geschütze in Position zu bringen, und mußten sie, wenn diese in den grundlosen Wegen steckenblieben, an der Fortschaffung derselben helfen .

 

Um dem Elend dieser zahlreichen hilflosen Frauen einigermaßen entgegenzuwirken, errichtete man seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts in vielen Städten sogenannte Beguinenanstalten, die unter städtischer Verwaltung standen. In diesen untergebracht, waren sie gehalten, einen anständigen Lebenswandel zu fuhren. Aber weder waren diese Anstalten noch die zahlreichen Frauenklöster imstande, alle Hilfesuchenden aufzunehmen.

 

Die Eheerschwernisse, die Reisen der Fürsten, der Herren weltlichen und geistlichen Standes mit ihrem Troß an Rittern und Knechten, die nach den Städten kamen, die Männerjugend in den Städten selbst, nicht zu vergessen die verheiratete Männerwelt, die lebenslustig, von Skrupeln nicht berührt, nach Abwechslung im Lebensgenuß trachtete, schufen auch in den Städten des Mittelalters das Bedürfnis nach Prostitution. Und wie jedes Gewerbe in jener Zeit organisiert und reguliert wurde und ohne Zunftordnung nicht bestehen konnte, so geschah das auch mit der Prostitution. Es gab in allen größeren Städten Frauenhäuser, die städtisches, landesfürstliches oder kirchliches Regal waren, deren Reinerträge in die bezüglichen Kassen flossen. Die Frauen in diesen Häusern hatten eine selbstgewählte Altmeisterin, die auf Zucht und Ordnung zu sehen und insbesondere eifrig darüber zu wachen hatte, daß nichtzünftige Konkurrentinnen, die "Bönhasen", dem legitimen Geschäft nicht schadeten. Im Falle des Ertapptwerdens wurden sie behördlich bestraft. So beschwerten sich die Bewohnerinnen eines Nürnberger Frauenhauses über ihre nichtzünftigen Konkurrentinnen bei dem Magistrat, "daß auch andere Wirte Frauen halten, die nachts auf die Gassen gehen und Ehemänner und andere Männer beherbergen und solches (ihr Gewerbe) inmaßen und viel gröber denn sie es halten, in dem gemeinen (zünftigen) Tochterhaus, daß solches zum Erbarmen sei, daß solches in dieser löblichen Stadt also gehalten werde" . Die Frauenhäuser genossen besonderen Schutz; Ruhestörungen in ihrer Nähe wurden doppelt hart geahndet. Auch hatten die weiblichen Zunftgenossen das Recht, bei Prozessionen und Festlichkeiten, bei denen die Zünfte stets mitwirkten, ebenfalls im Zuge zu erscheinen. Nicht selten wurden sie auch zu fürstlichen und Ratstafeln als Gäste gezogen. Die Frauenhäuser wurden für dienlich erachtet, "zu besserer Bewahrung der Ehe und der Ehre der Jungfrauen". Das ist dieselbe Begründung, mit der man in Athen die Staatsbordelle rechtfertigte und noch heute die Prostitution entschuldigt. Indes fehlte es auch nicht an gewalttätigen Verfolgungen der Freudenmädchen, die ausgingen von derselben Männerwelt, die durch ihre Anforderungen und ihr Geld die Prostituierten unterhielten. So verordnete Kaiser Karl der Große, daß eine Prostituierte nackt auf den Markt geschleppt und ausgepeitscht werden solle; er selbst, der "allerchristlichste" König und Kaiser, hatte nicht weniger als sechs Frauen auf einmal; auch waren seine Töchter, die offenbar dem Beispiel des Vaters folgten, keineswegs Tugendboldinnen. Sie bereiteten ihm durch ihren Lebenswandel manche unangenehme Stunde und brachten auch mehrere uneheliche Kinder ihm heim. Alkuin, Karl des Großen Freund und Ratgeber, warnte seine Schüler vor den "gekrönten Tauben, die nächtlich durch die Pfalz fliegen", worunter er des Kaisers Töchter verstand.

 

Dieselben Gemeinwesen, die das Bordellwesen offiziell organisierten und es unter ihren Schutz nahmen und den Priesterinnen der Venus allerlei Privilegien einräumten, verhängten die härtesten und grausamsten Strafen über eine arme, verlassene Gefallene. Die Kindsmörderin, die aus Verzweiflung ihre Leibesfrucht getötet hatte, wurde den grausamsten Todesstrafen unterworfen, nach dem gewissenlosen Verführer krähte kein Hahn. Er saß vielleicht mit im Gericht, welches über das arme Opfer das Todesurteil fällte. Dergleichen kommt noch heute vor . Auch der Ehebruch der Frau wurde aufs härteste bestraft, der Pranger war ihr mindestens sicher, aber über den Ehebruch des Mannes wurde der Mantel christlicher Liebe gedeckt.

 

In Würzburg schwor der Frauenwirt dem Magistrat: "Der Stadt treu und hold zu sein und Frauen zu werben." Ähnlich in Nürnberg, Ulm, Leipzig, Köln, Frankfurt usw. In Ulm, in dem 1537 die Frauenhäuser aufgehoben wurden, beantragten 1551 die Zünfte wieder ihre Einführung, "um größeres Unwesen zu verhüten"! Hohen Fremden wurden auf Stadtkosten Freudenmädchen zur Verfügung gestellt. Als König Ladislaus 1452 in Wien einzog, sandte ihm der Magistrat eine Deputation aus öffentlichen Dirnen entgegen, die, nur mit leichter Gaze bekleidet, die schönsten Körperformen zeigten. Und Kaiser Karl V. wurde bei seinem Einzug in Antwerpen ebenfalls von einer Deputation nackter Mädchen begrüßt, eine Szene, die Hans Makart in einem großen Gemälde, das sich im Museum zu Hamburg befindet, verherrlichte. Solche Vorkommnisse erregten in jener Zeit kaum Anstoß.

 

4. Rittertum und Frauenverehrung

 

Phantasiereiche Romantiker und Leute von schlauer Berechnung haben den Versuch gemacht, das Mittelalter als besonders sittlich und als beseelt von wahrer Frauenverehrung darzustellen. Dazu muß besonders die Zeit der Minnesänger – vom zwölften bis zum vierzehnten Jahrhundert – die Folie geben. Der Minnedienst (Liebesdienst) des Rittertums, den es zuerst bei den Moriscos in Spanien kennenlernte, soll Zeugnis für die hohe Achtung ablegen, in der zu jener Zeit die Frau stand. Da ist an einiges zu erinnern. Erstens bildete die Ritterschaft nur einen sehr geringen Prozentsatz der Bevölkerung und dementsprechend auch die Ritterfrauen von den Frauen; zweitens hat nur ein sehr kleiner Teil der Ritterschaft jenen so verherrlichten Minnedienst geübt; drittens ist die wahre Natur dieses Minnedienstes stark verkannt oder entstellt worden. Das Zeitalter, in dem dieser Minnedienst blühte, war das Zeitalter des schlimmsten Faustrechtes in Deutschland, in dem alle Bande der Ordnung gelöst waren und die Ritterschaft sich ungezügelt der Wegelagerei, dem Raub und der Brandschatzung hingab. Eine solche Zeit der brutalsten Gewalttätigkeiten ist keine, in der milde und poetische Gefühle vorherrschen. Im Gegenteil. Diese Zeit trug wesentlich dazu bei, die etwa noch vorhandene Achtung vor dem weiblichen Geschlecht zu zerstören. Die Ritterschaft, und zwar auf dem Lande wie in den Städten, bestand zu einem großen Teil aus rohen, wüsten Gesellen, deren vornehmste Leidenschaft, neben Fehden und unmäßigem Trinken, die zügelloseste Befriedigung geschlechtlicher Begierden war. Die Chronisten jener Zeit wissen nicht genug von Notzucht und Gewalttat zu erzählen, die sich der Adel sowohl auf dem Lande wie in den Städten zuschulden kommen ließ, in denen er bis zum dreizehnten und teilweise bis ins vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert das Stadtregiment in der Hand hatte. Und die Mißhandelten besaßen selten die Möglichkeit, sich Recht zu verschaffen, denn in der Stadt besetzten die Junker die Schöffenbank, und auf dem Lande war es der Gutsherr, dem der Blutbann zustand. Es ist also arge Übertreibung, daß Adel und Herrentum mit solchen Sitten und Gewohnheiten eine besondere Achtung vor den Frauen hatten und sie als eine Art höherer Wesen auf den Händen trugen.

 

Eine sehr kleine Minderheit der Ritterschaft schien für Frauenschönheit zu schwärmen, aber diese Schwärmerei war keineswegs platonisch, sondern verfolgte sehr reale Zwecke. Selbst jener Harlekin unter den Schwärmern "für minnigliche Frauen", jener Ulrich von Lichtenstein lächerlichen Angedenkens, war nur so lange Platoniker, als er es sein mußte. Im Grunde genommen war jener Minnedienst die Vergötterung der Liebsten auf Kosten – der legitimen Frau, ein ins Mittelalterlich-Christliche übertragener Hetärismus, wie er zur Zeit des Perikles in Griechenland bestand. Die gegenseitige Verführung der Frauen war auch in der Ritterschaft ein stark geübter Minnedienst, so wie sich heute ähnliches in gewissen Kreisen unserer Bourgeoisie wiederholt.

 

Unzweifelhaft lag in jenem Zeitalter in dem offenen Rechnungtragen der Sinnenlust die Anerkennung, daß der in jeden gesunden und reifen Menschen eingepflanzte Naturtrieb die Berechtigung hat, befriedigt zu werden. Insofern lag darin ein Sieg der gesunden Natur über die Askese des Christentums. Andererseits muß immer wieder hervorgehoben werden, daß diese Anerkennung nur für das eine Geschlecht in Betracht kam, daß hingegen das andere behandelt wurde, als könnte und dürfte es nicht die gleichen Triebe haben. Die geringste Übertretung von seiner Seite, der von der Männerwelt vorgeschriebenen Moralgesetze, wurde auf das härteste bestraft. Und das weibliche Geschlecht hat infolge fortgesetzter Unterdrückung und eigenartiger Erziehung sich so in den Ideengang seines Beherrschers hineingelebt, daß es diesen Zustand bis heute natürlich findet.

 

Gab es nicht auch Millionen Sklaven, die die Sklaverei natürlich fanden und sich nie befreit hätten, erstanden ihnen nicht aus der Klasse der Sklavenhalter die Befreier? Petitionierten doch preußische Bauern, als sie infolge der Steinschen Gesetzgebung aus der Hörigkeit befreit werden sollten, darum, sie darin zu lassen, "denn wer solle für sie sorgen, wenn sie krank würden oder alt seien?" Und ist es bei der modernen Arbeiterbewegung nicht ähnlich? Wie viele Arbeiter lassen sich noch von ihren Ausbeutern beeinflussen und willenlos leiten.

 

Der Unterdrückte bedarf des Anregers und Anfeuerers, weil ihm die Unabhängigkeit zur Initiative fehlt. So war es in der modernen Proletarierbewegung, und so ist es in dem Kampfe für die Emanzipation der Frau. Sogar dem in seinem Befreiungskampf vergleichsweise günstig gestellten Bürgertum brachen adlige und geistliche Wortführer die Bahn.

 

Wie viele Mängel das Mittelalter hatte, es besaß eine gesunde Sinnlichkeit, die einer kernhaften, lebensfrohen Volksnatur entsprang, die das Christentum nicht zu unterdrücken vermochte. Die heuchlerische Prüderie und versteckte Lüsternheit unserer Zeit, die sich scheut und sperrt, die Dinge beim rechten Namen zu nennen und über natürliche Dinge natürlich zu sprechen, war ihm fremd. Es kannte auch nicht jene pikante Zweideutigkeit, in die man Dinge, die man aus mangelnder Natürlichkeit oder aus Sitte gewordener Prüderie nicht offen nennen will, einhüllt und damit um so gefährlicher macht, weil eine solche Sprache reizt, aber nicht befriedigt, nur ahnen läßt, aber nicht klar ausspricht. Unsere gesellschaftliche Unterhaltung, unsere Romane und unsere Theater sind voll dieser pikanten Zweideutigkeiten, und die Wirkung davon liegt zutage. Dieser Spiritualismus des Roués, der sich hinter den religiösen Spiritualismus versteckt, hat eine gewaltige Macht.

 

Fünftes Kapitel - Die Reformation

 

1. Luther

 

Die gesunde Sinnlichkeit des Mittelalters fand in Luther ihren klassischen Dolmetsch. Mit dem religiösen Reformator haben wir es hier weniger zu tun, als mit Luther als Mensch. Im Menschlichen trat Luthers kräftige urwüchsige Natur unverfälscht hervor; diese zwang ihn, rückhaltlos und treffend sein Liebes- und Genußbedürfnis auszusprechen. Seine Stellung als ehemaliger römischer Geistlicher hatte ihm die Augen geöffnet. Er hatte die Unnatur des Mönchs- und Nonnenlebens in der Praxis, sozusagen am eigenen Leibe kennengelernt. Daher die Wärme, mit der er das priesterliche und klösterliche Zölibat bekämpfte. Seine Worte gelten auch heute noch jenen, die glauben, wider die Natur sündigen zu dürfen, und meinen, mit ihren Begriffen von Moral und Sittlichkeit es vereinigen zu können, wenn die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen Millionen verhindern, ihren Naturzweck zu erfüllen. Luther sagt: "Ein Weib, wo nicht die hohe, seltsame Gnade da ist, kann eines Mannes ebensowenig entraten als Essen, Schlafen, Trinken und andere natürliche Notdurft. Wiederum also auch ein Mann kann eines Weibes nicht entraten. Ursache ist die: es ist ebenso tief eingepflanzt der Natur, Kinder zu zeugen, als essen und trinken. Darum hat Gott dem Leibe die Glieder, Adern, Flüsse und alles, was dazu dient, gegeben und eingesetzt. Wer nun diesem wehren will und nicht lassen gehen, wie Natur will, und was tut er anders, denn er will wehren, daß Natur nicht Natur sei, daß Feuer nicht brenne, Wasser nicht netze, der Mensch nicht esse, noch trinke, noch schlafe?" Und in seiner Predigt vom ehelichen Leben sagt er: "Also wenig als in meiner Macht steht, daß ich kein Mannsbild sei, also wenig steht es auch dir, daß du ohne Mann seiest, denn es ist nicht eine freie Willkür oder Rat, sondern ein nötig natürlich Ding, daß alles, was ein Mann ist, muß ein Weib haben, und was ein Weib ist, muß einen Mann haben." Luther spricht sich aber nicht bloß in dieser energischen Weise für das Eheleben und die Notwendigkeit des Geschlechtsverkehrs aus, er wendet sich auch dagegen, daß Ehe und Kirche etwas miteinander gemein haben. Er stand hierin ganz auf dem Boden der alten Zeit, die in der Ehe einen freien Willensakt der Beteiligten sah, der die Kirche nichts anging. Er sagt darüber: "Darum wisse, daß die Ehe ein äußerlich Ding ist, wie eine andere weltliche Hantierung. Wie ich nun mag mit einem Heiden, Juden, Türken, Ketzer essen, trinken, schlafen, gehen, reiten, kaufen, reden und handeln, also mag ich auch mit ihm ehelich werden und bleiben. Und kehre dich an der Narren Gesetze, die solches verbieten, nichts.... Ein Heide ist ebensowohl ein Mann und Weib, von Gott wohl und gut geschaffen, als St. Peter und St. Paul und St. Lukas, schweige denn als ein loser, falscher Christ." Luther erklärte sich ferner, gleich anderen Reformatoren, gegen jede Beschränkung der Ehe und wollte auch die Ehe Geschiedener wieder zulassen, wogegen die Kirche sich sträubte. Er sagt: "Wie aber jetzt bei uns die Ehesachen oder ein Scheiden zu halten sei, hab' ich gesagt, daß man's den Juristen soll befehlen und unter das weltliche Regiment werfen, weil der Ehestand gar ein weltlich, äußerlich Ding ist." Entsprechend dieser Anschauung wurde erst gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts die kirchliche Trauung bei den Protestanten Voraussetzung zu einer gültigen Ehe. Bis dahin galt die sogenannte Gewissensehe, das heißt die bloße gegenseitige Verpflichtung, sich als Mann und Weib anzusehen und ehelich zusammenleben zu wollen. Eine solche Ehe wurde nach deutschem Recht als legal angesehen. Luther ging sogar so weit, daß er dem in der Ehe unbefriedigt gebliebenen Teil – auch wenn dieser die Frau war – das Recht zusprach, sich außer der Ehe Befriedigung zu verschaffen, "damit der Natur Genüge getan werde, welcher man nicht widerstehen könne" . Luther stellt hier Grundsätze auf, welche die lebhafte Entrüstung eines großen Teiles der "ehrbaren Männer und Frauen" unserer Zeit hervorrufen werden, die sich gerne in ihrem frommen Eifer auf Luther berufen. In seinem Traktat "Vom ehelichen Leben", II, 146, Jena 1522, sagt er: "Wenn ein tüchtig Weib zur Ehe einen untüchtigen Mann überkäme und könnte doch keinen anderen öffentlich nehmen und wollte auch nicht gerne wider ihre Ehre tun, soll sie zu ihrem Manne also sagen: Siehe, lieber Mann, du kannst mein nicht schuldig werden und hast mich und meinen jungen Leib betrogen, dazu in Gefahr der Ehre und Seligkeit bracht, und ist für Gott keine Ehre zwischen uns beiden, vergönne mir, daß ich mit deinem Bruder oder nächsten Freund eine heimliche Ehe habe und du den Namen habst, auf daß dein Gut nicht an fremde Erben komme, und laß dich wiederum williglich betrügen durch mich, wie du mich ohne deinen Willen betrogen hast." Der Mann, führt Luther weiter aus, habe die Pflicht, solches zu bewilligen. "Will er nicht, hat sie das Recht, von ihm zu laufen in ein ander Land und einen anderen zu freien. Wiederum wenn ein Weib die eheliche Pflicht nicht ausüben will, hat der Mann das Recht, eine andere zu beschlafen, nur soll er ihr es vorher sagen" . Man sieht, es sind sehr radikale und in unserer an Heuchelei und Prüderie so reichen Zeit sogar recht unsittliche Anschauungen, die der große Reformator entwickelt.

 

Luther sprach nur aus, was zu jener Zeit Volksauffassung war. So teilt Jakob Grimm mit :

 

"Da er ein Man were, der sinen echten wive ver frowelik recht niet gedoin konde, der sall si sachtelik op sinen ruggen setten und draegen sie over negen erstnine und setten sie sachtelik neder sonder stoeten, slaen und werpen und sonder enig quaed woerd of oevel sehen, und roipen dae sine naebur aen, dat sie inne sines wives lives noet helpen weren, und of sine naebur dat niet doen wolden of kunden, so sall he si senden up die neiste kermisse daerbi gelegen und dat sie sik süverlik toe make und verzere und hangen ör einen buidel wail mit golde bestickt up die side, dat sie selft wat gewerven kunde; kumpt sie dannoch wider ungeholpen, so help ör dar der duifel."

 

Der Bauer des Mittelalters wollte in erster Linie durch die Ehe Erben haben, und vermochte er diese selbst nicht zu zeugen; so überließ er als praktischer Mann dieses Vergnügen ohne besondere Skrupel einem anderen. Die Hauptsache war, daß er seinen Zweck erreichte. Wir wiederholen: Der Mensch beherrscht nicht das Eigentum, das Eigentum beherrscht ihn.

 

Die aus den Schriften und Reden Luthers angezogenen Stellen über die Ehe sind um deswillen besonders wichtig, weil die darin geäußerten Anschauungen mit den in der Kirche heute herrschenden im schärfsten Widerspruch stehen. Die Sozialdemokratie kann sich in dem Kampfe, den sie mit der Geistlichkeit zu führen hat, mit vollstem Fug und Recht auf Luther berufen, der in Fragen der Ehe einen durchaus vorurteilsfreien Standpunkt einnimmt.

 

Luther und die Reformatoren gingen in der Ehefrage sogar noch weiter, allerdings aus opportunistischen Gründen, aus Gefälligkeit gegen die in Frage kommenden Fürsten, deren kräftige Unterstützung oder dauerndes Wohlwollen sie sich zu erwerben, beziehentlich zu erhalten suchten. Der reformationsfreundliche Landgraf von Hessen, Philipp I., besaß neben seiner legitimen Frau eine Geliebte, die nur unter der Bedingung, daß er sie heirate, ihm zu Willen sein wollte. Der Fall war heikel. Eine Scheidung von der Gemahlin ohne durchschlagende Gründe verursachte großen Skandal, und eine Ehe mit zwei Frauen zugleich war bei einem christlichen Fürsten der neueren Zeit ein unerhörtes Ereignis, das nicht minder Skandal verursachen mußte. Gleichwohl entschloß sich Philipp in seiner Verliebtheit für den letzteren Schritt. Es galt nur festzustellen, daß dieser Schritt nicht mit der Bibel im Widerspruch stand und die Zustimmung der Reformatoren, insbesondere Luthers und Melanchthons, fand. Zunächst begannen die Unterhandlungen des Landgrafen mit Butzer, der sich mit dem Plane einverstanden erklärte und versprach, Luther und Melanchthon zu gewinnen. Butzer motivierte seine Ansicht damit, daß er sagte: Mehrere Weiber zugleich zu besitzen, sei nicht wider das Evangelium. Paulus, der doch viel vermeldet, die das Reich Gottes nicht erben sollten, aber von denen, die zwei Weiber haben, tue er keine Meldung; Paulus sage vielmehr, "daß ein Bischof nur eines Weibes haben, desgleichen die Diener. Wär's nun Not gewesen, daß jeder haben solle ein Weib, so hätt' er's also geboten und mehr Weiber verboten". Luther und Melanchthon schlossen sich diesen Gründen an und billigten die Doppelehe, nachdem auch des Landgrafen Frau unter der Bedingung in die Ehe mit der zweiten Frau willigte, "daß er die ehelichen Pflichten noch mehr als bisher gegen sie erfüllen werde" . Luther hatte schon früher die Frage nach der Berechtigung der Bigamie, als es sich um die Billigung einer Doppelehe Heinrichs VIII. von England handelte, Kopfschmerzen verursacht. Das geht aus einem Briefe an den sächsischen Kanzler Brink, Januar 1524, hervor, dem er schrieb: "Grundsätzlich freilich könne er, Luther, die Bigamie nicht verwerfen, denn sie widerstreite nicht der Heiligen Schrift , aber er halte es für ärgerlich, wenn sie unter Christen vorkäme, die auch erlaubte Dinge unterlassen müßten." Und nach der Trauung des Landgrafen, die im März 1540 wirklich stattfand, schrieb er (10. April) auf ein Anerkennungsschreiben desselben: "Daß Ew. Gnaden guter Dinge sei über unseren gegebenen Ratschlag, den wir gern heimlich sehen halten. Sonst möchten zuletzt auch noch die groben Bauern (dem Beispiel des Landgrafen folgen wollen) vielleicht ebenso große und größere Ursache fürwenden, dadurch wir denn gar viel zu schaffen möchten kriegen."

 

Melanchthon mochte die Zustimmung zu der Doppelehe des Landgrafen weniger schwergefallen sein, denn er hatte schon früher an Heinrich VIII. geschrieben, "jeder Fürst habe das Recht, in seinem Gebiet die Polygamie einzuführen". Aber die Doppelehe des Landgrafen machte so großes und unliebsames Aufsehen in seinem Lande, daß er – 1541 – eine Schrift verbreiten ließ, in der die Polygamie als nicht wider die Schrift verstoßend verteidigt wurde . Man lebte nicht mehr im neunten oder zwölften Jahrhundert, in denen noch Vielweiberei ohne Anstoß ertragen wurde. Die Doppelehe des Landgrafen von Hessen war übrigens nicht die einzige, welche in weiten Kreisen böses Aufsehen erregte. Solche fürstliche Doppelehen wiederholten sich sowohl im siebzehnten wie im achtzehnten Jahrhundert, wie noch gezeigt werden wird.

 

Wenn Luther die Befriedigung des Geschlechtstriebs als ein Gebot der Natur erklärte, sprach er nur aus, was die Zeitgenossen dachten und besonders die Männerwelt für sich in Anspruch nahm. Durch die Reformation, welche die Beseitigung des Zölibats der Geistlichen und die Aufhebung der Klöster in den protestantischen Ländern durchsetzte, schuf er Hunderttausenden die Möglichkeit, unter legitimen Formen ihrem Naturtrieb gerecht zu werden. Hunderttausend andere blieben freilich, auf Grund der bestehenden Eigentumsordnung und der auf Grund derselben geschaffenen Gesetze, auch ferner davon ausgeschlossen.

 

Die Reformation war der Protest des im Entstehen begriffenen Großbürgertums gegen die Gebundenheit der feudalen Zustände in Kirche, Staat und Gesellschaft. Dieses werdende Großbürgertum strebte nach Befreiung aus den engen Banden der Zunft-, Hof- und Bannrechte, nach Zentralisation des Staatswesens, nach Vereinfachung des verschwenderisch ausgestatteten Kirchenwesens, nach Aufhebung der zahlreichen Sitze müßiger Menschen, der Klöster, und Verwendung derselben im praktischen Erwerb.

 

Luther war auf religiösem Gebiet der Vertreter dieser bürgerlichen Bestrebungen. Trat er für die Freiheit der Ehe ein, so konnte es sich nur um die bürgerliche Ehe handeln, die erst in unserem Zeitalter, durch das Zivilehegesetz und die damit verbundene bürgerliche Gesetzgebung, Freizügigkeit, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit verwirklicht wurde. Wie weit dadurch die Stellung der Frau sich veränderte, soll untersucht werden. Einstweilen waren in der Reformationszeit die Dinge noch nicht so weit gediehen. Wurde durch die Reformation vielen die Ehemöglichkeit gegeben, so wurde andererseits durch die stärkste Verfolgung dem freien Geschlechtsverkehr nachgestellt. Hatte die katholische Geistlichkeit gegen die geschlechtlichen Ausschweifungen eine gewisse Laxheit und Toleranz gezeigt, so eiferte jetzt die protestantische, nachdem sie selbst versorgt war, um so wütender dagegen. Den öffentlichen Frauenhäusern wurde der Krieg erklärt, sie wurden als "Höhlen des Satans" geschlossen, die Prostituierten als "Töchter des Teufels" verfolgt, und jede Frau, die einen "Fehltritt" beging, nach wie vor als Ausbund aller Schlechtigkeit an den Pranger gestellt.

 

Aus dem lebenslustigen Kleinbürger des Mittelalters, der lebte und leben ließ, wurde ein bigotter, sittenstrenger, finsterer Spießbürger, der sparte, damit seine späteren großbürgerlichen Nachkommen um so flotter leben und um so mehr verschwenden konnten. Der ehrsame Bürger mit seiner steifen Krawatte, seinem engen Gesichtskreis, seiner strengen, aber heuchlerischen Moral ward das Prototyp der Gesellschaft. Die legitime Frau, der die katholischerseits tolerierte Sinnlichkeit des Mittelalters nicht sonderlich behagt hatte, war mit dem puritanischen Geiste des Protestantismus sehr einverstanden. Aber andere Umstände, die die allgemeinen Verhältnisse in Deutschland ungünstig beeinflußten, waren auch für die Frauen von ungünstigem Einfluß.

 

2. Die Folgen der Reformation. Der Dreißigjährige Krieg

 

Die Umwandlung der Produktions-, der Geld- und Absatzverhältnisse, die besonders durch die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Ostindien für Deutschland herbeigeführt wurde, rief eine große Reaktion auf sozialem Gebiet hervor. Deutschland hörte auf, der Mittelpunkt des europäischen Verkehrs und Handels zu sein. Das deutsche Gewerbewesen, der deutsche Handel gerieten in Verfall. Gleichzeitig hatte die kirchliche Reformation die politische Einheit der Nation zerstört. Die Reformation wurde der Deckmantel, unter dem sich die deutschen Fürsten von der Kaisergewalt zu emanzipieren suchten. Andererseits unterjochten diese Fürsten den Adel und begünstigten, um ihren Zweck leichter zu erreichen, die Städte. Auch begaben sich nicht wenige der letzteren, angesichts der immer trüber werdenden Zeitläufte, freiwillig unter die Herrschaft der Fürsten. Schließlich suchte das durch den ökonomischen Rückgang in seinem Erwerb bedrohte Bürgertum immer höhere Schranken zu errichten, um sich vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen, und die Fürsten kamen diesem Verlangen gerne nach. Die Verknöcherung der Zustände nahm zu, aber damit auch die Verarmung.

 

Die weiteren Folgen der Reformation waren die religiösen Kämpfe und Verfolgungen – die von den Fürsten als Deckmantel für ihre politischen und ökonomischen Zwecke benutzt wurden –, die Deutschland mit Unterbrechungen länger als ein Jahrhundert durchtobten und mit seiner vollständigen Erschöpfung am Ende des Dreißigjährigen Krieges endeten. Deutschland war ein ungeheures Leichen- und Trümmerfeld geworden. Ganze Länder und Provinzen waren verwüstet, Hunderte von Städten, Tausende von Dörfern waren teilweise oder gänzlich niedergebrannt, viele unter ihnen sind seitdem für immer vom Erdboden verschwunden. In vielen Orten war die Bevölkerung auf den dritten, vierten, fünften, selbst auf den achten und zehnten Teil gesunken. Das galt zum Beispiel von Städten wie Nürnberg und von ganz Franken. In dieser äußersten Not kam man hier und da, um die entvölkerten Städte und Dörfer möglichst rasch wieder mit mehr Menschen zu versehen, zu dem drastischen Mittel, einem Manne ausnahmsweise zwei Frauen zu erlauben. Die Männer hatten die Kriege vernichtet, aber Frauen gab es in Überzahl. So faßte am 14. Februar 1650 der Fränkische Kreistag zu Nürnberg den Beschluß, "daß Männer unter 60 Jahren nicht in Klöster aufgenommen werden durften"; des weiteren befahl er "denen Jenigen Priestem, Pfarrherrn, so nicht ordensleuth, oder auff den Stifftern Canonikaten, sich Ehelich zu verheyrathen". "Darzu sollte jeder Mannßperson zwei Weyber zu heyrathen erlaubt sein: dabey doch alle und jede Mannßperson erinnert, auch auff den Kanzeln öffters ermanth werden sollen, Sich dergestalten hierinnen zu verhalten und vorzusehen, daß er sich völlig und gebürender Discretion und vorsorg befleißige, damit Er als Ehelicher Mann, der ihm zwei Weiber zu nemmen getraut, beide Ehefrauen nicht allein nothwendig versorge, sondern auch under Ihnen allen Unwillen verhuette."

 

Es wurde also sogar die Kanzel benutzt, um die Doppelehe zu propagieren und den Ehemännern Verhaltungsmaßregeln zu geben. Auch stockte der Handel und Wandel und Gewerbe in dieser langen Zeit, ja vielfach waren sie gänzlich zugrunde gerichtet und konnten erst nach und nach sich erholen. Ein großer Teil der Bevölkerung war verroht und demoralisiert und aller geordneten Tätigkeit entwöhnt. Waren es während der Kriege die raubenden, plündernden, schändenden und mordenden Söldnerheere, die Deutschland von einem Ende zum anderen durchzogen und gleichzeitig Freund und Feind brandschatzten und niederwarfen, so waren es nach den Kriegen ungezählte Räuber-, Bettler- und Vagabundenscharen, welche die Bevölkerung in Angst und Schrecken setzten und Handel und Verkehr hinderten oder vernichteten. Namentlich war für das weibliche Geschlecht eine große Leidenszeit angebrochen. In dieser Zeit der Zügellosigkeit hatte die Verachtung der Frau die größten Fortschritte gemacht, auf ihren Schultern lastete die allgemeine Erwerbslosigkeit am stärksten. Zu Tausenden bevölkerten Frauen, gleich den vagabundierenden Männern, die Landstraßen und Wälder und füllten Armenhäuser und Gefängnisse. Zu all diesen Leiden kam die gewaltsame Vertreibung zahlreicher Bauernfamilien durch einen landhungrigen Adel. Hatte sich der letztere seit der Reformation immer mehr unter die Fürstenmacht ducken müssen, und war er durch Hofämter und militärische Stellen in immer größere Abhängigkeit von diesen geraten, so suchte er jetzt den Schaden, den ihm die Fürsten zugefügt, doppelt und dreifach hereinzubringen durch den Raub am Bauerngut. Dagegen bot die Reformation den Fürsten den erwünschten Vorwand, sich des reichen Kirchenguts zu bemächtigen, das sie in ungezählten Morgen Landes schluckten. Der Kurfürst August von Sachsen zum Beispiel hatte bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts nicht weniger als dreihundert geistliche Güter ihrem ursprünglichen Zwecke entfremdet . Und wie er, hatten es seine Brüder und Vettern, die übrigen protestantischen Fürsten, allen voran die Hohenzollern, gemacht. Der Adel ahmte das Beispiel nach, indem er das noch vorhandene Gemeindeland oder herrenlos gewordene Bauerngüter einsackte und sowohl freie wie leibeigene Bauern von Haus und Hof vertrieb und mit deren Gütern sich bereicherte. Die verunglückten Bauernaufstände im sechzehnten Jahrhundert lieferten dazu den erwünschten Vorwand. Und nachdem der Versuch einmal gelungen war, fehlte es nicht an Gründen, um in gleich gewalttätiger Weise weiter zu gehen. Mit Hilfe von allerlei Schikanen, Drangsalierungen und Rechtsverdrehungen, zu denen das mittlerweile allgemein eingebürgerte römische Recht die bequeme Handhabe bot, wurden, um des Adels Besitz zu arrondieren, die Bauern zu niedrigsten Preisen ausgekauft oder von ihrem Eigentum verdrängt. Ganze Dörfer, die Bauernhöfe halber Provinzen wurden auf diese Weise niedergeworfen. So waren, um nur einige Beispiele anzuführen, von 12.543 ritterschaftlichen Bauernstellen, die Mecklenburg noch zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges besaß, im Jahre 1848 nur noch 1.213 vorhanden. In Pommern gingen seit 1628 über 12.000 Bauernhöfe ein. Die Umwandlung in der bäuerlichen Wirtschaftsweise, die sich im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts vollzog, war ein weiterer Anreiz, die Expropriation der Bauernhöfe vorzunehmen und die letzten Reste des Gemeindelandes in adliges Besitztum zu verwandeln. Es war die Koppelwirtschaft eingeführt worden, die erlaubte, in bestimmten Zeitabschnitten einen Wechsel in der Bebauung des Grund und Bodens eintreten zu lassen. Getreideland wurde zeitweilig in Weide verwandelt, was die Viehzucht begünstigte und ermöglichte, die Zahl der Arbeitskräfte zu vermindern.

 

In den Städten sah es nicht besser aus als auf dem Lande. Ehemals hatte man ohne Widerstreben auch den Frauen gestattet, den Meistertitel zu erwerben und Gesellen und Lehrlinge zu beschäftigen, ja man zwang sie sogar in die Zünfte, um sie zu gleichen Konkurrenzbedingungen zu nötigen. So gab es selbständige Frauen in der Leinenweberei, der Wollweberei, der Tuchmacherei und Schneiderei, der Teppichwirkerei; es gab weibliche Goldspinner, Goldschläger, Gürtler, Riemenschneider usw. Wir finden zum Beispiel weibliche Kürschner in Frankfurt und in den schlesischen Städten, Bäcker in den mittelrheinischen Städten, Wappensticker und Gürtler in Köln und Straßburg, Riemenschneider in Bremen, Tuchscherer in Frankfurt, Lohgerber in Nürnberg, Goldspinner und Goldschläger in Köln . In dem Maße aber, wie die Verhältnisse der Handwerker sich verschlechterten, verschlechterte sich speziell die Stimmung gegen die weiblichen Konkurrenten. In Frankreich wurden die Frauen schon mit dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts vom Gewerbe ausgeschlossen, in Deutschland erst gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Anfangs verbot man ihnen, Meister zu werden – mit Ausnahme der Witwen –, später schloß man sie auch als Gehilfinnen aus. Auch die Beseitigung des prunkvollen katholischen Kultus durch Protestantisierung hatte eine Menge Gewerbe, namentlich Kunstgewerbe, aufs schwerste geschädigt oder gänzlich vernichtet, und gerade in diesen Gewerben waren viele Frauen beschäftigt gewesen. Ferner veranlaßte die Konfiskation und Säkularisation der großen Kirchenvermögen einen Rückgang der Armenpflege, unter dem in erster Linie die Witwen und Waisen litten.

 

Der allgemeine wirtschaftliche Zerfall, der aus all den angeführten Ursachen im sechzehnten Jahrhundert eingetreten war und das siebzehnte Jahrhundert fortdauerte, veranlaßte alsdann eine immer strengere Ehegesetzgebung. Handwerksgesellen und dienenden Personen (Knechten und Mägden) wurde die Ehe überhaupt verboten, es sei denn, sie konnten beweisen, daß keine Gefahr bestand, der Gemeinde, zu der sie gehörten, mit ihrer künftigen Familie zur Last zu fallen. Eheschließungen ohne die gesetzlichen Voraussetzungen wurden mit harten, zum Teil barbarischen Strafen belegt, zum Beispiel nach dem bayerischen Rechte mit Karbatschstreichen und Einsperrung. Besonders harten Verfolgungen waren aber die sogenannten wilden Ehen ausgesetzt, die sich um so häufiger bildeten, je schwerer die Erlangung der Erlaubnis zur Heirat war. Die Angst vor Übervölkerung beherrschte die Gemüter, und um die Zahl der Bettler und Vaganten zu vermindern, jagte ein landesherrliches Dekret das andere, und eines war härter als das andere.

 

Sechstes Kapitel - Das achtzehnte Jahrhundert

 

1. Hofleben in Deutschland

 

Dem Beispiel Ludwigs XIV. von Frankreich folgend, entfaltete die große Mehrzahl der in jener Zeit außerordentlich zahlreichen deutschen Fürstenhöfe eine Verschwendung in allerlei Glanz und Flitter, und namentlich durch ihre Mätressenwirtschaft, die im umgekehrten Verhältnis zur Größe und Leistungsfähigkeit der Länder und Ländchen stand. Die Geschichte der Fürstenhöfe des achtzehnten Jahrhunderts gehört zu den häßlichsten Kapiteln der Geschichte. Ein Potentat suchte den anderen an hohler Aufgeblasenheit, verrückter Verschwendungssucht und kostspieligen militärischen Spielereien zu übertreffen. Vor allem aber wurde in toller Weiberwirtschaft das Unglaublichste geleistet. Es ist schwer zu sagen, welchen von den vielen deutschen Höfen in dieser verschwenderischen, das öffentliche Leben korrumpierenden Lebensweise die Palme gebührt. Heute war es dieser, morgen jener Hof, kein deutscher Staat blieb von diesem Treiben verschont. Der Adel machte es den Fürsten nach und in den Residenzstädten die Bürger wieder dem Adel. Hatte die Tochter einer bürgerlichen Familie das Glück, einem hohen Herrn am Hofe oder gar Serenissimus zu gefallen, so war dieselbe unter zwanzig Fällen neunzehnmal von dieser Gnade aufs höchste beglückt, und die Familie war bereit, sie zur adligen oder fürstlichen Mätresse herzugeben. Dasselbe war bei den meisten Adelsfamilien der Fall, wenn eine ihrer Töchter das Wohlgefallen des Fürsten fand. Charakterlosigkeit und Schamlosigkeit beherrschten weite Kreise.

 

Mit am schlimmsten stand es in den beiden deutschen Hauptstädten, in Wien und Berlin. Im deutschen Kapua, in Wien, herrschte zwar einen großen Teil des Jahrhunderts die sittenstrenge Maria Theresia, aber sie war ohnmächtig gegenüber dem Treiben eines reichen, in sinnlichen Genüssen versunkenen Adels und der ihm nacheifernden bürgerlichen Kreise. Mit ihren Keuschheitskommissionen, die sie niedersetzte, und mit Hilfe deren ein ausgedehntes Spioniersystem organisiert wurde, rief sie teils Erbitterung hervor, teils machte sie sich lächerlich damit. Der Erfolg war gleich Null. Im frivolen Wien machten in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Sprüchlein die Runde wie jene: "Man muß seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das heißt, man muß das Weib eines anderen so lieb haben wie sein eigenes." Oder: "Wenn die Frau rechts geht, darf der Mann links marschieren. Nimmt sie sich einen Aufwärter, so sucht er sich eine Freundin." Wie frivol man in jener Zeit über Ehe und Ehebrüche dachte, geht aus einem Brief des Dichters Chr. v. Kleist hervor, den dieser 1751 an seinen Freund Gleim schrieb. Darin hieß es: "Sie wissen doch schon die Aventure des Markgrafen Heinrich. Er hat seine Gemahlin auf seine Güter geschickt und will sich von ihr separieren, weil er den Prinzen von Holstein bei ihr im Bette getroffen hat.... Der Markgraf hätte wohl besser getan, wenn er den Handel verschwiegen hätte, statt daß er jetzt ganz Berlin und die halbe Welt von sich sprechen macht. Überdem soll man eine so natürliche Sache nicht so übelnehmen, zumal wenn man selber nicht so glaubensfest ist wie der Markgraf. Der Ekel ist doch ganz unausbleiblich in der Ehe, und alle Männer und Frauen sind durch ihre Vorstellungen von anderen liebenswürdigen Personen nezessieret, untreu zu sein. Wie kann dies bestraft werden, wozu man gezwungen ist?" Über die Zustände in Berlin schrieb 1772 der englische Gesandte Lord Malmesburn: "Eine totale Sittenverderbnis beherrscht beide Geschlechter aller Klassen, wozu noch die Dürftigkeit kommt, die notwendigerweise teils durch die vom jetzigen König ausgehende Besteuerung, teils durch die Liebe zum Luxus, die sie seinem Großvater abgelernt, herbeigeführt worden sind. Die Männer führen mit beschränkten Mitteln ein ausschweifendes Leben, die Frauen aber sind Harpyien ohne alle Scham. Sie geben sich dem preis, der am besten bezahlt, Zartgefühl und wahre Liebe sind ihnen unbekannte Dinge."

 

Mit am schlimmsten ging es in Berlin unter Friedrich Wilhelm II. zu, der von 1786 bis 1797 regierte. Er ging mit dem schlechtesten Beispiel seinem Volke voran. Sein Hofpfaffe Zöllner erniedrigte sich sogar dazu, ihm seine Mätresse, Julie v. Voß, als zweite Ehefrau anzutrauen. Und als diese bald nachher im ersten Wochenbett starb, ging abermals Zöllner darauf ein, ihn mit seiner zweiten Mätresse, der Gräfin Sophie v. Dönhoff, zu vermählen.

 

Das schlechte Beispiel, das Friedrich Wilhelm II. am Ende des Jahrhunderts gab, hatten ihm einige seiner Herren Vettern schon zu Anfang des Jahrhunderts vorgemacht. Ende Juli 1706 ließ sich der Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg seine Mätresse, die Grävenitz, die "Landverderberin", wie man sie noch heute in Württemberg nennt, als zweite Frau antrauen. Diese Ehe schloß ein junger Geistlicher, M. Pfähler, der Pfarrer in Mühlen a. N. war. Und Eberhard Ludwigs leiblicher Vetter, der Herzog Leopold Eberhard zu Mömpelgard, trieb es noch ärger, denn er besaß gleichzeitig drei Ehefrauen, von welchen obendrein zwei Schwestern waren. Von seinen dreizehn Kindern vermählte er zwei miteinander. Das Verhalten dieser Landesväter rief zwar große Entrüstung bei ihren Untertanen hervor, aber dabei bewendete es. Nur bei dem Herzog von Württemberg gelang es kaiserlicher Intervention im Jahre 1708, die Ehe mit der Grävenitz rückgängig zu machen. Aber diese ging bald darauf mit einem verkommenen Grafen v. Würben eine Scheinehe ein und blieb nunmehr noch zwanzig Jahre lang die Geliebte des Herzogs und die "Landverderberin" für Schwaben.