14

 

 

 

Nach einer fast schlaflosen Nacht war ich froh, als endlich das erste graue Licht in mein Zimmer fiel. Aufgeregt und ungeduldig begrüßte ich den neuen Tag, dessen Beginn ich kaum erwarten konnte und vor dem ich gleichzeitig so große Angst hatte.

Colin vor allem galten meine Gedanken, den Stunden, die wir oben im dunklen Turmzimmer miteinander verbracht hatten. Während ich aus dem Fenster in das kalte Grau des Morgens hinausblickte, gab ich mich schönen Erinnerungen hin, an seinen Kuß, seine leidenschaftliche Umarmung, die Worte, mit denen er mir seine Liebe erklärt hatte. Nur Stunden war es her, daß wir uns getrennt hatten, aber mir schien es eine Ewigkeit zurückzuliegen.

Beim Ankleiden dachte ich daran, was ich mir für diesen Tag vorgenommen hatte. Noch einmal würde ich heute ins Wäldchen zurückkehren und versuchen, mir die Geschehnisse ins Gedächtnis zu rufen, deren Zeugin ich vor zwanzig Jahren geworden war. Diesmal jedoch würde es anders sein als beim erstenmal; diesmal wußte ich mit Sicherheit, daß damals ein Mord verübt worden war. Und diesmal war es noch wichtiger für mich, meiner Erinnerungen habhaft zu werden, denn nun war auch mein Leben in Gefahr. Solange ich mich nicht erinnerte, mußte ich um mein Leben bangen, und die Gefahr wurde mit jedem Tag größer. Ich mußte mich retten.

Ich betrat das Frühstückszimmer mit großer Beklommenheit. Martha und Theo saßen allein am Tisch. Ich setzte mich an meinen gewohnten Platz und nahm mir Toast und Marmelade. Unser Gespräch war oberflächlich und belanglos; wir sprachen über Annas Kummer, fragten uns, wann endlich der Frühling kommen würde, wann wir das letztemal einen so langen und kalten Winter gehabt hatten. Als Colin eintrat, tat mein Herz einen Sprung. Würde ich mich niemals an ihn gewöhnen, an seine Nähe, sein plötzliches Erscheinen? Nein, hoffentlich nicht, dachte ich, denn dieses Herzklopfen, dieses Prickeln ist etwas Herrliches. Er setzte sich mir gegenüber, lächelte höflich und schenkte sich Tee ein.

Ich hatte den meinen bisher nicht angerührt.

Das Gespräch, etwas gezwungen jetzt, wandte sich dem Geschäft zu, einem neuen Reformgesetz, über das im Parlament entschieden werden sollte.

»Ja, wir leben in einer schnellebigen Zeit, Theo. Vorbei ist es mit Ruhe und Beschaulichkeit. Dies ist das Zeitalter der Gaslampen, der Dampfmaschine und der Heißluftballons.« Colin unterstrich seine Worte mit weit ausholenden Gesten. »Nie zuvor ist der Mensch so schnell so weit gereist.«

Plötzlich schlug sein Arm versehentlich an meine Teetasse. Sie kippte um, und der Tee ergoß sich über das Tischtuch. »Oh, entschuldige vielmals, Leyla. Wie ungeschickt von mir.« Er tupfte den vergossenen Tee mit seiner Serviette auf. »Hier«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln und reichte mir seine Tasse. »Nimm meinen.«

Jetzt begriff ich. Ich dankte ihm mit einem Lächeln und nahm die dargebotene Tasse.

»Es ist ein Zeitalter beständigen Fortschritts, dem wir folgen müssen, wenn wir nicht den Anschluß verlieren wollen. Du wirst mit den anderen Spinnereien in Wettbewerb treten müssen, Theo. Sie fangen schon an, die neuen Webstühle zu kaufen, und nach dem, was ich gehört habe, wird durch diese neuen Maschinen die Produktion unglaublich beschleunigt.«

Das ganze Gespräch bestand im Grunde aus einem Monolog Colins, der sich nicht darum zu kümmern schien, daß Martha stumm blieb, während Theo allenfalls hin und wieder eine geringschätzige Bemerkung machte. Ich saß unruhig auf dem Rand meines Stuhls und dachte, sie würden niemals gehen. Erst als Theo und Martha endlich aufstanden und hinausgingen, seufzte ich erleichtert und entspannte mich ein wenig.

Colin beugte sich über den Tisch und nahm meine Hand. »Und du gehst heute ins Wäldchen, Leyla?«

»Ja, so bald wie möglich. Aber ich möchte allein gehen, Colin. Es ist lieb von dir, daß du mir angeboten hast, mich zu begleiten, aber ich glaube, ich muß allein sein.«

»Wenn du mir zu lange ausbleibst, komme ich nach und hole dich.« Ich lachte ein wenig. Nichts als Liebe und Zärtlichkeit war in Colins Augen, und doch, erinnerte ich mich jetzt, hatte es am vergangenen Abend einen Moment gegeben, in dem er angespannt und beunruhigt gewirkt hatte. Als ich ihm von meiner flüchtigen Erinnerung an den Rubinring erzählt hatte.

»Colin«, sagte ich, »was kann es bedeuten, daß mir die Erinnerung an den Rubinring nur im Zusammenhang mit dem Wäldchen gekommen ist und sonst überhaupt nicht?«

Da, da war es wieder, und diesmal saßen wir in einem hellen Zimmer, durch dessen Fenster das Morgenlicht strömte. Diesmal sah ich, wie Colin sich bei der Erwähnung des Ringes veränderte. Aber er bemühte sich, seine Reaktion zu verbergen. »Ich habe keine Erklärung dafür.«

»Theo hat ihn doch von Sir John geerbt, nicht wahr? Warum hat der ihn nicht zuerst Onkel Henry vermacht?«

»Tatsächlich war es so – « Colin räusperte sich, und ich hatte den Eindruck, daß er seine Worte sorgfältig abwog – »daß zuerst mein Vater den Ring bekam. Er bekam ihn schon als kleiner Junge von seinem Vater und hatte ihn viele Jahre getragen. Nach seinem Tod nahm Sir John den Ring wieder an sich und trug ihn bis zu seinem eigenen Tod zwei Jahre später. Dann bekam Theo ihn, weil Onkel Henry ihn nicht haben wollte.«

»Und was glaubst du, warum er gestohlen wurde?« Er strich Butter auf seinen Toast. »Ich weiß es nicht. Es war wohl irgend jemand von den Angestellten, nehme ich an.«

Seine Mimik war etwas zu unbeteiligt, zu beiläufig, aber ich ließ es dabei bewenden. Wenn Colin nicht über den Ring sprechen wollte, sollte es mir recht sein. So wichtig konnte die Sache nicht sein. »Ich breche jetzt auf, Colin. Ich will zuerst noch einen Spaziergang machen, und dann gehe ich ins Wäldchen. Wenn ich mich an irgend etwas erinnern sollte, erzähle ich es dir heute abend.«

Zu meiner Überraschung sprang er auf und kam um den Tisch herum zu mir. Sein Gesicht war angespannt, als er sagte: »Versprich mir eines, Leyla: daß ich es als erster erfahre, wenn du dich an irgend etwas erinnerst.«

»Aber natürlich!«

»Ich meine, ganz gleich, was du entdeckst, du mußt zuerst zu mir kommen. Versprichst du mir das?«

Sein ungestümes Drängen beängstigte mich. »Ja, Colin, ich verspreche es dir.«

Er lächelte beruhigt. »Ich habe Angst um dich, Leyla. Ich wünschte, ich könnte dich dazu bewegen, von hier fortzugehen. Nein, schüttle nicht den Kopf; deine Manieren sind ja so schlecht wie meine. Wie du willst, so soll es sein. Ich beuge mich.«

 

 

Der Tag erschien mir ungewöhnlich kalt und finster, und als ich vom Haus wegging, hatte ich das Gefühl, daß jemand mich beobachtete. Nur einmal drehte ich mich um und blickte zurück. Die Fenster waren dunkel, zum Teil hinter geschlossenen Läden verborgen. Ich sah niemanden, keine Bewegung, nichts, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, wer mich beobachten sollte. Theo und Martha hatten kaum reagiert, als meine Teetasse umgekippt war, schienen an meinem körperlichen Befinden überhaupt nicht interessiert. Das konnte natürlich Tarnung sein. Wenn einer der beiden mich langsam vergiftete, ging er dabei sehr geschickt zu Werke.

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das war vermutlich auch der Grund, warum ich mir einbildete, heimliche Blicke auf mir zu spüren. Auch der Spaziergang konnte mich nicht beruhigen. Ich hatte nur den Wunsch, dies alles endlich hinter mich zu bringen, und ich wußte, daß das nur geschehen konnte, wenn meine Erinnerungen wiederkehrten.

Während ich dastand und zum Wäldchen hinuntersah, überfiel mich ein merkwürdiges Gefühl. Es war beinahe so, als wüßte ich, daß dort unten etwas geschehen würde, daß ich nicht wieder und wieder würde zurückkehren müssen, um das Geheimnis aufzudecken. Es gab jetzt keine Umkehr mehr. Ich war entschlossen, mir meine Vergangenheit zurückzuholen. Die kahlen Akazien, denen ich mich jetzt langsam näherte, hüteten ein Geheimnis, das mir gehörte, und ich würde es ihnen entreißen. Ich wurde wieder zu der kleinen Bunny, als ich mit flatterndem Umhang am Rand des Wäldchens stand. Ich war ein neugieriges kleines Mädchen auf der Suche nach Vater und Bruder, die Minuten zuvor hier zwischen den Bäumen verschwunden waren. Während ich mit meinen Blicken das Gewirr der Baumstämme und Äste zu durchdringen suchte, spürte ich, wie ich mich langsam, unmerklich beinahe, zu verwandeln begann. Abwartend stand ich unbewegt im Wind und starrte in die Bäume. Es geschah. Ich begann mich zu erinnern.

Auf kleinen Füßen trippelte ich über die weiche Erde und achtete sorgsam darauf, daß ich nirgends mit meinem Kleidchen hängenblieb. Mutter würde schimpfen, wenn ich es schmutzig machte oder gar zerriß. Aber Vater und Thomas waren dort drinnen, und ich möchte mit ihnen spielen.

Ich ging hinein. Meine Augen sahen alles anders, groß wie Riesen die dunklen Bäume, Wächter über ein Märchenland, das in meiner Phantasie mit Elfen und Kobolden bevölkert war. Vor mir hörte ich etwas. Vater? dachte ich.

Mutig marschierte ich weiter. Ferne Geräusche drangen an mein Ohr – das Gelächter eines kleinen Mädchens, der Schrei eines Vogels hoch in den Bäumen. Ich befand mich jetzt in einer anderen Welt – der Welt eines fünfjährigen Kindes. Ich erinnerte mich.

Plötzlich blieb ich stehen. Da war der faulende Baumstumpf. Dort der glatt geschliffene Felsbrocken. Die moosgrüne alte Mauer. Und Geräusche – Geräusche, die nicht hierher gehörten, Kampfgeräusche. Vor einer Kulisse dichtstehender Bäume und feuchter Erde sah ich schattenhafte Gestalten. Zwei Erwachsene waren es und ein kleiner Junge. Ich lächelte. Ich kannte sie alle drei. Jetzt wurden sie klarer. Plötzlich hatte ich ein deutliches Bild meines Vaters – groß und imposant, Henry sehr ähnlich, aber jünger, mit schwarzem Haar und den markanten Gesichtszügen der Pembertons. Er zeigte Thomas eine Kröte. Die dritte Person stand im Verborgenen, unsichtbar für die beiden anderen.

Wie in Trance stand ich unter den Bäumen und starrte auf die Bilder, die nur ich sehen konnte. Die Zeit lief rückwärts, ein Fluß, dessen Strömung sich vor einem Damm strudelnd umkehrt. Unter dem wirbelnden Wasser sah ich klar gezeichnet die Gesichter dieser drei Menschen. Ich hörte ihre Stimmen, als sprächen sie wahrhaftig in diesem Augenblick. Ich sah die unsichtbare dritte Person. Ich wußte jetzt, wer die Morde begangen hatte, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Bis zu dem schrecklichen Ende mußte ich warten und zusehen, ehe ich aus der Vergangenheit heraustreten und in die Gegenwart zurückkehren durfte. Ich sah, wie die dritte Person plötzlich aus den Büschen rannte und sich auf meinen Bruder stürzte. Ehe ich meine Stimme fand, sauste blitzend ein Messer durch die Luft und traf Thomas’ Hals. Ich war wie gelähmt. Mein Vater drehte sich blitzartig um, schrie auf, taumelte rückwärts, als das Messer seine Brust traf. Etwas Rotes, der vertraute Rubinring, fiel zu Boden, nein, wurde zu Boden geworfen, rot wie das Blut, das in der Erde versickerte.

»Mein Gott!« schrie ich plötzlich und schlug die Hände vor mein Gesicht. Schmerz, Entsetzen und nackte Angst schüttelten mich. Alles war wieder da, bis in jede Einzelheit, und es war so grauenvoll wie damals, wie vor zwanzig Jahren. Nur konnte ich diesmal weinen. »Colin!« schluchzte ich. »Oh, Colin, Colin!«

Ich hörte die Schritte erst, als es zu spät war. Starke Arme schlangen sich um meinen Hals, eine mörderische Hand schwang das Messer. »Du bist verdammt wie sie alle!« flüsterte es heiser an meinem Ohr. Ich wehrte mich, schlug um mich, aber es half nichts. Ich hatte das Gleichgewicht verloren. »Du mußt sterben wie sie sterben mußten, damit das Übel nicht mehr weitergegeben werden kann.«

»Nein, bitte – « stieß ich hervor, aber dieser unglaublich starke Arm drückte mir die Luft ab.

Das Messer schwang hoch, hell blitzend vor dunklen Baumwipfeln und grauem Himmel, und sauste zu mir herunter.

Jemand schrie laut auf. Ich hörte Keuchen und Stöhnen. Das Messer, das mich hätte treffen müssen, fiel zu Boden. Ich drehte mich blitzschnell um und sah Colin in tödlichem Kampf. Schon kamen die anderen. Und dann war es vorbei.

Meine Großmutter lag auf ihrem Bett. Ihr Atem ging röchelnd. Ihr Gesicht war aschgrau, die Augen mit den stark geweiteten Pupillen wirkten übergroß. Dr. Young, der Augenblicke zuvor eingetroffen war, stand stumm und aufmerksam an ihrem Bett. Auch er war erstaunt gewesen über die Körperkräfte, die sie gezeigt hatte.

Irgendwo im Zimmer sagte jemand immer wieder: »Es ist nicht zu fassen. Ich kann es nicht glauben.« Es war Theo, der auf der anderen Seite des Zimmers in einem Sessel zusammengesunken war und, die Hände vor dem Gesicht, unentwegt den Kopf schüttelte. Anna saß ihm gegenüber, totenbleich und wie versteinert. Martha stand neben Dr. Young, Colin und mir – auf der anderen Seite des Bettes – gegenüber. Ihr Gesicht drückte nichts als kindliche Verwunderung aus. Es war beinahe so, als hätte sie die Ereignisse der vergangenen Stunde noch gar nicht begriffen. Und Colin. Colin, der mir das Leben gerettet hatte. Er stand jetzt dicht an meiner Seite, den Arm um mich gelegt, und ich war froh, daß er mir Halt gab.

Tonlos stieg die Stimme meiner Großmutter vom Bett auf. »Verdammt«, flüsterte sie. »Ihr seid alle verdammt. Es muß ein Ende sein…« Dr. Young neigte sich ein klein wenig zu ihr hinunter und fragte leise: »Wessen muß ein Ende sein, Mrs. Pemberton?«

Obwohl meine Großmutter zu Tode erschöpft war, blitzten in ihren schwarzen Augen noch Feuer und Leben.

»Es muß ein Ende haben mit den Pembertons. Es hätte schon lange ein Ende haben müssen. Aber keiner von ihnen hatte den Mut, ein Ende zu machen. Ein Teufelsfluch lastet auf der Familie und er wird immer weitergegeben werden, solange nur ein einziger Pemberton lebt.« Colin beugte sich näher zu ihr. »Du wolltest die Familie ausrotten? Wegen der Krankheit?«

»Ich mußte es tun. Zu viele haben unter diesem Fluch gelitten. Jahrhundertelang – «

»Und Onkel Henry?« Er trat von mir weg und ging näher ans Bett. »Hast du ihn auch getötet?«

»Ich mußte es tun. Er war ein Pemberton.« Mein Blick huschte zu Dr. Young.

»Wußte Sir John«, fragte Colin weiter, »daß du Robert und Thomas getötet hattest?«

Die schwarzen Augen waren zur Zimmerdecke gerichtet, ihr Mund war geöffnet, sie hatte Mühe zu atmen. »Ich – ich kann wohl jetzt alles sagen«, stieß sie hervor. »Ja, Sir John wußte es. Henry, Thomas, Robert und auch – Richard.«

Colin erstarrte. »Meinen Vater auch? Wie meinst du das?« Einen Moment lang schloß sie die Augen. »Großmutter, was meintest du, als du sagtest, Richard auch?« Langsam schlug sie die Augen wieder auf. »Der Unfall war kein Unfall. Er war herbeigeführt.«

»Mein Gott!«

»Colin«, sagte sie in flehendem Ton, und ihre knochigen Hände griffen suchend in die Luft. »Colin, hör mir zu. Setz dich zu mir und hör mir zu.«

Colins Gesicht war bleich und tieftraurig, als er sich zu ihr auf den Bettrand setzte und zu ihr hinuntersah. Sie sprach stockend, aber sie war völlig klar. »Diese schreckliche Krankheit hat zuviel Leid verursacht, Colin. Es muß ein Ende haben damit. Seit Jahren versuche ich, das Ende herbeizuführen. Du bist kein Pemberton, doch du trägst unseren Namen. Daher sollst du das Familienvermögen erben und dafür sorgen, daß der Name Pemberton erhalten bleibt. Das ist der Grund, weshalb ich Henrys Testament vernichtet habe. Er wollte alles Theo hinterlassen, und das konnte ich nicht dulden. Du mußtest erben, Colin – kein Pemberton und doch ein Pemberton. Du bist ein neuer Anfang für die Familie.«

»Aber das ist doch verrückt!« rief er.

»Du hältst mich für verrückt? Ich habe meine drei Söhne getötet, damit du Alleinerbe werden konntest. Damit durch die Krankheit nicht weiteres Leid entsteht. Ich habe meine drei Söhne getötet, damit zukünftige Generationen nicht wie heute Martha und Theo in Angst und Schrecken leben müssen. Sieh sie dir doch an! Erbarmungswürdige Kreaturen! Keinem Menschen ist ein solches Leben zu wünschen.«

»Aber die Krankheit existiert nicht, Großmutter«, sagte Colin. Er nahm ihre Hände und zog sie an seine Brust. »Die Krankheit war Erfindung. Ein Schwindel!«

»Nein, nein«, entgegnete sie mit Entschiedenheit. »Sir John wollte mich das auch glauben machen, aber ich habe ihm das nicht geglaubt. Er behauptete, sein Bruder Michael sei geistig verwirrt gewesen und habe einen ausgeklügelten Plan entwickelt, um das Haus und das Vermögen an sich zu bringen. Die Sache war aufgrund seiner Verrücktheit ungeheuer kompliziert; Sir John sagte, er hätte einen Familienfluch erfunden und versucht, das durch einen gefälschten Beweis zu untermauern. Ja, mein Mann hatte die Stirn, zu behaupten, Michael – « Sie schnappte krampfhaft nach Luft – »Michael hätte in seinem Wahnsinn die Geschichte von dem unheilbaren Tumor erfunden und hätte dann John und ihre gemeinsame Mutter töten wollen. Michael glaubte, wie John mir erzählte, die Behörden würden jeden Mordverdacht gegen ihn fallenlassen, wenn er sie davon überzeugen könnte, daß es aufgrund einer Gehirnkrankheit zu den beiden Todesfällen gekommen sei. Doch mein Mann entdeckte den Plan, jedenfalls behauptete er das mir gegenüber, und drehte den Spieß um. Zwei Menschen wurden getötet – Michael und seine Mutter. Als John sah, was er getan hatte, hielt er die Geschichte von dem Gehirntumor aufrecht, um der Strafe zu entgehen. Man glaubte ihm, und es wurde amtlich festgestellt, daß die beiden Opfer im Wahnsinn als Folge eines Gehirntumors umgekommen seien. Das hat mir dein Großvater am Abend vor seinem Tod erzählt.« Sie hielt inne, um Atem zu holen. Sie röchelte schrecklich. Wir alle starrten sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Staunen an, während wir darauf warteten, daß sie fortfahren würde.

»Ich habe Robert und den kleinen Thomas im Wäldchen getötet, weil ich die Familie ausrotten wollte«, berichtete sie keuchend. »Ich mußte Robert töten, ehe er noch mehr Kinder in die Welt setzte. Und ich mußte den kleinen Thomas töten, weil er eines Tages das unglückselige Erbe an seine Kinder weitergegeben hätte. Ich – ich hätte auch die – die kleine Leyla getötet, wenn ihre Mutter nicht spurlos mit ihr verschwunden wäre.«

Ich schluchzte auf.

»John, mein Mann, wußte, was ich getan hatte«, fuhr sie unter großer Anstrengung fort, »aber er schwieg, weil er mich liebte. Doch eines Tages sagte ich ihm, daß ich auch – Richard töten müsse – und natürlich Henry und Theo… und da…« Sie fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen. »Da erzählte mir John diese erfundene Geschichte von Michaels Plan, aber ich durchschaute ihn. Ich wußte, daß er sie sich ausgedacht hatte. Er sagte, er würde das nicht dulden – würde zur Polizei gehen… da habe ich ihn vergiftet und vom Turm gestoßen. John war ein Narr. Er glaubte nicht an die Krankheit. Aber es gibt sie! Es gibt sie!« Sie begann zu husten.

»Großmutter.« Colin beugte sich tief zu ihr hinunter und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Großmutter«, sagte er noch einmal mit fester Stimme. »Die Krankheit gibt es nicht. Sir John hat dir die Wahrheit gesagt. Michael hatte sie sich wirklich nur ausgedacht.« Aber sie schien ihn nicht zu hören. »Dann bekam ich heraus, wo Jenny und Leyla waren und daß Leyla heiraten wollte. Das konnte ich nicht zulassen. Sie hätte Kinder bekommen und den Fluch weitergegeben. Darum lockte ich sie mit dem Brief hierher – «

»Du!« flüsterte ich.

»Und um sicherzugehen, daß Leyla bleiben würde, als sie einmal hier war«, fuhr sie fort, »befahl ich ihr immer wieder mit allem Nachdruck, von hier fortzugehen. Ach, wie gut ich die Menschen kenne!« Ich senkte den Kopf und hielt die Tränen zurück. Die Haut um Augen und Lippen meiner Großmutter nahm einen bläulichen Schimmer an.

»Diese Leyla – ein so störrisches und hartnäckiges Ding! Sie wollte diesem Bräutigam in London einen Brief schicken. Aber ich fing ihn ab und verbrannte ihn…« Ich hob den Kopf und sah Colin an. Aber er schien weit entfernt.

»Und der Ring?« fragte ich. »Was ist mit dem Rubinring?«

»Der Ring?« wiederholte meine Großmutter flüsternd, beinahe am Ende ‘ ihrer Kraft. »Er gehörte Richard. Ich fürchtete, man könnte die Geschichte, daß Robert zuerst seinen Sohn und dann sich getötet hatte, nicht glauben. Einen Beweis hinterlassen, dachte ich, damit ein anderer in Verdacht kommt.« Sie sprach jetzt zusammenhanglos. »Richard merkte nicht, daß der Ring weg war. Auf den Boden geworfen. Er sollte später gefunden werden.« Sie runzelte angestrengt die Stirn. »Aber Colin – hob ihn auf… War sowieso nicht gut. Alle glaubten Roberts Wahnsinn. Ring war überflüssig…«

Während meine Großmutter weiter vor sich hinmurmelte, sah ich wieder zu Colin, der plötzlich zu Tode erschöpft aussah. »Mein Vater trug diesen Ring«, sagte er so leise, daß nur ich ihn hörte. »Ich fand ihn in einer Blutlache und glaubte, mein Vater hätte die Morde begangen. Ach, Leyla…«

Ich neigte mich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Am liebsten hätte ich geweint. »Du wolltest ihn schützen«, flüsterte ich. »Verdammt!« kreischte meine Großmutter plötzlich mit schriller Stimme. Nichts war geblieben von der Tyrannin, die in diesem Haus mit harter Hand geherrscht hatte. Meine Großmutter war nur noch eine vom Tod gezeichnete alte Frau. »Ich habe kommende Generationen vor Schmerz und Leid bewahrt, indem ich die Familie der Pembertons auslöschte. Ich habe Gutes getan.« Sie wälzte den Kopf auf dem Kissen hin und her. »Jetzt sind sie alle tot. Auch Leyla wird bald tot sein. Und Martha…« Ihre Stimme klang blechern. »Martha brauche ich nicht zu vergiften. Sie wird niemals heiraten. Sie ist über das Alter hinaus. Sie findet keinen Mann mehr. Da ist nichts zu fürchten. Martha kann ruhig hier weiterleben, zusammen mit Colin, und – und – «

»Du widerwärtiges altes Frauenzimmer«, schrie Martha plötzlich außer sich. »Du hast mein Leben auf dem Gewissen. Ich wollte lieben, heiraten und Kinder bekommen. Aber du, du egoistische alte Frau, du hast es mir nicht erlaubt. Ich war dumm! Dumm! Ich hätte längst fortgehen sollen, als ich noch jung war und – «

»Aber die Krankheit!«

»Ich pfeife auf die Krankheit. Wenn ich daran sterben soll, dann werde ich eben daran sterben. Aber vorher wollte ich leben! Aber du, du Hexe, du hast mich zur Verzweiflung getrieben, du hast mich zum Diebstahl gezwungen – « Martha brach ab und sah plötzlich mich an. »Ja, zum Diebstahl!« schrie sie mich an. »Glaubst du vielleicht, es hat mir Spaß gemacht, wie eine Nonne zu leben, Leyla? Ich bin zweiunddreißig Jahre alt. Ich bin eine alte Jungfer. Und Großmutter hätte mir keinen Penny gegeben, wenn ich dieses Haus verlassen hätte. Darum mußte ich stehlen, um genug Geld für eine Flucht zusammenzubringen. Was hätte ich denn sonst tun können? Ich bin eine alleinstehende Frau. Ich habe keinen Mann, der mich beschützt und für mich sorgt. Was meinst du wohl, wie weit ich ohne Geld gekommen wäre? Darum habe ich gestohlen. Ja, ich habe meine eigene Familie bestohlen.«

Mit diesen Worten packte sie den Pompadour, der zu ihren Füßen stand und schleuderte ihn aufs Bett. Er öffnete sich, und Garn und Wolle, lange und kurze Nadeln fielen heraus, aber auch der falsche Boden, unter dem die Schätze verborgen waren, die sie gehortet hatte. »Da habt ihr alles«, rief sie laut und heftig. »Das Geld und den Schmuck. Es hätte mir fast gereicht, um mich in London als Frau von Stand niederzulassen, und dann wäre ich endlich frei gewesen und – «

»Martha!« flüsterte unsere Großmutter mit schwacher Stimme. »Die Krankheit – «

»Es ist mir gleich, ob es die Krankheit gibt oder nicht«, schrie Martha, der jetzt die Tränen aus den Augen strömten. »Glaubst du denn, ich bin freiwillig wie eine Gefangene in diesem Haus geblieben? Ich habe nur auf den rechten Augenblick gewartet, Großmutter. Ich gehe weg von hier!«

»Aber Martha – «

Ihren geheimen Schatz an Schmuck und Geld, der ihr die Tür zu einem freundlicheren Leben hätte öffnen sollen, zurücklassend, stürzte Martha aus dem Zimmer.

Wir anderen waren alle noch viel zu bestürzt über die Enthüllungen der letzten Stunde, um sprechen zu können.

Meine Großmutter hatte mich also hierher gelockt, um mich zu töten. Sie hatte mir Thomas Willis’ Buch ins Zimmer gelegt. Zwanzig Jahre lang hatte in Pemberton Hurst eine Wahnsinnige und eine Mörderin geherrscht.

»Ich habe es für die Pembertons getan«, murmelte sie kaum vernehmbar aus der Tiefe der Kissen. »Ich habe es getan, weil ich Pemberton Hurst liebe. Ich liebe es mehr als mein eigenes Leben, und ich wollte nicht, daß es im Verfall endet. Aber ich mußte es reinigen, vom Fluch befreien, und es dann Colin zu treuen Händen übergeben, damit unser Name erhalten bliebe. Ich habe dies alles für Colin getan…«

Martha übersiedelte nach London, wo sie mit der großzügigen Unterstützung ihres Bruders in einer der vornehmen Gegenden einen Putzmachersalon eröffnete. Theo kehrte nach Manchester zurück, nachdem er alle geschäftlichen Fragen mit Colin geregelt hatte, und widmete sich dort der Erweiterung der Firma und dem Bau einer neuen Baumwollspinnerei. Anna, seit der Todesnacht ihres Mannes eine zerstörte Frau, lebte weiterhin bei uns, still und zurückgezogen, ohne an dem Leben um sie herum Anteil zu nehmen.

Dr. Young wurde uns ein guter und geschätzter Freund und war bei der Geburt unseres ersten Sohnes zugegen, den wir nach meinem Vater Robert tauften.